Читать книгу Chronik von Eden - Ben B. Black, D.J. Franzen - Страница 7
Kapitel IV - Belagert
ОглавлениеSie erreichten den ersten Treppenabsatz, als Frank ein Gedanke kam.
»Sag mal, willst du die Tür da unten nicht sichern?«
»Wofür«, sagte Sandra über die Schulter hinweg, ohne stehen zu bleiben.
»Diese Dinger könnten hier reinkommen!«
Sandra blieb stehen, und sah ihn über die Schulter mit dem pädagogisch geschulten Blick einer Lehrerin an, die es mit einem besonders begriffsstutzigen Exemplar der Gattung hohle Nuss zu tun hatte.
»Das da unten ist eine Paniktür.«
»Ja und?«
»Wie geht eine Paniktür im Notfall auf?«
»Nach außen, zur Straße hin.«
»Na bitte. Hast du jemals eines von diesen Dingern gesehen, das sich rückwärts bewegte? Die kennen nur eine Richtung. Vorwärts, immer dem Frischfleisch entgegen.«
Frank spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Glücklicherweise war es im Hausflur dämmerig. Aber er wollte dennoch nicht wie ein kompletter Trottel dastehen.
»Sie könnten lernen.«
»Ja. Und wenn ein Schwein Flügel hätte, würde es im Herbst nach Süden fliegen.« Kopfschüttelnd ging Sandra weiter. »Am nächsten Absatz bleibst du hinter mir stehen und wartest.«
Frank atmete tief durch und folgte Sandras Anweisung. Sie stand etwa zwei Stufen unter dem nächsten Absatz und fingerte an einem eiförmigen Gebilde, das mit Klebeband an einer Stange des Geländers festgeklebt war. Frank sah einen Draht aufblitzen, und er wusste plötzlich, was sie da tat.
»Okay, weiter geht’s. Warte da vorne. Ich sichere die Treppe wieder.«
Frank ging an ihr vorbei. Dann kam Sandra die letzten Stufen hoch, ging in die Hocke. Mit geschickten Fingern befestigte sie den Draht wieder am Abzugsring der Handgranate.
»Warst du beim Militär?«, fragte er, und hoffte, dass Zittern in seiner Stimme würde ihr nicht auffallen.
»Nein. Ich habe alle Rambofilme gesehen.«
Frank beschloss, ihr keine weiteren Fragen zu stellen. Auch wenn es ihm nicht gefiel, keine Kontrolle über die Situation zu haben, blieb ihm keine andere Wahl. Sie hatte seine Waffen, draußen wurde es dunkel und er war hier gefangen. Zumindest bis morgen.
Ohne ein weiteres Wort ging Sandra den Korridor entlang. Alle Türen standen offen. Offenbar hatte Sandra sie geöffnet, damit das Tageslicht aus den ehemaligen Klassenzimmern den Gang beleuchtete. Frank sah im Vorbeigehen in die ehemaligen Schulklassen, die man zu Laboratorien und Krankenzimmern umfunktioniert hatte. Sandra entschärfte auf ihrem Weg zwei weitere Sprengfallen, bevor sie an eine Kreuzung des Korridors kamen und sich links hielten. Sie deutete mit dem Daumen hinter sich.
»Da runter sind die Waschräume und die Toiletten. Nimm aber einen Eimer und kipp es aus dem Fenster. Ich habe keine Lust, hier drin zu ersticken.«
Am Ende des Korridors führte sie Frank in ein Klassenzimmer. Mehrere Betten standen an der langen Wand gegenüber den Fenstern. An der Schmalseite des Raumes, gegenüber der Wand mit der Schiefertafel, stapelten sich mehrere Kisten, in denen sich laut Beschriftung Notrationen befanden, sowie ein kleiner Tank für Frischwasser. Sandra setzte sich seufzend auf eines der Betten. Sie legte Franks Maschinenpistole über ihre Knie, rutschte bis zum Kopfende des Bettes hoch, und machte es sich bequem. Ihr Kopf lehnte an der Wand. Sie starrte nachdenklich die Decke an.
»Fühl dich wie daheim. Wenn du Hunger oder Durst hast, bedien dich. Morgen früh entscheiden wir, wie es mit dir weitergeht.«
»Hast du keine Angst, dass ich im Dunkeln über dich herfalle? Immerhin bin ich doch ein Wildfremder. Und wahrscheinlich ein Plünderer noch dazu!«
Sandra senkte ihren Blick und grinste ihn müde an.
»Wenn du wirklich etwas im Schilde führen würdest, hättest du längst was in diese Richtung versucht. Außerdem wirkst du auf mich eher … hm … hilflos, sobald du einer starken Frau gegenüberstehst.« Sie zwinkerte ihm zu.
»Danke.«
»Gern geschehen.«
Frank suchte sich eine Notration aus und setzte sich auf das Bett neben Sandra.
»Was hast du vor dieser ganzen Sache gemacht?«, fragte er kauend.
»Soll das ein Smalltalk wie bei einem Blind Date werden?«
»Naja, immerhin bin ich bis morgen früh dein Gast. Warum sollten wir uns nicht besser kennenlernen, bevor wir entscheiden, wie es weitergeht?«
»Willst du zurück in dein Haus?«
»Ja. Da fühle ich mich irgendwie sicherer. Nur das Problem mit den Vorräten hat mich da rausgeholt. Ich habe zwar eine gute Solaranlage auf dem Dach, aber die Speicherbatterien sind nicht ganz das, was die Herstellerangaben versprochen haben. Meine Tiefkühltruhen sind aufgetaut, und kalte Konserven sind auf Dauer auch nicht das Wahre.«
»Ich fühle mich hier sicherer. Dieses Gebäude ist groß genug, dass ich im schlimmsten Fall abhauen oder mich verstecken kann. Ein Haus wäre mir zu klein.«
Frank wühlte in dem Paket der Notration herum und fand einen Schokoriegel. Er beugte sich zur Seite und hielt ihn Sandra hin. Lächelnd nahm sie ihn an.
»Ganz Kavalier der alten Schule, nicht wahr? Was hast du vorher gemacht?«
»Ich bin eigentlich Diplom Ingenieur. Nach meinem Studium bin ich in die Entwicklungsabteilung eines Autoherstellers gegangen, und von da aus als Boxenmechaniker in das Werksteam für die DTM.«
»Ein hochqualifizierter Mann, der lieber KFZ-Mechaniker an Rennautos spielt, anstatt die dicke Kohle einzuheimsen?«
»So toll verdient man als diplomierter Ingenieur auch nicht. Das Angebot des Rennstalls war da schon um einiges besser. Und was hast du gemacht, bevor das alles hier passierte?«
Sandra druckste herum.
»Meistens Filme.«
»Du warst Schauspielerin?«
Sandra seufzte. Täuschte Frank sich, oder wurde sie etwa verlegen?
»Eher eine Darstellerin.«
»In welchen Filmen warst du denn dabei?«
»Keine, die du kennst.«
»Meinst du?«
»Ja. Es waren Erwachsenenfilme, in denen ich mitgespielt habe. Die von der Sorte, die du ohne Ausweis in der Videothek nicht ausleihen darfst.«
»Oh!«
Sandra sah auf und in ihren Augen funkelte Zorn.
»Mach nicht OH, als wäre das etwas Ansteckendes. Ich habe gutes Geld verdient, und solche verklemmten Typen wie du konnten sich dafür unter der Bettdecke einen aus der Leiste hobeln, wenn sie gerade keine Frau zur Hand hatten. Und nur damit du es weißt: Es läuft nichts, mein Freund. Noch habe ich die Knarren, also bilde dir nichts ein, klar?«
Frank sah betreten auf seine Hände. Schweigen legte sich zwischen die beiden. Eine Stille, in der eine gehörige Portion Peinlichkeit mitschwang. Sie waren zwei Menschen, die durch äußere Einflüsse aneinandergekettet worden waren. Unter normalen Umständen wären sie sich vielleicht niemals begegnet. Und wenn doch, so wären sie beide einfach aneinander vorbeigegangen, ohne den jeweils anderen zu bemerken. Frank verkniff sich die naheliegende Frage, wie Sandra denn ausgerechnet in dieses Gewerbe geraten war. Allmählich wurde es draußen dunkler. Vereinzeltes Stöhnen drang durch die Fenster nach oben.
»´tschuldige«, murmelte Sandra und stand auf. »Ich wollte dich nicht beleidigen.« Sie ging zum Fenster. Frank stand auf und stellte sich hinter sie.
»Du hast mich nicht beleidigt. Wenn ich deine Filme gekannt hätte … nun … meine Reaktion auf deine Darstellungen wäre bestimmt angemessen gewesen.«
Sandra sah ihn über die Schulter an. Im Licht der untergehenden Sonne schienen ihre Haare Flammen gleich um ihr Gesicht zu lodern.
»Angemessen?«
Frank grinste.
»Ich bin ein Mann. Ein total triebgesteuertes Wesen eben.«
Sandra lächelte. Mit einer lässigen Geste schubste sie ihn an der Schulter.
»Ferkel. So etwas erzählt man einer Frau nicht.«
Frank setzte zu einer Erwiderung an, als er einen Schatten bemerkte, der über die dunkle Straße huschte.
»Was war das?«
Sandra folgte seinem Blick.
»Das war einer von ihnen. Ich sagte doch schon, dass sie im Dunkeln sauschnell werden.«
Frank schluckte.
»Ich habe daheim abends alle Fenster verriegelt und die Rollos heruntergelassen, damit sie das Licht nicht sehen. Ich wusste nicht, dass sie nachts so schnell sind.«
Frank bemerkte, dass er ziemlich nah an Sandra herangekommen war. Er sehnte sich nach einer weiteren Geste, einer weiteren Berührung durch ein anderes menschliches Wesen. Er hatte die Hand schon erhoben, wollte sie freundschaftlich auf ihre Schulter legen, ließ sie dann aber sinken. Diese einfache Geste des Trostes und Zusammenhalts könnte sie falsch auslegen.
»Weißt du, wo die Soldaten und Einsatzkräfte sind, die hier stationiert waren?«, fragte er. Sandra wandte sich wieder dem Fenster zu.
»Als ich hier ankam, waren schon alle weg. Ich bin mit einem Trupp anderer Flüchtlinge von der anderen Rheinseite bis zum Deutzer Bahnhof gekommen. Dort … « Sie stockte. Ihr Blick schien in eine weite Ferne zu gleiten. »Der letzte Zug war schon weg. Wir waren etwa vierzig Leute und wir beschlossen, am nächsten Tag die Gleise entlang unser Glück zu versuchen. Wir hatten zwar gehört, dass hier noch ein intaktes Notlager der Einsatzkräfte sein sollte, aber sicher war keiner von uns. Die Informationen über sichere Zonen und was die Einsatzkräfte planten oder taten, tröpfelten nur spärlich nach unten zu uns. Jeder wusste was anderes zu berichten und keiner war sich sicher, ob diese Meldungen überhaupt stimmten, oder einfach nur verzweifelte Gerüchte waren.
Es war Nacht, wir hatten uns in der Halle zusammengesetzt und Wachen an den Eingängen aufgestellt. Es wurde dunkel. Dann kamen ganze drei Stück von denen da draußen. Sie müssen über die Gleise in den Bahnhof, und schließlich in die große Halle gelangt sein.
Nur drei von ihnen.
Aber das reichte aus.
Vollkommen.
Es war ein einziges Chaos aus Blut und Schreien und Angst. So schnell, wie die meisten in ihren Blutlachen starben, so schnell standen sie auch wieder auf. Ich habe nur noch die Beine in die Hand genommen und bin gelaufen. Einfach nur gelaufen, ohne auch nur einen einzigen Blick zurückzuwerfen.
Das Gerücht über das Notlager stimmte. Aber als ich endlich hier ankam, war es verlassen. Keine Soldaten, keine Ärzte, keine Hilfe. Netterweise haben sie aber vor ihrem Abzug alle Zugänge verriegelt. Bis auf den Haupteingang unten. Als ich hier ankam, war das Gebäude frei von … denen da draußen. Das Letzte was ich gehört habe war, dass sich alle Einsatzkräfte nach Bonn zurückziehen mussten. Köln gilt wohl als verloren.«
»Du bist ganz schön mutig.«
»Findest du?«
»Ja. Ich hätte es hier niemals so lange alleine ausgehalten. Von deiner Flucht mal ganz abgesehen.«
»Allein zu sein macht mir nichts aus. Die Ungewissheit, was da draußen in der Welt vor sich geht, ist viel schlimmer für mich.«
Frank beschloss, das Thema zu wechseln. Es gab Wichtigeres zu besprechen, als die Vergangenheit. Sie waren hier, sie lebten, und alles andere zählte vorerst nicht.
»Hm … ich gebe es nur ungern zu, aber beim Ausbau meines Hauses zu einer Festung habe ich tatsächlich vergessen, mir ein Funkgerät zu besorgen. Ich war vollkommen abgeschnitten. Ohne Strom eben kein Fernsehen oder Radio. Hast du hier vielleicht eines? Oder ein Funkgerät? Dann könnten wir versuchen, etwas über die aktuelle Lage herauszufinden.«
»Ja, ein Funkgerät gibt es hier. Aber ich bekomme es nicht ans Laufen. Es läuft über eine Batterie, am Strom kann es also nicht liegen. Es sei denn, die Batterie ist leer.«
»Zeig es mir mal. Vielleicht kann der Herr Dippel-Inch ja mehr, als nur Autos frisieren. Immerhin hätte ich dann was Sinnvolleres zu tun, als aus dem Fenster zu schauen und …«
Er schluckte. Draußen huschten immer mehr Schatten über die Straßen. Sandra nickte ihm zu. Sie wusste auch so, was er meinte.
*
Zwanzig Minuten später saß Frank im Klassenzimmer nebenan. Er hatte das Problem sehr schnell erkannt. Das Funkgerät, das die Einsatzkräfte hier zurückgelassen hatten, war ein tragbares Modell für den Feldeinsatz mit einer hybriden Energieversorgung. Es war auf Solarbetrieb geschaltet. Die dazugehörigen Solarpanele fehlten zwar, aber Frank hatte nur auf Batteriebetrieb umschalten müssen, um das Funkgerät zum Leben zu erwecken. Sandra hatte eine Propangasleuchte besorgt, damit sie besser sehen konnten. Langsam fuhr Frank alle Frequenzen ab. Sandra stand neben ihm. Aufgeregt hatte sie sich vorgebeugt und sah über seine Schulter. Ihr langes Haar kitzelte ihn an der Wange und er spürte ihren Atem an seinem Ohr.
Ein sehr angenehmes Gefühl.
»Hallo? Kann mich jemand hören? Ist da draußen jemand?«
Schweigen.
Rauschen im Äther.
Die nächste Frequenz, der nächste Versuch.
»Hallo? Kann mich jemand hören? Ist da draußen jemand? Wir sind in Köln-Deutz. Ist da jemand?«
»Bist du sicher, dass das Gerät auch funktioniert?«
»Ja. Ich kann keine technischen Probleme erkennen. Ich glaube, wir würden noch nicht einmal Rauschen hören wenn …«
»Hallo? Ist da jemand?«, schnitt ihm eine kindliche Stimme aus dem Lautsprecher das Wort ab. Sandra fuhr erschrocken zurück.
»Hallo«, rief Frank in das Mikrofon. »Wir sind zwei Überlebende, die sich in einer Schule in Deutz verschanzt haben. Wo sind Sie?«
Rauschen.
»Hallo?«
Leise Stimmen im Rauschen.
»Oh Gott, Frank! Sind das etwa Kinder?«
»Ich weiß es nicht.«
»Hallo? Wir sind in der Kirche. Wir haben uns im Keller versteckt! Kann uns bitte jemand helfen?«, meldete sich wieder die Kinderstimme.
»Hört ihr mich?«, rief Frank in das Mikrofon.
»Ja?«
»Wo seid ihr?«
Rauschen und Kinderstimmen.
»In der Kirche Groß Sankt Martin. Wir haben uns im Keller versteckt. Der Soldat, der uns aus dem Notlager hergebracht hat, ist gebissen worden. Jetzt ist er da oben und hat noch mehr von denen geholt! Bitte helfen sie uns! Wir sind ganz alleine!«
Die Stimme gehörte eindeutig einem Kind. Einem Jungen vermutlich. Frank hatte das Gefühl, als würde ihm jemand Eiswasser den Rücken entlang gießen. Was er bisher für ein dümmliches Klischee fauler Autoren gehalten hatte, zeigte seinen wahren Kern.
»Verdammt! Frank, wir müssen etwas tun«, flüsterte Sandra neben ihm. Er nickte.
»Hör zu. Gibt es eine Tür zu dem Keller?«
»Ja«, antwortete die ängstliche Kinderstimme. »Eine dicke Holztür. Und auf unserer Seite ist ein dickes Eisengitter.«
»Okay. Ich bin Frank. Wer bist du?«
»Jonas.«
Der Junge klang, als würde er gleich losheulen.
»Du machst das sehr gut, Jonas. Wer ist noch alles bei dir?«
»Rosi, Peter, Michael und Gerhard.«
»Sind auch Erwachsene bei dir?«
»Nein. Ich bin der Älteste von uns. Ich bin dreizehn.«
»Seid ihr alle unverletzt?«
»Ja. Kommst du uns jetzt holen, Frank?«
Frank atmete tief durch und sah zu Sandra. Sie schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht war so bleich, dass man sie ohne Weiteres für einen Zombie hätte halten können.
»Noch nicht, Jonas. Ihr müsst noch ein wenig aushalten. Aber vorher muss ich von euch wissen, ob die Tür abgeschlossen ist.«
»Das weiß ich nicht. Sie geht nach innen auf.«
»Sehr gut. Sind die … Anderen da draußen sehr nahe?«
»Ich weiß nicht. Hier sind zwei Keller untereinander. Wir sind ganz unten. Alle anderen Türen haben wir hinter uns zugemacht. Wir haben so eine Campingleuchte, aber die hält nicht mehr lange.«
»Das mit den Türen war sehr, sehr gut von euch, Jonas. Du musst mir jetzt ganz genau zuhören, okay?«
»Ja.«
»Habt ihr da unten Stühle oder Bänke, mit denen ihr die Tür versperren könnt?«
»Ja. Hier sind auch Regale mit alten Büchern.«
»Gut. Stapelt alles, was ihr könnt, vor der Tür. Aber seid leise, damit die da draußen euch nicht hören.«
»Und dann? Was sollen wir dann machen?«
»Seid leise. Versucht zu schlafen. Wir kommen euch holen. Dreht die Lampe soweit herunter, wie es geht, damit ihr Gas spart.«
»Wann?«
Frank rieb sich mit zitternden Fingern über das Gesicht.
»Morgen. Es geht nicht anders. Draußen ist es schon dunkel und zu gefährlich. Aber morgen werden wir euch holen kommen, okay?«
»Okay.«
Der Klang von Jonas Stimme zerriss Frank beinahe das Herz.
»Jonas?«
»Ja?«
»Hast du eine Uhr?«
»Ja.«
»Gut. Ich melde mich morgen früh um acht Uhr wieder bei dir. Bleib auf dieser Frequenz, mach das Funkgerät nicht aus. Suche den Knopf, auf dem Volume steht. Dreh den Ton leiser, damit nichts nach außen dringt.«
»Ich weiß, wie man ein Funkgerät leise stellt.«
Der trotzige Klang in Jonas Stimme ließ Frank lächeln.
»Okay. Entschuldige. Wir hören uns morgen früh, wenn wir kommen, um euch da rauszuholen.«
Die Stimme des Jungen klang fester, als er antwortete.
»Verstanden, Frank. Over und out bis morgen früh.«
»Ja. Over und out bis morgen früh.«
Frank ließ das Mikrofon sinken und sah Sandra an.
»Okay. Gehen wir davon aus, dass wir und diese Kinder wirklich die letzten lebenden Menschen in Köln sind. Ich weiß nicht, wie weit dieses Funkgerät reicht, aber bis nach Bonn auf keinen Fall. Hilfe holen ist also nicht drin.«
»Willst du wirklich da rüber?«, fragte Sandra.
»Ehrlich gesagt, nein. Aber wir können die Kids nicht ihrem Schicksal überlassen.«
»Wie willst du es machen?«
»Wir sollten zunächst die Zeit bis morgen früh nutzen, und alles zusammenpacken, was wir eventuell brauchen können. Ein paar Notrationen, etwas Wasser und deine Handgranaten. Es muss alles in zwei Rucksäcke passen, und es darf nicht zu viel sein. Wir werden nämlich zu Fuß gehen müssen.« Frank sah, wie Sandra schluckte.
»Wir haben hier keine Rucksäcke, also müssen wir uns welche basteln«, sagte sie mit zittriger Stimme. »Die Kopfkissenbezüge sollten dafür reichen. Ein paar Streifen Laken als Gurte … « Sie stockte. Ihre Augen waren zu zwei glasigen Runds der Angst in ihrem bleichen Gesicht geworden. Von ihrem burschikosen Auftreten war nichts geblieben. Es war, als hätte ihr Jonas Stimme über den Äther alle Kraft geraubt. Frank stand auf und legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter.
»Wir können das nur gemeinsam schaffen.«
»Ich weiß. Aber ich habe eine Scheißangst.«
»Frag mich mal. Ich glaube kaum, dass du jetzt meine Unterhose sehen möchtest.«
*
Er lauerte.
So wie er es schon einmal getan hatte, nachdem er aus einem dunklen Schlaf erwacht war.
Doch diesmal war es anders.
Als er erwachte, hatte er nichts gewusst. Einzig das vage Gefühl einer Aufgabe war in ihm gewesen. Er musste wachen. Über was oder wen war zu abstrakt für ihn. Sein Kopf war zu schwer gewesen, um sich damit zu befassen, und in seinem Inneren hatte ein schrecklicher Hunger gewütet, was das Denken noch viel schwerer gemacht hatte. Aber da er nicht wusste, wie er den Hunger bezwingen sollte, war er dort geblieben wo er erwacht war, hatte beobachtet, gewacht und in das helle Leuchten geblickt, das so schön, und gleichzeitig so gefährlich war, weil es ihm alle Kraft aus dem Körper sog. Wenn das helle Leuchten verschwand, ging es ihm besser. Aber es kam immer wieder.
Dann war irgendwann in dem hellen Leuchten etwas Schnelles erschienen, das noch heller strahlte. Neugierig hatte er das glitzernde Ding beobachtet, als etwas geschah, das ihn vollkommen verwirrt hatte.
Etwas war aus dem glitzernden Ding heraus gekommen, etwas das warm und rot geleuchtet hatte! Etwas, das seinen Hunger ins schier Unermessliche steigen ließ. Er hatte das warme Rote beobachtet, das auf ihn zukam. Aber dann war es plötzlich verschwunden gewesen. Einfach unter ihm hinweg in dem verschwunden, dass er bewachen sollte?
Oh, das war ein guter Moment gewesen! Er würde seine Aufgabe erfüllen, und gleichzeitig seinen Hunger stillen können! Aber das helle Leuchten hatte ihm das Sehen schwer gemacht. Warum war das warme Rote nicht im Dunkeln gekommen?
Dann hatte er etwas gehört. Es war hinter ihm gewesen. Auf steifen Beinen hatte er sich umgewandt, war durch einen Irrgarten gewandert, der sich plötzlich vor ihm ausbreitete.
Das sollte er also bewachen?
Gut.
Das war sehr gut, denn in dem Irrgarten war es dunkler, und er konnte sich viel besser zurechtfinden, als im hellen Leuchten. Das warme Rote hatte einen unwiderstehlichen Duft verbreitet, dem er gefolgt war. Dann hatte er es gesehen. Es war so nah, sein Hunger war so groß … Aber das warme Rote hatte sich gewehrt, ihn in einen tiefen Abgrund gestoßen.
Und in diesem Moment war etwas Merkwürdiges geschehen.
Ein neues Gefühl war in ihm erwacht.
Etwas Heißes und Dunkles.
Angetrieben von diesem Gefühl hatte er sich an den Aufstieg aus dem Abgrund gemacht. Als er es geschafft hatte, war das warme Rote weg. Aber das dunkle, heiße Gefühl war noch da, verstärkte seinen Hunger, bohrte und nagte an ihm.
Also hatte er einen Ausweg aus dem Irrgarten gesucht. Es gab Wichtigeres, als zu wachen. Nach einer nicht messbaren Zeitspanne stellte er fest, dass der Irrgarten Wände hatte, die sich öffnen ließen. Es war kompliziert, denn seine Hände fühlten sich wie zwei Ballons an, aus denen geschwollene Würste ragten.
Ballons?
Würste?
Zwei merkwürdige Begriffe, die da durch sein Denken wehten. Sie erschienen ihm passend, weckten aber auch eine unbestimmbare Sehnsucht. Ein Gefühl, als wäre ihm durch den tiefen Schlaf etwas verloren gegangen. Sein Hunger wurde wilder, das Dunkle und Heiße in ihm verzehrte ihn beinahe, und so hatte er die abstrakte Frage nach diesen Begriffen und ihrer Bedeutung verdrängt.
Er musste raus!
Dann kam er an eine dieser Wände, die sich öffnen ließen, und er war in das helle Leuchten hinaus getreten. Dort hatte er andere gefunden, die so wie er waren.
Interessant!
Waren sie auch auf der Suche nach dem warmen Roten? Er war ihnen gefolgt. Wenn das helle Leuchten kam, versteckten er sich mit den anderen in den dunklen Eingängen der Häuser neben ihrem Weg.
Häuser? War er ein Häuserwächter? Die Worte waren wie verschwommene Bilder durch sein Denken geweht. Ohne echten Bezug oder Bedeutung. Sie waren gleichgültig, obwohl auch sie diese ferne Sehnsucht nach der Zeit vor dem Erwachen in ihm weckten. Wenn es dunkel wurde wanderten sie weiter.
Hell und Dunkel wechselten sich ab.
Immer und immer wieder.
Dann hatte er es gesehen!
Das glitzernde Ding!
Auto, war es durch sein Denken geschossen. Das glitzernde Ding war ein Auto.
Und wieder war das warme Rote aus dem Auto ausgestiegen. Er war den anderen gefolgt, die darauf zustürmten. Hatten sie auch so einen Hunger?
Plötzlich stieg das warme Rote wieder in das Auto, und dann war ein wundervolles Geräusch erklungen. Stimmen, die dem Gesang von Engeln glichen. Gesang und Engel waren auch wieder solche abstrakte Dinge, die er nicht fassen konnte. Aber das, was er da hörte, ließ ihn seinen Hunger vergessen. Die Sehnsucht nach der Zeit vor dem Erwachen war wieder da, viel schlimmer an ihm nagend als jemals zuvor, aber zugleich auch so schön und friedlich.
Dann verstummte der Gesang, der Hunger kam zurück … und er stand vor dem Auto. Würde das warme Rote zurückkehren?
Wahrscheinlich.
Eine diffuse Ahnung war da in ihm, dass man immer zu seinem Auto zurückkehrte. Also würde das warme Rote bestimmt wiederkommen. Aber er musste vorsichtig sein, denn sonst würde er es verscheuchen, wenn er endlich seinen schrecklichen Hunger stillen wollte! Also hatte er sich in das Dunkel eines Hauses zurückgezogen.
Und hier stand er jetzt.
Lauernd.
Wachend.
Hungernd.
Das warme Rote würde zurückkehren.
Und dann würde er endlich seinen Hunger stillen können.