Читать книгу Chronik von Eden - Ben B. Black, D.J. Franzen - Страница 8

Kapitel V - Der lange Weg

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Frank legte nach dem Funkgespräch eine nahezu unmenschliche Aktivität an den Tag. Im Licht der Propangaslampe schrieb er auf die Tafel des ehemaligen Klassenzimmers eine Liste mit all den Dingen, die sie dringend benötigten. Zu jeder einzelnen Position ermittelte er das geschätzte Gewicht und den Platzbedarf. Danach teilten sie gemeinsam die Ausrüstungsstücke in zwei Haufen, um abschätzen zu können, wie groß und stabil ihre improvisierten Rucksäcke sein mussten. Zwei Kopfkissenbezüge reichten tatsächlich aus, um alles auf zwei Personen zu verteilen, und ihnen trotz der Belastung noch ausreichend Bewegungsfreiheit zu gewähren.

Frank und Sandra zogen gerade die Bezüge zweier Kopfkissen ab, als von unten ein dumpfes Pochen durch die Schule hallte. Starr vor Schreck hielten die beiden inne, lauschten auf den Lärm, warteten darauf, dass die Tür mit einem Knall zufallen und schlurfende Schritte die Treppen heraufkommen würden. Sandra schoss ein Bild aus ihrer Kindheit durch den Kopf. Nur mit Mühe konnte sie ein Zittern und Tränen zurückhalten.

Das Monster kommt! Er hat wieder seinen Lohnstreifen versoffen und eine Stinkwut auf alles und jeden. Ob Mama jetzt auch in ihrem Bett liegt und Angst hat?

Ihre Finger verkrampften sich um das lange Fleischmesser, das sie als einzige Waffe auf ihrer Flucht hatte retten können. Es war wie ein Anker, der sie in die Realität zurückholen konnte. Nicht, dass die besonders schön war, aber immerhin würde es nicht ihr Vater sein, der da unten versuchte einzudringen. An diesem Gedanken hielt sie sich fest.

Das da unten war nicht ihr Vater, konnte es nicht sein, denn er war kurz vor dem Ausbruch der Seuche mit einer Leber ins Krankenhaus gegangen, die fester und dichter gewesen war, als ein alter Wackerstein. Hoffentlich hatte ihm der Krebs große Schmerzen bereitet.

Sandra hasste sich für diesen boshaften Gedanken.

Das Pochen verstummte nach einer Weile. Sie sah Frank an, dessen Gesicht wie ein bleicher Ballon im schwachen Licht der Propangaslampe über seinem bunten Rennanzug schwebte. Sie warteten noch einen Moment, dann machten sie sich schweigend wieder an die Arbeit.

Sandra schnitt mit ihrem Messer ein Laken in lange Streifen, verwob jeweils zwei dieser Streifen zu einem Gurt und führte diese durch zwei Löcher in den Bezügen. Bequem waren die Rucksäcke nicht, aber sie erfüllten ihren Zweck. Vielleicht würden sie auf ihrem Weg ja die Möglichkeit bekommen, sie gegen echte auszutauschen.

Dann setzte sie sich auf eines der Betten, lehnte sich an die Wand am Kopfende, und sah Frank dabei zu, wie er auf der Tafel eine grobe Skizze ihres Weges zeichnete.

Schließlich fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

*

Er wartete in der Dunkelheit.

Reglos.

Selbst als von irgendwoher ein dumpfes Geräusch durch das Dunkel hallte, blickte er nur mäßig interessiert in die ungefähre Richtung. Die anderen flüchteten sich in sinnlose Aktivität, huschten durch die Dunkelheit, klopften hier, stöhnten dort … sie nervten ihn.

Ein interessantes Gefühl.

Nerven.

Was war das?

Er lauschte in sich hinein, und begutachtete die abstrakten Begriffe wie Auto, Ballon, Würstchen und genervt sein. Das schienen Dinge zu sein, die für ihn vor dem großen Schlaf von einiger Bedeutung gewesen sein mussten. Dabei fielen die drei Begriffe genervt sein, Ballon und Würstchen immer in einen Zusammenhang mit einem Bild von einem kleineren, warmen Roten, das ihn umarmte.

Während er da stand und wartete, versuchte er, dieses Bild irgendwie besser zu verstehen. Immer wenn das kleine, warme Rote in seinem Bewusstsein auftauchte, glaubte er zudem eine Stimme zu hören, was ihn enorm verwirrte.

Nochmal, Papa. Bittebittebitte nochmal, Papa.

Das Gefühl genervt zu sein vermischte sich in diesen Momenten mit einem anderen Gefühl, das ihn den bohrenden Hunger in seinem Inneren vergessen ließ.

Liebe?

Was war Liebe?

Papa?

War das sein Name?

Mit diesem verwirrenden Gefühl kam zugleich auch Stolz in ihm hoch. Stolz und Trauer vermischten sich miteinander auf verwirrende Weise, und das diffuse Bild seines Autos schob sich immer wieder vor sein geistiges Auge.

Seines Autos?

Hatte er vor dem großen Schlaf auch ein Auto gehabt?

Wenn er das Bild seines Autos in sein Bewusstsein hervorholte, so wurde das Gefühl der Trauer in ihm so stark, dass er sogar laut aufstöhnte, was ihn aus seinen Gedanken wieder zurückholte. Sein Blick klärte sich. Einer der anderen war an das Auto gekommen und trommelte darauf herum. Das dunkle Heiße schoss mit aller Wucht in ihm hoch. Er ging auf den anderen zu, packte ihn an den Schultern und schleuderte ihn zur Seite.

Niemand durfte das Auto anfassen!

*

Der Andere blickte ihm mit dumpfer Verständnislosigkeit ins Gesicht, bevor er aufstand und seines Weges ging. Zufrieden zog er sich zurück in sein Versteck.

Die angenehme Dunkelheit hüllte ihn und seine Gedanken wieder ein. Das dunkle Heiße in ihm zog sich zurück, loderte aber weiter im Untergrund seines Seins.

Wachsam, so wie er.

Und er dachte von sich selber ab jetzt als Papa.

Irgendwie ein gutes Gefühl, egal wie abstrakt es auch sein mochte.

*

Sandra erwachte aus einem kurzen und unruhigen Schlaf. Orientierungslos blickte sie sich um. Dann sah sie Frank an einem der Fenster stehen und in die Morgendämmerung hinausblicken. Die Sonne färbte einen breiten Streifen des Himmels in ein rötliches Glühen. Keine Wolke war zu sehen. Der Prolog des nahenden Tages versprach wunderbares Wetter.

Helles Wetter.

Sandra war froh darüber.

Die da draußen mochten es nicht, wenn es zu hell war.

Dieser Gedanke rief ihr ins Gedächtnis, was sie heute vor hatten. Ihr Blick fiel auf die improvisierten Rucksäcke und die Wegskizze an der Tafel. Sie hatten alles getan, um ihre kleine Rettungsexpedition so sicher wie möglich zu gestalten. Frank drehte sich um und lächelte sie an.

»Morgen. Kaffee? Ist aber leider nur löslicher, und warm ist er auch nicht mehr.«

»Danke, ja. Wie spät ist es?«

»Kurz vor acht.«

»Hast du schon was von den Kindern gehört?«

»Nein. Und auch sonst herrscht im Äther Funkstille. Wir scheinen wirklich die Letzten zu sein.«

Sandra sah etwas in Franks Augen. Etwas, dass sie beunruhigte.

»Was hast du?«

»Bitte?«

»Du wirkst plötzlich so … anders. Irgendwie gedämpfter als noch vor ein paar Stunden, wo du beinahe vor Aktivität explodiert bist.«

Frank wandte sich wieder um. Sein Blick glitt aus dem Fenster, wo sich die schattenhaften Umrisse Kölns scharf gegen den heller werdenden Horizont abhoben.

»Das Ganze ist Wahnsinn. Und das weißt du auch.«

»Willst du einen Rückzieher machen?«

»Nein. Das kann ich nicht. Frag mich nicht warum, aber es geht einfach nicht.«

»Du hast Angst.«

»Ja. Auch. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass da noch mehr ist. Es ist, als würde da draußen etwas auf mich warten.«

»Was meinst du?«

Frank seufzte. Langsam drehte er sich wieder um. Sandra zuckte erschrocken zusammen, denn in dem dämmerigen Licht glich er eher einem der Untoten, die draußen die Straßen bevölkerten. Nur dass aus seinen Augen Intelligenz blitzte.

Intelligenz und … Selbstaufgabe?

Sandra schluckte. Frank wirkte in diesem Moment, als sei er einer dieser Selbstmordattentäter, die sich mit einem Gürtel voller Sprengstoff um den Bauch in eine Menschenmenge stürzten. Schweigend zuckte Frank mit den Schultern. Er konnte sein Empfinden offenbar nicht in Worte fassen.

»Bist du sicher, dass wir das auch wirklich wagen sollen?«, fragte sie.

»Ja. Mach dich in Ruhe fertig und iss was. Es wird ein langer Weg.«

Sandra sah in den Spiegel über dem Waschbecken. Das Wasser lief nicht mehr, weil es keinen Strom mehr für die Pumpen im Keller der Schule gab. Also hatte sie wieder nur eine Katzenwäsche mit einer kleinen Wasserflasche aus dem Trinkwasservorrat der abgezogenen Einsatzkräfte und einer Handvoll Seife aus dem Spender absolviert. Über den Flur hallte Franks Stimme, der mit Jonas wie vereinbart über Funk in Kontakt stand.

Sie sah furchtbar aus, fand sie, selbst in der dämmerigen Beleuchtung der Propangaslampe. Ungeschminkt, die Haare strähnig, und trotz aller Bemühungen roch sie wie ein Mufflon in der Brunftzeit.

Aber sie lebte.

Auch ohne all die angenehmen Dinge, die sie in einer immer schneller werdenden Konsumgesellschaft so dringend benötigt hatte, um sich selber gut und wichtig und funktionierend zu fühlen.

Keine Handys, keine Kriege, keine neuen Diäten, damit frau sich im kommenden Herbst auch weiterhin in das kleine Schwarze zwängen konnte. Lippenstifte, Haarpflegekuren und Deos waren in dieser neuen Welt ebenso unwichtig geworden, wie die aktuellsten Aktienkurse, hohle Politikerfloskeln über wachsende oder sinkende Arbeitslosenzahlen im Angesicht eines wirtschaftlichen Ab- oder Aufschwungs; und die Frage, ob sie sich lieber ein sündhaft teures Paar Schuhe kaufen sollte, wenn es ein anderes Paar zu einem wesentlich günstigeren Preis doch auch tat, hatte sich ebenfalls mit einem Schlag erledigt.

Erstaunt schüttelte sie den Kopf.

Das Leben war einfacher und komplizierter zugleich geworden. Die Katastrophe hatte die wirklich wichtigen Dinge des Lebens wieder in die richtige Perspektive gerückt, die Prioritätenliste einer von sich selbst und ihren Errungenschaften gelangweilten Menschheit einer brutalen Neustrukturierung unterzogen.

Wie hatte Frank letzte Nacht so launig angemerkt?

Die Menschheit hatte auf einem dahinrasenden Laufband gestanden und war im Begriff gewesen, sich selber zu überholen, als der alte Mann da oben das Band abrupt zum Stehen gebracht hatte.

Und das spürte man.

Die Luft über Köln hatte früher immer einer Käseglocke aus Abgasen geglichen. Die Stimmen der Vögel waren unter dem Lärm unzähliger Autos, Busse und Menschen nicht mehr zu hören gewesen, und das Tosen des Kreislaufs der Zivilisation war für sie zu einem alltäglichen Hintergrundrauschen geworden. Jetzt, nach … wie lange war es her, dass die Menschheit vor die Hunde gegangen war? Zwei oder drei Monate? Schon nach dieser kurzen Zeit sangen die Vögel wieder ihre morgendlichen Begrüßungen in den Sonnenaufgang, der Himmel war klarer, selbst wenn es regnete und die Stille, die sie anfangs noch teilweise wie ein wildes Tier angesprungen hatte, war zu einem willkommenen Freund geworden, den sie jeden Tag aufs Neue begrüßte.

Ja, das Leben war für Sandra einfacher geworden.

Lebenswerter trotz, oder gerade wegen, des täglichen Kampfes ums Überleben, den die Meisten nicht geschafft hatten. Sie begann wieder, die kleinen Dinge schätzen zu lernen, die ihr den Tag versüßten.

Schritte erklangen im Hausflur. Sandra drehte sich mit einem Lächeln um. Frank stand in der Tür. Sein Blick war wach und konzentriert, aber nicht mehr so schicksalsergeben, wie noch vor knapp einer Stunde.

»Bist du soweit?«

»Noch vor wenigen Wochen hätte ich dich entweder aus dem Bad geworfen, oder dir mit unmissverständlichen Worten klar gemacht, dass eine Frau erst dann fertig ist, wenn sie eben fertig ist.«

Frank lächelte, runzelte aber gleichzeitig die Stirn. Es sah lachhaft aus, wie er versuchte klug, und nicht allzu verwirrt auszusehen.

»Wie meinen?«

»Du wirst mich so zu unserem Ausflug ausführen müssen, wie ich jetzt hier vor dir stehe.«

Verstehen dämmerte in Franks Gesicht, und er grinste wie ein kleiner Junge.

»Sandra, du siehst umwerfend aus. Es erfüllt mich mit Stolz, eine so schöne Frau an meiner Seite wissen zu dürfen.«

»Schleimer.«

Frank zwinkerte ihr zu. Dann wurde er ernst. Der ungezwungene Moment ihrer Witzeleien verflog wie das Licht eines Sonnenstrahls, der hinter einer Wolke verschwand.

»Wir sollten uns beeilen. Jonas und die anderen Kinder halten nicht mehr lange aus. Wenn wir es schaffen, sollten wir auch eine Apotheke suchen. Wir brauchen dringend ein paar Aspirin, Antibiotika und Verbandszeug.«

Sandras Lächeln erstarb auf ihrem Gesicht. Sie spürte, wie die Notwendigkeiten ihres neuen Lebens dicken Hagelkörnern gleich auf sie einprasselten.

Medikamente.

Ja.

Ärzte gab es wohl keine mehr. Sie mussten sich ab sofort selber versorgen können. Ein Kratzer konnte schon zu einer Blutvergiftung führen, die wiederum zum Tod … der anschließend zu noch viel Schlimmerem führte. Sie nickte.

»Dann lass es uns hinter uns bringen.«

Er, der sich selber jetzt als Papa empfand, wartete immer noch. Das helle Leuchten kehrte allmählich wieder zurück, aber von dem warmen Roten war nichts zu sehen. Hatte er es verpasst? Hatten ihn seine Instinkte getäuscht? Einer von den anderen wankte durch das helle Leuchten. Papa spürte, wie der bohrende Hunger in ihm immer stärker wurde. In dem hellen Leuchten versickerte allmählich seine Kraft.

Ein lautes Pochen holte ihn zurück aus der Starre, die ihn befallen wollte. Einer von den anderen klopfte schon wieder auf seinem Auto herum. Es war derselbe, den er schon im Dunkeln vertrieben hatte? So würde das warme Rote niemals zurückkehren!

Mit einem tiefen Knurren trat Papa aus dem Schatten. Das heiße Dunkle brannte fast genauso stark wie der Hunger in seinem Inneren. Er packte den anderen, riss ihn so schnell herum, dass ihn eine Hand des Anderen am Kopf traf … und das heiße Dunkle in ihm brach sich endgültig Bahn! Mit ungeschickten Händen schlug Papa zu, trieb den anderen vor sich her, der überrascht über diese Attacke rückwärts taumelte. Die anderen blickten mit stumpfer Neugier auf die beiden, aber Papa bemerkte es kaum, so tief war der Rausch, in den ihn das heiße Dunkle trieb. Immer und immer wieder hieb er mit seinen tumben Händen auf den anderen ein, der einfach nicht stillhalten wollte. Dann bekam er ihn zu fassen. Aus einem Reflex biss Papa zu, trieb mit aller Gewalt seine Zähne in den Hals des anderen, riss voll dunkler Wut ein Stück heraus … und erstarrte.

Er konnte es essen?

Verblüfft über diese Erkenntnis schluckte er den Bissen herunter. Der Hunger wurde stiller. Nicht viel, aber doch spürbar, und seine Kräfte kehrten zurück, wenn auch nicht so stark und schnell, wie es das warme Rote versprach. Der andere blickte immer noch verständnislos auf Papa.

Kraft! Papa brauchte Kraft, wenn er das warme Rote erlegen wollte. Und der andere würde sie ihm geben. Mit gefletschten Zähnen beugte Papa sich vor und biss erneut zu.

Frank und Sandra standen am Haupteingang der Schule. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass Frank die Maschinenpistole und Sandra die Dienstwaffe des toten Polizisten nehmen sollte, die er vor einer gefühlten Ewigkeit erbeutet hatte. Die Handgranaten hatte Frank ebenfalls in einer kleineren Version ihrer behelfsmäßigen Rucksäcke dabei. Frank zögerte an der Tür. Irgendetwas hatte er bei seiner schnellen Planung gestern Nacht übersehen.

Aber was?

Notrationen, Wasser, Waffen … sie waren den Umständen entsprechend gut ausgerüstet, auf alle Eventualitäten vorbereitet … Oder doch nicht?

Hatte er etwas übersehen?

Er schüttelte den Kopf, sah noch einmal durch die Glastür so gut es ging die Straße entlang, dann drückte er sie vorsichtig auf und trat einen halben Schritt ins Freie. Die Straße sah verlassen aus. Kein Zombie ließ sich blicken. Er sah seinen Wagen. Den würden sie stehen lassen müssen, denn es gab keinen freien Weg über die Severinsbrücke. Es war fraglich, ob sie bei einer anderen Rheinbrücke mehr Glück hätten. Eine entsprechende Suche würde Zeit kosten. Mehr, als sie zur Verfügung hatten, wenn sie Jonas und die anderen Kinder wirklich retten wollten. Hinter ihm drückte Sandra die Tür auf und Frank trat vollends auf den Bürgersteig.

Verwundert runzelte er die Stirn.

Am Ende der leicht gebogen verlaufenden Straße, dort wo die Kreuzung die Auffahrt zur Severinsbrücke bildete und ziemlich nah an seinem Wagen, herrschte ein Tumult unter den Zombies. Es sah aus, als würden sie über jemanden herfallen. Sandra trat neben ihn.

»Was ist da los?«, flüsterte sie. »Haben die etwa einen Überlebenden erwischt?«

»Ich weiß es nicht. Und wenn, dann können wir sowieso nicht mehr helfen.« Frank kniff die Augen zusammen und beugte sich leicht vor. »Lass uns abhauen bevor …«

Frank wich erschrocken zurück und rempelte beinahe Sandra an. Aus der tobenden Menge der Zombies war ein Kopf erschienen, den er erkannte. Ein Kopf mit einem Hausmeisterhut, ein Oberkörper in einem blaugrauen Kittel.

»Scheiße!«, fiel es ihm wie ein Stück verdorbenes Obst aus dem Mund. »Den kenne ich.«

»Bitte?«

Frank drehte sich zu Sandra um. Er sah Erschrecken in ihrem Blick, das viel tiefer ging, als er es für möglich gehalten hätte.

»Ich habe dieses Ding da vor mehr als einer Woche ein Treppenhaus hinuntergeworfen!«

Der Zombie im Hausmeisterkittel sah die Straße hinunter. Irgendwas hing aus seinem Mundwinkel. Er wirkte wie ein Scharfschütze, der gerade ein besonders lohnendes Ziel ins Visier nahm. Langsam trennte er sich von dem Knäuel der Ghoule und kam die Straße entlang auf Frank und Sandra zu. Aber wo er eigentlich hilflos wanken und torkeln sollte, zeigten seine Schritte eine ungewöhnliche Sicherheit. Sandra schüttelte den Kopf, hob die Pistole und legte an. Frank bemerkte statt Angst einen heißen Zorn in ihrem Blick und ihrer Haltung. Es war beinahe, als hätte sie mit diesem Untoten eine persönliche Rechnung zu begleichen.

»Jetzt bist du endlich fällig«, murmelte sie. Frank hob zu einer Frage an, Sandra drückte ab … Ein trockenes Klicken erklang anstelle des erwarteten Knalls!

Verwirrt sah sie auf den Sicherungsbügel.

Entsichert.

Erneut hob sie die Waffe und drückte ab.

Nichts!

»Heiligemuttergottesdasdarfesnichtgeben …«

Der Hausmeisterzombie wurde schneller.

»Lauf!«, keuchte Frank, während er seine Waffe hob. Der Zombie verfiel in einen Dauerlauf. Weitere Reanimierte blickten auf, entdeckten offenbar das Ziel des einsamen Jägers, und folgten ihm. Frank legte an, drückte ab und eine lange Reihe Staubfontänen stieg aus dem Asphalt vor den Ghoulen auf. Zwei von ihnen zuckten unter den Einschlägen zurück, aber sie liefen einfach weiter. Frank hielt die Mündung der Waffe höher, traf aber nur Fassaden und Fenster. Dann erklang auch in seinen Händen nur noch ein trockenes Klicken. Er hatte keine Munition mehr. Und jetzt wurde ihm bewusst, was er die ganze Zeit übersehen hatte.

Seine Reservemagazine!

Die lagen gut verstaut auf dem Beifahrersitz seines Wagens und der Hausmeisterzombie kam unaufhaltsam näher, rannte beinahe schon, wobei diese Dinger doch im Hellen gar nicht rennen konnten! Oder etwa doch?

»Lauf!«, keuchte Frank.

»Ab...«

»LAAAAUF!«

*

Die Gier war gut.

Die Gier nach mehr, mehr und nochmal mehr von allem sorgte dafür, dass er an Kraft gewann, die Gier war der Motor des Lebens, was immer das auch bedeuten mochte, war die Waffe, die ihn auf der Jagd nach dem warmen Roten allen anderen überlegen machen würde. Und wenn er sich ihr ergab, würde sie ihm helfen, das warme Rote ganz für sich alleine zu haben, es mit niemandem teilen zu müssen, es ganz alleine verschlingen zu können … Ja, die Gier war gut.

Es war kein richtiges Verstehen, das Papas Bewusstsein durchflutete. Es war eher ein animalischer Instinkt, der ihn antrieb. Immer und immer wieder biss er in den Leib des anderen, der nicht verstand, was da geschah, schlang große Bissen seines dunklen und kalten Fleisches herunter. Als andere Hände und Gesichter hinzukamen, schlug und biss Papa um sich, verteidigte seine Quelle der Kraft, die um so vieles schwächer war, als es das warme Rote versprach, und ihm doch zumindest etwas von der dringend benötigten Kraft gab, die ihn am Leben erhielt. Das Getümmel aus verzerrten Gesichtern, Armen, Beinen und Leibern wurde immer dichter. Schließlich lagen von dem anderen nur noch Fetzen seines Leibes auf dem Boden. Sein Kopf, aus dem die Augen immer noch verständnislos in das helle Leuchten blickten, kullerte über den Boden.

Papa spürte etwas.

Etwas war hinter ihm.

Er erhob sich, sah sich um … war sein Blick schärfer? Er konnte trotz des hellen Leuchtens klarer sehen. Das war gut, das war … das warme Rote! Da hinten! Ganz weit weg von dem Auto. Und es war nicht alleine! Es hatte ein anderes warmes Rotes dabei!

Langsam wandte Papa sich vollends um.

Sein Hunger war gestillt, aber die Gier und das dunkle Heiße brannten heller in ihm, als das Leuchten, das ihm so in den Augen und auf dem Körper brannte. Er ging auf das warme Rote zu. Oh, das war gut! Er spürte, dass seine Beine an Kraft gewonnen hatten, wie er immer schneller wurde, beinahe zu fliegen schien. Fliegen? Was war Fliegen? Egal! Was immer es auch war, es brachte ihn schneller zum warmen Roten. Die Gier trieb ihn an, die Gier ließ ihn fliegen …

Die Gier war gut!

*

Frank und Sandra bogen bei der ersten Möglichkeit nach links in Richtung Rheinufer ab. Sie waren etwa die Hälfte des Weges bis zur nächsten Einmündung gekommen, als Sandras Rucksack riss. Rutschend kam sie zum Stehen. Frank bremste ebenfalls seinen Lauf. Er sah die Straße hinunter … und da kam er schon. Dieser hartnäckige Zombie, den er in seinen panikerfüllten Gedanken Hausmeister Krause getauft hatte, um seine Angst daran zu hindern, ihn erstarren zu lassen wie ein Reh, das auf einer nächtlichen Straße in das Scheinwerferlicht eines Autos blickte.

Der Zombie war schnell.

Schneller als er eigentlich sein durfte.

Sandra zögerte. Frank lief die wenigen Schritte zu ihr zurück, riss sie an der Schulter.

»Komm! Lass liegen!«

Der Zombie war noch knapp siebzig Meter entfernt. Kurz darauf kamen weitere aus der Seitenstraße. Ebenfalls viel schneller, als Frank oder Sandra die Reanimierten je erlebt hatten.

»Haken schlagen!«, rief Frank und rannte nach rechts eine Seitenstraße rein. Nach knapp sechzig Metern hielt er sich links. Jeder Atemzug brannte ihm in der Lunge, in seinen Beinen breitete sich der heiße Schmerz der ungewohnten Anstrengung aus. Wann war er zuletzt gerannt oder zumindest mal etwas länger zu Fuß gegangen, anstatt sein Auto zu benutzen? Sandra blieb mit ihm auf einer Höhe, obwohl sie ihn mit Leichtigkeit hätte überholen können. Immerhin trug sie jetzt keinen provisorischen Rucksack mehr. Frank verdrängte den bösartigen Gedanken. Sie atmete viel gleichmäßiger als er, so als wäre sie es gewohnt, um ihr Leben zu laufen. Da hätte auch der Rucksack keinen Unterschied mehr gemacht. Die beiden warfen im Laufen einen Blick zurück. Der Hausmeisterzombie rannte gerade um die Ecke. Von seinen Gefährten war noch nichts zu sehen.

»Links«, rief Sandra.

Frank, der eigentlich weiter geradeaus wollte, schaffte es strauchelnd, die Richtung zu wechseln. Sie rannten die Straße an einem Reihenhaus vorbei. Autowracks standen quer, Mülltonnen lagen auf der Straße. Immer wieder mussten sie ihr Tempo kurz zügeln, um über Hindernisse zu klettern, die zu hoch waren, um sie einfach aus vollem Lauf zu überspringen. Hoffentlich hielt sich hier kein weiterer Zombie versteckt.

Am Ende der Straße wagten beide eine kurze Verschnaufpause. Der Hausmeister und seine Kumpane waren immer noch hinter ihnen her. Aber der Abstand schien gleich geblieben zu sein. Die Hindernisse auf den Straßen machten auch ihnen zu schaffen.

»Weiter«, ächzte Frank.

Sandra nickte nur und deutete nach rechts. Frank lief los. Aus dem Augenwinkel sah er ein Straßenschild.

Tempelstraße.

Für eine Sekunde schoss ihm durch den Kopf, dass hier noch vor ein paar Monaten zu Karneval der Veedelszoch durchgegangen war, dass hier lachende und feiernde Menschen am Straßenrand gestanden hatten ... Die ersten Anzeichen von heftigen Seitenstichen holten ihn in die Wirklichkeit zurück. Sie hielten die ungefähre Richtung zur Hohenzollernbrücke ein, die er gestern Nacht für ihren Weg über den Rhein ausgesucht hatte. Sie passierten einen Kipplaster, der mit orangefarbenen Beuteln bis oben hin gefüllt war.

Die Beutel zuckten und bewegten sich.

Besser nicht darüber nachdenken, nicht darauf achten, einfach nur die Beine in Bewegung halten, die Luft gleichmäßig in die Lungen saugen und wieder ausstoßen. Die Augen dabei fest auf den Weg gerichtet halten, um alle Hindernisse frühzeitig zu erkennen.

Frank blickte im Laufen über die Schulter zurück.

Die Zombies waren immer noch knapp hundert Meter hinter ihnen, aber wo war Sandra? Frank blieb stehen, drehte sich um, und dann sah er, wie sie um die Ecke der Seitenstraße verschwand, die sie gerade passiert hatten, während er weiter mitten auf der Fahrbahn geradeaus gelaufen war. Frank verkniff sich einen Fluch und rannte weiter. Wollte sie sich von ihm trennen, um ihre Verfolger zu verwirren, oder glaubte sie, alleine eine größere Chance zu haben?

An der nächsten Kreuzung hielt Frank sich ebenfalls links, bog in die schmale Seitenstraße ein, deren Häuser seinen Weg so klaustrophobisch eng erscheinen ließen. Was in seinem alten Leben noch irgendwie beschaulich gewirkt hatte, wurde plötzlich zu einem tödlich engen Pass, den er durchqueren musste. Aus jedem dunklen Hauseingang konnte ihn eins von diesen Dingern anspringen. Kurz bevor er die Ecke passierte, wagte er noch einen Blick zurück. Wurden die Zombies langsamer? Tatsächlich. Hausmeister Krause blieb sogar stehen. Frank gönnte sich einen weiteren keuchenden Atemzug und grinste. Denen ging wohl auch die Puste aus. Plötzlich bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Gestalt am Ende der Straße.

Sandra!

Sie winkte ihm zu, er solle kommen. Dann deutete sie nach rechts. Er verstand. Sandra war durch eine Gasse auf die Siegburger Straße gelaufen, die hier parallel zum Rheinufer verlief. Von dort aus mussten sie sich rechts halten, wenn sie zur Hohenzollernbrücke gelangen wollten. Also hatte sie tatsächlich versucht ihre Verfolger zu verwirren, oder zumindest aufzuteilen.

Er wollte gerade loslaufen, als hinter ihm ein grässliches Geräusch ertönte.

*

Frank blieb stehen. Sein Blick glitt die Straße zurück, die er eben entlanggelaufen war. Hausmeister Krause stand dort, die Hände zu Fäusten geballt.

Der Zombie stöhnte, lauter als ein gewöhnliches Exemplar und schüttelte seine Fäuste in Richtung Frank. Das Stöhnen, das eher nach einem unartikulierten Wutschrei klang, verebbte und die Fäuste sanken nach unten. Nach einem letzten Zähnefletschen und einem hasserfüllt wirkenden Blick, wandte sich der Zombie seinen Artgenossen zu, die ihn gerade erreichten.

Frank erschauerte.

Der Zombie in dem blaugrauen Hausmeisterkittel griff sich den Erstbesten seiner Artgenossen und schlug seine Zähne in dessen Hals? Die anderen bremsten ihren Lauf ab und blieben in respektvollem Abstand stehen.

Frank schluckte trocken.

Die Zombies fielen sich plötzlich auch untereinander an? War es vielleicht nur eine Frage der Zeit, bis sie sich alle gegenseitig auffressen würden?

Frank beschloss seine Entdeckung, diesen winzigen Hoffnungsschimmer, vorerst für sich zu behalten. Wenn das da drüben nur eine einmalige Aktion gewesen war, er und Sandra sich aber in Zukunft darauf verlassen würden, wäre das Erwachen vielleicht mehr als böse. Hoffnung war in einer Welt, die von Gott verlassen war, eine gefährliche und trügerische Sache.

Nach einem letzten, zweifelnden Blick wandte er sich ab und lief los.

Chronik von Eden

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