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KAPITEL DREI

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Reid schloss die Tür zu ihrem Zuhause in der Vorstadt von Alexandria im Bundesstaat Virginia auf, balancierte eine Pizza-Schachtel auf seiner Hand und gab den sechsstelligen Alarmcode in die Schaltfläche neben der Tür ein. Er hatte das System gerade vor einigen Wochen verbessern lassen. Dieser neue Alarm sendete eine Notfallnachricht sowohl an den Rettungsdienst als auch an die CIA, falls der Code nach Öffnung einer der Ausgänge nicht binnen dreißig Sekunden richtig eingegeben wurde.

Es war eine von mehreren Vorsichtsmaßnahmen, die Reid seit dem Vorfall getroffen hatte. Es gab jetzt Kameras, drei insgesamt. Eine von ihnen war über der Garage angebracht und zielte in Richtung Auffahrt und Eingangstür, eine weitere war im Flutlicht über der Hintertür versteckt und eine dritte befand sich außerhalb des Panikraumes im Keller. Alle drei nahmen rund um die Uhr auf. Er hatte auch alle Schlösser im Haus ausgetauscht. Ihr ehemaliger Nachbar, der jetzt verstorbene Herr Thompson, hatte einen Schlüssel für die Eingangs- und Hintertür, doch seine Schlüssel verschwanden, als der Attentäter Rais seinen Wagen stahl.

Außerdem waren Ortungschips in seine Töchter implantiert worden. Beide waren sich dessen nicht bewusst. Man hatte ihnen eine Injektion gesetzt und ihnen gesagt, dass es sich um eine Grippeimpfung handelt. Doch in Wirklichkeit war es ein subkutanes GPS-Ortungsgerät, kleiner als ein Reiskorn, das man ihnen in den Oberarm gespritzt hatte. Wo auch immer sie auf der Welt wären, ein Satellit wüsste darüber Bescheid. Das war Agent Stricklands Einfall und Reid hatte ihm fraglos zugestimmt. Insbesondere merkwürdig war es, dass Deputy Direktor Cartwright sofort unterschrieb, obwohl es sehr kostenaufwendig war, zwei Zivile mit CIA Technik auszustatten.

Reid ging in die Küche und fand Maya im Wohnzimmer nebenan., die einen Film im Fernsehen sah. Sie faulenzte auf ihrer Seite des Sofas, immer noch im Schlafanzug, und beide ihrer Beine hingen von der Lehne.

„Hallo.” Reid stellte die Pizza-Schachtel auf die Arbeitsfläche und zog sich seine Tweedjacke aus. „Ich habe dir eine SMS geschrieben. Du hast nicht geantwortet.”

„Das Telefon lädt sich oben auf”, antwortete Maya gelassen.

„Kann sich das nicht hier unten aufladen?” fragte er spitz.

Sie zuckte nur mit den Schulter.

„Wo ist deine Schwester?”

„Oben”, gähnte sie. „Glaube ich.”

Reid seufzte. „Maya -”

„Sie ist oben, Papa. Mann...”

So sehr er sie auch für ihr launische Haltung der letzten Zeit ausschimpfen wollte, hielt Reid sich dennoch zurück. Er wusste immer noch nicht genau, was die beiden während des Vorfalls mitgemacht hatten. In seinem Inneren nannte er es jetzt „den Vorfall”. Saras Psychologin hatte vorgeschlagen, der Sache einen Namen zu geben, damit sie in Gesprächen Bezug auf das Ereignis nehmen könnten. Er hatte es allerdings noch nie laut ausgesprochen.

Überhaupt sprachen sie kaum darüber.

Aus den Krankenhausberichten, sowohl aus dem aus Polen als auch aus dem einer zweiten Untersuchung in den USA, wusste er, dass beide seiner Töchter zwar kleinere Verletzungen erlitten hatte, doch keine von ihnen vergewaltigt worden war. Er hatte jedoch mit eigenen Augen gesehen, was mit einigen der Opfer der Menschenhändler geschehen war. Er war sich nicht sicher, ob er bereit war, die Details der fürchterlichen Qual zu hören, die sie wegen ihm erlitten hatten.

Reid ging nach oben und hielt einen Augenblick vor Saras Schlafzimmertür inne. Die Tür stand ein paar Zentimeter offen. Er blickte hinein und sah, dass sie auf ihrer Bettdecke lag und die Wand anblickte. Ihr rechter Arm lag auf ihrer Hüfte, immer noch vom Ellenbogen an in dem beigen Gips. Morgen hatte sie einen Termin beim Arzt, um festzustellen, ob man ihn abnehmen könnte.

Reid drückte sanft die Tür auf, doch die Scharniere quietschten trotzdem. Sara bewegte sich jedoch nicht.

„Schläfst du?” fragte er leise.

„Nein”, murmelte sie.

„Ich, äh... ich habe eine Pizza mitgebracht.”

„Hab keinen Hunger”, gab sie matt zurück.

Seit dem Vorfall aß sie nicht viel. Reid musste sie sogar ständig daran erinnern, Wasser zu trinken, sonst nähme sie kaum etwas zu sich. Er verstand besser als die meisten, wie schwer es war, Trauma zu überleben, doch dies fühlte sich anders an. Schlimmer.

Dr. Branson, die Psychologin, zu der Sara ging, war eine geduldige und mitfühlende Frau, die sehr empfohlen wurde und von der CIA zertifiziert war. Doch laut ihrer Berichte sprach Sara während der Therapie-Sitzungen nur wenig und beantwortete Fragen mit so wenig Worten wie möglich.

Er saß auf dem Rand ihres Bettes und strich das Haar aus ihrer Stirn. Sie zuckte leicht bei seiner Berührung zurück.

„Kann ich irgendwas für dich tun?” fragte er leise.

„Ich will einfach nur allein sein”, murmelte sie.

Er seufzte und stand vom Bett auf. „Verstehe ich”, sagte er empathisch. „Ich würde mich trotzdem sehr darüber freuen, wenn du herunterkämst und wir zusammen sein könnten, wie eine Familie. Vielleicht könntest du versuchen, ein paar Happen zu essen.”

Sie antwortete nichts.

Reid seufzte erneut, als er wieder die Treppen hinunterging. Sara war offensichtlich traumatisiert. Es war jetzt noch viel schwerer, zu ihr vorzudringen als zuvor, im Februar, nachdem die Mädchen eine Begegnung mit zwei Mitgliedern der Terrororganisation Amun an der Strandpromenade in New Jersey hatten. Er dachte damals, dass es schlimm war, doch jetzt war seine jüngste Tochter komplett freudlos, schlief oder lag im Bett und starrte in die Luft. Selbst wenn sie körperlich anwesend war, fühlte es sich an, als ob sie kaum da wäre.

In Kroatien, der Slowakei und in Polen wollte er einfach nur seine Mädchen zurück haben. Jetzt, da er sie sicher heimgebracht hatte, wollte er einfach nur seine Mädchen zurück haben - doch auf andere Weise. Er wollte, dass die Dinge wieder so wären wie zuvor.

Maya war im Esszimmer und deckte den Tisch mit drei Papptellern und -bechern. Er sah ihr dabei zu, wie sie sich ein wenig Limo eingoss, ein Stück Peperoni-Pizza aus der Schachtel nahm und die Spitze abbiss.

Während sie kaute, fragte er: „Also. Hast du schon ein bisschen mehr darüber nachgedacht, wieder zur Schule zu gehen?”

Ihr Kiefer bewegte sich kreisförmig, während sie ihn gerade anblickte. „Ich glaube, ich bin einfach noch nicht so weit”, antwortete sie nach einer Weile.

Reid nickte, als ob er ihr zustimmte, doch er dachte, dass vier Wochen mehr als genug Zeit wären und es ihnen guttäte, wenn sie wieder zur Routine zurückkehrten. Keine von ihnen war nach dem Vorfall zur Schule zurückgekehrt. Sara war ganz offensichtlich noch nicht bereit, doch es schien, dass Maya wieder in Form war, um ihre Bildung erneut aufzunehmen. Sie war schlau, fast zu schlau. Selbst in der Mittelschule hatte sie jede Woche an ein paar Kursen der Georgetown Universität teilgenommen. Das sähe auf einer Universitätsbewerbung gut aus und gäbe ihr Vorsprung bei einem Studium - doch nur, wenn sie die Kurse auch beendete.

Mindestens ging sie ein paar Mal pro Woche zur Bibliothek, um zu lernen, das war schon ein Anfang. Sie hatte vor, an den letzten Prüfungen teilzunehmen und sie zu bestehen, damit sie nicht wiederholen müsste. Doch so schlau sie auch war, Reid zweifelte daran, dass das ausreichen würde.

Er wählte seine Worte vorsichtig, als er ihr sagte: „Es sind nicht mal mehr zwei Monate Unterricht, doch ich glaube, du bist schlau genug, aufzuholen, falls du zurückkehrst.”

„Du hast recht”, gab sie zurück, während sie einen weiteren Happen Pizza abbiss. „Ich bin schlau genug.”

Er blickte sie von der Seite an. „Das war nicht, was ich meinte, Maya -”

„Oh, hallo Mäuschen”, sagte sie plötzlich.

Reid blickte erstaunt auf, als Sara in das Esszimmer kam. Ihr Blick fegte über den Boden, während sie sich schüchtern auf den Stuhl zubewegte. Er wollte etwas sagen, sie ermutigen oder sie einfach nur wissen lassen, dass er sich darüber freute, dass sie zu ihnen kam, doch er hielt sich zurück. Es war das erste Mal in mindestens zwei Wochen, wenn nicht noch länger, dass sie zum Essen heruntergekommen war.

Maya legte ein Stück Pizza auf einen Teller und gab ihn ihrer Schwester. Sara biss ein winziges, fast unbemerkbar kleines Stück von der Spitze ab, sah keinen von den beiden an.

Reids Gehirn raste, suchte nach etwas, was er sagen könnte, etwas, dass dies wie ein normales Familienessen aussehen ließe und nicht die angespannte, stille, schmerzhaft unbehagliche Situation, die es wirklich war.

„Ist heute irgendwas Interessantes passiert?” gab er schließlich von sich und schimpfte sich sofort für den lahmen Versuch aus.

Sara schüttelte ein wenig den Kopf, starrte auf die Tischdecke.

„Ich habe einen Dokumentarfilm über Pinguine geschaut”, bot Maya an.

„Hast du was Wissenswertes dabei gelernt?” wollte er wissen.

„Nicht wirklich.”

Und so kehrte die Stille und Anspannung wieder zurück.

Sag was Sinnvolles, brüllte sein Gehirn ihn an. Biete ihnen Unterstützung an. Lass sie wissen, dass sie dir offen erzählen können, was geschehen ist. Ihr habt alle Traumata überlebt. Überlebt es zusammen.

„Hört mal”, sprach er. „Ich weiß, dass es in letzter Zeit nicht gerade einfach war. Doch ich möchte, dass ihr beide wisst, dass ihr mit mir darüber sprechen könnt, was geschehen ist. Ihr könnt mir Fragen stellen. Ich werde ehrlich sein.”

„Papa...” begann Maya, doch er hob die Hand.

„Bitte, das ist mir wichtig”, fuhr er fort. „Ich bin für euch da und werde es immer sein. Wir haben das zusammen überlebt, wir drei, und das beweist, dass es nichts gibt, was uns trennen kann...”

Er hielt inne, sein Herz brach erneut, als er sah, wie Tränen über Saras Wangen flossen. Während sie weinte, starrte sie weiterhin hinunter auf den Tisch, sagte nichts, ihr Blick schien weit weg und drückte aus, dass sie geistig woanders war, nicht bei ihrer Schwester und ihrem Vater.

„Schatz, es tut mir leid.” Reid stand auf, um sie zu umarmen, doch Maya war schneller. Sie legte ihre Arme um ihre jüngere Schwester, während Sara in ihre Schulter schluchzte. Reid konnte nichts weiter tun, als ungelenk dazustehen und sie zu beobachten. Keine tröstenden Worte kam ihm in den Sinn. Jeglicher Ausdruck von Zärtlichkeit, den er anböte, stellte kaum mehr als ein Pflaster auf einer Einschusswunde dar.

Maya ergriff eine Serviette vom Tisch und tupfte damit sanft die Wangen ihrer Schwester, strich ihr das blonde Haar von der Stirn. „Hey”, flüsterte sie. „Warum gehst du nicht hoch und legst dich ein Weilchen hin? Ich komme gleich nach und schaue nach dir.”

Sara nickte und schniefte. Sie stand wortlos vom Tisch auf und schlurfte aus dem Esszimmer auf die Treppen zu.

„Ich wollte sie nicht aufregen...”

Maya drehte sich zu ihm, mit den Händen auf den Hüften. „Warum hast du dann wieder darüber reden müssen?”

„Weil sie kaum zwei Worte mit mir darüber gesprochen hat!” verteidigte sich Reid. „Ich will, dass sie weiß, dass sie mit mir reden kann.”

„Sie will nicht mit dir darüber reden”, platze es aus Maya. „Sie will mit niemandem darüber reden!”

„Dr. Branson sagt, dass es therapeutisch ist, über vergangenes Trauma zu sprechen...”

Maya schnaubte laut. „Und du glaubst, dass Dr. Branson jemals so etwas mitgemacht hat, was Sara widerfahren ist?”

Reid atmete tief durch, zwang sich, die Ruhe zu bewahren und nicht zu streiten. „Wahrscheinlich nicht. Aber sie behandelt CIA Agenten, militärisches Personal, alle möglichen Arten von Trauma und posttraumatischer Belastungsstörungen -”

„Sara ist aber kein CIA Agent”, gab Maya schroff zurück. „Sie ist kein Elitesoldat oder Mitglied der Navy. Sie ist ein vierzehnjähriges Mädchen.” Sie strich sich durchs Haar und seufzte. „Du willst es wissen? Du willst darüber sprechen, was passiert ist? Na gut: Wir sahen Herrn Thompsons Leiche, bevor man uns entführte. Sie lag genau hier, im Eingang. Dann beobachteten wir diesen Verrückten dabei, wie er die Gurgel der Frau an der Autobahnraststätte durchschnitt. Ihr Blut war auf meinen Schuhen. Wir waren dabei, als die Menschenhändler ein weiteres Mädchen erschossen und sie im Kies liegen ließen. Sie versuchte, mir dabei zu helfen, Sara zu befreien. Ich wurde unter Drogen gesetzt. Wir wurden beide beinahe vergewaltigt. Und Sara... irgendwie schaffte sie es, sich gegen zwei erwachsene Männer zu wehren, von denen einer eine Waffe hatte, und dann ist sie bei voller Fahrt aus dem Zugfenster gesprungen.” Als sie zu Ende erzählt hatte, bebte ihre Brust, doch keine Tränen entrannen ihr.

Sie war nicht traurig darüber, die Ereignisse des letzten Monats wieder zu erleben. Sie war wütend.

Reid sank langsam auf einen Stuhl. Er wusste über das meiste, was sie ihm gesagt hatte, Bescheid, weil er ihnen auf der Spur war, doch er hatte keine Ahnung, dass ein weiteres Mädchen vor ihren Augen erschossen worden war. Maya hatte recht, Sara war nicht darauf vorbereitet, solche Dinge zu verarbeiten. Sie war nicht mal erwachsen. Sie war eine Jugendliche, die Dinge erlebt hatte, die jeden, egal ob er darauf trainiert war oder nicht, traumatisiert hätten.

„Als du auftauchtest”, fuhr Maya fort, ihre Stimme jetzt leiser, „als du uns endlich fandest, da warst du für uns wie ein Superheld oder so. Zu Beginn. Doch dann... als wir etwas Zeit hatten, um darüber nachzudenken... da ist uns bewusst geworden, dass wir nicht wissen, was du sonst noch vor uns versteckst. Wir sind uns nicht sicher, wer du wirklich bist. Weißt du, wie viel Angst uns das macht?”

„Maya”, antwortete er sanft, „ihr müsst niemals Angst vor mir haben -”

„Du hast Leute umgebracht.” Sie zuckte mit einer Schulter. „Einen ganzen Haufen. Stimmt’s?”

„Ich...” Reid musste sich daran erinnern, sie nicht anzulügen. Er hatte versprochen, dass er es nicht mehr täte, soweit das möglich wäre. Stattdessen nickte er nur.

„Du bist nicht die Person, die wir dachten, die du seist. Es wird ein Weilchen dauern, bis wir uns daran gewöhnen. Das musst du akzeptieren.”

„Du sagst ständig ,wir’”, murmelte Reid. „Spricht sie mit dir?”

„Ja. Manchmal. Seit der letzten Woche schläft sie in meinem Bett. Alpträume.”

Reid seufzte traurig. Vorbei mit der sorglosen, freudigen Dynamik, die ihre kleine Familie einst genoss. Er wusste, dass die Dinge sich für alle und zwischen allen geändert hatten - vielleicht für immer.

„Ich weiß nicht, was tun”, gab er leise zu. „Ich will für sie da sein, für euch beide. Ich will euch unterstützen, wenn ihr es braucht. Doch das kann ich nicht, wenn sie nicht mit mir darüber spricht, was in ihr vorgeht.” Er blickt zu Maya auf und fügte hinzu: „Sie hat dich immer bewundert. Vielleicht kannst du jetzt ihr Vorbild sein. Ich glaube, dass es euch beiden guttäte, wenn ihr wieder eine Routine aufnehmt, versucht, ein normales Leben zu führen. Beende zumindest deinen Unterricht in Georgetown. Die lassen dich vermutlich auch nicht dort studieren, wenn du ein ganzes Semester nicht bestehst.”

Maya war für einen langen Moment still. Schließlich sagte sie: „Ich glaube, ich will gar nicht mehr an der Uni Georgetown studieren.”

Reid runzelte die Stirn. Georgetown war ihr erste Wahl von Universitäten, seit sie nach Virginia gezogen waren. „Wo denn dann? Die Universität von New York?

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich will nach West Point.”

„West Point”, wiederholte er verdutzt, komplett überrascht von ihrer Aussage. „Du willst auf eine Militärakademie?”

„Ja”, sagte sie. „Ich werde eine CIA Agentin.”

Eine Falle für Null

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