Читать книгу Gesammelte Werke: Science-Fiction-Romane + Abenteuerromane + Erzählungen - Dominik Hans - Страница 10

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Georg Isenbrandt ging zur Tür und schloß sie ab. Dann ging er zu dem Alten und legte ihm die Hände auf die Schultern.

»Hören Sie, alter Freund! Es gibt ein Mittel, um das Unheil zu bekämpfen. Ich habe es! … Aber ich kann es nicht selbst tun, und ich weiß keinen anderen und besseren als Sie, der sich schon so lange Jahre als treu und zuverlässig im Dienste der Gesellschaft erwiesen hat. Ich weiß keinen besseren als Sie, dem ich das Geheimnis dieses Kampfmittels anvertrauen könnte. Mein Geheimnis ist es! Kein Mensch, auch keiner der Herren von der E. S. C. weiß darum. Ihnen will ich es in dieser Stunde der Not zu treuen Händen geben. Ehe ich Sie aber frage, ob Sie bereit sind, die Tat zu tun, will ich Ihnen sagen, was zu tun ist … welche Gefahren damit verbunden sind. Es muß jemand mit einem Flugschiff, das er selbst steuert, die chinesischen Kämme abfliegen und an allen, wenigstens an den Hauptstellen, wo die Gelben gesalzen haben, das Gegengift streuen.«

»Gegengift? Gegen unser Dynotherm?«

»Ja, Franke! Es gibt ein Mittel, und ich habe es. Wird es auf die Puderstellen gestreut, so wird die Wirkung des Dynotherms gebunden … Aber die Sache ist nicht ohne Gefahr. Sie müßten noch jetzt in dieser Nacht mit einem Schiff, von dem alle Kennzeichen der E. S. C. entfernt sind, den Flug unternehmen …

Sie dürfen keine Lichter führen … Sie müssen sehr tief fliegen … Schon das ist nicht ohne Gefahr … Dazu kommt, daß von gelber Seite … vielleicht auf Sie geschossen werden wird … Überlegen Sie in aller Ruhe …«

»Da ist nichts zu überlegen, Herr Isenbrandt. Was sollte ich da noch überlegen? Schon das freut mein altes Herz, daß Sie mir so viel Vertrauen schenken, mir Ihr Geheimnis sagen. Und dann noch das Vergnügen, den verdammten Gelben einen Streich zu spielen … Daß ich denen ihr Handwerk legen kann … das macht mir einen Höllenspaß … da kommt’s mir keinen Augenblick darauf an, meine alten Knochen zu riskieren.«

»Ich wußte, lieber Franke, daß ich mich auf Sie verlassen kann, und danke Ihnen von ganzem Herzen …

Er schüttelte die Hand des alten Gefährten mit kräftigem Druck.

»Nehmen Sie meine Maschine! Die Veränderungen, die an dem Flugschiff zu treffen sind, machen Sie am besten selber. Sie werden das am besten einzurichten wissen. Ich mache Ihnen inzwischen den Streutank fertig. Den wollen wir dann zusammen unter die Maschine hängen.«

Eine knappe halbe Stunde später schoß die schnelle Maschine, von dem alten Schmelzmeister gesteuert, in den dunklen Abendhimmel und verschwand nach Osten zu.

Georg Isenbrandt hat die Maschine und den Alten nie wiedergesehen. Der blieb von dieser Stunde an verschollen. Es ist auch niemals bekannt geworden, ob der Alte bei der Schleichfahrt durch die dunklen Berge gegen eine Felsschroffe rannte oder ob er mit seiner Maschine das Opfer chinesischer Kugeln wurde. Niemals auch wurden irgendwo irgendwelche Spuren von ihm gefunden. Aber es muß ihm doch gelungen sein, den Auftrag Isenbrandts zum weitaus größten Teile auszuführen. Erst ganz am Ende seiner abenteuerlichen Fahrt muß er zugrunde gegangen sein, denn schon am übernächsten Tage ließ der plötzliche Zustrom aus den chinesischen Bergen nach, und bereits am Ende der Woche herrschten wieder normale Wasserverhältnisse im Ilital.

In jener ersten Flutnacht ging es freilich desto stürmischer zu.

Der Staudamm bei Terek bot ein wildromantisches Bild. Brüllend und gurgelnd stauten sich die Wildwasser hinter ihm zu einem Riesensee. Die mächtigen, millionenkerzigen Scheinwerfer der Bauleitung beleuchteten die brodelnde Wasserfläche von den Ufern aus.

An eine so schnelle und plötzliche Inanspruchnahme jenes großen, eben erst vollendeten Staubeckens hatte niemand gedacht. Noch waren die jetzt schon überfluteten Flächen mit Baugerät, mit Häusern, ja mit ganzen, wenn auch noch unbewohnten Dörfern besetzt.

Das alles hatten die wilden Wasser aufgewühlt und wirbelten es in gigantischem Spiel durcheinander. Hier trieben abgerissene Schindeldecken … da Prähme … dort Rüstzeug aller Art. Und zu dem, was hier schon gewesen, kam das, was die Fluten unterwegs mitgenommen hatten.

… Ganze Herden von ertrunkenem Vieh … Teile zertrümmerter Brücken … zerstörte Behausungen … und dazwischen in erschreckender Menge die Leichen von Menschen. Die Wasser mußten schon auf chinesischem Gebiet furchtbar gehaust haben.

Jetzt stand die Oberfläche dieses höllischen Wirbels kaum noch einen Meter unter der Dammkrone. Stieg das noch weiter, so mußten die Fluten über die Krone hinweg in breitem Schwall zu Tal stürzen … Vorausgesetzt, daß der Damm hielt.

Hier lag die Gefahr. Der Damm war in den zuletzt gefertigten Teilen noch nicht fest abgebunden. Die Möglichkeit war vorhanden … war nur allzu groß, daß der gesteigerte Druck der aufgestauten Wassermengen diese neuen Teile aus dem Damm herausbrach … und dann …

Schon auf die ersten Nachrichten von dem bedrohlichen Steigen der Fluten hatte Georg Isenbrandt die Siedler im unteren Ilital telegraphisch warnen lassen. Sobald ihn der alte Schmelzmeister verlassen, bestieg er selbst ein Flugschiff und fuhr nach den Terekanlagen.

Er kam, sah … und fand seine schlimmsten Befürchtungen übertroffen. Die Dammkrone war menschenleer. Das hatte die Bauleitung in Terek bereits aus eigenem angeordnet, denn unmöglich konnten die frischen Dammteile dem enormen Wasserdruck noch lange standhalten. Jeder Augenblick konnte die Katastrophe, den Dammbruch bringen.

Schnell gab Isenbrandt seine Befehle. Er ließ alle Sirenen talabwärts aufheulen … er gab nochmaligen dringenden telegraphischen Alarm, den ganzen Ili stromabwärts bis zum Balkaschsee … aber Isenbrandt sah noch weiter. Nur ein Mittel gab es noch, der drohenden Katastrophe zuvorzukommen. So schnell wie möglich mußte man die neuen, noch weichen Teile des Dammes von dem Wasserdruck entlasten, den Stausee absenken.

Das war nur möglich, wenn man einen Einschnitt von gehöriger Tiefe und Breite in den alten, gesunden Teil der Staumauer einsprengte. Dort mußte es geschehen, denn der neue, noch schwache und schon überlastete Teil der Mauer hätte die Beanspruchung einer Explosion nicht ertragen. Er wäre sicherlich sofort in seiner ganzen Ausdehnung zu Bruche gegangen.

Nur mit den schärfsten Sprengmitteln und mit großen Mengen davon ließ sich aber die Sprengung in den granitharten Dammassen des alten Teiles bewerkstelligen. Gelang sie, so würden sich freilich sehr gewaltige Wassermengen durch die gesprengte Lücke talabwärts ergießen. Sie würden sicherlich beträchtlichen Schaden anrichten. Aber dieser Schaden und diese Gefahr blieben immerhin in übersehbaren Abmessungen. Und der Spiegel des Stausees mußte sich dann schnell senken. Der Druck auf den schwachen Teil des Dammes mußte sofort nachlassen. Das Schlimmste war dann überwunden, die schwerste Gefahr vermieden.

Nach den Anordnungen Isenbrandts lief das Sprengkommando Über die Dammkrone nach der anderen Berglehne hinüber. Im mittleren Teil war die frische Stelle. Am Nordufer, im harten alten Teil, sollte die entlastende Scharte ausgesprengt werden.

Im taghellen Lichte der Scheinwerfer sah man vom Ufer aus die Mannschaft über die Dammkrone eilen. Sie mochte etwa die Mitte erreicht haben, als ein Blitz an dieser Stelle aufzuckte, ein krachender Donner das Toben der Elemente übertönte.

An der schwachen Stelle des Dammes war eine schwere Sprengladung explodiert. Einen Moment noch stand die Mauer dort zitternd im Strudel. Dann riß sie breit auf, neigte sich zu Tal und brach in Riesenbrocken auseinander. In wütendem, stoßendem Schwall stürzten die entfesselten Fluten wie ein einziger starrer Block zu Tal.

Verschwunden war an dieser Stelle der Damm … Verschwunden die Leute des Sprengkommandos auf ihm.

Ein Schrei des Entsetzens aus vielen tausend Kehlen.

Isenbrandt selbst stand unter der Wucht der Katastrophe wie erstarrt.

Wie war das möglich gewesen? … Wie konnte das geschehen? … Der Sprengstoff trug noch keine Zündung. Auch wenn einem der Träger eine Kiste entglitt, konnte sie doch nicht explodieren.

Ein Verbrechen? … Nur ein Verbrechen konnte es sein. Von wem? … Es bedurfte keiner Frage.

Mit schweren Schritten wandte er sich zum Ufer und begab sich in das Bureau der Werkleitung.

»War unter dem Sprengkommando ein Gelber?«

Einer der Ingenieure beantwortete die Frage.

»Jawohl! Alibeg! Ein kirgisischer Vorarbeiter … Einer, der sich durch besondere Anstelligkeit auszeichnete.«

Ein Held! dachte Isenbrandt bei sich … sicher ein gelber Ingenieur, der sich hier unter falscher Flagge als Werkmann verdingt hat.

Dann wandte er sich an den Stationsleiter.

»Ich kehre nach Wierny zurück. Alle Nachrichten für mich bitte dort hin! Hier ist Menschenhilfe vergeblich. Vertrauen wir auf Gott.«

Noch einmal warf er einen Blick auf das Tal, in dem das entfesselte Element dahinschoß.

Wehe alle denen talabwärts, die unsere Warnung nicht befolgten!

In dieser Nacht flogen die Telegramme zwischen Wierny und Berlin hin und her.

In Urga, der alten heiligen Hauptstadt der Chalka-Mongolen, hatte Wellington Fox mit Hilfe des getreuen Ahmed die Witthusens ermittelt. Viele Wochen hindurch war Ahmed in der Maske eines sartischen Händlers durch das mongolische Land gezogen. Hatte mit großem Geschick und noch größerem Glück hier gefragt und dort geforscht, bis er endlich die Spur hatte, die nach Urga wies.

Dann war Wellington Fox zu ihm gestoßen. Der kam als russischer Teehändler mit einer großen Handelskarawane aus dem nahen Kjachta über die russische Grenze. Vorzüglich hatte er es verstanden, sein Äußeres der Rolle, die er hier spielen mußte, anzupassen. Den Mangel seiner russischen Sprachkenntnisse verbarg er geschickt unter einem freilich recht holperigen Chinesisch. Solange aber kein allzu scharfes Auge ihn beobachtete, kein allzu scharfes Ohr ihn hörte, konnte er hier wohl unbehelligt seinen Plänen nachgehen.

In einer der großen Herbergen der Stadt, in der die Karawane Quartier nahm, hatte er sein Unterkommen gefunden. Daß er hier häufig mit einem sartischen Händler zusammenkam, fiel bei der Mannigfaltigkeit und Unübersichtlichkeit asiatischer Kaufmannsgeschäfte nicht weiter auf.

Es war um die Zeit der Abenddämmerung. Wellington Fox saß in dem primitiv einfachen Raum, der ihm in der Karawanserei als Unterkunft diente.

Ein leises Klopfen an der Tür. Die einzelnen Schläge in der verabredeten Folge. Wellington Fox schob den schweren Holzriegel zurück. Der Sarte trat in den Raum.

»Bist du da, Ahmed? … Wie steht’s?«

»Gut, Herr! Euer Papier ist in den Händen des alten weißen Herrn.«

»Will er es tun?«

»Ja, Herr … er machte das verabredete Zeichen …«

»So wirst du also um neun Uhr mit den Gefangenen das Haus verlassen. Bist du sicher … ganz sicher, daß der Wärter keinen Verrat übt?«

»Er hat geschworen … bei den Seelen seiner Ahnen …«

»Ein Schwur?«

»Er wird seinen Schwur halten, Herr. Wirst du ihn aber auch im Flugschiff mitnehmen, wie du versprochen? Er fürchtet die Strafe, wenn die Flucht entdeckt ist.«

»Ich werde ihn mitnehmen … samt seinen fünfhundert Dollar. Er mag sie in Frieden in Kjachta verzehren.

Der Weg vom Haus bis zum Brunnen ist kurz. Um neun Uhr werde ich dort unter dem Schein einer Notlandung niedergehen.«

»Wenn du da bist, wird alles gut sein, Herr!«

Ahmed verließ den Raum. Wellington Fox blieb mit seinen Gedanken allein. Im Geiste sah er das Glück der Geretteten … die Freude Isenbrandts, wenn er mit ihnen in Wierny landen wurde. Noch einmal überlegte er alle Chancen. Es mußte gelingen.

Es waren ein paar helle, freundliche Räume, in denen die Witthusens die Tage ihrer Gefangenschaft verbrachten. Der alte Herr saß seiner Tochter gegenüber. Ein Schachbrett, das ihnen die endlosen Stunden ihrer Haft kürzte, stand zwischen ihnen. Aber seitdem das Papier des sartischen Händlers durch den bestochenen Wärter in ihren Händen war, standen die Figuren unberührt auf den Feldern.

Die lange Haft … die Ungewißheit über ihr Schicksal hatten die blühenden Farben Maria Feodorownas gebleicht. Jetzt hatte die Erregung der Erwartung das alte Rot auf ihre Wangen zurückgezaubert. Auch Theodor Witthusen hatte die Lethargie verloren, die bisher auf ihm lag. Es war mehr die Sorge um Maria, sein einziges, so sehr geliebtes Kind, als die um ihn selbst, die ihn niedergedrückt hatte.

Mit gedämpfter Stimme … fast flüsternd sprachen sie.

»Die Freunde, Maria, an die ich zuerst gedacht, haben nichts für uns getan … vielleicht nichts tun können … Der Konsul … wie oft war er in unserem Hause … nichts …

Collin Cameron … am Tage vor unserer Gefangennahme suchte er mich noch zu beruhigen … rühmte sich seiner guten Beziehungen … auch er … nichts …

Die beiden jungen Deutschen … eine flüchtige Reisebekanntschaft von dir … an die hätte ich zuletzt gedacht … Die Not zeigt, wo die wahren Freunde sitzen. Herr Fox kommt ja zweifellos im Einverständnis … mit Unterstützung seines Freundes Isenbrandt.«

»Glaubst du, Vater« – das leichte Rot auf Marias Wangen vertiefte sich – »daß Herr Isenbrandt bei seinen vielen großen Arbeiten noch Zeit hat, sich um uns zu kümmern?«

»Würde sonst sein Diener mit hier sein? … Ihn selbst mögen seine Arbeiten festhalten, aber er denkt auch an uns.«

»Er hat uns früh genug gewarnt … Du ließest dich durch Mr. Cameron beschwichtigen. Ich weiß nicht, Vater … ich kann dein großes Vertrauen in Mr. Cameron nicht teilen … sein ganzes Wesen … sein überfreundliches Benehmen stoßen mich ab.«

»Ach, Kind, das sind unkontrollierbare Gefühle … Ich kenne ihn seit Jahren und habe nie Anlaß gehabt, an ihm zu zweifeln.«

Er zog die Uhr.

»Noch zwei Stunden … wie langsam die Zeiger schleichen! … Heute noch langsamer als sonst.«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihr Gespräch. Sie glaubten, es wäre der Wärter, der ihnen um diese Zeit die Abendmahlzeit zu bringen pflegte.

Collin Cameron stand vor ihnen.

»Ah, Herr Cameron! … Wo kommen Sie her? … Bringen Sie Gutes?«

Witthusen war aufgesprungen und reichte dem Besucher die Hand.

»Soeben noch tat ich Ihnen unrecht. Wir sprachen von den Freunden, auf deren Beistand wir vergeblich hoffen … und darunter waren auch Sie.«

»Auch ich … und was waren es sonst noch für Freunde?«

»Oh, alle aus Kaschgar … Der russische Konsul … die Upharts … viele andere … auch sonst noch …«

Er brach seine Rede jäh ab, unterdrückte die Namen Fox und Isenbrandt, die ihm schon auf der Zunge lagen. Eine Spur jenes Mißtrauens, das Maria vorhin geäußert, hatte sich ihm mitgeteilt.

»Bringen Sie gute Nachricht?«

»Wenn nicht heute, so doch bald! Ich freue mich, daß Sie mich unter Ihre Freunde zählen … Auch Ihnen, Fräulein Maria, meinen Dank, daß Sie meiner in Freundschaft gedacht haben.«

Collin Cameron nahm auf dem Stuhle Witthusens am Schachtisch Platz.

»Oh, Fräulein Maria, Ihr Spiel steht gut. Der arme König … ein Zug von Ihrer Hand, und er muß sich Ihnen ergeben.«

Theodor Witthusen wiederholte seine Frage:

»Bringen Sie gute Nachrichten, Herr Cameron?«

»Gute Nachrichten? … Fräulein Maria …«

Seine Augen versenkten sich brennend in diejenigen Marias.

»Ich hoffe, daß es meinen guten Beziehungen bald gelingen wird, Ihre Freilassung durchzusetzen.«

»Weshalb sind wir überhaupt gefangen?«

Witthusen unterstützte und verstärkte die Frage Marias.

»Wie konnte man es wagen, uns bei Nacht und Nebel wie Verbrecher aus unserem Hause zu holen und wegzuschleppen?«

»Ich erfuhr Ihre Verhaftung leider erst am anderen Morgen … Konnte nicht sofort feststellen, wohin Sie gebracht worden waren. Mit vieler Mühe brachte ich heraus, daß Sie verdächtigt sind, mit Chinas Feinden in Verbindung zu stehen.«

Witthusen fiel ihm erregt ins Wort.

»Feinden? … Wer sind Chinas Feinde? … Mit wem liegt China im Krieg?«

»China liegt im Krieg … freilich nicht im offenen, sondern im geheimen Krieg mit der E. S. C. Ihr Verkehr mit dem Ingenieur Isenbrandt hat Sie in den falschen Verdacht gebracht.«

»Deshalb diese Gewalttat!« Marias kleine Faust schlug kräftig auf den Tisch … Ich kann es nicht glauben! Die gelben Spione arbeiten nicht so schlecht, daß sie aus einer flüchtigen Reisebekanntschaft eine Verschwörung machen.«

»Und doch ist es so, Fräulein Maria … doch Geduld! Der Tag wird kommen, an dem Sie, gereinigt von allem Verdacht, in das alte Haus in Kaschgar zurückkehren können.«

»Nach Kaschgar!«

Maria erhob sich und warf mit einer brüsken Handbewegung die Schachfiguren durcheinander.

»Nach Kaschgar? … Nie wieder kehre ich nach Kaschgar zurück! Verhaßt ist mir die Stadt. Verhaßt das Land, wo solche Gewalttat geschehen konnte!«

»Oh, nicht doch, Fräulein Maria! Seien Sie nicht so schroff! … Beruhigen Sie sich! … Volle Genugtuung wird Ihnen gewährt werden.

Ihr Heim in Kaschgar wartet auf Sie, so wie Sie es verlassen haben. Als ich Ihre Verhaftung erfuhr, ließ ich mir Vollmacht geben, über Ihr Eigentum zu wachen. Die Schlüssel des Hauses sind in meiner Hand. In Ihrem Stübchen steht alles, wie Sie es verlassen haben. Nichts entfernt … nichts gerückt! Der große Mandelbaum vor Ihrem Fenster steht wie alle Jahre um diese Zeit in einem Blütenmeer. Gedenken Sie der schönen Stunden, die Sie dort verbracht. Werfen Sie nicht alle erfreulichen Erinnerungen um eine Unerfreulichkeit von sich!

Fast möchte ich bedauern, wenn Sie, nun wieder frei, statt nach Kaschgar zurückzukehren, das Land verlassen. Dann wäre auch mir Kaschgar verleidet. Wie öde würde es mir vorkommen, wenn ich Ihr verlassenes Haus dort sehen … Sie entbehren müßte …«

»Nein! Maria hatte recht! Nie wieder kehren wir in das alte Haus nach Kaschgar zurück! Wer gibt uns Gewähr, daß wir nicht jederzeit auf irgendeinem unsinnigen Verdacht hin neue Leiden erdulden müssen?«

Collin Cameron biß sich auf die Lippen. Unverwandt hatte er Maria mit den Augen verschlungen.

»Wäre es nur das Haus? … Würde es auch so sein, wenn sie es mit einem anderen vertauschten, Fräulein Maria?«

Er warf einen Seitenblick auf Witthusen, der am Fenster stand und in die Nacht hinausblickte. Auch Collin Cameron erhob sich jetzt und trat dicht an Maria heran.

»Mit einem anderen?« fragte sie.

»Ja, mit dem meinen!«

Er hatte ihr die Worte ins Ohr geflüstert. Jetzt beugte er sich vor und suchte in der wachsenden Dämmerung den Eindruck seiner Worte aus ihren Zügen zu lesen.

Einen Augenblick sah ihn Maria verständnislos an.

»Unter Camerons Schutz wäre jeder geborgen.«

»In Ihrem Haus? … Ich in Ihrem Hause?«

»Als mein Weib!«

Ein jäher Schreck zuckte über Marias Züge. Eine tiefe Blässe zog über ihre Wangen. Mechanisch wich sie vor Collin Cameron zurück.

»Nie, Mr. Cameron!«

»Oh, Fräulein Maria … lassen Sie unsere Worte ungesprochen sein! … Ich vergaß die Lage, in der Sie sich befinden. Verzeihen Sie mir! Es war töricht, von Liebe zu sprechen, wo es sich um die Freiheit handelt.«

Er trat auf sie zu und versuchte ihre Hand zu fassen.

»Verzeihen Sie mir, bitte, verzeihen Sie mir. Fräulein Maria. Nur um ein Kleines möchte ich Sie bitten. Lassen Sie mich nicht ohne jede Hoffnung von hier gehen. Sie wissen nicht, was Sie für mich und mein Leben bedeuten. In besseren Tagen werde ich wieder zu Ihnen kommen … Und wäre es dann nur Kaschgar … ich würde es verlassen … zur selben Stunde, zu der Sie es wünschten.«

Witthusen trat vom Fenster zurück an die beiden heran. Maria drängte sich an ihn, schob ihren Arm unter den seinen.

»Und wann denken Sie, Mr. Cameron, daß wir Urga verlassen … wieder frei sein dürften?«

»Was an mir liegt, soll geschehen, um Ihnen die Freiheit zu verschaffen. Ich komme morgen nach Peking. Alle Verbindungen, die mir dort zur Verfügung stehen, werde ich für Sie ausnutzen. Wenn es das Glück will, bin ich in wenigen Tagen wieder hier und hoffe von Ihnen frohen Empfang … auch von Ihnen, Fräulein Maria.«

Er ergriff ihre Hand und drückte einen Kuß darauf.

Vater und Tochter waren wieder allein. Sie sprachen über den unerwarteten Besuch Camerons. Aber das Gespräch schlich mühselig dahin. Keiner zeigte die Freude, die der Besuch doch eigentlich machen mußte. Es blieb etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen, das jede freudige Regung zurückhielt.

Langsam verschlichen die Viertelstunden. Der Wärter brachte die Mahlzeit. Sie blieb unberührt stehen.

Die Erregung des Kommenden nahm sie ganz befangen. Sie stieg aufs höchste, als die Uhr die neunte Stunde zeigte.

Minute auf Minute verrann. Maria sprang nervös auf und trat ans Fenster. Sie wollte den Gang der Zeiger nicht mehr sehen.

Regungslos verharrten sie beide.

Ein Klopfen an der Tür ließ sie auffahren. Der Wärter trat ein. Das Licht seiner Kerze fiel auf ein verstörtes Gesicht.

»Was ist?«

Von zwei Seiten scholl ihm die Frage entgegen.

»… Ahmed ging soeben vorbei … er winkte verstohlen … nichts! … Nichts! … Heute nichts …«

Maria sank auf ihren Sessel. Sie ließ den Kopf auf das Schachbrett fallen. Verhaltenes Schluchzen erschütterte ihren Körper. Der Alte trat auf sie zu und legte den Arm um sie.

»Sei gefaßt, Maria! … Wenn nicht heute, dann morgen! … Gib die Hoffnung nicht auf. Die Freunde werden uns nicht im Stich lassen …«

So suchte er ihr Trost zuzusprechen und verbarg seine eigene starke Befürchtung, daß der Plan von Fox entdeckt sein könne.

Witthusens Befürchtung war leider nur allzu begründet. Durch eine einzige Unvorsichtigkeit … ein unnötiges Wagnis hatte Wellington Fox den so gut vorbereiteten Plan in der letzten Stunde gestört und die eigene Freiheit verloren.

Wellington Fox saß gut und sicher verborgen in dem Zimmer seiner Herberge. Wäre er dort bis unmittelbar zur Ausführung der Flucht geblieben, so wäre alles gut gegangen.

Die Ungeduld hatte ihn aus seinem sicheren Versteck vorzeitig in die Nähe des Hauses getrieben, in dem die Witthusens gefangengehalten wurden.

So geschah es. Als Collin Cameron das Haus verließ, erkannte er Wellington Fox trotz dessen Verkleidung. Im Augenblick war Cameron in den Schatten getreten. Wellington Fox hatte ihn nicht erkannt. Der war ganz mit der Ausführung des Fluchtplanes beschäftigt. Er umschlich das Haus von allen Seiten, erwog und prüfte die Möglichkeiten, die Gefangenen auch dann noch zu befreien, wenn der Wärter in letzter Stunde versagen sollte.

Die Zeit verstrich darüber. Während er hier noch spähte, waren die Häscher, die ihn fangen sollten, bereits auf dem Wege.

Endlich begab er sich in die Herberge zurück, um Ahmed die letzten Befehle zu geben. Kurz vor der Karawanserei in einer engen dunklen Gasse fühlte er sich von einem Dutzend starker Arme umschlungen. Ein Tuch preßte sich auf seinen Mund, das jeden Schrei erstickte … seine Sinne betäubte. Im Augenblick war er gefesselt und verschwunden.

Eine drückende Stimmung lastete über Peking. Schon bald war sie auf die Freudentage beim Einzuge des Kaisers gefolgt.

Niemals hatte seit diesen Tagen ein Auge den Herrscher wieder erblickt. Die Bulletins der Ärzte blieben auch jetzt nicht immer günstig, sprachen von Ruhe und Schonung, deren der Sohn des Himmels noch bedürfe. Der abnorme Schneefall am Tage des Einzuges war von Abergläubischen als ein böses Zeichen gedeutet worden.

Die hermetische Abschließung des Kaisers gab vielen zu denken. Ebenso wie die Veränderungen in der hauptstädtischen Garnison. Immer neue mongolische Regimenter zogen in die Residenz ein und lösten die alten chinesischen Besatzungen ab.

Wie damals gleich nach dem Attentat, so wurden auch jetzt wieder von neuem energische Schritte gegen alle republikanisch Gesinnten unternommen. Nachrichten aus dem Süden des Reiches, dem alten Herde der republikanischen Bewegung, erzählten von neuen Verfolgungen.

Wozu? … Weshalb? fragte sich die große Menge. Wo war die Gefahr, der man durch solche Maßnahmen entgegentreten wollte?

Im Kaiserpalast hatte der Schanti seit der Rückkehr des Kaisers seinen ständigen Wohnsitz genommen. Wie die Bulletins sagten, war der Kaiser noch nicht so weit erstarkt, um die Zügel der Regierung wieder selbst zu führen.

In dem alten kaiserlichen Arbeitszimmer saß der Regent. Um ihn sein enger Rat.

Mongolisch war hier die Sprache. Ein geübtes Auge konnte wohl auch aus dem Schnitt der Gesichter erkennen, daß kein Chinese dem Kreise angehörte. Nur die treuesten seiner Getreuen, die besten der mongolischen Generale und Staatsmänner hatte der Schanti in diesen Rat berufen.

Damals, als er von Schehol zurückkehrte, den Ring des Dschingis-Khan am Finger, den nahen Tod des Kaisers vor Augen, da hatte er dessen mongolische Paladine zusammengerufen. Er wußte, daß sie ihm nicht alle blindlings folgen würden, daß mancher dem Kaiser treu Ergebene in ihm nur den Rivalen sah.

Mit den Künsten des genialen Staatsmannes hatte er sie für sich zu gewinnen gewußt. Wohl gab ihm der Ring an seinem Finger die Autorität des Regenten, dem sie den Gehorsam nicht verweigern konnten.

Aber Toghon-Khan wollte mehr. Seine Klugheit verbot ihm, diese Macht bedingungslos auszunutzen. Nicht stummen Gehorsam wollte er. Mit Leib und Seele wollte er sie gewinnen, und es gelang ihm. Immer mehr waren sie der Suggestion unterlegen, daß nicht Toghon-Khan es sei, dem sie gehorchten, sondern Kubelai-Khan, der Hwang Ti, der Herr und Kaiser selber. Nur der Träger und Vollstrecker der Pläne und des Willens des kaiserlichen Herrn war der Regent.

Auch wenn der Kaiser von dannen ging, blieben sie alle die Fortführer seiner Gedanken und Absichten, blieben sie ihm nach wie vor Rechenschaft schuldig.

Damals hatte er sie auch mit den Plänen des Kaisers bekanntgemacht. In einer Weise, daß alles, was jetzt auf seine Anordnung geschah, unmittelbar auf den Befehl des Kaisers zu geschehen schien. Jedem von ihnen hatte er große Aufgaben übertragen, die nicht nur Arbeit, sondern auch Ehre und Macht brachten.

Als dann der Tod des Kaisers wirklich eintrat, konnte er es wagen, im Einverständnis mit ihnen jenen ungeheuren Betrug zu unternehmen … der Hauptstadt … ja der ganzen Welt den toten Kaiser als lebendig … als genesen zu zeigen. Dadurch aber hatte er sie noch viel fester an seine eigene Person gefesselt. Die Männer, die jetzt mit ihm zu Rate saßen, waren ihm mit Leib und Seele ergeben.

»Wie weit sind die Truppenbewegungen an der russischen Grenze durchgeführt?« wandte der Regent sich an den Generalstabschef.

»Sie sind noch nicht weit gediehen. Die Umgruppierung nimmt sehr viel Zeit in Anspruch, weil sie verschleiert durchgeführt werden muß. Sie könnte schneller vonstatten gehen, wenn ich die Vollmacht bekäme, die Verkehrsmittel zu beschlagnahmen. Die Militärschiffe können die Massen nicht so schnell bewältigen.«

Der Schanti wehrte ab.

»Unmöglich! Jede auffällige Maßnahme muß unterbleiben. Es genügt, wenn zuerst die Truppen in Jünnan und Kwangsi ausgewechselt werden. Die anderen Bewegungen können später erfolgen. Die Magazinbestände an den Westgrenzen sind voll aufgefüllt?«

»Es ist geschehen, Herr.«

Der Generalstabschef sprach weiter:

»Leider ist es noch nicht gelungen, hinter das Geheimnis der Kompagnieschiffe zu kommen. Unsere Agenten brachten uns die Nachricht, daß Kreuzer mit Streuvorrichtungen ausgerüstet werden, von deren Zweck man noch keine Kenntnis hat.«

Die Falten auf der Stirn des Regenten vertieften sich.

»Der Ingenieur Isenbrandt! … Er ist das Haupt unserer Gegner. Alle technischen Teufeleien kommen von ihm! … Jetzt ist es zu spät. Längst hätte er unschädlich gemacht werden müssen.

Geht es einmal vom Ili los, muß Wierny das erste Ziel sein … Nein! … Wierny muß früher fallen. Den Schiedsspruch beantworten wir sofort mit dem Aufstand der russischen Kirgisen. Wie weit ist er vorbereitet?«

Der Generalstabschef antwortete:

»Es bedarf nur eines Funkens, um ihn auflodern zu lassen. Unsere Emissäre haben die Kirgisen fest in der Hand. Die Irredenta arbeitet gut. Die Sprengung am Terekdamm zeigt, wessen die kirgisischen Brüder fähig sind.«

Die Linke des Regenten ballte sich zusammen.

»Die Schmelzarbeit war schlecht! Sie ist die Scherereien nicht wert, die wir jetzt darum haben …

Man verlangt von uns Entschuldigung und Wiedergutmachung. Wir behandeln die Angelegenheit dilatorisch. Ich habe antworten lassen, daß unser Recht, in unserem Gebiet zu schmelzen, unzweifelhaft ist.

Da man uns von der Errichtung des Ilidammes bei Terek offiziell nicht benachrichtigt hat, konnten wir ihn als nicht existierend betrachten. Damit entfällt für uns die Pflicht, allen Schaden zu ersetzen. Ohne den Dammbruch wäre die Katastrophe nicht so bedeutend gewesen …«

Ein grimmiges Lächeln huschte über die Züge des Schanti.

»… Unsere Schmelzarbeiten werden jetzt in einem Maße fortgesetzt, daß der Wiederaufbau des Dammes nur mit größten Schwierigkeiten vonstatten gehen könnte.

Aber vielleicht wird die Kompagnie ihn … er war ja nur ein wohlüberlegtes Abwehrmittel dieses Isenbrandt … gar nicht wieder aufbauen … da sie ihn bei einem für sie günstigen Schiedsspruch nicht mehr braucht.

Das Schiedsgericht … das will über unser altes Recht urteilen! … Und wird es vergewaltigen … allen geschichtlichen Tatsachen zum Hohn.

Uns gehört das Ilital! Zu uns gehört es nach Bevölkerung und Geschichte! In feierlichen Verträgen bestätigte Rußland vor 130 Jahren diese unsere Rechte, die es ein Jahrzehnt vergewaltigt hatte.

Als damals die kurze Herrschaft des Jakub Beg Kaschgarien von uns riß, raubte uns Rußland das Ilidreieck. Ein verräterischer Gesandter Tschung Hu ließ das teure Pfand in den Krallen der Feinde … cajoled amid the Capuan delights of Livadia … Ein anderer, besserer, Marquis Tseng, brachte es im Frieden von Petersburg zum Mutterland zurück.

Vergeblich hatten die Russen geschworen, daß das Wasser der Newa eher aufwärts fließen würde. Sie mußten es doch zurückgeben. Unser ist das Land, und unser wird es bleiben!

Wir werden es festhalten! Allen Schiedssprüchen zum Trotz … und wenn die Götter es wollen, auch alles Land uns vereinigen, in dem unsere Brüder wohnen … Unsere Brüder, die zu uns wollen.

Das war das Ziel des kaiserlichen Herrn … das sollte sein großes Werk krönen. In seinem Namen rufe ich euch zur Tat. Alles, was sich dem entgegenstellt, muß beseitigt werden. Der Kämpfer im Westen darf hinter sich keine Feinde haben.«

Der Gouverneur von Jünnan gab seinen Bericht:

»Alle wichtigen Plätze des Südens sind mit Regimentern aus dem Norden belegt. Jeder Versuch eines republikanischen Aufstandes wird scheitern. Die Führer werden ständig beobachtet. Wenn nötig, können sie sofort ergriffen werden. Die Umstellung der Fabriken ist bis aufs kleinste vorbereitet. Die Ausrüstung der Häfen ist vollendet.«

Der Regent fragte weiter. Jeder war seiner Aufgabe nachgekommen. Es fehlte nichts, als der Tag.

Ein Dutzend Augenpaare ruhten fragend auf dem Regenten. Der Schanti sprach:

»Sie wissen, daß alle Völker der Welt einen tiefen Haß gegen die weißen Barbaren im Herzen tragen, daß ihre Sympathien aus unserer Seite sind.

Überall hat sich der Weiße hingesetzt als … Herr. Überall hat er sich Land und Rechte angemaßt. Überall erntet er von der Arbeit der anderen.

Unser Beispiel hat gewirkt. Unser kaiserlicher Herr machte das Land von seinen Blutsaugern frei. Andere werden dem Beispiele folgen.

Der Streit zwischen den Abendländischen und uns geht die ganze Welt an. Was daraus folgt, wird sich bald zeigen. Im Kampf werden wir nicht allein stehen.

Die schwarze Rasse hat eine alte Rechnung mit den weißen Barbaren … in Amerika und in Afrika. Sie werden nicht die Hand dazu bieten, den Europäern Kriegsmaterial zu liefern, wie es zweifellos die ganze weiße Welt tun will …

Betreiben Sie ihre Rüstungen und Vorbereitungen so, daß zum 6. Juli … erfolgen kann, was will.«

Der Rat war auseinandergegangen. Der Regent saß allein in seinem Zimmer, als ihm Collin Cameron gemeldet wurde. Der Schanti blickte auf ein vor ihm liegendes Aktenstück, das die Telegramme Camerons enthielt.

»Ich habe gesehen, daß Sie die Aufgabe in den Staaten gelöst haben.«

»Es ist geglückt, Hoheit … besser als ich zu hoffen wagte. Sogar ein Teil der Führer hat sich bereitfinden lassen, auf meine Vorschläge einzugehen. Es hat viel Mühe gekostet und … viel Geld.«

»Das ist ohne Bedeutung … Einen Rechenschaftsbericht verlange ich nicht von Ihnen … am 6. Juli! … Werden Sie drüben sein? … Ich lege Wert darauf … Haben Sie sonst noch etwas Wichtiges zu dieser Angelegenheit zu sagen?«

»Ja, Eure Hoheit! Es gab Verräter … Unser Plan in seiner ersten Form hatte feindliche Mitwisser …

»Wieviel?«

»Ich weiß es nicht. Einer der gefährlichsten … einer der mir persönlich eifrig nachgestellt hat … der zweifellos meine Vermittlertätigkeit ausgespürt hat … ist in China gefangen.«

»Wer ist das?«

»Es ist der Freund Isenbrandts, der amerikanische Vertreter der Chikago-Preß, Wellington Fox.«

»Wie wurde er gefangen?«

»Er kam in der Maske eines russischen Teehändlers von Kjachta nach Urga. Wollte dort eine Familie befreien, die der Gouverneur von Kaschgar wegen Konspiration mit der Kompagnie verhaftet hatte. Ich habe alle Personen der größeren Sicherheit halber nach Karakorum bringen lassen.«

»Gut! Haben sie irgendwelche Geständnisse abgelegt?«

»Nein, Hoheit.«

»So müssen sie dazu gebracht werden!«

Collin Cameron erschrak bis ins Innerste. An eine solche Wendung der Dinge hatte er nicht gedacht, als er die Angelegenheit dem Regenten vortrug. Mit Grauen und Entsetzen dachte er an die Mittel der chinesischen Rechtspflege.

Maria in den Händen der gelben Folterknechte. Sein Blut erstarrte.

»Wollen Eure Hoheit mir das übertragen?«

»Ja … Sie wissen am besten, was zu fragen ist … jedenfalls, die Gefangenen werden Karakorum nie wieder verlassen!«

Der Streik im Minengebiet des algerischen Atlas kam überraschend. Man hatte nicht erwartet, daß die Erhöhung der Schichten um eine Stunde täglich bei der schwarzen Bevölkerung auf solchen Widerstand stoßen würde. Zwar hatten sich die schwarzen Arbeiter bereit erklärt, die eine Stunde mehr zu verfahren, aber nur gegen doppelten Lohn. Damit hatten sich die Unternehmer nicht einverstanden erklären können.

Die Arbeitsniederlegung war die Antwort der schwarzen Bergleute. Die Belegung des Reviers mit Militär hatte daran nichts ändern können.

Die Unternehmer befanden sich in einer Zwangslage. Statt, wie die Regierung verlangte, erhöhte Förderung zu liefern, standen die Schächte schon seit einer Woche still. Die französische Regierung drängte zu einer Entscheidung. Sie war mit Rücksicht auf die verwickelte Lage in Asien verpflichtet, dem europäischen Staatenbund beträchtliche Mengen afrikanischer Erze zu liefern. Dabei war der Preis so festgesetzt, daß die Unternehmer bei dem verlangten doppelten Lohn ohne Gewinn arbeiten mußten.

Die hatten gehofft, der Widerstand der Arbeiter würde bald in sich selbst zusammenbrechen. Aber zweifellos waren fremde Emissäre unbekannter Herkunft am Werk, die jedes Nachgeben der Arbeiterschaft verhinderten.

Jetzt war es so weit gekommen, daß sogar die Verrichtung der Notstandsarbeiten verhindert wurde. Die Unternehmer sahen darin einen begründeten Anlaß, ein scharfes Vorgehen des Militärs zu verlangen. Wohl oder übel hatte die Regierung diesem Verlangen nachgeben müssen.

Auf dem Jaurèsschacht kam es zum ersten Zusammenstoß.

Der Hauptmann Méchin von den Marokkoschützen ließ seinen Zug anlegen.

Noch einmal eine Aufforderung an die schwarzen Grubenarbeiter, auseinanderzugehen … den Platz zu räumen. Die dachten gar nicht daran, der Aufforderung Folge zu leisten. Sie fühlten sich in ihrem guten Recht und wollten der Forderung der weißen Direktoren nicht nachkommen … Das war ein ganz regulärer und reeller Lohnkampf, wie es deren viele Tausende im Laufe der letzten hundert Jahre gegeben hatte.

»Gerechtigkeit! … Arbeit! … Brot! … Keine Ausnutzung!« schallte es der Truppe aus dem Haufen entgegen.

»Feuer!«

Scharf und abgehackt fiel das Kommando von den Lippen des Hauptmannes.

Kein Finger krümmte sich, kein Schuß krachte. Die Eingeborenentruppe stand, als ob das Kommando nicht ihr gegolten hätte.

Der Hauptmann stürzte nach vorn … die gespannte Schußwaffe in der Hand, entschlossen, die ersten Meuterer niederzuschießen. Da sah er die Gesichter der schwarzen Soldaten, sah in die Augen der beiden weißen Offiziere und begriff, daß seine Macht hier zu Ende sei.

Von seiner Truppe verlassen … als Offizier entehrt … mit seiner Karriere fertig …

Ein kurzer Augenblick … dann richtete er die Schußwaffe gegen sich selber. Ein Knall. Sterbend sank er nieder. Nur die beiden weißen Offiziere eilten zu ihm, bemühten sich um den Verscheidenden.

Aber der kurze scharfe Knall wirkte auch weiter. Auf die Truppe, die jetzt zu begreifen begann, daß das Blut, das dort in den Sand rann, viel anderes Blut fordern würde. Auf die streikenden Grubenarbeiter, unter denen unverkennbar Emissäre tätig waren.

Schon sprang einer von denen auf eine umgestürzte Tonne und hielt eine donnernde Ansprache. Zum Teil an die Arbeiter … mehr noch an die Soldaten gerichtet.

»Bravo! … Bravo! … Der weiße Sultan wollte Hunderte von euch ermorden … Eure schwarzen Brüder sind ihm nicht gefolgt … zu uns gehören sie … in unsere Reihen …«

Fahnen wurden geschwungen. Neues Geschrei erscholl aus dem Haufen. Viele hundert Arme streckten sich den Soldaten entgegen.

Im Augenblick kam es zur Verbrüderung. Die einzelnen Soldaten wurden umarmt, auf die Schultern gehoben. Hilfreiche Hände nahmen ihnen die schweren Gewehre, die lästigen Patronentaschen ab, und im Nu waren die Waffen in der Arbeitermenge spurlos verschwunden … in die Hände ganz anderer Leute übergegangen.

Ein schwarzer Korporal schwang sich im Augenblick zum Befehlshaber der führerlosen Truppe auf. In einer kurzen Ansprache wies er die Schützen darauf hin, daß ihr Blut nicht den weißen Ausbeutern und deren selbstsüchtigen Zwecken, sondern den schwarzen Brüdern gehöre.

Die klirrenden Fensterscheiben des Verwaltungsgebäudes lenkten die Aufmerksamkeit der Menge von seinen Worten ab. Durch die Fensterhöhle konnte man schon einzelne Arbeiter beim Plündern beobachten.

Unwiderstehlich reizte der Anblick den ganzen Haufen. Ein paar große Schnapsfässer, aus den Kantinenräumen auf den Hof gerollt, taten das übrige.

Eine halbe Stunde später ergoß sich ein johlender und brüllender Haufen von Arbeitern, gemischt mit Soldaten, in das kleine Bergstädtchen. Im Nu waren hier die sämtlichen Läden, soweit sie nicht Schwarzen gehörten, ausgeraubt.

Die Kunde von den Vorgängen auf dem Zechenhofe war bereits vor der Ankunft des Haufens in die Stadt gelangt. Der Major des Schützenbataillons, das auf der Höhe vor der Stadt lagerte, hatte versucht, den Meuterern zwei andere Kompagnien entgegenzuschicken, doch war, wie von unsichtbaren Händen ausgestreut, die Saat des Aufruhrs auch schon unter diesen Truppen aufgegangen. Um es nicht zum Schlimmsten kommen zu lassen, gab der Major den Befehl, zur Garnison zurückzumarschieren.

Er selbst hatte sich an die Spitze des Bataillons gestellt. Er gab das Kommando zum Abmarsch, doch niemand folgte. Ein paar Offiziere, die mit gezogener Waffe die Leute zu zwingen versuchten, wurden selbst niedergeschlagen, sobald sie die Waffe gebrauchten. Andere weiße Offiziere, die ihren Kameraden zu Hilfe kommen wollten, erlitten sofort das gleiche Schicksal.

In diesem Augenblick zog der betrunkene Haufe von der Zeche her in die Stadt ein. Wie sich zwei Ölflecke auf einer Wasserfläche berühren und im Moment eins sind, so fluteten die beiden Massen zusammen. Unter ihren Füßen die zertretenen Leichen der weißen Offiziere.

Drei Tage waren die europäischen Zeitungen mit aufregenden Nachrichten aus dem nordafrikanischen Minengebiet gefüllt. Am vierten Tage meldete der offizielle Telegraph, daß es mit Hilfe weißer Truppen gelungen sei, der Lage Herr zu werden. Schon am ersten Tage hatte die französische Regierung mit Hilfe aller verfügbaren Flugschiffe die nötige Truppenmacht über das Meer geworfen. Mit rücksichtsloser Energie hatte man die Aufstandsbewegung niedergeschlagen und den Streik beendet.

Doch kaum hatten sich die Gemüter beruhigt, als neue Hiobsposten aus Afrika kamen … diesmal aus dem Sambesigebiet.

Hier war um die nach Millionen von Pferdestärken zählenden Wasserkräfte der großen Sambesifälle herum seit einem halben Jahrhundert eine gewaltige Industrie entstanden. Mit Hilfe der in unerschöpflicher Menge zur Verfügung stehenden elektrischen Energie wurden die reichen Bodenschätze, die Erze und Edelerden hier an Ort und Stelle durch europäische Syndikate verarbeitet.

Hier war eine der Hauptquellen, aus denen die Wirtschaft des alten Europa neue Kräfte schöpfte. Hier, wo das tropische Klima die Zahl der weißen Bevölkerung von vornherein niedrig hielt, bildeten die Schwarzen naturnotwendig den Hauptträger der industriellen Leitung. Ohne sie wäre die Ausbeutung der Minen, die Verarbeitung der geförderten Schätze trotz aller technischen Fortschritte unmöglich gewesen.

In diesem Gebiet war es bisher nie zu Ausständen gekommen. Das Niveau der dortigen schwarzen Arbeiterschaft war bedeutend niedriger als das der nordafrikanischen. Sie war gewohnt, widerstandslos allen Anforderungen der weißen Herren zu folgen, mochten diese auch nicht immer gerecht sein.

Jetzt war auch hier die Lage bedenklich. Auf eine unerklärliche Weise waren Funken des eben in Algier ausgetretenen Brandes bis hierher geflogen und hatten gezündet.

Jetzt weigerten sich die Schwarzen hier ganz plötzlich, die größere Arbeitszeit, die sie bisher ruhig angenommen hatten, weiter zu leisten. Auch hier wurde das Wirken fremder Emissäre zweifelsfrei festgestellt.

Schon waren die Unternehmer unter dem Druck der Regierungen bereit, den Forderungen nachzugeben, als die Dinge eine schlimme Wendung nahmen. In einer Nacht waren die Fabriken und Werke im Tschotigebiet von Ausständigen besetzt und die weißen Werkleiter massakriert worden. Die Gefahr, daß das ganze dortige Industriegebiet den Weißen verlorenging, war riesengroß. Schon sah man die Lage als hoffnungslos an.

Da zeigte sich die Jahrhunderte alte englische Kunst, Kolonialpolitik zu treiben, in hellstem Lichte. Mit Zuckerbrot und Peitsche, mit vielen Versprechungen und Erleichterungen auf der einen, mit brutalster Energie auf der anderen Seite wurde die Ordnung wiederhergestellt. Doch waren es wieder bange Wochen, die Europa schwer bedrückten. Flammenzeichen waren aufgezuckt. Ein Wetterleuchten hatte plötzlich das Gewölk erhellt. Aber noch konnten es die wenigsten verstehen, ja nur ahnen, was diese vorzeitig losgegangenen Signale zu bedeuten hatten.

Etwas anderes, ganz Unerklärliches ereignete sich in dieser Zeit an den europäischen Börsen. Langsam, aber unaufhaltsam sank der Kurs der Aktien der E. S. C. Die Börsen schienen das gewaltige Unternehmen der Europäischen Siedlungkompagnie plötzlich mit einem gewissen Mißtrauen zu betrachten.

Das Direktorium wurde mit Anfragen bestürmt. Seine Auskünfte vermochten die Sache nicht zu klären, keinen begreiflichen Grund für das Sinken der Papiere zu geben.

Eins stand fest. Der Anstoß zu dieser ganzen Baissebewegung war von Amerika gekommen. Das europäische Publikum war dann mit Angstverkäufen gefolgt. Aus dem Ball drohte eine Lawine zu werden.

Da kam ein Tag, an dem der Sturz zum Stillstand kam und der Kurs sogar einige Punkte gewann, um sich von nun an ganz langsam zu erholen.

Was war geschehen? Am Abend vor diesem Tage hatte um 10 Uhr eine Sitzung des Direktoriums der E. S. C. stattgefunden. Zum allgemeinen Erstaunen der meisten Teilnehmer war kurz nach der Eröffnung der Sitzung Georg Isenbrandt in das Zimmer getreten. Er folgte einer dringenden Einladung des Präsidenten Reinhardt.

Eine knappe Stunde hatte er gesprochen. War im Anschluß daran sofort nach Asien zurückgekehrt. Als die Mitglieder des Direktoriums nach der Sitzung das Gebäude verließen, zeigten ihre Gesichter nichts mehr von der Sorge, die bis dahin auf ihnen gelastet hatte.

Ihre zahlreichen chiffrierten Telegramme, die noch in derselben Nacht hinausgingen, zeigten, wie anders die Lage jetzt von ihnen angesehen wurde. Der Besuch Isenbrandts wurde streng geheimgehalten.

Mittagsglut lastete auf den Ruinen von Karakorum. Unbarmherzig brannte die Sonne auf die tausendjährigen Überreste der alten Mongolenstadt nieder. Zerfallen waren die alten Paläste, in Trümmern lagen die Häuser. Nur noch wenige ärmliche Ansiedler hausten in den Überbleibseln der einstigen großen Hauptstadt.

Außerdem noch die Gefangenen Collin Camerons.

Als damals Wellington Fox in Urga auftauchte, wußte Cameron sofort, daß der Aufenthalt der Witthusens entdeckt sei, daß Freunde am Werke wären, sie zu befreien. Ein anderer sicherer Ort mußte für sie gefunden werden, und Cameron verfiel auf die alte Thingstätte der Mongolen auf Karakorum. Hier, in der Schamowüste, fern von allen Städten, von allem Verkehr … des war er sich sicher … würde sie so leicht niemand suchen und finden.

Noch in der Nacht nach der Gefangennahme von Wellington Fox war eine Karawane aus Urga nach dem Südwesten aufgebrochen, war viele Tage hindurch nach dem Südwesten gezogen und hatte die Gefangenen nach Karakorum geschafft.

Seit vielen Jahrhunderten war die Stadt ein Trümmerhaufen. Aber unter den Ruinen gab es auch weniger verfallene, unter den weniger verfallenen einige wenige, die noch erhalten und zur Not bewohnbar waren. Einen solchen Bau hatte Collin Cameron für seine Gefangenen bestimmt. Die Wärter, die er ihnen mitgab, die würden sich auch nicht bestechen lassen. Dessen glaubte er sicher zu sein. Hatte er sie zur größeren Sicherheit doch erst noch den schmerzvollen Tod jenes bestochenen Wärters in Urga mit ansehen lassen, bevor die Karawane aufbrach.

Wellington Fox ging mit langen Schritten rastlos in dem von einer hohen Mauer umgebenen Hofe ihres neuen Gefängnisses im Kreise entlang. Er hätte den Weg auch mit geschlossenen Augen finden können, so oft war er ihn in diesen letzten Tagen schon gelaufen.

Hundertfünfzig Schritte in der einen Richtung, wenn er linksherum ging … hunderteinundfünfzig Schritte in der anderen Richtung, wenn er den Kreis an den Mauern und Wänden rechtsherum lief.

Diese Differenz von einem Schritt zwischen den beiden Richtungen schuf ihm unaufhörliches Nachdenken … und dieses Denken zusammen mit der körperlichen Bewegung des Rundganges hielt ihn frisch, bewahrte ihn vor jener trostlosen Erschlaffung, der Theodor Witthusen zu erliegen drohte.

Heiß und immer heißer brannte die Sonne. In einem schattigen Winkel des Hofes hatte sich Witthusen einen Feldstuhl hingerückt, saß dort und dämmerte vor sich hin.

Wellington Fox spazierte und zählte dabei:

»… Hundertneunundvierzig … hundertfünfzig … hunderteinundfünfzig … Herrgottshimmeldonnerwetter, wie ist denn das möglich … es bleibt bei der unerklärlichen Differenz von einem Schritt … All right … versuchen wir es noch einmal in der anderen Richtung.«

Auf dem linken Absatz vollführte er eine energische Kehrtwendung. Doch bevor er den Marsch in der anderen Richtung wieder antrat, blieb er erst kurze Zeit stehen, zog das Tuch und trocknete sich den strömenden Schweiß von der Stirn.

Dann ging er wieder los und begann mechanisch die Schritte zu zählen.

»… Eins … zwei … drei …«

Er blieb nicht lange beim Zählen. Seine Gedanken begannen wieder zu arbeiten. Im Selbstgespräche murmelten seine Lippen:

»Geschieht dir ganz recht, Fox! Warum bliebst du nicht ruhig in deinem Versteck? …Warum mußtest du vorzeitig zu dem Hause laufen? …Wärst du daheim geblieben, hätte dich der Schuft, der Cameron, nicht gesehen … alles wäre geglückt.«

Während er die Worte wütend hervorstieß, kam er auf seinem Rundgang gerade an der Stelle vorüber, an der Witthusen im Schatten saß. Er blieb stehen und trocknete sich von neuem die Stirn.

»Eine schauderhafte Hitze, Herr Witthusen …Bessere Vorbereitung für die Hölle …Wie erträgt Ihre Tochter die tropische Hitze?«

Mit einer matten Bewegung hob Witthusen den Kopf.

»Sie bleibt fast den ganzen Tag in ihrem Zimmer. Sie leidet und hofft …«

»Hofft? …Hofft sie auch, daß Isenbrandt uns schließlich auch hier entdecken und dem gelben Gesindel entreißen wird?«

»Sie hofft, Herr Fox …wir alle hoffen …auch andere Freunde bemühen sich um uns. Mr. Cameron ist in Peking und wird alles tun, um unsere Freilassung …«

»Mr. Cameron!«

Scharf und hart war Fox dem Alten ins Wort gefallen.

»Mr. Cameron! …Sie glauben, daß er …«

Jäh brach Wellington Fox seine Rede ab. Was hatte es für einen Zweck, sich mit Witthusen über Cameron zu unterhalten. Mochte der alte Mann die Hoffnung hegen …eine Hoffnung, die ihn immerhin aufrechthielt, den seelischen und damit auch den körperlichen Zusammenbruch zum mindesten aufschob.

»Also hoffen wir, Herr Witthusen! … Hoffen wir. Jeder Tag kann schließlich die Befreiung bringen.«

Wellington Fox machte sich wieder auf den Marsch. Er marschierte, er fluchte auf die Hitze, auf die Gelben, auf Collin Cameron, und er erhielt sich durch diese doppelte Bewegung eine gute Elastizität.

Jetzt blieb er stehen und betrachtete kopfschüttelnd den Himmel. Dessen stahlblauer Glanz begann einem verwaschenen Grau zu weichen. Schon schoben sich leichte Schleier vor die Sonne und milderten die Hitze.

Wellington Fox marschierte weiter. Die Viertelstunden verrannen und summten sich zu einer Stunde. Jetzt war der ganze Himmel nur noch ein einziges dunkles Grau. Ein leichter Luftzug bewegte die Zweige der wenigen halbvertrockneten Bäume jenseits der Hofmauer.

Vor Witthusen machte Wellington Fox wieder halt.

»Sehen Sie den Himmel, Herr Witthusen?«

Der Alte blickte empor.

»Ich sehe … Regenhimmel? … Wolken! … In dieser Zeit … Wolken über Karakorum … Wolken hier in der Wüste, in der es oft jahrelang nicht regnet … das verstehe ich nicht, Herr Fox.«

Wellington Fox streckte die Hand aus und wartete. Er wartete, und seine Lippen murmelten. Ich glaube, ich verstehe es … Wolken über Karakorum … Wollen über der Gobiwüste …

Die ersten Tropfen waren ihm auf die Hand gefallen.

»Regen, Herr Witthusen! … Dicke Tropfen! Es regnet in der Wüste!«

Verständnislos blickte Witthusen auf die Hand von Fox.

»Regen … Regen, hier in der Wüste … ich weiß nicht, wie es möglich ist … ich weiß nicht, was es zu bedeuten hat.«

Wellington Fox streckte beide Hände in das stärker fallende Naß. Dann vollführte er einen Luftsprung, der dem alten Kaschgarier Witthusen ein Lächeln entlockte.

»Hat Ihnen der Wüstenbrand so zugesetzt, daß der kühle Regen Sie zu solchen Freudensprüngen veranlaßt?«

Wellington Fox konnte nicht sofort antworten, weil er durch einen neuen Freudentanz vollkommen in Anspruch genommen war.

»Hurra! … Bravo!« rief er abwechselnd ein ums andere Mal.

»Der Regen …«, sagte er endlich, erschöpft stehenbleibend. »… Mann … Witthusen! … Wissen Sie auch, wo der Regen herkommt?«

Witthusen blickte ihn stumm fragend an.

»Von Isenbrandt kommt er! … Isenbrandts Werk ist das!«

»Ich verstehe Sie nicht, Herr Fox.«

»… Und ich möchte Ihnen vorläufig nicht mehr sagen … Nur das eine noch, Isenbrandt ist auf unserer Spur!«

Stärker rauschte der Regen jetzt hinab. Ein starker strähniger Landregen, wie ihn die Wüste hier seit Menschengedenken kaum gesehen hatte. Er zwang die Männer, das schützende Dach aufzusuchen.

Wellington Fox trat als erster ins Haus.

Maria Witthusen lag auf einem dürftigen Ruhebett. Ihre Gefangennahme …der mißglückte Befreiungsversuch … der entsetzliche Aufenthalt hier unter den glühenden Strahlen der Wüstensonne … das alles hatte ihre Widerstandskraft untergraben. Stunden vollkommener Apathie wechselten mit Ausbrüchen der Verzweiflung.

»Es regnet, Fräulein Maria! Fühlen Sie die wunderbare Frische, die ins Zimmer dringt?«

Einen Augenblick schien Maria Feodorowna aus ihrer Apathie zu erwachen.

»Ja! … Es regnet?«

Sie wandte den Kopf und hörte das Rauschen des immer stärker werdenden Regens.

»Es regnet … ja … es regnet.«

Dann sank sie wieder in ihre alte Teilnahmlosigkeit zurück. Fox überlegte einen Augenblick, wie er ihr die frohe Nachricht beibringen könne. Er fürchtete, daß ein allzu jäher Umschwung der Empfindungen ihr Gefahr bringen könnte.

Die kleine kirgisische Dienerin Marias huschte an ihm vorbei und beugte sich zu ihr.

»Ein gutes Mittel für die kranke Herrin! Ein Mittel gegen die Kopfschmerzen. Ein durchziehender sartischer Händler gab es mir … Es wird der Herrin helfen. Er sagte, es muß so gebraucht werden, wie es dabei geschrieben steht.«

Mit einer müden Handbewegung wehrte Maria die Dienerin ab.

Bei der Nennung des sartischen Händlers hatte Wellington Fox aufgehorcht. Er schritt an die Ruhestätte heran und nahm der Kirgisin das Päckchen aus der Hand.

»Geh! Deine Herrin ist müde. Ich werde es ihr später geben!«

Kaum hatte die Dienerin den Raum verlassen, so zerriß er mit fieberhaften Händen die Umhüllung. Eine Tube von der ihm so gut bekannten Form fiel ihm in die Hand. Mit schnellen Griffen löste er den Zettel, der sie umhüllte.

»An Wellington Fox oder die, die es bekommen!

Heute nachmittag um 5 Uhr 30 Minuten müßt ihr den Inhalt der Tube in ein Wassergefäß in eurem Zimmer schütten.«

Der Zettel in Maschinenschrift. Kein Namen darunter.

Schon wollte Wellington Fox seiner Freude in neuen Sprüngen Luft machen, als sein Blick auf Maria fiel. Hallo, alter Fox! Nicht zu stürmisch. Bring es ihr langsam bei.

»Ein vorzügliches Rezept! … Ein brillantes Rezept!«

»Was ist’s?«

Der alte Witthusen war zu ihnen getreten und ließ sich auf dem Rande von Marias Lager nieder. Er ergriff ihre Hände und streichelte sie leise.

»Was ist Vater? Du schaust so froh?«

»Sprechen Sie weiter, Herr Fox … Sie werden es besser sagen können. Ich … ich … kann nur ahnen … die frohe Botschaft … die Sie sagen werden.«

»Also, Fräulein Maria! … Hier ist das beste Mittel gegen Ihre Kopfschmerzen, das es in der Welt gibt.«

»Sie kennen das Mittel?«

»Jawohl! … Ganz genau, Fräulein Maria ..Es wird hergestellt und vertrieben … von meinem Freunde Georg Isenbrandt!«

Maria erhob sich halb von ihrem Lager. Ihre Augen wanderten zwischen Fox und ihrem Vater hin und her.

»Von Isenbrandt? … Was ist’s«, drängte sie. »Sagen Sie es, Herr Fox! … Was schickt uns Georg Isenbrandt?«

Fox lächelte spitzbübisch.

»Das Mittel, um Sie von Ihren Kopfschmerzen und … uns aus der Gefangenschaft zu befreien … Er selbst ist gekommen.«

Mit einem Ruck erhob sich Maria Feodorowna vollständig von ihrem Lager.

»Er ist gekommen? … Georg Isenbrandt ist da?«

Alle Müdigkeit … alle Erschlaffung war von ihr gewichen. Sie eilte zur Tür. Ihre Augen suchten forschend durch das fahle Grau. Mit gierigen Atemzügen zog sie die frische Kühle in ihre Brust ein.

»Sein Bote! … Der Regen!« sagte Witthusen.

Maria drehte sich um und schaute ihren Vater fragend an.

»Wann kommt er selbst?«

Ein freudiger Glanz lag in ihren Augen. Ein leichtes Rot bedeckte die blassen Wangen.

»Bald, Kind! … Bald kommt er und bringt uns Freiheit.«

Ein Zittern ging durch Marias Gestalt. Witthusen nahm sie in seinen Arm und führte sie zu ihrem Lager zurück.

»Zuviel des Guten! Mut, Kind! … Mut!«

Wolkenbruchartig strömte jetzt der Regen herab. Schon bildete der ganze Hof eine einzige Lache. Immer düsterer, jetzt nicht mehr grau, sondern fast schwarz, ballten sich massige Wolken und gossen den schweren Sturzregen auf das Land.

»O Gott, was für ein Unwetter!«

»Ein Unwetter, das uns die Rettung …die Freiheit bringt.«

»… Kann ein Mensch Sturm und Wetter senden, wie er will? Wind und Wetter schicken? … Erinnern Sie sich, Herr Fox. Wir sprachen auf der Fahrt von Orenburg nach Ferghana darüber. Es war der Punkt, an dem die Künste Ihres Freundes versagten.«

»Damals Fräulein Maria!«

»Und heute?«

»Und heute ist es … vielleicht anders.«

Eine kurze Pause des Schweigens. Unterbrochen durch schwere Donnerschläge und zuckende Blitze. Inmitten der strömenden Regengüsse kam ein Gewitter von unerhörter Stärke zum Ausbruch. Es gab Minuten, in denen ein Blitz dem anderen fast unmittelbar folgte, in denen das Rollen und Grollen nicht zur Ruhe kam und jede Rede unmöglich war.

In einer Pause des Tobens der Elemente sprach Maria:

»Das Blatt in dem Päckchen trägt keine Unterschrift … keinen Namen … sind Sie so sicher, daß es von Ihrem Freunde kommt?«

»Kein Zweifel, Fräulein Maria.«

»Warum hat Ihr Freund seinen Namen nicht daruntergeschrieben?«

»Weil es nicht gut … nicht klug ist, den Namen Isenbrandt in das Land der Gelben zu tragen … Nicht gut für den Träger der Botschaft … auch nicht gut für die, an die die Botschaft gerichtet wurde …«

Ein neuer Donnerschlag unterbrach seine Rede und ließ das ganze Gebäude bis in die Grundfesten erzittern. Erschreckt drängte sich Maria an ihren Vater. Die kleine Kirgisin kam wieder in den Raum. Verstört und hilfesuchend. Das Unwetter schien den Weltuntergang einzuleiten.

Jetzt war es ganz dunkel in dem Zimmer. Nur die Blitze warfen durch die kleinen, hoch unter der Decke liegenden Fenster ihre jähen bläulichen Reflexe.

Wellington Fox allein blieb ruhig und äußerlich wenigstens unbewegt. Wieder zog er die Uhr.

»Zwanzig Minuten nach Fünf.«

In einer Pause zwischen zwei Donnerschlägen klangen die Worte durch den Raum.

Der Regen begann jetzt milder zu fallen. Aus dem Wolkenbruch wurde ein einfacher Landregen.

Ging das Unwetter seinem Ende entgegen? Sollte der Aufruhr der Elemente ebenso jäh zur Ruhe kommen, wie er ausgebrochen war?

Seltener wurden die Donnerschläge, seltener die zuckenden Blitze. Aber die Helligkeit im Raume wurde nicht geringer. Auch jetzt noch fiel Licht durch die Fenster.

Der Himmel selbst schien zu leuchten.

Wellington Fox lief bis an die Hoftür. Er streckte die Hände in den Regen und zog sie mit einem Aufschrei zurück. Kochendes Wasser war ihm darauf gefallen und hatte ihn verbrüht.

Er kehrte in das Zimmer zurück und rieb sich die schmerzende Hand. Spürte dabei, wie die Wärme auch im Zimmer zunahm.

Nach der Sonnenglut des Tages hatte der erste schwere Wolkenbruch angenehme Kühlung gebracht. Jetzt begannen die Fluten zu sieden und zu kochen.

Wellington Fox sah auf die Uhr.

»Halb sechs!«

Mit schnellem Griff löste er den Verschluß der Tube, schüttete den ganzen Inhalt in den Krug, warf auch die Tube nebst Deckel hinein. Trat dann wieder zu den Witthusens.

Es war jetzt hell im Zimmer. Wie Feuer leuchtete der Himmel durch die Fenster. Soweit das Firmament durch die kleinen Öffnungen zu übersehen war, schien es in Flammen zu stehen.

Noch einmal wagte Wellington Fox den Gang bis zur Hoftür. Schon auf dem Flur vom Zimmer bis zum Hofe schlug ihm drückende Hitze entgegen.

Dann stand er einen Augenblick an der geöffneten Tür und sah … wie aus dem Wasserregen ein Feuerregen geworden war.

Nicht mehr Wassertropfen … auch nicht mehr kochendes Wasser … das klare Feuer fiel in Regenform vom Himmel herab. Solchen Anblick mochten die Bewohner Pompejis gehabt haben, als der Vesuv ihre Stadt begrub. Solchen Anblick die Bewohner von Sodom und Gomorra, als ihre Städte im Schwefelregen zugrunde gingen.

Die brennende Hitze trieb Wellington Fox zurück. Er schlug die schwere Bohlentür hinter sich zu und eilte über den Flur wieder in das Zimmer.

Erfrischende Kühle umfing ihn hier. Er blickte nach dem Tisch.

Wo er vor kurzem noch den Krug gesehen hatte, lag jetzt ein gewaltiger massiver Eisblock. Graue Nebel umwallten ihn, liefen über die Tischplatte, fielen schwer zu Boden und wogten durch das Zimmer, um an den Wänden langsam emporzusteigen. Nebel, die eine herbe Kälte durch den ganzen Raum verbreiteten.

Wellington Fox gedachte des Tages, an dem er Georg Isenbrandt vor einem ähnlichen Frostblock in Wierny angetroffen hatte. Er dachte an die Erklärung Isenbrandts damals, daß hier nicht nur das Wasser, sondern die Luft selbst gefriert. Daß Weltraumkälte von dieser Stelle aus ging … und er begann den Plan des Freundes zu begreifen. Da draußen tobte die Wut des Dynotherms, ließ Feuer vom Himmel fallen und vernichtete alles Leben, soweit es in den Ruinen vorhanden war. Hier drinnen bei ihnen in diesem kleinen Raume arbeitete die Macht des Antidynotherms der Glut entgegen und schützte ihr Leben.

Er trat an die Fensterwand und berührte sie. Sie war brennend heiß. Von außen her drang die Glut durch die starken Mauern, bis sie hier durch die Frostschleier gebrochen wurde.

Mit wunderbarer, genau abgemessener Genauigkeit vollzog sich das Spiel und Gegenspiel der Riesenkräfte und ließ in der brennenden und verglühenden Ruinenstadt hier allein einen Ort, an dem das Leben dauern und den allgemeinen Untergang überstehen konnte.

Mit Staunen und Grauen sahen die Eingeschlossenen das furchtbare Schauspiel. Ihre Lippen waren längst verstummt. Auch dem sonst nie um Worte verlegenen Fox fehlte die Sprache.

Hätte das Blatt mit Isenbrandts Worten nicht vor ihnen gelegen, sie hätten geglaubt, der Jüngste Tag bräche herein.

Sie saßen und sahen wie gelähmt das Furchtbare sich vollziehen.

Wann würde es enden?

Unablässig fiel das Feuer … bis es nach langer Zeit schwächer wurde.

Nur noch matt glänzten jetzt die Fensteröffnungen. Ganz allmählich ging dort der gelbe Schimmer in einen grünlichen über. Tiefer wurde das Grün und spielte ins Blau hinüber.

Eine Viertelstunde … und dann noch eine.

Ein Geräusch schreckte sie aus ihrer Erstarrung empor.

Ein Rasseln an der Außentür. Ein Poltern, als ob sie in Trümmern zusammenstürzte.

Dann Schritte auf dem Flur.

Die Tür zum Zimmer wurde aufgerissen. Rotgolden flutete das Licht der Abendsonne in den Raum. Vor ihnen stand Georg Isenbrandt.

»Hurra! Gerettet!« schrie Wellington Fox.

Mit erhobenen Armen eilte Theodor Witthusen auf den Retter zu.

Doch der sah sie beide nicht. Seine Augen waren auf Maria gerichtet, die jetzt wie unter einem inneren Zwange auf ihn zuschritt.

Ihre Hände verschlangen sich. Ihre Blicke versenkten sich sekundenlang ineinander.

»Maria!«

»Georg!«

*

Mr. Garvin streifte nachdenklich die Asche von seiner Zigarre. Sein Blick glitt über die Abhänge des Matteostocks und die blaue Flut des Stillen Ozeans, um dann an der Gestalt von Wellington Fox haften zu bleiben, dessen Profil sich scharf gegen den azurfarbenen Himmel abhob.

Anders als damals in Wierny blickte Francis Garvin heute auf den Journalisten, der in lässiger Haltung auf der schmalen Balustrade saß und vergnügt mit den Beinen schlenkerte, als hätte er eben irgendeine Belanglosigkeit zum besten gegeben. Schon der gute Humor, mit dem Fox seine Abenteuer in Urga und Karakorum erzählte, hatte dem kühlen Geschäftsmann gefallen. Ein Mann, der mit solchem Gleichmut von schwersten Lebensgefahren sprach, mußte doch etwas anderes sein, als Garvin bei dem ersten Hören von dessen Namen gefürchtet hatte.

»Und niemand hat außer Ihnen beizeiten die schwere Gefahr erkannt und entdeckt, die unser Land bedroht?«

»Keine Seele! Als ich dem Meister unseres Weißen Ordens hier in Frisko die nötigen Mitteilungen machen wollte, feierten sie gerade das hohe Fest des Holundermarks …«

Garvin schaute ihn fragend an.

»Was? … Was ist das?«

»Was das ist, Mr. Garvin? Ein Humbug in Reinkultur, der aber von der an sich guten und gesunden Organisation nicht zu trennen ist. Der Meister hatte gerade die Zeremonie beendet, als ich ihn um eine Unterredung bat.

Ich habe selten ein so erstauntes Gesicht gesehen wie das von … pardon, ich darf Ihnen den Namen nicht nennen, da Sie nicht Mitglied sind … Ein so erstauntes Gesicht bei einem Manne, der doch sonst als kluger und energischer Politiker bekannt ist.«

Garvin lachte.

»Und weiter?«

»Ich mußte es bewundern, wie schnell und richtig er dann aber die Sache anfaßte und seine Maßnahmen traf. Da war es im Augenblick mit all dem komischen Beiwerk aus.«

»Wurden Sie nicht daraufhin um dreizehnundeinenhalben Grad hinaufbefördert?«

»Stopp, Sir! Wenn Sie heut in sechs Wochen noch sind, was Sie heute sind, werden Sie es nicht in letzter Linie dem Weißen Orden und seinen Holundermännern verdanken. Wer unseren Orden mit den alten Ku-Klux-Klan-Leuten vor hundertfünfzig Jahren verwechselt, der befindet sich in einem schweren Irrtum. Die Parole: ›Reinhaltung der weißen Rasse‹ ist dieselbe geblieben. Auch viele von den mittelalterlich anmutenden Gebräuchen und Zeremonien haben sich noch erhalten. Aber der Geist ist ein ganz anderer geworden … und andere Wege verfolgt er zu seinem Ziel. In den kommenden Wochen wird er die Feuerprobe bestehen …«

Garvin wiegte in leisem Bedenken das weißbuschige Haupt.

»Ich bezweifle die Richtigkeit Ihrer Mitteilungen nicht, lieber Fox. Doch möchte es mir scheinen, als ob Sie die Gefahr als zu groß ansehen …«

Wellington Fox deutete mit der Hand auf die blaue Küste.

»Meine Ansicht ist die, Mr. Garvin, daß es sich empfehlen dürfte, Ihre Jacht fahrbereit Tag und Nacht hier unten zu Ihrer Verfügung liegen zu haben … Es sei denn, daß Ihre Liebe zu Helen nicht so groß wäre als meine …«

»Was ist mit Helen? … Was soll Helen?«

Mit einem Sprunge war Helen über den Marmorboden hin auf die beiden zugeeilt. Fox glaubte, sie wolle ihm um den Hals fallen, fühlte sich aber mit einem energischen Ruck nach vorn gezogen, daß er beinahe mit der Nase den Boden berührte. Ein kräftiger Klaps von Helens kleiner Hand bewies ihm noch näher, daß er mit seiner ersten Vermutung im Irrtum gewesen war.

»Wellington! … Was bist du für ein fürchterlicher Mensch! … Du sitzt da auf der Balustrade wie in einem Klubsessel, während es hinter dir fünfzig Meter in die Tiefe geht. Und du, Pa, siehst das mit an?!«

Der alte Garvin schmunzelte.

»Ich halte Mr. Fox für viel zu klug, um hier herunterzufallen … Und wenn er’s täte, würde es ihm wahrscheinlich auch nichts schaden.«

»Pa …«, klang es vorwurfsvoll aus Helens Mund. »Du bist häßlich! Wie kannst du so etwas sagen. Ich meine, du solltest doch jetzt anders über Wellington denken.«

»Tue ich auch, mein liebes Kind! Meine Hochachtung ist, das gestehe ich offen, immer mehr gestiegen, je länger ich ihn kenne. Jetzt bin ich schon beinahe so weit, daß ich auch das große Geschäft, das er mir damals in Aussicht stellte, nicht mehr für eine Fata Morgana halten würde.«

»Oh, wie freue ich mich darüber, Pa! Einen Kuß für dich und zwei für Wellington!«

»Helen, gib deinem Vater auch noch den zweiten und bitte auch du ihn, das zu tun, um das ich ihn gebeten habe.«

»Was war das?«

»Nichts für dich, kleine Helen!«

»Oh, schon Geheimnisse vor mir? Aber Helen ist nicht neugierig. Pa, du wirst es tun, um was Wellington dich bat.«

»Ich werde es tun!«

Helen fiel ihrem Vater um den Hals.

»Liebster, bester Pa, dafür bekommst du noch zwei Küsse.«

*

In der Redaktionsstube des Frisko Black Herald saß das schwarzgelbe Mischblut, der Redakteur Johnson, in einem von den Motten reichlich angefressenen Polsterstuhl. Ihm gegenüber stand Collin Cameron, der es verschmähte, sich der zweiten ähnlich üblen Sitzgelegenheit zu bedienen.

»Gut, daß Sie kommen, Mr. Cameron! Die Arbeit in den letzten Wochen war fürchterlich. Sie hat viel Schweiß gekostet …«, er fuhr sich mit einem außergewöhnlich schmierigen Taschentuch über die nasse Stirn … »Und Geld … viel Geld …«

Dabei warf Mr. Johnson eine schadhafte Brieftasche auf den Tisch, der die absolute Leere aus allen Löchern gähnte.

»Schon gut!«

Collin Cameron zog ein Scheckbuch aus der Tasche, riß ein Formular heraus, füllte es mit einer hohen Summe aus und legte es vor sich hin.

»Berichten Sie! Aber vermeiden Sie jede … auch die kleinste Unrichtigkeit.«

Mr. Johnson verrenkte sich fast die Augen, um die Summe auf dem Scheck zu lesen. Doch vergeblich. Mit einem Seufzer lehnte er sich in sein Stuhlwrack zurück.

»Das Programm, das wir bei Ihrem letzten Besuch aufstellten, ist erfüllt. Auch die Führer … Smith von den Mortonwerken, Wessels vom Hafen und Bavery sind gewonnen … war sehr kostspielig … sehr kostspielig.«

»Wird Ihr Anhang diesen Führern auch unter veränderten Umständen folgen?«

»Oh … wenn Smith, Wessels und Bavery rufen, bleibt keiner zurück. Denen folgt das Volk durchs Feuer.«

»Die Waffen?«

»Unsere Lager sind gefüllt … können jederzeit auf die Bezirke verteilt werden. Das Hafenvolk besitzt schon genügend Waffen.«

»Ist was vom Weißen Orden zu fürchten?«

Ein Grinsen verzerrte das Gesicht Johnsons.

»Der Weiße Orden? … Der feiert seine Feste … Sein Mark ist nicht fester als das des Holunders, seines Wappenbaumes … Er wird wie alle anderen überrumpelt werden.«

»Der Plan für den 6. Juli steht fest. Erstes Ziel ist Nob Hill. Das lockt auch das weiße Gesindel … bindet Militär und Polizei …

Die Hauptmasse bemächtigt sich währenddessen der öffentlichen Gebäude und der Flugstation. Sie haben die Liste der prominenten Leute, die sofort als Geiseln gefangenzusetzen sind.«

Johnson nickte zustimmend.

»Wo Widerstand geleistet wird, kein Zögern und keine Schonung!«

»All right, Sir!« … Johnson zögerte einen Moment … »Wie ist’s mit den Schiffen und Flugzeugen, Mr. Cameron?«

»Sie kennen die Taktik. Immer weiße Gefangene unter die Trupps nehmen! Dann wird man nicht wagen, zu schießen.«

»All right, Sir!«

»Ist sonst noch etwas?«

»Ja, Mr. Cameron.«

»Was denn?«

»Das Geld!«

Collin Cameron deutete auf den vor ihm liegenden Scheck und griff nach seinem Hut.

»Hier, Mr. Johnson! Ich gehe nach Louisiana. Vor dem Wahltag bin ich noch einmal hier.«

Ohne Gruß verließ er das Zimmer. Noch ehe sich die Tür geschlossen hatte, schoß Johnson auf den Scheck zu. Mit gierigen Augen überflog er die Summe. Eine gewisse Enttäuschung malte sich auf seinem Gesicht.

Mr. Johnson hatte die feste Überzeugung, daß sein Wirken besser zu belohnen sei. Immerhin schob er das Papier befriedigt in die Brieftasche und schmiedete dabei Zukunftspläne.

»Mit dem übrigen gibt es eine hübsche runde Summe, die langt, um den Black Herald zu kaufen … wenn die Affäre vorbei ist.«

Nur der Gedanke, daß Collin Cameron an derselben Affäre wahrscheinlich viel, viel mehr verdiente als er, bedrückte Mr. Johnsons sonst so weites Gewissen.

*

Die Wahlkampagne um den Gouverneurposten von Louisiana war seit Wochen im Gange. Je näher der Wahltag kam, desto erregter wurde die Stimmung. Nicht nur hier, sondern in allen Staaten der Union.

Eine entscheidende Frage mußte bei dieser Wahl zum Austrag kommen. Es handelte sich diesmal nicht einfach darum, ob dieser oder jener Kandidat das Amt des Gouverneurs erhalten sollte. Die Frage war die … Würde ein schwarzer Bürger der Union das höchste Amt eines Einzelstaates erhalten und auch ausüben können?

Vor dreißig Jahren hatten Kongreß und Senat die stark umkämpfte Jeffersonbill durchgebracht, die den Zentralparlamenten der Union das Bestätigungsrecht für die Gouverneursposten der einzelnen Staaten verlieh. Es war ein wichtiger Schritt auf dem Wege vom Föderativ- zum Zentralstaat gewesen. Die Bill gab den Zentralparlamenten das Recht, Wahlen zu beanstanden, gegen die ein wesentliches Staatsinteresse geltend gemacht werden konnte.

Die nächstliegende Frage war die: Würde der schwarze Kandidat Josuah Borden die Stimmenmehrheit erhalten? Das stand auf des Messers Schneide. Die Zahl der weißen und schwarzen Stimmberechtigten des Staates war fast genau gleich. Für beide Parteien mußte es darum gehen, den letzten Mann an die Wahlurne zu bringen. Ein ungewöhnlich scharfer Wahlkampf mußte sich daher mit Sicherheit entwickeln.

Schon jetzt arbeiteten die Parteien mit Hochdruck. Zum erstenmal in der Geschichte der Union war die Losung: Hie weiß, hie schwarz!

Schon an sich wäre das voraussichtliche Ergebnis der Wahl aus den Zahlenverhältnissen der beiden Rassen in Louisiana kaum abzulesen gewesen. Aber es blieb noch die große Menge des Mischblutes aller Grade. Außerdem die Angehörigen der gelben Rasse und ihre Mischlinge. Diese recht bedeutende Menge bildete das Objekt für die Bearbeitung von beiden Seiten. Sie konnte, ja mußte unter den obwaltenden Verhältnissen den Ausschlag geben.

Die Propaganda der Weißen und der Schwarzen arbeitete mit riesenhaften Summen. Seitdem die Kampagne begonnen hatte, war manches half cast noch nicht nüchtern … und immer noch nicht klar darüber geworden, ob es weiß oder schwarz wählen würde. Im Bewußtsein ihrer plötzlichen politischen Wichtigkeit zeigten diese Mischlinge eine lächerliche Anmaßung. Aber die Parteien nahmen alles mit in Kauf. Doch mancher Weiße, der das unverschämte Betragen sah, gedachte wohl des Sprichwortes, daß Gott die Weißen und die Schwarzen, aber der Teufel das Mischblut geschaffen habe.

In New Orleans, der Hauptstadt des Staates, tobte der Kampf am heftigsten. Täglich bewegten sich große Züge der Parteien durch die Hauptstraße. An der Spitze gewöhnlich als Prunkstück und Neuerwerbung ein Trupp Mischlinge. Es gab amüsante Fälle, daß mancher am Vormittag bei der einen und am Nachmittag bei der anderen Partei prätendierte.

Reden und Versammlungen wuchsen allmählich ins Ungemessene. Serien von Rednern auf den öffentlichen Plätzen lösten sich ab.

Die Zeitungen füllten ihre Spalten nur noch mit Wahlnachrichten. Trotzdem die Schwarzen in Josuah Borden einen Mann von untadeliger Gesinnung und Vergangenheit aufgestellt hatten, wurde seine Person von der weißen Presse niederen Ranges in unerhörter Weise durch den Schmutz gezogen. Die besseren weißen Zeitungen begannen bereits mit der Jeffersonbill zu arbeiten. Sie wiesen darauf hin, daß das Zentralparlament niemals die Bestätigung eines schwarzen Gouverneurs aussprechen würde, und suchten auf diese Weise Entmutigung in die Reihen der Gegner zu tragen.

In den Versammlungslokalen waren die Gemüter schon sehr heftig aufeinandergeprallt, und es war dabei nicht nur mit geistigen Waffen gekämpft worden. Auf der Straße hatten sich die Versammlungsdebatten häufig in einer Weise weiterentwickelt, daß die Polizei eingreifen mußte. Dabei waren Verwundete und Tote auf dem Platze geblieben. Vergeblich versuchte man von Washington aus die Leidenschaften zu dämpfen. Sah man doch, wie die öffentliche Meinung in allen Staaten der Union in lebhaftester Weise Partei ergriff.

Im großen Saale der City hall von New Orleans sprach Josuah Borden. Die Versammlung war in erster Linie einberufen, um die noch schwankenden Halfcastwähler zu bearbeiten. Der riesige Raum war bis auf den letzten Platz gefüllt.

An einer bevorzugten Stelle innerhalb des Komitees saß Collin Cameron. Die glänzende Rede Josuah Bordens, die häufig von lebhaften Beifallsbezeigungen unterbrochen wurde, ging wirkungslos an seinem Ohr vorüber, das durch die vielen Reden dieses Wahlkampfes schon abgestumpft war.

Seine Gedanken weilten in Karakorum. Bevor er, dem Befehl des Regenten folgend, nach den Staaten flog, war er nach der Ruinenstadt gegangen, um da reinen Tisch zu machen. Jenes letzte Zusammentreffen mit Maria Witthusen in Urga hatte ihn derart aus dem Gleichgewicht gebracht, daß er so oder so eine Entscheidung erzwingen wollte. Er sah nur noch zwei Wege. Mit Maria zu leben oder ohne sie zugrunde zu gehen. Er war innerlich bereit, seine ganze Vergangenheit abzuwerfen, an der Seite Marias ein neues Leben zu beginnen. Glückte ihm das … ließ sich Maria dazu bereitfinden, dann wollte er auch dem Journalisten das Leben schenken.

In dieser Stimmung war er nach Karakorum gekommen … und fand einen Kirchhof in der Wüste. Mit gesträubtem Haar sah er das schaurige Bild einer unerklärlichen Katastrophe.

Hartgebrannt die Reste der alten Lehmmauern. Jedes Holz … jeder Baum verascht … jedes Leben erloschen. Hier und da stieß sein Fuß auf den Wegen gegen weißgeglühte Knochen. Auch innerhalb der Mauertrümmer nur verbrannte Knochenreste.

Von seinen Gefangenen keine Spur! Waren sie mitverbrannt? Oder waren sie entkommen, bevor die Katastrophe eintrat?

Katastrophe? … Was war das für ein furchtbares Ereignis gewesen? … Es lebte niemand, der ihm hätte Auskunft geben können. Eine Feuersbrunst von ungeheuerer Gewalt mußte gewütet haben.

Aber was war denn Brennbares da? Das wenige Holz konnte eine derartige Hitze nie entwickeln.

Irgendwie mußte es von außen gekommen sein. Ein Erdbeben mit feurigem Ausbruch? … Nein! … Das hätte die Ruinen umstürzen … andere Spuren hinterlassen müssen.

Wie konnte es sonst geschehen sein? Ein Naturereignis? Kaum denkbar!

Menschenwerk? … Seit dem Anblick jener Ruinen lebte ein Verdacht in ihm. Er konnte ihn nicht begründen und wurde ihn doch nicht wieder los. Der war noch stärker geworden, als Collin Cameron in Frisko von Johnson erfuhr, daß dort sein alter Unterschlupf, die Opiumhöhle, auf eine ganz rätselhafte Weise ein Raub der Flammen geworden sei.

Kaum ein Mensch auf der gelben Seite war so hinter die Geheimnisse Isenbrandts gekommen wie er. Faßte er alles zusammen, so drängte sich ihm immer wieder der Schluß auf: Ein Werk Isenbrandts mußte die Katastrophe gewesen sein.

Er kämpfte dagegen. Er sträubte sich gegen die immer zwingender werdende Erkenntnis. Gut, daß der Wahltag nahe war und damit die Entscheidung. Viel länger hätten seine Nerven diese Spannung nicht ertragen.

Eine Stimme, so schneidend und scharf, wie er sie nur einmal gehört, riß ihn aus seinem Sinnen. Er stützte die Hände auf den Tisch, an dem er saß, und starrte auf die Tribünen. Dann sank er zurück und legte die Hand auf die Augen. Noch einmal ließ er sie fallen und schaute auf.

Es war kein Zweifel. Da stand er, der Journalist Fox, den er tot geglaubt, dem er den Tod gewünscht hatte. Der Freund Isenbrandts. Auf der Rednertribüne stand er und sprach als erster Diskussionsredner gegen Josuah Borden.

Collin Cameron hörte nicht auf die klugen, klingenden Worte, mit denen Wellington Fox jetzt dem Redner des Tages in die Parade fuhr. Er sah nur die verhaßte Gestalt seines Feindes.

Seine Gedanken überstürzten sich. Wie kam Fox hierher? … Wo war Maria? … Wer hatte die Gefangenen befreit und gerettet?

Mit haßverzerrten Mienen starrte er auf die festen, gesunden Züge seines Gegners. In dieser Sekunde wurde sein Verdacht zur Gewißheit.

Er senkte den Kopf, als habe ihn ein schwerer Schlag getroffen. Die Pläne des Regenten … die schwarze Sache … Maria … alles, wofür er gekämpft hatte, schien ihm bedroht … verloren.

Dann straffte er sich. Eine maßlose Wut tobte in ihm. Mit einem kurzen Augenblinken rief er den Führer des schwarzen Schutztrupps zu sich. Ein paar leise geflüsterte Worte.

Ihre Wirkung zeigte sich bald. Bei der nächsten scharfen Wendung, die Wellington Fox gebrauchte, brach der Gegensturm los. Johlende und schreiende Protestrufe erschollen von allen Seiten. Eine Masse Schwarzer ballte sich plötzlich um die Rednertribüne zusammen. Es war klar: Man wollte den Redner mit Gewalt von der Tribüne reißen.

Noch sprach Wellington Fox unbeirrt weiter, obschon seine Worte kaum noch von den Nächsten gehört wurden. Ein Trinkglas, das dicht an seinem Kopf vorbeiflog, gab das Signal zum allgemeinen Angriff.

Der Redner war in höchster Gefahr. Da brach plötzlich aus einer anderen Ecke ein Keil … ein weißer Stoßtrupp durch. Noch ehe die Schwarzen an ihn herankonnten, war Wellington Fox von sehnigen, kräftigen Gestalten umringt, die alle das Abzeichen des Weißen Ordens trugen.

Minutenlang preßten die Parteien gegeneinander. Von beiden Seiten flogen wüste Schimpfreden. Wer würde mit Tätlichkeiten beginnen?

Collin Cameron hatte sich halb bewußt von der Strömung mitreißen lassen. Nur wenige Schritte trennten ihn von seinem Gegner. Die Hände der beiden Männer waren in der drängenden und wogenden Masse festgepreßt. Das Auge Wellington Fox’ zeigte keine Überraschung. Er hielt den Wutblicken Collin Camerons mit lächelndem Gleichmut stand. In diesem Moment gelang es der Versammlungsleitung, rechts und links Saaltüren zu öffnen und die feindlichen Parteien langsam auseinanderzudrängen.

Kaum fühlte Wellington Fox die Hände frei, als er Collin Cameron höchst vergnüglich zuwinkte.

»Auf Wiedersehen ein andermal, Mr. Cameron. Die Gelegenheit war diesmal nicht günstig, um Ihnen von Karakorum und seinen Gästen zu erzählen. Ihre zweifellos berechtigte Neugierde wird bald befriedigt werden …«

Schon wurde die Entfernung zwischen den Gegnern größer, aber Wellington Fox verfügte über genügende Stimmkraft.

»… Allen Beteiligten geht es außerordentlich wohl … Die Rechnung wird beglichen werden … Wir wissen alle, was wir Ihnen schuldig sind …«

Einen Augenblick war Collin Cameron in starker Versuchung, eine Kugel in den lachenden Mund zu schicken. Er bezwang sich. Seine Lippen blieben geschlossen. Mit einem Blick voll Haß und Rachsucht wandte er sich ab.

*

Vom Pamir bis zum Altai und westwärts bis zum Uralgebirge brach es fast gleichzeitig los. Die alten Herren des Landes, die Kirgisen, rüttelten an ihrem Joch. Verdrängt von den alten Stätten ihrer Kultur, verdrängt von dem Lande und den Weiden ihrer Vorfahren, hatten sie, seit das Siedlungswerk bestand, teils den Siedlern als Unfreie gedient, teils waren sie in unzugängliche, unwirtliche Gegenden entwichen, wo sie ein freies, aber erbärmliches Dasein führten.

Vom Osten war der Ruf zu ihnen gedrungen. Heischend und versprechend. In jahrelanger Arbeit hatte die geheime Irredenta die Saat reifen lassen.

Jetzt stürmten sie los … berauscht vom Drange, ihr Geschick zu bessern … ihre alte Freiheit wiederzugewinnen … Die Fremden zu verjagen. Hoffend auch auf die starke Hand im Osten.

Der erste Angriff ging gegen die technischen Anlagen. Hier wurden Kanäle zerstört und Schleusen geöffnet … dort Staudämme gesprengt … dort Brücken unterminiert und Wege ungangbar gemacht. Es fing als eine planmäßige Sabotage an.

Aber als die ersten Nachrichten kamen, daß auch Dynothermlager der Kompagnie zum Brennen gebracht waren, da wußte man, daß es mehr als Sabotage … daß es Aufruhr … Krieg war.

Die Siedler griffen zu ihren Verteidigungsmitteln. Die Polizeitruppen waren Tag und Nacht mobil. Wo sie hinkamen, schafften sie Ordnung. Sobald sie den Rücken kehrten, ging es wieder los.

Im jahrelangen Verkehr mit den Siedlern hatten die Kirgisen viel gelernt. Unter den technischen Arbeitern waren anstellige Kirgisen in Menge. Die kannten die Anlagen und ihre Bedeutung nur allzu gut. Wußten nicht nur, wie man diese richtig zu bedienen habe, sondern auch, wie man sie am besten ruinieren könne.

Und es blieb nicht bei diesen Zerstörungsakten einzelner. Es kam zur regelrechten Bandenbildung in den Grenzgebieten. Die Ausrüstung und Organisation war dabei derartig, daß die fremde Unterstützung außer allem Zweifel war.

Sogar Flugzeuge standen den Banden zur Verfügung. Von den Grenzgebirgen her stießen sie zur Nachtzeit weit in das Siedlungsgebiet vor, richteten hier allerlei Schaden an und waren bei Morgengrauen wieder verschwunden. –

Kurz nach Sonnenaufgang kam der vom Baron von Löwen geführte Kompagniekreuzer in das obere Amutal. Hier befanden sich gewaltige Stauanlagen, die das überreichlich von den Alpen kommende Wasser auffingen und in einem großartigen Kanalsystem über das Siedlungsland im alten Turkmenengebiet verteilten.

Hier hatte die E. S. C. vor zwanzig Jahren ihre Arbeiten begonnen … Richtiger gesagt, die alten ähnlichen Arbeiten der russischen Regierung in großzügiger und technisch viel vollkommenerer Weise fortgeführt. Dicht besiedelt war das Land hier. Lebenswichtig für das Gedeihen der Siedlung war das gute Funktionieren des Kanalsystems und der Stauanlage.

Aber schon mehrmals waren die Anlagen das Ziel feindlicher Angriffe gewesen.

Georg Isenbrandt war seit Beginn des Aufstandes Tag und Nacht unterwegs. Der Kreuzer des Herrn von Löwen war seit Tagen sein ständiges Quartier. Als das Schiff jetzt an der großen Schleuse von Kula Kul niederging, kam sofort der Adjutant des Generals Bülow, der Hauptmann Averil Lowdale, an Bord, um Rapport abzustatten.

Mit gespanntem Interesse lauschte Isenbrandt dem Bericht des Offiziers. Erst in der vergangenen Nacht hatte es hier einen scharfen Kampf gegeben. Ein überraschend starkes Geschwader hatte nach Anbruch der Dunkelheit einen Angriff auf die Anlagen unternommen. Hauptmann Lowdale hatte ihn mit gutem Erfolg abgewehrt. Die Anlagen waren nur leicht beschädigt worden.

Der Hauptmann war mit seinem Bericht an Isenbrandt zu Ende.

»Sie haben recht, Herr Hauptmann! Es hat keinen Zweck, hier ständig große Kräfte zu binden … zu lauern, bis ein Angriff erfolgt. Es ist besser, das Übel bei der Wurzel zu fassen.

Ihre Meinung, daß die Angriffe über die gelbe Grenze herkommen, teile ich nicht. Sie mögen die Unternehmungen von dort aus unterstützen … meinetwegen sogar veranlassen. Aber ich halte die Regierung von Peking für zu vorsichtig, sich eine derartige Blöße zu geben. Berichten Sie in diesem Sinne auch an den General. Er möchte die hiesigen Grenzgebiete durch eine schnelle Kreuzerflotte gründlich absuchen lassen. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn die Burschen nicht zu finden wären.

Die Grenzführung ist hier freilich außerordentlich schwierig. Mir ist sie von den Arbeiten im Gebirge her genau bekannt. Begleiten Sie mich, bitte, um das Terrain zu studieren. Sie dürften dann der richtige Mann sein, um die Operationen selbständig zu leiten. Vielleicht haben wir Jägerglück und spüren eins der Fuchslöcher auf.«

Eine Viertelstunde später strich der Kreuzer in niedrigem Fluge langsam über die Kämme der Grenzgebirge. In der Zentrale stand Hauptmann Lowdale neben Isenbrandt und verfolgte an der Hand der Karte und der Erklärungen Isenbrandts das unter dem Kreuzer langsam hingleitende Gelände.

Jetzt teilte sich der Gebirgskamm. Der eine Rücken ging nach Nordosten, der andere nach Osten. Herr von Löwen ließ den Kreuzer dem Nordostkurs folgen.

»Halt, Herr von Löwen! Wo wollen Sie hin?«

»Der Grenze folgen, Herr Isenbrandt.«

»Die Grenze läuft auf dem Ostkamm weiter.«

»Unmöglich, Herr Isenbrandt. Hier, bitte, die Karte!«

»Dann ist die Karte hier ungenau! Nehmen Sie auf meine Verantwortung den Ostkurs.«

In scharfem Winkel bog der Kreuzer auf den befohlenen Kurs ab. Gebirgswüste dehnte sich unter ihnen. Kein Baum und Strauch, geschweige denn ein Zeichen menschlichen Lebens. Öde und eintönig zog die von den Gebirgskämmen umsäumte Sandwüste unter ihnen hin. Jetzt strichen sie an dem Eingange eines nach Süden laufenden Seitentales vorbei.

Während der Hauptmann und Baron von Löwen vorwärts blickten, suchte Isenbrandt die Talmulde mit seinem Perspektiv ab. Die Kämme ringsherum waren mit leichtem Firneis bedeckt. Nur an einer Stelle brach der kahle Fels ohne jede Spur von Eis und Schnee durch.

Wie war das möglich? Nach der Gebirgsbildung mußte auch hier Schnee liegen. Isenbrandts Auge ruhte unverwandt auf der Stelle.

Nur Menschenhände konnten hier gewirkt haben. Aber wozu? Zu welchem Zweck?

Isenbrandt nahm das Glas von den Augen und überlegte. Augenscheinlich war hier in letzter Zeit mit Dynotherm geschmolzen worden. Von seiten der Kompagnie konnte es nicht geschehen sein.

Von feindlicher Seite? Es war viel zu wenig, um irgendwelchen Schaden anzurichten. Sein Auge überflog die traurige Wüste. Ein Gedanke zuckte durch sein Hirn.

Nirgends war hier eine Spur von Wasser. Lebewesen, die hier längere Zeit hausen wollten, mußten sich das unentbehrliche Naß mitbringen … oder erschmelzen.

»Ruder Steuerbord!« kam es scharf von seinen Lippen, überrascht sahen ihn seine Begleiter an. Noch während der Kreuzer das Kommando ausführte, folgte sein zweiter Befehl:

»Höhensteuer!«

In steiler Fahrt strebte das Schiff größere Höhen an, während sein Kurs es über jene Talmulde hinführte.

»Bombe bereit.«

Frohlockend schrie Löwen das Kommando in den Apparat.

»Wir haben sie, Herr Isenbrandt! Der Teufel hätte sie hier suchen sollen!«

Der geübte Blick des alten Schiffsführers hatte jetzt auch erkannt, daß diese Talmulde einen mit raffinierter Kunst kaschierten Flughafen verbarg. In geschickter Weise war ein Teil der Mulde mit einem leichten Gerüst überbaut und die Bedachung, um die Täuschung vollständig zu machen, mit einer dünnen Sanddecke belegt.

»Bombe ab!«

Noch ehe der Lufttorpedo seinem Rohre entglitt, öffneten sich wie von Geisterhänden bewegt weite Luken in der Sandfläche. Wie ein Schwarm aufgescheuchter Krähen schoß ein halbes Dutzend schneller kleiner Schiffe daraus hervor, die sich sofort weitauseinander zogen und den Kompagniekreuzer einkreisten.

Ehe weitere Schiffe folgen konnten, erreichte der Lufttorpedo sein Ziel. Ein Blitz! Noch bevor der Donner der Explosion den Kreuzer erreichte, sah man von dort aus die furchtbare Wirkung. Weit aufgerissen klaffte jetzt die Decke dieses heimlichen Hafens. Vernichtet mußte alles sein, was darunter verborgen war.

Die Insassen des Kreuzers hatten keine Zeit, sich weiter um die Trümmerstätte zu kümmern. Die Schar der Angreifet, die sie wie Hornissen umschwärmten, beanspruchte ihre volle Aufmerksamkeit.

Schon arbeiteten die Batterien des Kreuzers und feuerten aus allen Rohren. Aller Wahrscheinlichkeit nach mußte das Kompagnieschiff mit den Gegnern schnell fertig werden. Seine gute Panzerung bot ihm gegenüber den ungepanzerten Angreifern einen wesentlichen Vorteil. Diese schienen sich auch auf einen ernsten Kampf nicht einlassen zu wollen. Sie suchten die Entfernung zwischen sich und dem Kreuzer ständig zu vergrößern, wobei sie nach alter tatarischer Kampfesweise abwechselnd nach rechts und links entflohen und fliehend feuerten. Ihr Bestreben ging dahin, die nahe Grenze zu gewinnen. Sie hofften wohl, daß der Kompagniekreuzer ihnen dorthin nicht folgen würde.

Isenbrandt erkannte das Manöver. In forcierter Fahrt suchte er ihnen den Weg zu verlegen. Das Manöver, rücksichtslos ausgeführt, war für das Triebwerk der Motoren zu stark.

Eine Welle brach. Es wäre an sich nicht schlimm gewesen, da der Kreuzer genügend Reserven hatte. Aber Splitter der brechenden Welle gerieten in die Zentralsteuerung. Sie wurde ungangbar. Es gab keine andere Möglichkeit, als mit größter Vorsicht den Boden aufzusuchen und die Hemmungen in der Steuerung zu beseitigen.

Mit einem Fluch gab Herr von Löwen den Befehl zur Landung.

»Verflucht! Die Kerls haben Glück! Sie entwischen. Da ziehen sie ab. Sie entkommen über die Grenze!«

Schwerfällig setzte der Kreuzer auf dem Boden auf, nicht weit von den Trümmern des zerstörten Hafens. Infolge der gelähmten Steuerfähigkeit mußte er auf dem schrägen Hange einer Mulde landen.

Während Herr von Löwen sofort seine Techniker an die Reparatur setzte, verließen Isenbrandt und Lowdale das Schiff. Mit ihren Gläsern verfolgten sie die am Südosthorizont kaum noch sichtbaren Schiffe.

»Schade, Herr Isenbrandt, um die verpaßte Gelegenheit, den Burschen einmal eine gründliche Lektion zu geben. Das scheint hier das Hauptnest der Luftüberfälle zu sein. Den Torpedo eine Minute früher aus dem Rohr, und die da hinten lägen wahrscheinlich bei den andern da drüben unter den Trümmern der Halle. Ich will mir das so geschickt gebaute Nest mal aus der Nähe besehen.«

Isenbrandt hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Seine Gedanken folgten den flüchtigen Feinden in der Luft. Seine Augen hafteten an der Steuerbordbatterie des Kreuzers. Infolge der schrägen Lage des Schiffes zeigten auch die Geschütze eine anormale Überhöhung. Es mußte möglich sein, in dieser Stellung eine ganz außergewöhnliche Schußweite zu erreichen.

Isenbrandt hatte seinen Entschluß gefaßt. Ohne sich nach dem Adjutanten umzusehen, der auf den zerschossenen Hafen zuschritt, eilte er in den Kreuzer zurück und stieg in die Batterie.

Der Batterieraum war verlassen. Neben den Geschützen standen die schußfertigen Patronen. Nicht ohne Anstrengung schraubte Isenbrandt den Zünder einer Schrapnellpatrone ab und entfernte die Ladung aus dem Geschoß. Dann griff er nach einer in der Nähe stehenden Wasserkanne und füllte das Hohlgeschoß mit dem Naß. Jetzt ließ er eine Zinntube hineingleiten und schraubte den Zünder wieder auf.

Schnell war ein Geschütz mit der so veränderten Patrone geladen. Ein Druck auf den Feuerknopf. Krachend fuhr der Schuß aus dem Rohr. Leicht schwankte der Kreuzer unter dem Rückstoß hin und her.

Während das Echo des Schusses noch vieltönig von den Bergwänden zurückgeworfen wurde, ertönte plötzlich tackendes Maschinengewehrfeuer von den Hafenruinen her. Der Kanonenschuß hatte die Besatzung des Kreuzers schon alarmiert. Sie sahen Isenbrandt neben dem Geschütz stehen und glaubten zunächst, er hätte nach dem Flughafen geschossen. Das Maschinengewehrfeuer von dort ließ sie von neuem stutzen. Isenbrandt steckte die Uhr wieder ein, auf der er die Sekunden seines Schusses abgelesen hatte.

Jetzt nahm er sein Glas, um den Ursprung des Maschinengewehrfeuers zu erspähen. Und sah mit Schrecken, wie Averil Lowdale in weiten Sprüngen über die Sandfläche hin auf den Kreuzer zueilte. Ihm galt zweifellos das Feuer.

»Verflucht! Sind doch noch einige Halunken dem Torpedo entgangen. Wir werden euch noch einmal ganz gründlich ausräuchern … Ah …«

Georg Isenbrandt preßte die Lippen zusammen. Er sah Averil Lowdale zusammenzucken und fallen.

Hastig eilte er nach unten. Aber als er die Bordtür öffnete, kam ihm der Adjutant schon entgegen. Er preßte mit der Linken den rechten Arm fest an. Eine starke Blutspur bezeichnete seinen Weg. Sein Gesicht war blaß. Keuchend stand er an der Treppe. Mit kräftigen Armen hob ihn Isenbrandt hinein. Während er die Tür hinter ihm zuschlug, prasselten die ersten Gewehrkugeln gegen den Schiffsrumpf.

»Gott sei Dank, Herr Hauptmann! Ich fürchtete das Schlimmste, als ich Sie stürzen sah. Die zertretene Viper sticht noch … Kommen Sie! Sie werden sofort verbunden werden. Hoffentlich ist die Verletzung nicht allzu schwer.«

Er geleitete Averil Lowdale zu Herrn von Löwen, der dem Verwundeten seine Hilfe angedeihen ließ und den Arm sorgfältig bandagierte.

»Ich bin kein Doktor von Profession, Herr Hauptmann,« sagte er lachend, »aber ich kann Ihnen doch mit einiger Sicherheit sagen, daß der Schuß ungefährlich ist: Immerhin wird er Sie für ein paar Monate dienstunfähig machen. Vorerst legen Sie sich ruhig in meine Kabine. Mein Kollege in Wierny wird das Weitere übernehmen.«

Isenbrandt sah auf die Uhr.

»Ist der Maschinenschaden noch nicht behoben?«

»Sofort, Herr Isenbrandt. Es kann sich nur noch um Minuten handeln.«

»In zwei Minuten müssen wir fertig sein!«

»Warum?«

»Blicken Sie auf den Horizont über den Kämmen im Südosten! … Sehen Sie die zackigen, gelben Wolken? … Da braut sich ein Unwetter zusammen. Es darf uns nicht am Boden und manövrierunfähig überraschen.«

Der Kommandant schaute prüfend nach der angegebenen Richtung.

»Oho! … Sie haben recht, Herr Isenbrandt … Da braut sich allerlei zusammen … Der fahle Himmel … die gelben Wolken … das bedeutet nichts Gutes …«

Er eilte zum Barometer.

»Richtig! Das Glas ist plötzlich um zwei Zentimeter gefallen … fällt sichtbar weiter … Wenn wir hier nicht im Hochland von Pamir, sondern auf der gelben See wären, würde ich wetten, daß uns ein starker Taifun bevorsteht … Unerklärlich … Hier habe ich dergleichen noch nie erlebt … nie gehört, daß es hier geschehen wäre … nie geglaubt, daß es hier geschehen könnte.«

»Fertig!« kam die Meldung von unten.

»Bravo! Höchste Zeit!« sagte Löwen. »Los!«

Langsam richtete sich das schrägliegende Schiff auf. Die Propeller gingen an, und in glatter Fahrt verließ es den Landungsort.

»Volldampf nach Norden!« lautete der Befehl.

Es war hohe Zeit gewesen, daß der Kreuzer die Gewalt über sein Element zurückgewann. Schon jagten einzelne unregelmäßige Sturmstöße durch die Luft und wirbelten den Wüstensand in schweren gelben Wolken auf. Immer schneller folgten sich die Stöße, und dann brach der Orkan los.

Ein Wirbelsturm von unerhörter Stärke, gegen den selbst dieser starke Kreuzer nicht direkt ankämpfen konnte. Während das Schiff in weitem Bogen über das iranische Hochland gerissen wurde, setzte Herr von Löwen seine ganze Steuerkunst daran, sich Meter um Meter vom Zentrum dieses Taifuns loszuringen, das ganz offenbar dort hinten über den Südostkämmen jenseits der Grenze lag. Er nahm es zunächst als unvermeidlich mit in Kauf, daß sein gutes Schiff dabei vertrieben und selbst in weitem Kreise herumgewirbelt wurde.

All sein Bestreben war darauf gerichtet, aus dieser gefährlichen Sturmzone hinaus an den äußeren Rand des Taifuns zu gelangen. Es war nicht leicht. Wie durchlöchert schien die Luft zu sein. Wiederholt stürzte der starke Kreuzer plötzlich wie ein Stein in die Tiefe, legte mehrere tausend Meter in senkrechtem Fall zurück, bevor er wieder Halt in der aufgeregten Atmosphäre fand und die verlorene Höhe wiederzugewinnen vermochte. Er wäre längst auf den Felsen zerschellt, wenn die meisterhafte Steuerkunst des Herrn von Löwen ihn nicht immer wieder der gefährlichen Nähe des festen Bodens entrissen und dabei Schritt für Schritt aus dem schlimmsten Wirbel hinausgebracht hätte.

Bis endlich die Grenze der Sturmzone erreicht und überschritten war, bis der Kreuzer mit voller Maschinenkraft in einer ruhigen und tragbaren Atmosphäre den geraden Kurs nach Norden verfolgen konnte.

Durch die großen Heckscheiben der Kabine blickten die beiden Männer zurück nach dem Süden und Südosten. Da stand es wie ein riesenhafter und unheimlicher Trichter von schwefelgelber Farbe über den Bergen. Wie eine gigantische Saugpumpe hatte der wirbelnde Orkan den Staub und Sand vieler Quadratmeilen emporgerissen und führte ihn in immer größere Höhen. Alles, was in diesen Strudel gelangte, ihm nicht rechtzeitig mit eigener starker Kraft zu entfliehen vermochte, wurde gepackt, in das Zentrum gerissen, zerrieben und zerschmettert.

Lange blickte Herr von Löwen durch sein scharfes Glas. Er glaubte Fetzen, Trümmerstücke von zerrissenen Flugmaschinen inmitten des Höllenwirbels zu sehen.

»Was wir nicht vermochten, tut die Natur. Aller Berechnung nach sind die Gelben mitten im Taifun. Da kommt kein Flügel lebendig zur Erde.«

Isenbrandt nickte.

»Ich denke auch. Und damit wird hoffentlich für lange Zeit hier Ruhe herrschen … Bis Peking neues Material schickt … oder bis …«

*

In Wierny hatten Witthusen und Maria nach ihrer Befreiung aus der Ruinenstätte Karakorums einen sicheren Zufluchtsort gefunden. Auf der niederen Veranda, die das Haus umgab, saßen Isenbrandt und Marias Vater.

Aus dem kühlen Schatten des Halbdaches sah man weit hinaus in die fruchtbare Landschaft. Die Wiesen prangten wie schwellende Teppiche von Samt. Die Getreidefelder kräuselten sich schon im Winde wie flutende Wasserwogen, ließen die Halme emporschießen und wuchsen der Sonne entgegen. Die Bäume standen hier noch im Blütenschnee, trugen dort schon schweren Fruchtansatz.

»Ein gesegnetes Jahr!« sagte Witthusen. »Wer wie ich Turkestan noch vor einem halben Menschenalter gekannt hat, wird es immer wieder mit Staunen sehen, wie Menschengeist und Menschenhand die Sandwüsten in ein fruchtbares, dichtbesiedeltes Land verwandelt haben. Sollte das Paradies hier wirklich der Erisapfel zwischen Europa und dem Gelben Reiche werden?«

Isenbrandt zuckte die Achseln. Er hatte die Worte Witthusens nur halb vernommen. Sein Auge hing noch an der Tür, hinter der Marias Gestalt soeben verschwunden war. Die Ereignisse der letzten Wochen hatten die Herzen der beiden rascher und fester miteinander verbunden, als jedes werbende Wort es sonst wohl vermocht hätte.

Während die in ihrer Lehmhütte Eingeschlossenen in Karakorum damals unter Bangen und Zagen das Ende der schrecklichen Stunden erwarteten, hatte Isenbrandt hoch oben in den Lüften fast in der gleichen Stimmung sein Werk vollbracht. Es war ihm zumute gewesen wie einem Arzt, der einem Patienten gleichzeitig schweres Gift und Gegengift verabreichen muß.

Konnte nicht ein unglücklicher Zufall die Gefangenen des rettenden Mittels noch im letzten Moment berauben? … Würde dessen Wirkung die Glut des Feuerregens paralysieren? … Würden die Experimente und Berechnungen, die er im Laboratorium angestellt hatte, sich beim Versuch im großen bewähren? …

Soweit, wie er es damals aus der Höhe seines Flugschiffes beobachten konnte, schien alles planmäßig zu gehen. Am Vormittag warf Ahmed das Antidynotherm in den See von Karakorum. Viel früher, als Wellington Fox von seinem Gefängnishofe aus etwas bemerken konnte, sah Georg Isenbrandt aus seiner Höhe die ersten Wolkenbildungen.

Als der dicht und immer dichter werdende Regenschleier ihm die ungesehene Landung gestattete, war er an der verabredeten Stelle hinter einem Dünenkamm niedergegangen. Nach zwei Stunden erst war Ahmed hier zu ihm gestoßen. Durchnäßt … durchweicht … geblendet … fast ertränkt von den wolkenbruchartig niederstürzenden Wassermassen, hatte der getreue Diener ihn nicht sogleich finden können. Dann kam er und brachte die frohe Botschaft, daß das Mittel sicher und unbemerkt in die Hände der Gefangenen gelangt sei.

Dann kam der zweite … für Isenbrandt der schwerste Teil der Aufgabe. Wieder ging sein Schiff in große Höhen, während er die niederströmenden Wassermassen durchschnitt und sich vom Zentrum des Unwetters entfernte.

Noch einmal prüfte er mit dem Präzisionsmesser seine Entfernung vom Mittelpunkt des Wetters. Dann fuhr ein Schuß aus dem Rohr seines Schiffes. Exakt arbeitete der Zeitzünder. Genau in der Achse des Wolkenbruches explodierte das Geschoß. Seine Ladung Dynotherm der neuesten schärfsten Wirkung ging in feinster Streuung nach allen Seiten in den Regen.

Mit dem Teleskop beobachtete Isenbrandt die Wirkung. Da … inmitten der grauen, dunstigen Regenmassen sah sein Auge eine kleine, schwarze Wolke entstehen. Nach einer Weile ein kurzer Blitz, für das unbewaffnete Auge kaum sichtbar. Er legte die Hand ans Ohr und zählte. Vierzehn Sekunden! Der leichte Hall eines Donners drang an sein Ohr.

Wieder richtete er das Glas auf die Stelle. Sah, wie jene dunkle Wolke immer heller wurde, bis sie verschwand.

Beinahe hätte er in diesem Augenblick den Zweck seines Hierseins vergessen. Daß alles so genau nach seinen Erwartungen und Vorausberechnungen verlief, erfüllte ihn mit starker Freude. Er nahm ein mit Zahlen bedecktes Täfelchen zur Hand. Prüfend überflog er die beiden einander gegenüberstehenden Zahlenreihen. Noch einen Blick auf den Entfernungsmesser.

Ein Schuß, nach demselben Ziel gerichtet, fuhr aus dem Rohr. Ein zweiter, ein dritter … eine lange Reihe weiterer Schüsse folgte im schnellsten Tempo. Eine rollende Kanonade auf das Zentrum des Unwetters.

Wieder richtete er jetzt sein Glas. Tiefschwarz lag es dort über Karakorum. Da, ein zuckender, greller Blitz, der den schwarzen Vorhang zerriß. Noch ehe der erlosch, ein zweiter … ein dritter … und viele andere.

Taghellen Schimmer strahlten sie weit hinaus. Tausend feurige Schlangen schienen sich in dem düsteren Gewölk zu winden. Dann schlug der erste Donner dröhnend an sein Ohr, um nicht mehr zu verstummen. Ein Konglomerat von Gewittern tobte über Karakorum.

Tiefer ließ er jetzt das Schiff gehen. Wieder sprach seine Batterie. Da lief der fahlweiße Schein der Blitze in Rot über. Ein feuriger Trichter stand über Karakorum. Mit dem Glase sah er schwelende Brandwolken aus der Ruinenstadt aufsteigen. Was dort brennen konnte … Menschen … auch Menschen, das mußte wohl zu Asche werden.

Nebelnder Dampf markierte die Grenze, wo Feuer und Wasser sich trafen. Wo die beiden Elemente um die Herrschaft rangen. Mit der Freude des Meisters, der die Kräfte entfesseln und bändigen kann, sah er auf das grandiose Schauspiel. Sein Werk! –

Die Spannung, die ihn erfüllte, wich. Seine Gedanken, bis jetzt auf sein Werk konzentriert, begannen zu wandern. Auch dort unten inmitten des feurigen Regens, in der Hütte der Gefangenen, kämpften jene Kräfte … kämpften um das Leben der Eingeschlossenen.

Schwere Sorge fiel auf sein Herz. Würde die Rechnung auch hier stimmen? Würden Feuersglut und Weltraumkälte, nach seinem Plane und nach seiner Rechnung gegeneinandergesetzt, sich an dieser Stelle verzehren, ohne das Leben der Gefangenen zu vernichten? Mit eisiger Hand umkrallte die Sorge sein Herz. Endlos lang schien ihm der Kampf der Elemente. Immer wieder blickte er auf den Zeiger der Uhr, der ihm allzu träge von der Stelle zu rücken schien.

Bis endlich die Zeit verfloß. Matter und immer schwächer wurde der Kampf der Naturgewalten. Jetzt hatten sie sich in wildem Ringen aufgezehrt. Verschwunden war der Dampf, gewichen die Glut. Schon brach die Sonne durch die zerflatternden Schwaden.

Er riß sein Glas ans Auge und sah die Stelle, wo Karakorum gestanden, in hellem Glanze vor sich liegen.

Volldampf voraus! Auf äußerste Fahrt stellte er den Hebel. Während das Schiff mit rasender Gewalt durch den Äther schoß, hing sein Auge an jener Stelle. Jetzt ging die Maschine nieder. Mit einem Sprung war er aus der Kabine. Klopfenden Herzens eilte er an Ahmeds Seite der Hütte zu. Unter seinem Griff brach die verkohlte Außentür in Trümmern zusammen. Dann drang er in das Innere.

In der Tür erblickte er sie, die drei … lebend.

Da stand Maria, bleich, aber leuchtenden Auges. Nur sie sah er. Wie von unsichtbarer Gewalt getrieben, waren sie aufeinander zugeschritten.

Als von ihren Lippen der leise Ruf »Georg« erklang, hatte er sie im Überschwang seiner Gefühle an sich reißen wollen. Doch mit aller Kraft seiner Seele hatte er die Regung unterdrückt. Noch durfte er’s nicht. Noch gehörte sein ganzes Denken und Tun dem großen Werke. Noch erfüllte die große Aufgabe, Schützer und Retter der bedrohten Siedlung, der weißen Rasse und ihrer Kultur zu sein, sein ganzes Ich, gab ihn nicht frei, bis die Entscheidung gefallen.

Sie hatten sich damals die Hände gereicht und in dem stürmenden Pulsschlag, der zu ihren Herzen überströmte, hatte sich offenbart, was der Mund noch verschwieg … jetzt noch verschweigen mußte.

In Wierny hatte sich Witthusen alsbald mit seinen alten Geschäftsfreunden in Kaschgar in Verbindung gesetzt, um sich sein Besitztum und seine Warenvorräte zu sichern. Sie waren immer noch von den Chinesen beschlagnahmt, und es bestand wenig Hoffnung, sie freizubekommen.

Jetzt, nachdem die Gefangenen dem Arm der chinesischen Machthaber entronnen waren, beeilte man sich, das gewalttätige illegale Verfahren in ein gesetzmäßiges zu verwandeln. Ein regelrechter Prozeß wegen Landesverrates wurde gegen Witthusen eingeleitet. Bis er beendet, konnten Jahre vergehen.

Die Sorge um seinen Besitz und um die Zukunft Marias trübte den Blick Witthusens. So waren ihm die feinen Fäden entgangen, die sich zwischen Isenbrandt und Maria woben. Am Ende eines arbeitsreichen Lebens sah er sich als Bettler, und der Gedanke an die Zukunft ließ ihn die Freude über die Rettung aus der Gefangenschaft manchmal vergessen. Auch jetzt hatte er wieder einmal seinen Sorgen Luft gemacht und halb im Scherz und halb im Ernst für Marias Zukunft ein wenig rosiges Prognostikum gegeben. Da hatten die beiden einander lächelnd in die Augen gesehen, bis ein Zucken um Marias Lippen spielte, bis ein leichter Schleier sich vor ihre Augen legte. Klopfenden Herzens war sie aufgesprungen und in das Haus geeilt. Wie gebannt hing der Blick Isenbrandts an der Tür, durch die sie geschritten war.

»Daß ich von Mr. Cameron so furchtbar getäuscht worden bin, kann ich immer noch nicht verwinden«, fuhr Witthusen fort. »Wäre er nicht gewesen, würde ich mein Haus in Kaschgar schleunigst liquidiert und mich mit dem Erlös rechtzeitig in Sicherheit gebracht haben. Zu spät muß ich einsehen, daß das ganze lächerliche Verfahren gegen mich nur auf die Intrigen dieses Menschen zurückzuführen ist.

Ich kenne ihn nun schon seit vielen Jahren und habe ihn stets für einen Gentleman gehalten. Ich kannte seine Geschichte, und ein gewisses Mitleid mit seinem harten Geschick ließ den Verkehr mit ihm enger werden. Er hat in den ersten Jahren unserer Bekanntschaft häufig von seinem Prozeß um die englische Lordschaft erzählt. Seine Verbitterung war mir durchaus verständlich, und ich machte ihm keinen Hehl aus meinen Sympathien. Daß er aber in seinem Haß gegen die weiße Rasse so weit gehen könnte, als Agent der chinesischen Regierung tätig zu sein, hätte ich niemals für möglich gehalten.«

»Die Engländer waren durchaus im Recht, als sie die Erbschaft Lowdale dem reinrassigen Erben zusprachen.«

Eine gewisse Schärfe lag in der Erwiderung Isenbrandts, und in der gleichen Tonart fuhr er fort: »Es war falsch und leichtsinnig gehandelt, wenn früher unsere Propheten aller Welt die Gleichberechtigung versprachen. Überall auf der Erde rufen jetzt die schwarzen, braunen, die gelben Rassen nach Freiheit. Freiheit für alle Farben des Spektrums … Wehe uns, wenn wir ihnen entgegenkommen! Um unsere Herrschaft und um unser Dasein wäre es bald geschehen. Sie mögen Kultur und Religion von uns annehmen. Trotzdem bleiben sie, was sie sind: der bekehrte Chinese – Chinese, der bekehrte Schwarze – Afrikaner.

Betrachten Sie die Verhältnisse in Amerika. Sie sind jetzt so weit gediehen, daß es sich für die Weißen um Sein und Nichtsein handelt. Die ewigen Kompromisse haben aufgehört. Die Ereignisse der nächsten Zeit werden zeigen, wer weichen muß.

Auch die Gemischtrassigen gehören nicht zu uns. Das hat schon vor 150 Jahren der Graf Gobineau klar erkannt, als er sagte, daß infolge der Rassenmischung nicht nur die Vorzüge, sondern auch die Fehler an Stärke einbüßen. Die Schwierigkeit, das Ganze in Einklang zu bringen, erzeugt Anarchie, und je mehr diese Anarchie zunimmt, desto mehr büßt die beste, reichste, glücklichste Zufuhr an Wert ein.

Wenn also die Mischungen innerhalb einer gewissen Grenze für die Masse der Menschheit günstig sind, sie heben und veredeln, so geschieht dies doch nur auf Kosten dieser Menschheit selbst, da sie sie in ihren edelsten Elementen herabdrücken, entkräften, erniedrigen, entgipfeln.

Darum ist es unsere vornehmste Aufgabe, unsere Rasse reinzuhalten. Nur die reine weiße Rasse kann die Aufgabe erfüllen, die sie zu erfüllen hat.«

»Sie haben recht, Herr Isenbrandt. Und doch kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß einstmals die Zeit kommen wird, wo der Glaube an das Evangelium von der Überlegenheit der weißen Rasse schwindet, wo wir anderen, kräftigeren Rassen weichen müssen. Nicht immer wird Europa die Burg der weißen Rasse bleiben. Die ewige Kleinstaaterei verzehrt zu viel von ihren Kräften.

Ich kenne China seit einem Menschenalter. Der Aufschwung der letzten Jahrzehnte wird anhalten. Die durchaus konservative Gesinnung der Chinesen hindert ihn nicht, sie fördert ihn. Trotzdem China als Industriestaat noch jung ist, ist es an wirtschaftlicher Organisation schon sehr weit entwickelt. Soziale Fragen existieren fast nicht. Trotz seiner ungeheuren Ausdehnung ist von einem Ende des Reiches bis zum anderen bei der eingeborenen Rasse ein und dasselbe Verständnis für die Kultur verbreitet, die es besitzt. Vergleiche ich seine Jahrtausende alte Zivilisation mit der europäischen, so kommt mir die letztere vor wie eines jener auf Zeit auftauchenden Eilande, welche die Gewalt unterseeischer Vulkane über den Meeresspiegel emporgehoben hat. Der zerstörenden Einwirkung der Strömungen preisgegeben und von den Kräften, die sie zuerst gehalten, verlassen, geben sie eines Tages nach, und ihre Trümmer versinken wieder in den siegreichen Fluten …«

»Alles ist im Fließen, alles in der Entwicklung, Herr Witthusen. Einmal wird die Bürde des weißen Mannes von seinen Schultern genommen werden, und ein stärkerer … vielleicht ein Schwarzer … vielleicht ein Gelber wird sie auf sich nehmen. Aber der Tag liegt in grauer Ferne. Noch sind die Kräfte der weißen Rasse nicht verbraucht. Die Gefahren, die ihr drohen, werden ein Jungbrunnen für sie sein.

Große Taten, größer als die Welt ahnt, harren ihrer, und der Kommandostab wird fester in ihrer Hand ruhen als je.

Was Sie in Karakorum sahen … war nicht mein Werk … nicht in erster Linie … es war das Resultat der Geistesarbeit vieler weißer Intelligenzen vor mir und mit mir. Andere werden daran weiterarbeiten, andere werden neue Leistungen von noch viel größerer Tragweite vollbringen. Und sie werden in der Hand des weißen Mannes bleiben, der sie auswirken läßt zum Nutzen der Menschheit, zur Stärkung und Erhaltung der weißen Rasse! Der in die Spur des Dschingis-Khan treten wird, ist noch nicht gekommen!

Doch lassen wir das, kommen wir zum Zweck meines heutigen Besuches zurück. Ich möchte Sie wiederholt bitten, Wierny zu verlassen und weiter im Westen, jenseit des Urals, einen Zufluchtsort zu suchen. Die Ereignisse der letzten Tage haben gezeigt, daß der Aufenthalt in Turkestan mit Gefahren verknüpft ist. Es könnte sein, daß der Kirgisenaufstand vom Ilidreieck aus neu geschürt und gestärkt wird. Die nahe Lage Wiernys zur Grenze dürfte bedenklich sein.«

»Schon wieder den Wanderstab ergreifen?«

Maria sprach es. Ungehört war sie aus dem Haus getreten und stand jetzt fragend vor ihm. Sie war in ein dunkles, hoch hinauf schließendes Hausgewand gekleidet, das ihre schlanke, ebenmäßige Gestalt vortrefflich hervortreten ließ. Eine müde Anmut lag über ihrem bleichen Gesicht, verhaltene Trauer klang aus ihren Worten.

Ein Ruck ging durch Isenbrandts Körper. Als er sie so vor sich stehen sah, hätte er sie in seine Arme nehmen, sie an sich pressen mögen. Das Blut schoß ihm jach in das Gesicht. Mit Gewalt beherrschte er sich, zwang sich zu einem Lächeln.

»Der Wanderstab ist nicht vonnöten, Maria Feodorowna. Mein Flugschiff bringt Sie nach Orenburg.«

… Orenburg … Sein geistiges Auge sah in schnellen Bildern noch einmal die Szenen ihres ersten Zusammentreffens.

»Von Orenburg bringt Sie das Postschiff sicher nach Odessa oder Moskau.«

Witthusen fiel ihm ins Wort: »Nun, dann mag die Reise auch noch ein paar tausend Kilometer weiter gehen. Dann fahren wir weiter nach Deutschland, der Heimat unserer Ahnen. Ich habe noch Guthaben dort auszustehen, die uns einen längeren Aufenthalt gestatten. Einmal wird ja doch der Tag kommen, wo hier wieder Ruhe und Frieden herrschen, wo wir ungefährdet zurückkehren werden.«

»Er wird kommen … bald!«

»Sie sagen das mit solcher Zuversicht, Herr Isenbrandt?«

»Bald … bald kommt der Tag!«

Georg Isenbrandt sagte es lächelnd. Aber es war ein rätselhaftes Lächeln, das nur den Mund bewegte. In den Augen darüber stand etwas anderes, grau, eiskalt, unbewegt.

Er wandte sich zu Maria und reichte ihr die Hand.

»So sei es dann heut ein Abschied für Ihre Reise. Eine Gebirgstour zu unseren Schmelzstellen hält mich eine Zeitlang von hier fern. Ich werde, bevor Sie Wierny verlassen, nicht zurückkehren können. Leben Sie wohl, Maria Feodorowna. Wir sehen uns bald wieder … bald.«

Einen kurzen Moment ruhten ihre Blicke ineinander, ihre Finger umschlossen sich zu festem Druck. Dann war er hinausgeschritten.

*

Vor einem mit Plänen bedeckten Tisch saß General Bülow, neben ihm der russische Oberst Popoff. Wie zwei Schachspieler bewegten sie kleine, bunte Nadelfähnchen auf den Karten hin und her. Ihr lebhafter Disput bewies, daß sie sich über die endgültige Stellung der Fähnchen keineswegs einig waren.

Seitdem die Lage an der chinesischen Grenze sich zuzuspitzen begann, hatte das Hauptquartier in Petersburg den Obersten mit einigen anderen Offizieren dem Generalstabe der E. S. C. Truppen attachiert. Für den Kriegsfall unterstanden die militärischen Streitkräfte der E. S. C. dem vereinigten europäischen Oberkommando.

Der früher so lange Zeit hindurch als Ideologie abgetane Gedanke der Vereinigten Staaten von Europa war unter dem Druck der Weltgeschehnisse wenigstens zu einem Teil verwirklicht worden. Zwar war kein Staatsgebilde im Sinne der amerikanischen Union zustande gekommen. Aber die Solidarität der europäischen Völker fand bei voller Wahrung der nationalen Selbständigkeiten und Eigenarten wenigstens dadurch Ausdruck, daß bei Fragen der großen Weltpolitik nicht jeder einzelne kleine Staat, sondern Europa als geschlossenes Ganzes auftrat und handelte.

Hinter den Kulissen war freilich ein steter Kampf um die Stellung des primus inter pares. Rußland glaubte in erster Linie Anspruch darauf zu haben. Dabei kam ihm zustatten, daß der Schwerpunkt der militärischen Angelegenheiten in Petersburg lag, da Rußland mit Rücksicht auf sein großes Gebiet und dessen historisch providentielle Lage gegen Osten die numerisch größte Heeresmacht unterhielt.

Schon unter dem Kommando des Generals Effingham war das Verhältnis zum Petersburger Hauptquartier nicht reibungslos gewesen. Der temperamentvolle Bülow war fast ständig auf Kriegsfuß mit dem Oberkommando. Dessen Anordnungen erfolgten stets unter dem Gesichtspunkt, unbedingt die sibirischen Grenzen zu schützen, während Bülow in erster Linie darauf bedacht war, die turkestanische Grenze zu sichern.

Für Rußland waren die gewaltigen Gruben- und Industrieanlagen im Gebirgsstock des Altai von größter Wichtigkeit. Ihre Vernichtung durch etwa plötzlich vorstoßende Luftstreitkräfte der Gelben war daher mit allen Mitteln zu verhindern. Die starken Kriegsgeschwader Rußlands waren deshalb nach den Anordnungen des Petersburger Oberkommandos ausschließlich zur Sicherung der sibirischen Südgrenze angesetzt und nur die schwächeren Geschwader der anderen europäischen Staaten zur Verteidigung der turkestanischen Grenzen bestimmt.

Gegen diese Kräfteverteilung kämpfte Bülow schon seit langem. Immer wieder versuchte er es durchzusetzen, daß die Hauptkräfte auf die turkestanische Linie konzentriert wurden.

Die Gebirgszüge des Thian-Schan, Alatau und Tarbagatai boten an sich eine gewaltige, kaum überschreitbare Schutzmauer. Jedoch nur so lange, als es gelang, die drei Durchgangspforten abzuriegeln. Der Übergang von Kaschgarien nach Ferghana war verhältnismäßig leicht durch Sprengung der Kunstbauten an der Gebirgsbahn Kaschgar–Osch zu sperren. Viel größere Schwierigkeiten bot die dsungarische Pforte, jenes Tor, durch das sich schon einmal im Mittelalter die mongolischen Schwärme über Europa ergossen hatten. Der dritte gefährliche Punkt aber blieb die chinesische Angriffsbastion, das Ilidreieck.

Ein großartig angelegtes Bahnnetz, das von Chami aus strahlenförmig zur Grenze führte, gab hier den Gelben Gelegenheit, ihren Nachschub schnellstens durch die offenen Pässe zu leiten.

Der Kirgisenaufstand im Siedlungsgebiete hatte Europa notgedrungen den Anlaß gegeben, seine Streitkräfte im Osten zu verstärken. Während die russischen Abteilungen in Sibirien in volle Bereitschaft gebracht wurden, sammelten sich jenseits des Urals Teile der vereinigten westeuropäischen Heere.

Aber die immer noch divergierenden Einflüsse der verschiedenen europäischen Kabinette ließen gründliche und umfassende Maßnahmen, wie die Lage sie erfordert hätte, nicht zu. Ein überraschender Angriff von chinesischer Seite nach Westen hin hätte mit den vorhandenen Mitteln nicht lange aufgehalten werden können. Bülow verlangte daher immer wieder, daß wenigstens das Gros der russischen Luftflotte zur Verteidigung der turkestanischen Grenze angesetzt würde.

Jetzt, nach einem letzten langen Kampf mit dem Obersten Popoff sah er das Vergebliche seiner Bemühungen ein.

»Meine Meinung von Ihnen, Herr Oberst, ist viel zu hoch, als daß ich annehmen könnte, Sie billigten die Pläne des Hauptquartiers. Ihre Gegenargumente trugen so wenig den Stempel der Überzeugung, daß es eines besseren Beweises für die Richtigkeit meiner Ansicht nicht bedarf. Wenn nicht in kurzer Zeit erhebliche Verstärkungen aus Westeuropa ankommen, stehe ich hier auf einem verlorenen Posten. Gnade Gott den Siedlern und ihrem Land!«

»Sie sehen zu schwarz, Herr General«, erwiderte der Oberst, indem er seine Verlegenheit nur schlecht verbarg. »Ist es doch noch ganz ungewiß, ob und wann die Gewitterwolke zur Entladung kommt. Übrigens sind, wie mir vor kurzem gemeldet wurde, starke deutsche Truppenmassen vom Ural her im Anfliegen. Darunter viel Spezialtruppen für den Gebirgskrieg.«

»Natürlich! Deutsche Soldaten allzeit vorneweg!« brummte Bülow vor sich hin.

»Sichern Sie hauptsächlich das Ilital, Herr General. Für das Irtyschtal können Sie im Falle der Not auf russische Verstärkungen rechnen.«

»Das Ilital! Sehr schön, Herr Oberst«, entgegnete Bülow in bitterem, sarkastischem Ton. »Ich könnte es, wenn ich mehr Flugschiffe hätte. So werde ich voraussichtlich das Siebenstromland preisgeben müssen.«

Sein Adjutant trat ein und überbrachte ihm eine Karte. »Georg Isenbrandt« las er. Ging hinaus, um ihn zu empfangen.

Der streckte ihm die Hand entgegen und begrüßte ihn.

»Immer noch die gefurchte Stirn, Herr General?«

»Man verliert die Lust, Herr Isenbrandt, wenn man immer wieder gegen Unvernunft und Eigennutz anrennt.«

»Kommen Sie mit mir, Herr General! Zu einem kleinen Gang ins Freie. Vielleicht sehen Sie danach etwas freundlicher aus.«

»Gern, Herr Isenbrandt. Trotz der sommerlichen Wärme kann es mir draußen auch kaum heißer werden als hier drinnen über der Karte.«

Sie verließen die Stadt und schlugen den Weg zu einer kleinen Anhöhe ein, von der man nach allen Seiten einen freien Blick hatte. Weithin sichtbar dehnte sich die in voller Frühlingspracht stehende Landschaft vor ihnen aus. Nicht umsonst galt das Siebenstromland als die Riviera Westsibiriens. Lange ruhten die Blicke der beiden auf dem gottgesegneten Flecken Erde da vor ihnen.

»Wieder war mein Kampf umsonst, Herr Isenbrandt, dieses Paradies vor dem Untergang zu bewahren. Der Russe will keine Vernunft annehmen. Solange es geht, werde ich es zu verteidigen suchen. Aber ich weiß bestimmt, daß ich eines Tages das ganze Gebiet bis zum See hin räumen muß. Bei Telek will ich den Gelben ein Thermopylen errichten. Denn ich glaube nicht, daß ich es länger als eine Woche halten kann. Ist dann nicht genügend europäische Hilfe da, dann werden die gelben Horden über die Leichen der Verteidiger hinwegstürmen. Die Bewohner müßten schon jetzt zur Räumung veranlaßt werden. Man möchte verzweifeln, wenn man daran denkt, daß die russischen Luftstreitkräfte uns das alles ersparen könnten. Vermögen Sie nicht noch einen letzten Schritt zu tun?«

Er blickte auf und sah, daß Isenbrandt ihm kaum zugehört haben konnte. Dessen Auge hing wie weltverloren an den fernen grauen Kämmen des Gebirges. Minuten verstrichen. Dann fielen die Worte von Isenbrandts Lippen:

»Nein, Herr General! Nein! Nichts wird von dem geschehen, was Sie befürchten!«

»Sie sagen? … Herr Isenbrandt! … Was? … Was sollte es verhindern? Haben Sie andere, bessere Nachrichten aus dem Hauptquartier als ich?«

Isenbrandt schüttelte den Kopf.

»Nein, Herr General! Mit eigener Kraft, ohne Hilfe der andern werden wir das Land schützen und den Feind abwehren.«

Georg Isenbrandt sprach nicht weiter, als müsse er sich besinnen. Den General drängte es zu fragen. Aber ein Blick auf die Züge des Ingenieurs ließ die Frage verstummen. Da begann dieser wieder zu sprechen. Fast befehlsmäßig klangen seine Worte.

»Sie werden, Herr General, alles, was an schnellen Flugzeugen zu Ihrer Verfügung steht, ohne Rücksicht auf die Ladefähigkeit hier in Wierny konzentrieren und zu kleinen Geschwadern zusammenstellen. An dem Tage, an dem es gilt … ich werde ihn bestimmen … werden Sie von einem Orenburger Schiff der Kompagnie die Ladungen für diese Geschwader empfangen. Die Geschwader werden die Grenze überfliegen. Jedes Geschwader bekommt vor dem Abflug sein bestimmtes Ziel … und das Ziel wird sein … Wasser … ob See … ob Fluß … Wasser überall dort, wo gelbe Streitkräfte in größeren Mengen marschieren oder versammelt sind …«

»Wasser? … Wollen Sie dampfen? … Dynothermdampf?«

Isenbrandt überhörte die Frage.

»Kämpfe sind nur anzunehmen, wenn es zur Erreichung des Zieles unvermeidlich ist.«

»Das dürften nicht viele sein, die gegen die Übermacht ihr Ziel erreichen.«

»Ich rechne zehn Prozent«, kam es kalt von den Lippen Isenbrandts. »Das wird genügen.«

»Und dann? … Was wird dann geschehen?« drängte der General, indem er an Isenbrandt herantrat.

»Es wird geschehen …«

Einen Augenblick stand Georg Isenbrandt wieder wie geistesabwesend. Dann neigte er seinen Mund zu dem Ohr des Generals und sprach zu ihm … flüsternd, als fürchte er, der Wind könne die Laute an menschliche Ohren tragen.

Und während er sprach, trat ein Grauen in die Augen des Generals. Sein Fuß zuckte, als wolle er zurückweichen vor diesem Manne … diesem Unheimlichen. Sein Herz schlug, wie es in der schwersten Schlacht nie geschlagen. Er fühlte, wie ein Zittern von seinen Füßen nach oben stieg, wie seine Knie wankten.

Sein Auge starrte auf die frühlingsprangende Landschaft, als sähe er die fürchterlichen Bilder der Vernichtung, des Todes … des weißen Todes … und dann war es still an seinem Ohr.

Mit Gewalt raffte er sich zusammen. War das ein Mensch, der zu ihm gesprochen? … War es ein Gott? … Ein Teufel? …

Er warf einen schrägen Blick hinüber zu dem anderen. Der stand starr. Wie aus Marmor gehauen die bleichen, kantigen Züge. Die Augen regungslos in die Ferne gerichtet. Die schmalen Lippen fest zusammengepreßt.

»Es wird geschehen, wie Sie es befehlen«, kam es da von den Lippen des Generals.

»Noch heute! Sofort! Lassen Sie die Befehle hinausgehen! Kommen Sie!«

Sie schritten der Stadt zu. Erst im Gehen gewann der General seine alte Ruhe wieder. Was ihm im ersten Augenblick so unfaßbar, so furchtbar erschien, das und seine Folgen hatte sein Geist jetzt voll erfaßt. Sein Schritt wurde schneller, je näher sie der Stadt kamen. Jetzt drängte es ihn, das befohlene Werk zu beginnen.

»Ja, Herr Isenbrandt, jetzt kann ich ja unbesorgt die Kräfte hier am Ili verstärken, um endlich dem Bandenwesen ein Ende zu machen. Die Kirgisen wechseln hin und her, als ob es keine Grenze gäbe. Das soll jetzt aufhören.«

»Sie können das unbesorgt tun … Untersuchen Sie die Gefangenen recht genau! Stellen Sie fest, wieviel reguläre chinesische Truppen unter diesen irregulären Banden sind. Ich fliege in einer Stunde nach Orenburg … das heißt offiziell. Ihre Telegramme erreichen mich unter meiner alten Geheimadresse in Berlin.«

*

»Der Kaiser … der Sohn des Himmels … tot.«

Um die Mittagstunde war es dem chinesischen Volke kundgegeben worden. Bis in die entferntesten Teile des Landes hatte der Telegraph die Nachricht verbreitet. Ein schwüles Zucken war durch die Glieder des Riesenreiches gegangen. Und während noch die Herzen der Millionen unter dem Eindruck der Ereignisse standen, kam die zweite Botschaft:

»Schanti, Toghon-Khan, der Herzog von Dobraja, ist Regent.«

Da regte es sich stärker, lauter im Lande. Veraschte Glut wollte sich wieder entfachen. Gefesselte Hände zerrten an ihren Banden. Gefesselte Zungen wollten sprechen. Und dann war es wieder still wie am Tage zuvor.

In der Nacht, die dazwischen lag, hatte die Faust des Schanti schon zugegriffen. Was gegen ihn war, befand sich in den Händen seiner Häscher. Die Stimmen der führerlosen Gefolgschaft wurden schwächer, und dann verstummte alles vor der Wucht der neuen Losung:

»Krieg den Europäern!«

Wie ein Steppenfeuer lief es durch die weiten Ebenen des Reiches und entflammte alle Geister.

Wer hatte die Parole ausgegeben? Niemand wußte es. Die neue Regierung schwieg. Schwieg auch, als die Vertreter der fremden Mächte sie interpellierten.

Und dann schallte es weiter und fand sein Echo auf der ganzen Erde … Krieg!?

Es war um die sechste Morgenstunde desselben Tages. Toghon-Khan saß im großen Beratungszimmer des Palastes. Die fensterlosen Wände waren bedeckt mit großen und kleinen Karten. Die langen, niederen Tische waren verborgen unter den Stößen von Papieren und Plänen.

Die kleine Gestalt des Regenten verschwand fast in dem großen Sessel, in dem sie zusammengesunken lag. Er schien zu schlafen. Die Augen waren geschlossen, die Lippen fest zusammengepreßt. Die ganze Nacht hatte er allein in dem Raume zugebracht. Ruhelos war er von einer Karte zur anderen geschritten, immer wieder die Stellung der kleinen Nadelfähnchen prüfend und vergleichend, immer wieder Zahlenkolonnen zusammenstellend und gegeneinandersetzend.

Bis endlich die Worte sich von seinen Lippen lösten:

»… So muß es gehen! … So wird es gehen … so geht es!«

Dann hatte er sich in den Sessel geworfen und versucht, in kurzem Schlaf Erholung zu finden … Um sieben Uhr waren seine Generale zu ihm befohlen.

Doch vergeblich suchte er den Schlaf. Die Flut der rastlos arbeitenden Gedanken ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Der Druck der übermenschlichen Verantwortung peitschte seine Nerven immer von neuem auf. In ihm war das Leben, die Macht, die Zukunft des größten Volkes der Erde verkörpert.

Mit halbgeschlossenen Lidern blickte er vor sich hin. Der Schlaf wollte die Herrschaft über ihn gewinnen. Nur noch undeutlich sah er die Papiere auf den Tischen … weiße Flächen … weite, weiße Flächen …

Da … seine Hände umkrampften die Lehnen, sein Oberkörper beugte sich vor.

Schnee! … Schnee? …

Er fiel in den Sessel zurück und preßte die Hände auf die Augen.

Was war das damals am Tage des Einzuges des Kaisers? Schwerer Schnee aus lichtem Frühlingstag … Hatte er nicht selbst die Flocken auf seiner Hand zergehen sehen? Bis auf die eine, die am Ringe des Dschingis-Khan solange haften blieb … und seinen Glanz trübte.

War es ein Zeichen des Himmels? War alles Menschenwerk? … Werk dieses einen da drüben? Dann …

Mit jähem Ruck riß er sich empor, die Augen weit geöffnet. Das Weiße vor ihm gewann feste Gestalt, es waren die weißen Papiere, die dort auf den Tischen lagen. Nervös fuhr er sich über die Augen.

Hinweg mit der Furcht! … Menschenwerk? … Nein! Kein Mensch würde jemals so tief in die Geheimnisse der Natur eindringen … Kein Mensch jemals die Folge der Zeiten verändern können.

»Zuviel habe ich gearbeitet in den letzten Wochen … zuviel war es, was meine Nerven spannte. Ruhe brauche ich … die Ruhe wird kommen, wenn der Würfel gefallen ist.« Seine Faust schlug auf das Papier. »Weg damit! … Zur Tat!«

Er drückte auf den Bronzeknopf. Ein Adjutant trat ein.

»Die Generale!«

Sie traten in den Raum. Die in so vielen Kämpfen erprobten Führer. Die Feldherren des großen Kubelai-Khan. Seine Kampfgenossen.

Sie verneigten sich tief … vor dem Ringe des Dschingis-Khan, der auf der Hand des Regenten gleißte. Toghon-Khan setzte sich. Schweigend nahmen die anderen ihre Plätze ein.

»Unser großer Herr, der allmächtigste Kaiser … die Kinder seines Reiches werden die Kunde vernehmen, daß er zu seinen Ahnen gegangen ist. Alle Herzen der Guten werden trauern und weinen … und klagen.«

Lautlos neigten die Generale die Häupter. Der Regent fuhr fort:

»Die wenigen Bösen, sie dürfen die Trauer der Guten nicht stören. Ihre Zunge muß verstummen. Ihre Hände müssen daniedergehalten werden … Habt ihr dafür gesorgt?«

Sein Blick glitt prüfend über die Versammelten.

»Es ist geschehen!« kam die Antwort.

»So sind unsere Hände frei, um das große Werk, das der Kubelai-Khan begann, zu vollenden?«

»Sie sind es!«

»Das Schiedsgericht über das Ilidreieck hat gegen uns entschieden! … Heute nacht kam die Nachricht zu meinen Händen. Daß es so kommen würde, wußtet ihr alle. Ein teures Glied des Reiches, ein Land unserer Stammesgenossen, umstritten in tausend Kämpfen, soll von uns gerissen werden. Wir werden das nicht dulden!«

Er machte eine Pause und blickte in die Runde. Nur das Funkeln der Augen verriet ihm die Bewegung, die in allen lebte.

Der Regent fuhr fort:

»Die Antwort an Europa, in der wir dem Schiedsgericht die Anerkennung verweigern, liegt bereit. Wir könnten es darauf ankommen lassen, ob sie es wagen, sich ihre Beute mit Gewalt zu holen. Ich bezweifle es sehr. Die Kompagnietruppen wären zu schwach. Die Russen allein denken nicht daran … und das vereinigte Europa?«

Ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen.

»Der große Kaiser tat diese Frage stets mit einer Handbewegung ab. Er, der das Ziel seines Lebens darin sah, alle verstreuten Kinder der gemeinsamen mongolischen Mutter zu vereinen.

Seine Pläne waren zur Entscheidung reif, als ihn die Kugel traf. Als er auf seinem Sterbebett lag und um die Zukunft des Himmlischen Reiches bangte, da suchte er nach einem, der stark genug wäre, sein Werk zu vollbringen. Und er sprach mit mir … und er gab mir den Ring … und ich schwur ihm, das Werk zu tun.

Die Zeit ist gekommen! Morgen fällt die Entscheidung in Amerika. Sie wird das Signal sein für den Kampf aller Rassen gegen die Weißen. Wir stehen nicht allein.

Die Europäer haben es gewagt, uns eine Drohnote zu schicken, weil Brüder von uns den um ihre letzten Lebensmöglichkeiten kämpfenden Kirgisen zu Hilfe geeilt sind. Ich habe ihnen geantwortet, daß das Unrecht auf ihrer Seite liegt, und meinerseits gedroht, auf die Seite der Unterdrückten zu treten, wenn die grausamen Verfolgungen nicht sofort aufhören. Als Antwort hat man gestern über zweihundert dieser Freiheitskämpfer an der Grenze des Kuldschagebietes erschossen. Neuer Hohn zu altem Hohn!

Unsere Geduld ist erschöpft! Wir werden marschieren!«

Unbewegt, ohne das geringste Mienenspiel hatten die Generale den Worten des Regenten gelauscht, hatten jede Regung, jede Bewegung unterdrückt.

Die letzten Worte »Wir marschieren!« zerbrachen alle diese Bande einer gekünstelten Ruhe.

Laute Rufe der Zustimmung schallten dem Regenten entgegen. Im Nu war er umringt.

»Du bist Toghon, der große Diener des Kaisers … der Vollbringer seiner Pläne … wir folgen dir, wohin du uns führst … wir gehen, wohin du uns zu gehen befiehlst …«

Ein unmerkliches Lächeln ging über die Züge des Regenten. Der erste Schritt war gelungen. Der Ring an seiner Linken regte sich. Er würde am Tage des Sieges an die Rechte gleiten.

Der Regent wartete still, bis wieder Ruhe im Saale herrschte. Dann sprach er weiter:

»Unsere schwarzen Bundesgenossen werden Kräfte und Mittel unserer Feinde fesseln. Europa wird reichlich in Afrika zu tun bekommen. Die amerikanische Industrie wird in den nächsten Wochen ruhen … die russische ein Ziel unserer Luftkräfte sein. Das winzige Europa wird gegen Asien allein stehen. Wer kann da am Siege zweifeln?«

Die siegesfunkelnden Augen der Generale gaben ihm Antwort.

»Morgen wird Europa eine Botschaft übergeben, die alles Gebiet bis zum Aral und Ural für unser Land erklärt!«

Einen Augenblick war es still. Die Größe des Planes ließ die Hörer erstarren. Dann brachen sie los. Sie drängten sich um ihn. Sie knieten vor ihm. Sie küßten sein Gewand und seine Hände.

Mit geschlossenen Augen stand Toghon-Khan, berauscht von dem Gedanken an den Glanz der Zukunft. Dann schritt er zum Tisch und griff einen Stoß der Papiere.

Es waren die Operationsbefehle. Mit kurzen, knappen Worten gab er jedem seine Befehle. In zwei gewaltigen Heeressäulen sollte die gelbe Macht durch das Ilital und die dsungarische Pforte in das Siedlerland einbrechen, während eine dritte nach Norden in Sibirien einfiel, um das russische Industriegebiet am Altai abzuschnüren.

Dann zog er sie vor die Karten, erläuterte ihnen die Stellungen der Nadelfähnchen, zeigte ihnen alle Stellungen und Schwächen der Gegner, bis jeder seine Aufgabe genau erkannt.

Der große Plan war in seinen Grundzügen von einer klassischen Einfachheit. Die komplizierten Details zu seiner Ausführung waren bis aufs kleinste vom Generalstab ausgearbeitet.

»Jetzt kennen Sie Ihre Aufgaben und Befehle. Die Stäbe werden das Weitere veranlassen, übermorgen, am 8. Juli, stehen Sie in Feindesland.«

*

In den Morgenstunden des 6. Juli hatte der Wahlkampf in Louisiana begonnen. Je weiter der Tag fortschritt, desto größer wurde die Erregung. Noch niemals seit dem Bestehen der Union hatte eine Wahl die Gemüter so aufgepeitscht und in Spannung versetzt wie diese.

Immer dichter stauten sich die Massen vor den Wahllokalen. Von allen Seiten wurden die neu Ankommenden von den Werbern der beiden Parteien umringt und bearbeitet.

In den Lokalen selbst häuften sich die Zwischenfälle und Proteste. Hundertmal kam es vor, daß Wähler mit falschen Legitimationen zurückgewiesen wurden. Aber Tausende von Malen mochte die Täuschung geglückt sein.

Grotesk komisch waren teilweise die Wege, auf denen die Legitimationen ihre Besitzer gewechselt hatten. Daß sehr viele längst Verstorbene persönlich an der Wahlurne erschienen, war noch das wenigste. Viele andere lagen zwar nicht unter der Erde, aber in irgendwelchen Kneipen bewußtlos unter den Tischen, nachdem sie vorher freiwillig oder auch nachher unfreiwillig ihren Rausch mit ihrer Legitimation bezahlt hatten.

Auch zahlreiche Fälle, in denen die Wähler gewaltsam an der Ausübung ihres Wahlrechts verhindert waren, wurden bekannt. Wo es nicht gelingen wollte, sich der fremden Legitimationen für die eigenen Zwecke zu bemächtigen, waren Wähler kurzerhand ihrer Freiheit beraubt worden.

Alle diese Dinge waren in der politischen Geschichte der Union keineswegs neu. Aber sie traten diesmal mit einer Dreistigkeit und in solcher Zahl in die Erscheinung, daß das Wahlergebnis von vornherein die Anfechtung der unterliegenden Partei herausfordern mußte. Nur eine ungeheure Stimmenmehrheit für eine der beiden Parteien hätte dieser wirklich einen einwandfreien Sieg dokumentieren können.

Als die sechste Abendstunde die Wahl abschloß, war ganz New Orleans auf den Beinen, um so bald als möglich etwas von den Ergebnissen des Wahlkampfes zu erfahren. In dem Zeitungsviertel stauten sich die Massen. Wie die Resultate aus den einzelnen Teilen des Staates einliefen, wurden sie in leuchtenden Darstellungen sofort zur allgemeinen Kenntnis gebracht.

Als die elfte Stunde herannahte, unterschieden sich die Stimmenzahlen für den schwarzen und den weißen Kandidaten nur um wenige Hunderte, die wechselnd bald auf der einen, bald auf der anderen Seite mehr waren. Der Louisiana Advertiser hatte für seine Darstellung die Bilder zweier Barometer gewählt, in denen je eine weiße beziehungsweise schwarze Säule den jeweiligen Stand der Stimmenzahlen anzeigte. Der Mississippi Herald zeigte zwei galoppierende Rennreiter, die auf einem Schimmel beziehungsweise Rappen saßen. Diese Darstellung der mit voller Kraftentfaltung rennenden Tiere wirkte noch aufregender als die erstgenannte.

Bald lagen die Pferde Hals an Hals, bald blieb das eine, bald das andere etwas zurück. Jeder Vorsprung wurde von den Anhängern mit tausendstimmigen Beifallsrufen quittiert, jedes Zurückbleiben mit wütendem Geschrei begleitet.

Findige Unternehmer hatten sich sofort als Buchmacher aufgetan und konnten riesige Einnahmen verzeichnen. Je näher die Stunde der Entscheidung kam, desto größer wurden die Einsätze, desto größer die Erregung über die Ungewißheit des Ausganges.

Von 11 Uhr 30 Minuten an hatte es den Anschein, als würde es ein totes Rennen, so dicht standen die beiden Reiter im Bilde nebeneinander. Da, 11 Uhr 45 Minuten, fiel ganz unerwartet die Entscheidung. Mit einem gewaltigen Ruck schob sich der Rappe vor dem Schimmel durchs Ziel. Das Ziel war durch die Hälfte der gesamten Wählerzahl des Staates gegeben und in dieser bildlichen Darstellung durch einen leuchtenden Pfosten markiert. Wer es überschritt, mußte die absolute Majorität haben.

Die Spannung der vieltausendköpfigen Zuschauermenge entlud sich zuerst in einem orkanartigen Gebrüll. Das lebhaftere Blut der Schwarzen machte sich in afrikanischer Urwaldweise Luft. Sie tanzten, sangen und verhöhnten die Gegner. Dazwischen mischten sich Choräle und laute Dankgebete von gläubigen schwarzen Seelen.

Die Weißen blieben die Antwort auf die Herausforderung nicht schuldig. Auf Worte folgten Schläge. Hier im Zeitungsviertel blieb es bei einfachen Handgemengen. Im Hafenviertel kam es zu richtigen Straßenschlachten mit Verwundeten und Toten.

Die wenigen, die noch weiter auf das Lichtspiel achtgaben, sahen, wie der Rappe gleich nach der Erreichung des Zieles stehengeblieben war, während der Schimmel noch weiter bis unmittelbar an das Ziel heran aufrückte. Bis in die späte Nacht hinein dauerten die Siegesorgien in der aufgeregten Stadt.

Der Morgen des nächsten Tages brachte die Ernüchterung. Jetzt lagen die genauen offiziellen Zahlenergebnisse vor. Der Sieg Josua Bordens gründete sich nur auf eine äußerst geringe Mehrheit. Nahm man die offenkundigen Unregelmäßigkeiten des Wahlaktes dazu, so blieb kein Zweifel, daß der noch in der Nacht abgegangene Protest der Unterlegenen große Aussicht auf Erfolg hatte. Bei der aufs äußerste gereizten Stimmung des ganzen Landes konnte die Regierung, selbst wenn sie es gewollt hätte, gar nicht daran denken, diese Wahl zu bestätigen.

Wenn sie trotzdem die Wahl nicht sofort kassierte, so lag es daran, daß die Vertreter der schwarzen Bevölkerung in eindringlichster, ja drohender Weise auf die ernsten Folgen einer Nichtbestätigung hinwiesen.

Die Erregung hielt die Massen auf den Straßen. Wo immer Zeitungstelegramme zu lesen waren, wurden sie von Scharen Neugieriger umlagert. In den Außenvierteln erneuten sich die Schlägereien des vergangenen Tages. Aber waren sie gestern spontan entstanden, so zeigte sich jetzt ganz unverkennbar eine auf beiden Seiten vorhandene Organisation.

Noch wilder wurden die Szenen, als in der Stunde des Geschäftsschlusses Schreckensnachrichten aus Afrika in die Menge platzten. Ihre Wirkung war am größten auf die Schwarzen.

Aufstand der schwarzen Minenarbeiter im Randgebiet! … Aufstand der Schwarzen im Industriegebiet des Sambesi! … Neue Aufstände im nordafrikanischen Minengebiet! …

Diese ersten lakonischen Alarmnachrichten wurden schnell durch ausführliche Meldungen vervollständigt.

Im südafrikanischen Randgebiet war es zuerst losgegangen. Die schwarzen Grubenarbeiter hatten sich um einer geringfügigen Ursache willen zusammengerottet und die an Zahl schwächeren Weißen vertrieben oder erschlagen. Die aufständischen Haufen hatten erst einmal die Grubenanlagen demoliert. Dann waren sie in die nächsten kleineren Städte gezogen. Hier war es ihnen gelungen, die verhältnismäßig schwachen Polizeitruppen zu verjagen. Danach hatten sie dort eine wahre Schreckensherrschaft etabliert. Nur die Großstädte waren bisher von ihnen verschont geblieben, aber auch sie schienen bedroht.

In Marokko hatte sich der vor kurzem ausgetretene Brand plötzlich wieder entfacht. Wie im Nu hatte das Feuer sich von jenen alten Punkten aus über das ganze nordafrikanische Minengebiet verbreitet. In Marokko, in Tunis, in Algier, überall, wo die europäische Industrie mit schwarzen Arbeitern die Bodenschätze förderte, loderte der Aufstand.

Jede Stunde brachte neue Hiobsposten. Vernichtung von Gruben, von Fabriken … von gewaltigen, dort aufgestapelten Rohstoffmengen. Massendesertionen schwarzer Truppen … Übergang ganzer Regimenter zu den Aufständischen … Schwere Kämpfe mit den weißen Truppen, bei denen diese fast aufgerieben wurden.

Die Feuer, die im Norden und Süden Afrikas aufloderten, schlugen im Sambesigebiet zusammen. Die großen Kraftwerke gesprengt! … Die Energiequelle für das ganze Industriegebiet verschüttet. Die riesigen Turbinen zerstört, in denen die zehn Millionen Pferdestärken der Sambesifälle zur Nutzarbeit gezwungen wurden. Eine gewaltige, den Europäern dienstbare Industrie auf unabsehbare Zeit lahmgelegt. Die geringe weiße Bevölkerung durch Massaker restlos aufgerieben.

Den Telegrammen folgten ausführlichere Berichte. Sie ließen die Größe der Gefahr erst im vollen Umfange erkennen.

Der Bericht über den Untergang der großen Sambesizentrale brachte grauenvolle Einzelheiten. Die Aufrührer waren nicht ohne Sachkunde vorgegangen. Zu sehr waren sie in die Technik der Weißen eingeweiht. Sie hatten das alte Mittel des Dynamits gegenüber Maschinen verschmäht, diese Sprengstoffe für die weißen Gegner reserviert.

Durch die eigene Energie waren die Maschinen vernichtet worden. Die Aufrührer hatten einfach die Regulatoren festgebunden und die großen mit den Turbinen gekuppelten Stromerzeuger vom Netz abgeschaltet. Ihrer Last beraubt, infolge des Nichtarbeitens der Regulatoren der vollen Wasserzufuhr ausgesetzt, waren die fünfhunderttausendpferdigen Maschinenaggregate auf eine phantastische Tourenzahl gekommen und dann durch die Zentrifugalkraft in tausend Fetzen zerrissen worden.

Erst danach hatten die Aufständischen zum Dynamit gegriffen. Wo dort oben an den Fällen die Wassermassen in Felskanälen gefaßt und abgeleitet wurden, hatten sie enorme Dynamitladungen mit Aufstoßzündern hineingeworfen. Wo immer eines dieser unheilschwangeren Pakete irgendwo anstieß, gingen Explosionen von zerstörender Gewalt los. So wurden die großen Maschinenhallen zu Trümmerhaufen, die in den Urfels gesprengten Druckwasserkanäle durch unendliche Geröllmassen verschlossen. Die Arbeit vieler Jahre war hier in einer Stunde zerstört.

Auf die Kraftquellen folgten die Industriezentren. In sinnlosester Weise wurden hier die Arbeitsmöglichkeiten und Erwerbsquellen für Millionen auf Jahre hinaus … für immer … für Europa zerstört.

Europa stand über Nacht da wie ein Fabrikbesitzer, dem eine wichtige Anlage unversichert bis auf die Fundamente niederbrennt.

Wo die Weißen in fliegender Hast in Südafrika einen bewaffneten Widerstand organisierten, wurden sie von den übermächtigen, wohlausgerüsteten schwarzen Massen überwältigt und niedergemacht. Einzelheiten von bestialischer Scheußlichkeit fehlten auch hier nicht.

Die Nachrichten aus Europa gaben wenig Trost. Anscheinend stand man dort den Ereignissen ratlos gegenüber.

Wo immer auf der Welt der Weiße seine Herrschaft aufgerichtet, schien sie zu wanken. Für das in dieser Frage besonders interessierte Amerika wären diese Nachrichten mehr als hinreichend übel gewesen. Der Abend des gleichen Tages brachte eine Kunde, deren Auswirkungen hier in den Staaten noch schlimmer werden sollten.

Die Regierung in Washington versagte der Wahl von Josua Borden zum Gouverneur des Staates Louisiana die Bestätigung. Als Grund gab sie an, daß die sicher nachgewiesenen Ungesetzlichkeiten beim Wahlvorgange kein klares Bild über die wirkliche Volksmeinung ergaben.

Wenn auch die Regierung es klugerweise vermieden hatte, sich auf jene so viel angefeindete Bill zu stützen, so war es doch der weißen Bevölkerung sofort klar, daß die Gegenpartei den Regierungsbescheid trotzdem auf die Bill hindrehen würde. Wie befürchtet, geschah es. Kaum war der Bescheid bekannt, als im ganzen Gebiete der Union eine maßlose Agitation gegen die Regierung und gegen die Weißen ausbrach. In den Teilen der Union, in denen die farbige Bevölkerung sehr stark war, kam es schnell zu Gewalttätigkeiten.

Noch in der Nacht vom 7. auf den 8. Juli wurden in New Orleans alle Regierungsgebäude von farbigen Kräften besetzt. Im Morgengrauen befand sich die Stadt in den Händen einer schnell errichteten provisorischen Regierung. Die letzten Flugschiffe, die New Orleans mit weißen Flüchtlingen in der Richtung nach Norden oder Nordosten verließen, überflogen die Zonen schwerer Kämpfe zwischen Weißen und Farbigen.

*

Aus Asien her drang am Morgen des 8. Juli eine neue Schreckenskunde durch die weiße Welt. Chinesische Truppen hatten an verschiedenen Stellen die Grenze überschritten. Das Ende Europas schien gekommen. Durch die schwarzen Aufstände in der ganzen Welt jeder anderen Hilfe beraubt, stand es allein dem gelben Riesenreiche gegenüber und mußte unterliegen.

Schon in der Nacht zum 8. Juli waren gelbe Luftgeschwader weit vorgestoßen. Ihre Bomben hatten wichtige Anlagen des Siedlergebietes bis zum Ural hin zerstört. Bis in die Industrieanlagen des Ural waren sie vorgebrochen und hatten schwere Vernichtungen hinter sich zurückgelassen.

Die Luftstreitkräfte der Weißen schienen zu schwach und zu machtlos zu sein, denn man hörte wenig oder gar nichts von Luftkämpfen. Man wußte wohl, daß das große russische Luftgeschwader die südsibirische Grenze verteidigte. Aber man hörte kein Wort von Angriffen nach jenem Ziele. Der gelbe Stoß ging glatt nach Westen. In der Luft schienen die Gelben in diesem Kampfe unwidersprochen die Oberhand zu haben. Mit Zagen erwartete man die ersten Nachrichten vom Zusammentreffen der Landstreitkräfte.

Am Abend des 7. Juli saßen der General Bülow und Georg Isenbrandt in dessen Quartier in Wierny.

Der General gab Bericht.

»Der Übergang von Kaschgar ist für große Truppenmassen unpassierbar. Die Reste des Telekdammes sind zur Verteidigung ausgebaut, so gut es in der kurzen Zeit möglich war. Die Berge zu beiden Seiten sind von unserer Artillerie besetzt. Ein Durchbruch durch das Ilital ist unmöglich. Wenn keine Umgehung gelingt, hält diese Stellung, bis die Verstärkungen heran sind.

Die dsungarische Pforte« – der General machte eine zweifelnde Bewegung –, »sie steht offen! Was auf unserer Seite dahinterliegt, ist auf dreihundert Kilometer geräumt. Die Russen haben weder Mann noch Schiff abgegeben.

Die Kompagnieluftkräfte sind, wie Sie anordneten, in Wierny konzentriert. Abwehrmaßnahmen sind an den technisch wichtigen Stellen schnell organisiert worden, aber ich überschätze ihre Bedeutung nicht. Das Land ist gegen Luftangriffe so gut wie wehrlos. Die dsungarische Pforte steht offen. Dort ist der Weg auf dreihundert Kilometer frei.«

Georg Isenbrandt nickte.

»Gut … sehr gut … Herr General. Sie sagten dreihundert Kilometer … warum nicht noch etwas weiter?«

»Weil dort die besten Aufnahmestellungen waren!«

Georg Isenbrandt sann einen Augenblick.

»Gut! Es wird auch so gehen. Das Orenburger Schiff ist gekommen?«

Der General nickte.

»Die Übernahme seiner Ladung wird in einer Stunde beendet sein … Herr General! Diese Luftflotte hält sich alarmbereit. Ich vermute, daß in drei Stunden die Zeit, ihren Auftrag auszuführen, für sie gekommen sein wird.«

»Ich staune über die Genauigkeit Ihrer Nachrichten, Herr Isenbrandt!«

Um Isenbrandts Lippen spielte ein dünnes Lächeln.

»Gold wirkt auf beiden Seiten gut. Gegen Gift hilft nur Gegengift. Das ist eins alte Regel.«

Er brach seine Rede jäh ab und wandte sich der Wand zu, wo plötzlich der automatische Funkenschreiber zu arbeiten begann. Seine Augen überflogen die Zeichen auf dem herausquellenden Papierstreifen.

»Hallo! Die Gelben fliegen ab … schon? … Unsere Dispositionen ändern sich. Die Geschwader, die ihre Ladung genommen, fliegen sofort nach ihren Zielen!«

Der General eilte in das Nebenzimmer. Durch seine Adjutanten ließ er die telephonischen Befehle hinausgeben. Dann kam er zurück.

Georg Isenbrandt hatte inzwischen die Depesche zu Ende entziffert.

»In der Morgendämmerung werden die chinesischen Landstreitkräfte die Grenze überschreiten. An der sibirischen Grenze nur mit schwachen Kräften. Der Hauptstoß dort erfolgt später.«

General Bülow warf einen Blick auf die Karte.

»Man möchte verzweifeln, wenn man daran denkt, daß die russischen Luftstreitkräfte dort im Norden unbeschäftigt stehen und hier bitter fehlen. Wieviel Siedlerblut und -gut wird uns diese russische Hartnäckigkeit kosten?

Georg Isenbrandt hatte sich erhoben.

»Herr General, ich gehe jetzt zu den Standplätzen unserer Flugschiffe. Sobald das letzte Geschwader von hier fort ist, fliege ich nach Norden zum Saisan-Nor. Wir treffen uns später in Semipalatinsk in Ihrem Hauptquartier.«

*

Am Abend des 7. Juli war Toghon-Khan in Khami angekommen. Hier liefen die Nachrichten von allen Stellen seiner Front ein.

Georg Isenbrandt hatte seinen Plänen durch die Errichtung des Dammes von Telek ein schweres Hindernis entgegengesetzt. Wohl war es seinerzeit gelungen, den Damm durch die Hochwasserkatastrophe und die verräterische Sprengung zum größeren Teil zu zerstören. Aber auch die gewaltigen Reste des Riesenbauwerkes boten den vorstoßenden chinesischen Streitkräften noch ein schwer überwindliches Hindernis. Wenn die Kompagniekräfte ihrerseits eine plötzliche Schmelze in den Ilibergen verursachten, wenn die plötzlich zu Tal gehenden Wassermassen sich auch nur vor den Dammruinen stauten, war das Tal für jede größere Truppenmenge kaum passierbar. Die Gebirge des oberen Ilitales waren daher schon seit Wochen unter einer derartigen Bewachung durch gelbe Luftstreitkräfte, daß an ein Schmelzen in größerem Stile nicht gedacht werden konnte.

Trotzdem war der Weg durch das untere Ilital außerordentlich erschwert. Nur wenn es gelang, die Kompagniestellungen an den Berglehnen zu umgehen, den Damm selbst zu nehmen und in seine Trümmer breite Durchfahrten einzusprengen, war die Passage für größere Heeresmassen möglich. An diese Aufgabe hatte der Regent seine besten Truppen aus den mongolischen Randgebirgen gesetzt. Von der Schnelligkeit, mit der hier der Vorstoß gelang, hing viel vom Erfolg des ganzen Krieges ab.

Anscheinend viel einfacher gestaltete sich der Durchbruch im Irtyschtal. Durch seinen Nachrichtendienst hatte der Regent erfahren, daß die weißen Truppen jenes Tal beinahe bis Semipalatinsk hin geräumt hatten. Vergeblich hatte er mit seinem Stabe die Gründe für diese Bewegung zu erforschen gesucht. Er wußte zur Genüge, daß er an dem General von Bülow einen erfahrenen, verschlagenen Gegner hatte. Daß hinter dieser unerklärlichen Maßnahme eine Finte stecken müsse, sah er ein. Aber welche?

Nur mit halbem Herzen schloß er sich der Ansicht seiner Generalstäbler an, die den Standpunkt vertraten, daß die Kompagniekräfte sich dorthin und auch noch weiter zurückziehen würden, bis starke europäische Truppen zu ihrer Aufnahme da wären. Seine Besorgnis war so groß, daß er noch in letzter Stunde große Teile der Nordarmee auf die dsungarische Pforte dirigierte. Weil aber die Eisenbahnen und sonstigen Verkehrsmittel schon durch die Transporte nach dem ersten Plane voll in Anspruch genommen waren, mußten diese zusätzlichen Streitkräfte in der Hauptsache marschieren.

Im Laufe des 8. Juli kamen die Meldungen der gelben Luftstreitkräfte nach Khami. Vorflug ohne Widerstand!

Der Regent vernahm es mit Verwunderung. Gerade an der Grenze hatte er den stärksten Widerstand der vorzüglichen Kompagniekräfte erwartet.

Bombardements der Siedlungen!

Er geriet in Unruhe. Wo steckten die Kompagniekräfte? Das kampflose Vordringen verstärkte sein Mißtrauen immer mehr …

Wo konnte die Kompagnieflotte stecken?

Die nächsten Meldungen brachten ihm Antwort. Eine Antwort, die freilich an Klarheit viel zu wünschen übrigließ.

Kleine Geschwader weit verteilt, überall in der Dsungarei! Aus unsichtbaren Höhen stießen sie, wie gemeldet wurde, herab.

Mit einem Gefühl der Erleichterung nahm der Regent die Meldungen auf. Die Entsendung vieler kleiner Geschwader schien darauf hinzudeuten, daß sie die Aufgabe hatten, den Anmarsch durch Bombenabwürfe zu stören. Die merkwürdige Tatsache, daß diese Geschwader allen Kämpfen fast ängstlich auswichen, mußte diese Auffassung bestärken.

Er hatte genug Luftkräfte in der Reserve, um diesen verstreuten Kompagniegeschwadern entgegenzutreten. Jetzt endlich glaubte der Schanti, den gegnerischen Plan zu durchschauen. Zeit gewinnen! Den Vormarsch in der Dsungarei erschweren und an der Front durch langsames Zurückgehen verzögern.

Der nächste Tag brachte Nachrichten von allen Seiten. Nachrichten, die wohl geeignet waren, den Regenten in seiner Auffassung der Lage zu bestärken.

Die Meldungen vom linken Flügel seiner Kräfte lauteten nicht günstig. Die Übergänge in das Ferghanatal waren durch Sprengungen und künstliche Hindernisse so erschwert, daß nur die Möglichkeit geblieben war, die Truppen in Transportkreuzern vorzubringen. Nur einem Teil dieser Kreuzer war es gelungen, Truppen unversehrt zu landen. Plötzlich waren hier starke Kampfschiffe der Kompagnie aufgetreten und hatten der gelben Flotte schweren Schaden zugefügt. Es sah gerade so aus, als ob die Luftstreitkräfte der Kompagnie hier bewußt Versteck gespielt hätten, um nach dem Durchflug der leichten gelben Luftkräfte nach Westen die schweren Panzerkreuzer, welche die Truppen Konvois begleiteten, mit unverbrauchten Kräften anfallen zu können. Die Lage der dort gelandeten chinesischen Truppen war besorgniserregend, da sie sofort in schwere Kämpfe mit den gegnerischen Truppen verwickelt wurden. Aber schließlich war der Stand der Dinge im Ferghanatal für die Gesamtlage nicht von großer Bedeutung.

Die weiteren schlechten Nachrichten aus dem Ilital hatte Toghon-Khan beinahe erwartet. Daß der General von Bülow hier in der Linie des Telekdammes einen scharfen Widerstand leisten würde, war für den alten Mongolenfeldherrn eine Selbstverständlichkeit. Deshalb hatte er ja seine Kerntruppen dort angesetzt. Aber die Stärke des Widerstandes überraschte ihn.

Die Berichte, soweit sie bisher vorlagen, meldeten ungeheure Verluste der Angreifer. Wenn Bülow seinerzeit Georg Isenbrandt gegenüber von einem Thermopylen gesprochen hatte, das er hier errichten wolle, so bewiesen diese Meldungen, wie ernst er seine Worte gemeint hatte. Auch die Truppen, welche die chinesische Heeresleitung zur Umgehung der Telekstellung angesetzt hatte, kamen nur Schritt für Schritt und unter schwersten Opfern vorwärts. Ein Forcieren des Durchbruches an dieser Stelle würde in jedem Falle ungeheure Verluste erfordern und im Erfolg zweifelhaft bleiben.

Der große Erfolg mußte im Irtyschtale gesucht werden. Die breite dsungarische Pforte erlaubte es, viel stärkere Kräfte vorzuwerfen. Waren sie hier erst einmal bis zum Siedlerland durchgedrungen, wo eine freie Entfaltung der Front möglich wurde, dann war die Ilistellung der Gegner so im Rücken bedroht, daß sie unhaltbar wurde.

Aus dieser Gesamtlage ergab es sich, den Vormarsch durch das Irtyschtal mit größter Schnelligkeit und stärksten Kräften zu betreiben. Noch am Abend dieses Tages ergingen die Befehle nach allen Seiten, und im Laufe der Nacht begab sich der Regent mit seinem Stabe von Khami nach der dsungarischen Grenze. Hier erreichten ihn am frühen Morgen des 10. Juli die Meldungen, daß seine Spitzen den Gebirgszug zwischen Ust Kamenogorst und Arkatsk gegen schwachen feindlichen Widerstand genommen hätten. Wo einst einhundertvierzehn Kosaken unter dem General Licharew den Feinden widerstanden und ein Bollwerk gegen die gelbe Flut errichteten, da waren die so viel stärkeren Truppen der E. S. C. jetzt fast kampflos gewichen.

Das strategische Spiel schien gewonnen. Weit offen stand das Völkertor, durch welches sich seit Tausenden von Jahren die asiatischen Stämme nach Westen ergossen hatten.

Als die Sonne über die Bergkämme des Altai heraufkam, stand Toghon-Khan allein am Ufer des Irtysch, den die Mongolen Kara Erthis nennen. Sinnend schaute er den gen Westen strömenden Wellen des jungen Flusses nach. Hinter ihm war das Land sicher. Die ungünstigen Nachrichten von der Südfront wurden durch die Meldungen wettgemacht, daß die Luftgeschwader in seinem Rücken teils niedergekämpft, teils vertrieben seien.

Vorwärts ging es mit der Sonne. Er brauchte nur seinem Schatten zu folgen. Kaum hundert Schritte vor ihm lag der Grenzgraben. Er wandte sich um und winkte sein Pferd herbei. Mit einem Schwunge saß er im Sattel.

Vorwärts! Nach ein paar Sätzen hielt er am Grenzgraben. In diesem Augenblick loderten links und rechts von seinem Wege mächtige Scheiterhaufen auf, die seine Getreuen aus umgestürzten Grenzpfählen errichtet hatten. Mit einem stolzen Lächeln quittierte der Regent die Huldigung.

Ein Spornstoß! Sein Roß sprang in einem mächtigen Satz über den Graben. Ein Ruck in den Zügeln, das Pferd stand wie aus Erz gegossen.

Er war auf erobertem Boden. Von allen Seiten umbrauste ihn der Jubel der vorüberziehenden Truppen.

Toghon-Khan saß starr auf seinem Pferde. Die schwarzen Glutaugen weit offen nach Westen gerichtet. Der Ring an seiner Linken schien zu glühen. Seine Sinne wanderten.

Aus den Truppen, die da neben ihm in modernster Ausrüstung vorwärts hasteten, wurden die Krieger der goldenen Horde, wie sie der große Dschingis-Khan vor acht Jahrhunderten nach Westen geführt hatte.

Er sah sie vorwärtsstürmen. Er sah sie die weiten Steppen Vorderasiens überschwemmen. Er sah, wie die uralten Königreiche unter ihren Tritten zusammenbrachen. Er sah, wie sie ihre Rosse an den blauen Wassern des Hellespontes tränkten, wie sie die Donau stromaufwärts zogen, über das Balkangebirge gingen … und bis in das Herz Europas stießen.

Ihm nach!

Seine Sporen stießen gegen die Flanken seines Pferdes.

Wütend stürzte das edle Tier vorwärts. Erst nach einer Weile brachte er es in seine Gewalt zurück. Er war erwacht.

Sein Auge überflog eine Abteilung marschierender Artillerie. Sein Auge hing an den glitzernden Rohren. Die Geschütze waren von chinesischen Konstrukteuren gebaut. Ihre Leistungen waren von einer bisher unbekannten Größe, und er wußte, daß Europa dergleichen nicht hatte. Die Artillerie war seine alte Waffe. Die Batterien dort neben ihm … waren sie nicht auch sein eigenes Werk? Wie würde diese neue Waffe den weißen Gegner treffen?

Ein kalter, frischer Wind fuhr ihm über das Antlitz. Er hob den Helm und badete seine heißen Schläfen in dem erquickenden Luftzug.

Vorwärts! Vorwärts! … Ihm nach!

Er beugte den Kopf über seine Linke. Wie rotes Feuer erglänzte der Ring des Dschingis-Khan in den Strahlen der Morgensonne. Seine Lippen berührten das Gold. Ein Schauer rann durch seinen Körper.

Wetteifernd mit den Fluten des Irtysch, strömten die mongolischen Myriaden an seinen Ufern westwärts. Meile um Meile gewannen sie, bis die Gebirge zurückwichen und der Fluß sich zum See weitete. Jetzt strömten auch die Massen auseinander. Die niedere Gebirgskette quer vor ihnen war das letzte Hindernis.

Die Sonne war höher gekommen. Doch der kühle Morgenwind hatte sich auch um die Mittagszeit nicht gelegt. Im Gegenteil. Er war von Stunde zu Stunde kälter geworden.

Jetzt ging eine seltsame Veränderung des Himmels vor sich. Die Sonne verschwand hinter einem grauen Dunstschleier. Ein eisiger Luftstrom aus Nordwesten kam den Marschierenden entgegen. Welk und schwarz, wie verbrannt, hing das saftige Julilaub an Bäumen und Sträuchern.

Die Luft füllte sich mit Nebeln, die sich da und dort zu schwerem dunklen Gewölk zusammenballten. Aber die Dunstwolken fielen nicht in Tropfen zur Erde, sondern wurden von den Windstößen bald nach oben, bald nach unten gerissen. Kurz auftretende Windstille ließ auch sie manchmal stillstehen, daß sich die bizarren Formen wie dunkle Felswände vom Himmel abhoben.

Die Kälte nahm immer mehr zu. Der Wind wehte mit immer stärkerer Kraft. Dann war es plötzlich, als bräche das ganze Himmelsgewölbe zusammen. Erde und Himmel verschwanden in einem rasenden Schneesturm, der sein unermeßliches Netz weithin über seine Beute warf. Nur hin und wieder vermochte das Auge durch das dichte Treiben der weißen Flocken dünne Ketten geduckter Gestalten zu erblicken, die sich mühsam durch das Chaos vorwärts kämpften. Die Räder der Fahrzeuge schnitten bis an die Achsen in den Boden ein, der sich mit dem Schnee zu einem eisigen Kot vermischte.

Peitschenhiebe und Rufe! Flüche in allen Zungen Asiens schallten durch die Luft. Dazwischen das ängstliche Schnauben der Pferde und das Gebrüll der Kamele.

Immer häufiger brachen Tiere und Menschen erschöpft zusammen. Was auf dem Wege liegenblieb, wurde rücksichtslos zur Seite gestoßen. Die Hilferufe verhallten ungehört im Geheul des Sturmes.

Dazwischen die anspornenden Rufe der Offiziere.

Vorwärts! … Vorwärts! … Jenseits der Berge winken die warmen Fluren Turkestans … Vorwärts! … Jenseits der Berge ist Sommer.

Aber die Gebirge waren unsichtbar. Hinter den wirbelnden Schneeflocken verborgen. Die Ebene, durch die sie marschierten, von den immer mächtiger niedergehenden Schneemassen bald mit einem dichten Leichentuch bedeckt.

Gegen Mittag ließ die Gewalt des Sturmes nach. Für Augenblicke brach die Sonne durch das dunkle Gewölk. Es wurde Rast gemacht und gegessen.

Überermattet warfen die Truppen sich auf das weiße Schneelager. Die aus dem rauhen Norden des Landes stammenden Mannschaften erholten sich verhältnismäßig schnell. Die südchinesischen Regimenter in ihrer leichten Ausrüstung wurden ungleich stärker mitgenommen. Ihre erstarrten Finger vermochten kaum die Mahlzeit zum Munde zu führen.

Auf einem felsigen Promontorium hielt der Stab des Toghon-Khan. Er selbst hatte sich in ein schnell aufgeschlagenes Zelt zurückgezogen. Die Offiziere standen fröstelnd auf dem schneefreien Gestein. Der Fatalismus der Orientalen kam gegen dieses unerhörte Naturereignis nicht auf.

Scheu, mit leiser Stimme flüsterten sie sich ihre Betrachtungen und Beobachtungen zu. Zwei Generale aus dem engsten Gefolge des Regenten saßen unter einer mächtigen Eiche, den Blick auf die tief unten liegende Straße gerichtet.

Es waren Batu-Khan und Ugetai-Khan, die treuesten Anhänger des verstorbenen Kaisers. Schon zu Lebzeiten des Schitsu waren sie Rivalen des Toghon gewesen. Sie neideten ihm das besondere Vertrauen des Kaisers. Sie neideten ihm den Ruhm des großen Feldherrn, der jeden anderen Ruhm überstrahlte.

Auch sie waren unter denen gewesen, die Schitsu an sein Sterbelager rief. Nur unwillig hatten sie es ertragen, daß der Ring und die höchste Macht in die Hände des Toghon kamen. Dann aber hatten sie sich den großen Gedanken des Kaisers unterworfen, deren Vollstrecker Toghon war.

Ihre Blicke ruhten auf dem Tal. Verschwunden war jede Spur von Grün. Weiß war das Land bis zum fernen Horizont. Wie Maulwurfshaufen die hingeworfenen Gestalten der Soldaten. Nur hin und wieder schwelende Lagerfeuer, wo es den Truppen gelungen war, das mühsam zusammengesuchte Gestrüpp zu entzünden. Düster sahen die Generale auf das unheildrohende Bild. Das stärkste Heer, das das Himmlische Reich jemals unter Waffen gehabt hatte … das wie ein Sturmwetter über den Westen hinbrausen sollte, um den alten Traum des Ostens zu verwirklichen … Würde es der großen Aufgabe gerecht werden können, wenn ihm hier ein unerwartetes … ein unerklärliches Unwetter die Schwingen lähmte?

Ihr abergläubischer Sinn sah in diesem Wetter ein böses Vorzeichen für den ganzen Feldzug. Ugetai brach das Schweigen:

»Was ist’s mit dem Toghon? Als die ersten Flocken fielen, wurde sein Gesicht bleicher als der Schnee. So sah ich ihn nie in den dreißig Jahren unserer gemeinsamen Kämpfe.«

Es dauerte, bis Batu die Antwort fand:

»Auch ich erschrak, als ich die Miene Toghons sah. Wie konnte er wissen, daß aus jenen ersten noch harmlosen Flocken, die wir alle für ein kurzes, neckisches Spiel der Natur hielten, dies vernichtende Unwetter entstehen würde?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich mußte sofort des Schneefalles am Tage des Einzuges gedenken …«

»An jenem Tage betrog Toghon die Erde. Er entriß ihr ein Opfer, das ihr gehörte. Die Erde hat ihn damals gewarnt. Heute nimmt sie ihre Rache.«

Ugetai sah ihn einen Augenblick überlegend an.

»Ich beuge mich vor der höheren Weisheit deines grauen Hauptes.«

»Furcht ist in Toghon! Er scheut das Antlitz der zürnenden Natur. Wer hätte sonst jemals den Toghon im Felde im Zelt gesehen?«

Er, der Toghon, ruhte im schnell errichteten Zelte auf einem niederen Lager. Die Augen, weit geöffnet, starrten zu der braunen Leinendecke. Die Lippen waren fest zusammengepreßt, als hielte ein Siegel ihr Geheimnis verschlossen. Auf seiner Stirn perlten Schweißtropfen.

Abgefallen waren Miene und Haltung des Siegers. Geschlagen … gefangen … vernichtet schien der Mann zu sein, der noch vor wenigen Stunden in stolzem Sprung über den Grenzgraben setzte.

Ein schwerer Atemzug hob die Brust des Liegenden. Seine Hand warf den Teppich zurück, der ihn bedeckte. Mühsam richtete er sich auf. Und dann begann er zu wandern. In dem engen Geviert des Zeltes schritt er rastlos hin und her. Er fühlte sich der Stimme beraubt. Nur die Lippen murmelten ungehörte Befehle.

Dieser ungeheure Schneefall … es war ein Eishandschuh, den Europa ihm vor die Füße warf … und den er nicht aufzunehmen vermochte.

Aber wie weit reichten Schnee und Frost? Bis in die warmen, weichen Steppen des Siedlerlandes? … Unmöglich!

So weit konnte die Macht … die Kunst des Feindes nicht gehen … Nur vorwärts! … Nur heraus aus diesen letzten Bergen! Da … jenseits der Steppe … da mußte der Sommer wieder beginnen.

Wo blieben die Flugzeuge, die ihm Meldung brächten, wie es da vorne stand? Der Schneesturm ließ keinen Boten durch …

Lauschend hob er das Ohr … da! … Ein Surren von Propellerflügeln. Er riß den Vorhang zurück und trat ins Freie. Prüfend überflog sein Auge das dunstige Himmelsgewölbe.

Da … In höchster Höhe ein Pünktchen … War’s einer von seinen Fliegern? …

Mit kaum bezähmter Ungeduld wartete er. Sein Auge fiel auf die Gruppe der Offiziere, die ihn schweigend anstarrten. Ein argwöhnischer Blick überflog prüfend die Gesichter. Sahen sie die Verzweiflung, die in ihm tobte? … Erkannten sie die Qualen, die seine Seele folterten? …

Sollten sie sehen, daß er das Letzte seiner Macht, die Herrschaft über sich selbst verloren? Mit einer schmerzhaften Anstrengung versuchte er seine Mienen zur Ruhe zu zwingen.

Der Ruf: »Flieger von uns!« drang an sein Ohr und wirkte erlösend. Noch wenige Minuten, in denen alle Aufmerksamkeit der näherkommenden Maschine galt. Dann landete das Flugzeug. Der Flieger kam, von vielen Händen gewiesen, den Abhang hinaufgeeilt. Stand vor ihm.

»Wo kommst du her?«’

»Vom Ural!«

»Wie weit reicht der Schnee?«

»Bis zum Saisan-Nor! Die Ebene des Saisan-Nor ist noch braun und weiß. Je weiter ich nach Osten kam, desto weißer wurde das Land.«

»Das Siedlerland …«

»Liegt grün in hellem warmen Sonnenschein.«

Ein Blitz zuckte aus den Augen des Toghon.

»Vorwärts!«

Weithin hallend … die Offiziere elektrisierend, drang der Ruf von seinen Lippen. Ein Ruck war durch die Gestalt des Regenten gegangen. Das alte Siegerbewußtsein kam zurück. Mit einer stolzen Geste wandte er sich zu seiner Umgebung.

»Vorwärts! In ein paar Tagesmärschen sind wir im blühenden Siedlerland. Da ist Sommer! … Da ist’s warm! … Schnell vorwärts! … Da finden wir den Gegner und schlagen ihn! Jeder Schritt bringt uns näher an das sonnige Ziel und an den Feind.«

Wie ein Lauffeuer pflanzte das Kommando sich fort.

Auf! … Vorwärts! schallte es durch die rastenden Kolonnen. Hier schneller, dort langsamer erhoben sich die lagernden Truppen. Die Formationen schlossen sich zusammen. Die müden Glieder setzten sich in Marsch. In unabsehbarem Zuge strebte die gelbe Heeresmacht von neuem gen Westen.

So ging es Stunden hindurch. Schon stand die Sonne, die an diesem Morgen mit ihnen im Osten aufgebrochen war, weit vor ihnen im Westen. Doch ihre Strahlen fehlten. Kahl und grau blieb der Himmel. Unabsehbar streckte sich das weiße Gefilde.

Die Dämmerung kam … und stärker wurde der Frost. Er preßte der Luft die letzte Feuchtigkeit aus. An den bizarren Skeletten der im vollen Sommerlaub erfrorenen Bäume bildete sich wunderlicher Rauhreif. Einzelne dicke Reifflocken fielen aus der fast windstillen Luft.

Hin und wieder zerriß ein weithin hallendes Krachen und Donnern die Abendstille. Dann war irgendwo der so plötzlich gefrorene Boden in meilenlangen Spalten auseinandergerissen.

Nur noch mühsam hielten sich die Kolonnen in Bewegung. Immer häufiger wurden die Stürzenden. Keine Hand streckte sich zu ihrer Hilfe. Da endlich kam der Befehl:

»Halt!«

Glücklich die, in deren Nähe Wald wuchs. Im Augenblick krachten die Stämme unter den Schlägen der Äxte. Um die lodernden Feuer drängten die Soldaten ihre erstarrten Glieder.

An vielen Stellen zerriß schon jetzt die Ordnung. Die kein Holz mehr fanden, verließen ihre Plätze und eilten zu den wärmeverheißenden Feuern. Die meisten, ohne sich um Ausrüstung und Waffen zu kümmern. Dicht aneinandergedrängt erwarteten sie den Morgen.

Nach endloser Nacht verriet das Grau im Osten den kommenden Tag. Fast niedergebrannt waren die Feuer, verschwunden jeder Wald, soweit er erreichbar.

Der neue Tag begann mit neuer Qual. Während die Hunderttausende vom Hochkommen des Tagesgestirns Erwärmung erhofften, nahm der Frost immer mehr zu.

Nur widerwillig, ermattet bis auf den Tod, folgten die Truppen dem Signal zum Aufbruch … soweit sie noch zu folgen vermochten. Vergeblich wurde gar mancher angerufen … vergeblich gerüttelt … Die Toten erhoben sich nicht.

Nur langsam kehrte das Leben in jene zurück, die noch die Glieder zu regen vermochten. Kaum konnten die Hände noch die schweren Waffen halten. In dichten Schneewolken fiel der Atem zu Boden. Wie Feuer brannte der kalte Stahl in den Händen.

Schwerfällig setzten die gelichteten, kaum geordneten Kolonnen sich in Bewegung. Schon nach kurzer Zeit versagten die Kräfte von neuem. Bei geringen Unebenheiten des Bodens taumelten die Marschierenden, konnten sich nicht mehr aufrechthalten und stürzten nieder. Immer größer wurden die Haufen der Nachzügler, die nach der verscheidenden Glut der verlassenen Feuerstätten schwankten und sich dort niederwarfen … zur Ruhe … die meisten zur ewigen Ruhe.

Um die Mittagsstunde war die Kälte so gestiegen, daß jeder Weitermarsch zur Unmöglichkeit wurde. Schon seit Stunden säumten die fortgeworfenen Waffen die breiten Heerstraßen. Die Hände der abgesessenen Berittenen vermochten nicht mehr die Zügel zu leiten. Führerlos zerstreuten sich die Tiere über die Ebene.

Jetzt lösten sich die letzten Bande jeder Ordnung. Es bedurfte nicht mehr des Befehles, Holz aus den Wäldern zu holen und Feuer anzuzünden. Instinktmäßig strebten die Massen von der kahlen Straße fort zu den Gehölzen. An Ort und Stelle, dort, wo die erstarrten Arme noch einen Stamm zum Fallen brachten, entzündeten sie das Holz und drängten sich in wildem Kampf ums Leben an die rettende Wärme.

Toghon-Khan ritt allein auf der verlassenen Heerstraße vorwärts. Niemand folgte ihm mehr. Die todbringende Kälte hatte alle Bande der Treue und des Gehorsams zerrissen.

Mit gebeugtem Haupte ritt er vorwärts. Er sah nicht die Haufen Sterbender und Gestorbener zu beiden Seiten der Straße. Er sah nicht die weggeworfenen Waffen. Er sah nicht die steckengebliebenen Geschütze … auch nicht die brennenden Fahrzeuge und die irrenden Tiere.

Der schneidende Wind zwang ihn, die Lider halb zu schließen. Die dunkle Glut seiner Augen war erloschen. In ihrem starren Blick lag nichts mehr von der Energie des Welteroberers, des Siegers … Es war der Blick eines Todgeweihten … eines Toten.

Ein Surren in seinem Rücken brachte Bewegung in die eisigen Züge. Die Starrheit wich. Die Augen öffneten sich. Ein leichter Glanz belebte sie. Toghon zügelte sein Roß und hob die Hand.

In gestreckten Spiralen sank das Flugschiff zu ihm nieder. Es war derselbe schnelle Kreuzer, der ihm die Meldung aus dem Ural gebracht hatte. Er hatte ihn nach rückwärts geschickt mit dem Befehl, schnellstens alle verfügbaren Dynothermmengen in Transportschiffen heranzubringen. Es hatte ihn, als er den Befehl gab, noch ein leises Fünkchen Hoffnung bewegt, mit Hilfe der wärmenden Kraft des Dynotherms den tückischen Anfall des Gegners zu parieren.

Zwar war er sich über das Wie nicht klar. Aber er klammerte sich an diese … die letzte Hoffnung. Vielleicht, daß der wärmespendende Stoff, längs der Heerstraße ausgestreut, die Kälte so weit paralysierte, daß ein Weitermarsch möglich war … Aber was wußte der Mongolenfeldherr von der unangreifbaren Gewalt seiner Gegner?

Das Flugschiff stand neben ihm. Neubelebt glitt er vom Pferd und sprang in das Schiff. Automatisch schlug hinter ihm die Tür ins Schloß. Die wohlige Wärme, die ihn hier umgab, wollte ihm im ersten Moment den Atem rauben. Zu groß war der Gegensatz zwischen dem tobbringenden Frost da draußen und der belebenden Temperatur hier drinnen.

Er sank in einen Sessel. Endlich rang sich die Frage von seinen Lippen:

»Ist der Befehl ausgeführt?«

»Er ist ausgeführt, Hoheit. Die Schiffe sind auf dem Wege.«

»Wie weit sind sie?«

»Vor morgen werden sie nicht hier sein können.«

Mit einem Sprung stand Toghon-Khan vor dem Sprechenden.

»Morgen? … Morgen! … Heute noch müssen sie hier sein!«

Der Angeredete erblaßte vor den wutblitzenden Augen des Regenten. Nur stotternd kamen die Worte seiner Antwort.

»Zu lang … zu lang ist der Weg … Hoheit … Die Arbeit der Schiffe, Dynotherm zu streuen, muß schon weit hinten an der Ostgrenze der Dsungarei beginnen …«

Die Zähne des Regenten gruben sich tief in seine Lippen.

So weit … reichte die Hand des Feindes?

»Die Hälfte muß es dort tun! Die anderen Schiffe sofort nach vorn! … Bevor die Dämmerung kommt, müssen sie hier sein! … Geben Sie telegraphischen Befehl. Unser Schiff mit voller Kraft nach vorn zum Saisan-Nor! … Mittelhöhe!«

Langsam stieß das Schiff vom Boden ab. Vom Stern des Fahrzeuges aus sah der Regent auf die verlassene Straße. Kein lebendiges Wesen auf ihr. Nur sein Pferd, das treue Tier, stand regungslos mit erhobenem Haupte, dem wegziehenden Schiffe nachschauend. Durch die dichten Scheiben hindurch vermochte das Ohr des Regenten nicht das laute, klagende Wiehern zu hören. Sein Auge las es aus den bebenden Lippen des Tieres. Sein Auge blieb darauf geheftet, bis es seinen Blicken entschwand … Die letzte Treue, die sich ihm zeigte.

Mit schweren Schritten drehte er sich um und trat an den Bug des Kreuzers. Der hatte jetzt Höhe gewonnen und schoß in schneller Fahrt vorwärts. Das Auge des Regenten haftete am Außenthermometer. Mit düsterem Gesicht verfolgte er das langsame, aber unaufhörliche Fallen des Zeigers.

40 Grad … 40 Grad unter Null! … So stand der Zeiger, als er ihn das erstemal betrachtete … Jetzt war er schon auf 46 gesunken. Kilometer auf Kilometer stieß das Schiff nach vorn … und mit jedem Kilometer fiel der Zeiger.

Schon lag in nebliger Ferne der Kessel des Saisan-Nor. Sprunghaft fiel jetzt der Zeiger. Vom langen Hinstarren schwammen die Augen des Toghon-Khan. Mit diesem furchtbaren Sinken des Zeigers sank jede Hoffnung in ihm. Ohne zu denken … ohne zu fühlen, starrte er auf den Apparat.

Ein schwerer Stoß, der das Schiff seitwärts traf, brachte ihn ins Wanken. Er packte den Fenstergriff und hielt sich aufrecht. Das Schiff lag schwer nach Backbord über. Er hörte wie durch Nebel, wie der Kommandant den Befehl gab, höher zu steigen. Er glaubte die Erschütterung der mit äußerster Kraft arbeitenden Triebschrauben zu spüren.

Dann drehte das Schiff in neuem jähen Ruck ganz nach Backbord um.

»Volle Kraft rückwärts!«

Der Befehl des Kommandanten klang an sein Ohr.

Er drehte sich um … und wollte … wollte den Befehl widerrufen. Sein Blick fiel auf die angstverzerrten Gesichter der Mannschaften. Zu spät!

Das Schiff gehorchte nicht mehr … weder dem Steuer noch den Propellern. Wie ein Fetzen Papier vom Wirbel gegriffen, wurde es widerstandslos nach vorwärts gerissen.

Wie in schwerer Dünung schwankte das ächzende Schiff. Bald wurde es tausend Meter in die Höhe gerissen, bald schoß es jäh in die Tiefe, als solle es an der Erdkruste zerschellen.

Ein neues fremdartiges Geräusch übertönte das Tosen der Elemente. Starr standen die Insassen. Ihre Hände umklammerten krampfhaft jeden greifbaren Stützpunkt.

Es klang wie das Prasseln von Schrot gegen Stahl. Es klang, als ob Millionen von Schrotkörnern gegen Stahlschaufeln geschleudert würden … wie schwerer Hagel, der auf ein Wellblechdach prasselt.

Es hämmerte auf das Hirn des Toghon-Khan … hämmerte ihm die Gewißheit des unabwendbaren Unterganges ein … und da hatte er sich wiedergefunden … ganz wiedergefunden.

Mit voller Klarheit übersah er Entstehen und Ende der Katastrophe. Sein geschulter Geist beherrschte auch die physikalischen und technischen Grundbedingungen der Geschehnisse um ihn. Mit Klarheit sah er jetzt alle Handlungen seines Gegners sich in logischer Folge entwickeln.

Der hatte das Mittel, das dem Dynotherm entgegengesetzt wirkte! Das Mittel, das ebenso ungeheure Energiemengen band, wie das Dynotherm sie freimachte. Der hatte dann überall im Zuge des einbrechenden Heeres gestreut, wo immer nur Wasser war.

So entstanden jene Kältepole, die infolge der Zusammenziehung der darüber lagernden Luft barometrische Minima ergaben, denen die entferntere Luft von allen Seiten zuströmen mußte. Dabei gab es eine Ausdehnung der zuströmenden Winde, die naturnotwendig mit einer Abkühlung verbunden war.

So kamen jene Schneefälle zustande. So ergab sich jener Maischnee in Peking. So der Schneesturm des vorgestrigen Tages. So die Kälte.

Das unaufhörliche Fallen des Thermometers, das jetzt auf 170 Grad unter Null stand, bewies ihm überzeugend, daß das Schiff einem dieser extremen Kältepole zugerissen wurde. Der große Saisan-See mußte in der Tat nach Einstreuung dieses Mittels einen Kältepol von ungeheuerster Stärke ergeben.

Dieser unwiderstehliche rasende Luftstrom, dieses Prasseln der Propeller, die gegen die flüssig werdende und in Tropfen niederfallende Luft anschlugen, gaben ihm die Gewißheit. Es war so weit!

Hier stürzte die Atmosphäre selbst verflüssigt zu Boden. Hier drang von allen Seiten her die Luft mit Riesengewalt wie in einen luftleeren Raum ein und riß jeden Körper, der sich in ihr befand, bis zum Kältepol hin.

Mit vollkommener Klarheit des Geistes erwartete Toghon-Khan das Ende.

Ausgeträumt der Traum vom besiegten Abendland! … Verweht die Spur des Dschingis-Khan!

Die Hände an die Fenstergriffe geklammert, starrte er dem Untergange entgegen.

Noch einmal erhob sich das Schiff. Die Gebirgskämme im Osten des Saisan-Nor schufen ein komprimiertes Luftkissen, welches das kraftlose Fahrzeug nach oben schleuderte. Dann, über der endlosen gefrorenen Fläche des riesigen Sees, senkte es die Spitze nach unten …

Dann stellte es sich jach auf den Kopf und stürzte mit rasender Wucht auf das Eismassiv des bis zum Grund gefrorenen Sees. Tief drang sein metallener Sporn ein. Ein Funkenstrom umsprühte das einhauende Metall. Der Zünder für die fürchterliche Fackel, die im selben Augenblick gegen den Himmel stand. Sprühend verbrannte das Metall des Schiffsrumpfes im flüssigen Sauerstoff … Verbrannte das Schiff mit allem an und in ihm in Sekunden zu nichts …

Dann ging die Natur ihren Gang weiter, wie es der Meister befohlen … bis der Tag sich neigte … und die Nacht die Fesseln löste.

Linder wurde der Frost. Die Macht des Sturmes ließ nach. Dichte Nebel krochen über die eisbedeckte Erde … und sie hoben sich … und dehnten sich … und stiegen an und fanden milde Südwinde und fielen nieder in leisen, warmen Tropfen und weckten das tote Land.

Der Schnee schmolz. Von den Bergen schossen die Wasser. Krachend fuhr der Frost aus den gebannten Stämmen. Immer stärker wurde das Wehen des Südwindes, immer größer seine Wärme. Wie im Spiel zerbrach er die Decke des Saisan-Sees. Wo lebendige Wesen noch ihr Leben bewahrt, frohlockten die Herzen.

Der Morgen kam und mit ihm die Sonne. Sie fand ein Werk getan, in den Stunden einer Nacht ein Werk vollbracht, das ihre Kraft zu leisten nicht vermag in den Tagen eines Mondes.

Ein Werk, getan durch eines Menschen Geist!

*

Das Siedlerland war gerettet, das Abendland vom Untergang bewahrt. Mit Sturmesschnelle eilte die Kunde von der Katastrophe im Herzen Asiens über die ganze Welt hin.

Verhältnismäßig lange blieb man in Peking selbst über das Schicksal der großen dsungarischen Armee im ungewissen. Im tödlichen Froste waren auch die Formationen der Nachrichtentruppen zugrunde gegangen, die sonst wohl jene Schreckenskunde in den Äther gefunkt hätten. Und die es sonst noch wußten, die der Katastrophe entronnen waren, die wollten nicht, daß die schlimme Botschaft früher als sie selbst in das Gelbe Reich kam.

Als Toghon-Khan in jenen letzten Stunden rastlos vorwärtsstürmte, nur noch von dem einen Wunsche beseelt und getrieben, das warme Siedlerland zu erreichen, sein Heer der todbringenden Umarmung des Frostes zu entreißen, da waren die beiden Besten und bis zu jener Stunde die Treuesten seiner Getreuen zurückgeblieben. In jener Stunde sahen Batu-Khan und Ugetai-Khan den Stern des Regenten rettungslos sinken, und alter, so lange mühsam gedämpfter Ehrgeiz gewann neue Kraft in ihren Herzen.

Als Toghon-Khan auf der Straße nach dem Saisan-Nor sein Roß verließ und Schutz vor der grimmigen Kälte im Flugschiff suchte, da flog Ugetai-Khan schon in einem anderen schnelleren Kreuzer der dsungarischen Armee gen Osten. Mit höchster Maschinenkraft jagte das mächtige Schiff über die verschneiten Ebenen und Gebirge. Es entrann dem grimmigen Winter, den Georg Isenbrandt hier der einbrechenden gelben Armee durch die Kraft des Antidynotherms bereitet hatte. Am Abend des gleichen Tages, der den Tod des Regenten sah, landete dies Schiff in Schehol.

Noch wußte man hier in der Stille der kaiserlichen Gärten nichts von der Katastrophe der gelben Wehrmacht. Als Vertrauter des Regenten und als siegreicher Armeeführer wurde Ugetai-Khan empfangen. Leicht, fast zu leicht wurde es ihm gemacht, sich des unmündigen Kaisersohnes zu bemächtigen. Den Thronerben, den Knaben des Schitsu an seiner Seite, raffte er die mongolischen Regimenter Pekings und der nächsten Umgebung zusammen.

Als endlich die Kunde vom Untergange der großen Armee und vom Tode des Regenten auch nach Peking kam, hatte Ugetai-Khan nicht nur diese Truppen fest in der Hand, sondern er war auch der notorische Herrscher der größeren Hälfte des Gelben Reiches. Da war er in kaum zweimal vierundzwanzig Stunden an jenes Ziel gelangt, das ihm früher das höchste und unerreichbare zu sein schien.

Nur einen Gegner hatte seine Macht: Auch Batu-Khan war der Katastrophe entkommen – später als Ugetai-Khan, zu spät, um vor ihm in Peking zu sein und dort seiner Macht Abbruch tun zu können. Aber früh genug, um nach dem Norden zu gehen und dort die mongolischen Kerntruppen um sein Banner zu scharen. Der größere Teil des Landes gehorchte dem Ugetai, aber die stärkere, die am besten disziplinierte Truppenmacht war in der Hand des Batu-Khan.

Wem würde die Macht schließlich verbleiben? Wer von diesen beiden alten und kampferprobten Generalen würde die Regentschaft des Gelben Reiches führen, bis einmal der Erbe des Schitsu sich selbst die Krone aufs Haupt setzte? Noch hatte das Reich ja einen äußeren Feind: das vereinigte Europa, dem Toghon-Khan so trotzig den Fehdehandschuh hinwarf.

Der Friede mit den Weißen mußte gemacht werden, und Ugetai war es, der ihn als der vom größten Teile des Landes anerkannte Regent schloß.

Ein schneller und billiger Frieden konnte es dank der Mäßigung der Sieger werden. Gegen den Angriff, gegen die Bedrohung ihrer blühenden Siedlungen hatten sich die Weißen mit allen Mitteln zur Wehr gesetzt, welche der Erfindungsgeist eines der ihrigen ihnen in die Hand gab. Nachdem die Entscheidung gefallen, der feindliche Ansturm im Frosttod gescheitert war, wurden die Friedensbedingungen milde gestellt.

Das Ilidreieck, jenes strategische Glacis, das die Arbeiten Isenbrandts so lange gestört und bedroht hatte, fiel an Europa zurück. Außerdem gab es nur geringfügige Grenzberichtigungen. Georg Isenbrandt sorgte dafür, daß die Gletscherfelder, die er längs der Grenze für seine Arbeiten benötigte, ihm auch durch den Friedensvertrag zur Verfügung gestellt wurden. Aber das waren unbewohnte Eiswüsten, deren Verlust das gelbe Riesenreich kaum empfand. Darüber hinaus wurde auch von weißer Seite beim Friedensabschluß sorgfältig alles vermieden, das etwa Keime zu neuen Kriegen abgeben konnte. Jede Kriegskostenentschädigung wurde vermieden, und Ugetai beeilte sich, diese günstigen Bedingungen so schnell wie möglich anzunehmen.

Er tat es um so mehr, als die Dinge in China selbst seine ganze Tatkraft erforderten. Die alte republikanische Bewegung im Süden des Reiches, vom Kaiser Schitsu mit Gewalt niedergehalten, von Toghon-Khan mit brutaler Gewalt niedergeschlagen, flammte jetzt mit neuer Kraft auf. Ugetai besaß nicht die Macht, ihr entgegenzutreten, denn von Tag zu Tag wurden seine eigenen Kräfte durch die ständig wachsende Macht des Batu-Khan in Urga gebunden.

Mit der Stoßkraft des Gelben Reiches nach außen hin war es für lange Zeit vorbei.

Am 8. August war die große Armee an der dsungarischen Pforte zugrunde gegangen. Noch in den letzten Augusttagen konnte Ugetai von Peking aus den Frieden mit Europa schließen. Aber schon in der ersten Septemberwoche brach der Bürgerkrieg im Gelben Reiche aus. Der Süden erklärte sich zur unabhängigen Republik. Vom Norden her aber trat Batu-Khan gegen Peking hin seinen Vormarsch an, der erst nach langen, langen Monaten voller Kämpfe und Gemetzel mit dem Tode des Ugetai und der Herrschaft des Batu-Khan endigen sollte.

*

Schneller als nach China selbst war die Kunde von der Frostkatastrophe nach allen anderen Erdteilen gedrungen. Unfaßbar war es zunächst aller Welt erschienen, daß Menschenkraft die Elemente der Natur in so unerhörter Weise meistern konnte.

Als dann die Wahrheit unzweifelhaft zutage lag, da erstarkten die verzagten Herzen der weißen Menschen. Jener eisige scharfe Sturm, der dort oben in Asien seinen Anfang nahm, schien um den ganzen Erdball zu fahren. Mit einem Schlage war die an vielen Orten so schwüle, unheilschwangere Atmosphäre gereinigt. Wo immer die Herrschaft der Weißen zu wanken drohte, wurde sie durch jenes Ereignis wieder gestützt und gefestigt.

Und diese Stützung tat bitter not. Denn das gewaltige Feuer, das die überlegene Staatskunst des Toghon-Khan auf der ganzen Erde gegen die weiße Rasse entfacht hatte, war nicht so leicht zu dämpfen. Jetzt rächten sich die Fehler vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte bitter an den Weißen. Die europäischen Reiche, die der schwarzen Rasse zuerst die Waffen in die Hand gegeben und sie die Kriegskunst gelehrt hatten, wurden jetzt am schwersten von diesen allzu gelehrigen Schülern geschlagen.

Zwar hatte man seit dem engeren Zusammenschluß Europas die militärische Ausbildung der Schwarzen eingeschränkt, aber ganz entbehren konnte man sie des Klimas wegen nie. Wohl war es seit Jahrzehnten ein Grundsatz, die schwarzen Hilfstruppen nicht mehr in der vorgeschrittensten Kriegstechnik auszubilden, sondern nur noch nach Art einer Polizeitruppe zu organisieren. Die furchtbaren Kämpfe im französisch-afrikanischen Kolonialreich hatten schon in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zur Annahme dieses Prinzips geführt.

Während das rassestolze England auch in seinen schwersten Nöten die Inferiorität der farbigen Rassen in Theorie und Praxis stets betonte und aufrechterhielt, hatte Frankreich ja die selbstmörderische Politik des alten Imperium Romanum übernommen. Es hatte die Farbigen seiner Kolonien den Weißen gleichgestellt und seine Rasse verdorben.

Diese Fehler waren nie wieder ganz gutzumachen, und jetzt besiegelte der allgemeine afrikanische Aufstand das Schicksal der europäischen Kolonien dort.

Wenn auch die in Afrika vorhandene schwarze Intelligenz und das dortige schwarze Kapital zunächst nicht ausreichten, alle bisher von Weißen geführten Betriebe zu übernehmen und selbst zu leiten, so gelang es doch, sehr schnell Kapital und Intelligenz aus Amerika herüberzuziehen, und zwar um so leichter, weil sie dort infolge des mißlingenden Aufstandes in ihrer Entwicklung gehemmt waren.

In schnellem, unwiderstehlichem Sturmlauf hatten die schwarzen Heere in Afrika die geringfügigen weißen Streitkräfte überrannt und sich zu Herren der Lage gemacht. Alles, was die schwarze Rasse einst in der Kriegsschule der Weißen gelernt hatte, kehrte sich jetzt gegen die Lehrer. Bemerkenswert war die Disziplin, die dabei auch von schwarzer Seite gewahrt wurde. Zwar der instinktive Blutdurst der Negerheere kam bei den Massakern voll zum Ausbruch und steigerte sich stellenweise bis zum Blutrausch. Aber die Plünderungen blieben in Grenzen, und weitere Zerstörungen, namentlich der großen Industriewerke, wurden durch eine vielfach drakonische Manneszucht verhindert.

Was in diesen Werken doch vernichtet wurde, ging zum überwiegenden Teile durch die Wirkung der Kampfmittel und bei den gerade in den Werken selbst stattfindenden Kämpfen zugrunde.

Im Laufe weniger Tage war ganz Afrika in der Hand der Afrikaner. Und nun zeigte sich sofort die Notwendigkeit, dem schwarzen Industrieproletariat dort Brot und Arbeit zu schaffen. Die neuen Machthaber mußten wirtschaftlich genau an derselben Stelle fortfahren, wo die früheren weißen Herren aufgehört hatten. Soweit die Werke bei den Kämpfen betriebsfähig geblieben waren, wurden sie von der schwarzen Industriebevölkerung aus Selbsterhaltungstrieb so gut es ging in Gang gehalten. Soweit sie zerstört waren, suchte man so schnell wie möglich und mit allen Mitteln Kapital und Intelligenz aus der schwarzen Bevölkerung Amerikas zu ihrer Wiederherstellung heranzuziehen. Aber in Ermangelung einer einheitlichen Organisation war das Ganze reichlich chaotisch. Man mußte überall improvisieren, und es ließ sich mit Sicherheit voraussehen, daß die Entwicklung bis zu einer Wiederherstellung normaler Verhältnisse lange Zeit in Anspruch nehmen würde.

Um so mehr, als die politischen Machtverhältnisse in Afrika durchaus strittig waren. Zwar die weißen Herren waren erschlagen oder verjagt. Aber die seit so vielen Jahren von Idealisten geplanten schwarzen Vereinigten Staaten von Afrika standen noch in weitem Felde. Einstweilen gab es verschiedene große Reiche, deren Herrscher sich napoleonischen Träumen hingaben.

Auch die großen Rassenunterschiede in Afrika selbst bildeten für die Einigung des ganzen Kontinents ein Hindernis. Die nordafrikanische semitische Bevölkerung verspürte keine Neigung, mit der hamitischen Negerbevölkerung zusammenzugehen. Im äußersten Süden des Erdteiles mit seiner starken und in Großstädten konzentrierten weißen Besiedlung gelang es der weißen Rasse sogar, von diesen Städten aus die Herrschaft in den Bezirken der alten Burenrepubliken wiederzugewinnen. Nur das eine ließ sich mit untrüglicher Sicherheit voraussagen, daß der schwarze Aufstand dem afrikanischen Kontinent auch für die Zukunft schwere und blutige Kämpfe bringen würde.

Eigenartig wirkten sich die afrikanischen und amerikanischen Verhältnisse aufeinander aus. In Amerika waren die Dinge anders gegangen als in Afrika. Die Kunde von jener märchenhaften, kaum zu glaubenden Vernichtung der großen gelben Armee hatte in Amerika dem an sich schon gut organisierten Widerstand der weißen Bevölkerung verstärkte Schlagkraft verliehen. Restlos, blutig und bitter war hier die Niederlage der aufständischen Schwarzen, für absehbare Zeit jede Hoffnung auf volle Gleichberechtigung mit der weißen Rasse erstickt. Unter solchen Verhältnissen mußten aber die Aussichten und Möglichkeiten, sich in Afrika erfolgreich und vollkommen frei betätigen zu können, für die regeren Elemente der schwarzen amerikanischen Bevölkerung einen großen Anreiz zur Auswanderung bieten. Es war hauptsächlich die jüngere Generation, die der Reiz der neuen Verhältnisse und des besseren Fortkommens nach Afrika lockte, während die Alten und Stumpfgewordenen in der Union blieben.

Die so nach der Niederschlagung des amerikanischen Aufstandes sofort stark einsetzende Auswanderung versprach der amerikanischen Union in absehbarer Zeit eine Entlastung vom Druck der schwarzen Bevölkerung. Freilich bedeutete diese Auswanderung auch einen starken Aderlaß an Kapital und an billigen schwarzen Arbeitskräften. Eine Wirtschaftskrise für die Union war unvermeidlich. Doch ihr Ende ließ sich voraussehen, da die Isenbrandtschen Erfindungen auch im Gebiete der amerikanischen Union neue und bessere Lebensmöglichkeiten für die weiße Rasse schaffen konnten.

Doch dieser Verlauf der Dinge ergab sich erst in Wochen und Monaten. Im Anfang war die schwarze Bewegung auch in der amerikanischen Union gefährlich genug, und erst nach schweren und erbitterten Kämpfen konnte die Ordnung wiederhergestellt werden. Besonders gefährlich wurde sie da, wo das plündernde und raubende schwarze Proletariat durch weißes Gesindel ähnlicher Qualität indirekt unterstützt wurde.

In Frisko war die Bewegung zunächst verhältnismäßig harmlos verlaufen. Die Organisation des Weißen Ordens hatte hier dank umfangreicher Vorbeugungsmaßnahmen sofort mit aller Schärfe und großem Erfolge eingegriffen. So wurde es möglich, die regulären Truppen von dort nach und nach fortzunehmen und in bedrohteren Staaten zu verwenden. Aber der Schutz der Stadt lag jetzt fast ausschließlich in den Händen der freiwilligen weißen Organisation.

Es war in den ersten Tagen des August. Eine schwüle, drückende Hitze lag über Frisko. Selbst auf dem hochgelegenen San Matteo vermochte die leichte Seebrise nur wenig Kühlung zu bringen.

Auf der meerwärts gewandten Terrasse von Garvin Palace saßen Francis Garvin und Helen unter einem leichten Leinenzelt. Helens Hände spielten mit dem Papierstreifen des Wellentelegraphen. Das Schlagen einer Standuhr ließ sie aufhorchen.

»Vier Uhr, Pa! Wellington muß schon in Frisko sein.«

»Er muß jede Minute kommen!«

»Mir scheint, Pa, deine Ungeduld nach Wellington ist größer als meine. Die Tatsache, daß sein Name jetzt in aller Munde ist, daß die Zeitungen auch außer der Chikago-Preß fast täglich über ihn schreiben, scheint dir gewaltig zu imponieren.«

»Gewiß, Deary! Das gestehe ich unumwunden ein. Ich hätte das, was er hier in den letzten schweren Zeiten geleistet, nicht von ihm erwartet. In ihm ist eben noch mehr als das übliche, in jedem Journalisten steckende Stück von einem Politiker, Diplomaten und Militär vorhanden. Ich sehe nicht ein, weshalb er nicht auch später noch eine Rolle in der Politik der Union spielen sollte. Er hat den Kopf zu Größerem!«

»Nur nicht! Pa … nur nicht! … Ich will keinen Politiker zum Mann. Die haben alle keine Zeit, an ihre Frau und ihre Familie zu denken.«

»Du bist eigennützig, Helen! Was ich sagte, war mein voller Ernst. Es wäre schade und für unser Land zu bedauern, wenn Wellington Fox seine große Begabung nicht voll auswirken lassen könnte.«

»Aber Pa, ist das so? … Du übertreibst wohl ein bißchen?«

»Keineswegs, Helen! Ohne seine Fähigkeit, die Fäden, die sich vom Gelben Reich über die ganze Erde spannten, zu entdecken, hinter die Geheimnisse der feindlichen Organisationen, auch der Schwarzen, zu kommen, wäre die Gefahr überraschend über uns hereingebrochen. Und ohne seine Tatkraft und Geschicklichkeit bei der Organisierung unseres Widerstandes wäre der Kampf wohl nicht so schnell beendet worden.«

»Hör auf, Pa, mit deinen Lobpreisungen. Ich erröte für Wellington. Er würde dich sicher auslachen, wenn er dich so hörte. Doch halt! Ein Auto! … Ich sehe ein Auto in den Park einfahren.

Wellington ist darin. Ich erkenne ihn. Er winkt mit dem Taschentuch. Der dort neben ihm ist sicher sein Freund Lowdale, den er sich aus Turkestan eingeladen hat. Er wurde in den Kämpfen mit den Kirgisen schon früh verwundet.«

»Lowdale?« fragte Mr. Garvin. »Der Name … Ist das jener Lowdale, der einst Florence …«

»Ja, Pa!«

»Dann ist es wohl gut, daß sie eben fort ist. Ein Zusammentreffen hier wäre sicher für alle peinlich gewesen.«

»Ja, Pa! … Doch da sind sie schon.«

Sie eilte dem Wagen zu. Mit einem großen Sprung stand Wellington Fox auf ebener Erde. Dann fing er sie in seinen Armen auf, und ein halbes Dutzend Küsse bekräftigte die Freude des Wiedersehens.

»Immer wieder wie ein Brausewind!« schalt Helen, während sie sich aus seinen Armen losmachte. »Verzeihen Sie ihm, Mr. Lowdale!«

Sie reichte dem Gaste die Hand, während Wellington Fox zu Francis Garvin trat und angelegentlich mit ihm sprach.

»Willkommen in Garvins Palace! Ich will Sie gleich mit meinem Vater bekanntmachen, der … was ist denn, Pa?«

Die eben noch so heiteren Züge Garvins zeigten plötzlich einen tiefen Ernst.

»Schlimme Nachrichten, Helen! Unsere Freude wird nur kurz sein.«

»Was ist, Wellington?«

Sie eilte zu ihrem Verlobten und drängte sich an ihn.

»Unruhen in der Stadt, Helen! Der Pöbel aller Farben … hauptsächlich der Schwarzen, ist mobil. Irgend jemand hat es verstanden, die schwarze Plebs unter Vorspiegelung politischer Ziele noch einmal zum Kampfe gegen die Weißen aufzuhetzen. In Wirklichkeit handelt es sich darum, daß einige Drahtzieher, ehe sie den heißen Boden der Union verlassen, sich noch die Taschen füllen wollen.

Schwere Stunden … vielleicht Tage … stehen bevor. Ich riet deinem Vater, sich mit dir sofort für alle Fälle auf eure Jacht zu begeben.«

»Und du?« fragte Helen besorgt.

»Ich … ich, Helen … wenn’s wo etwas Interessantes zu sehen gibt, muß ich doch der Chikago-Preß Meldungen schicken können.«

»Ach, Wellington! Wenn du nur deshalb hierbliebst, wäre ich ohne Sorge. Aber leider wirst du das nicht tun«, ihre Stimme zitterte, sie kämpfte mit unterdrückten Tränen. »Ganz sicher wirst du immer da sein, wo es am schlimmsten zugeht …«

»… und kräftig mittun! Der Tanz wird gleich beginnen. Ich kam nur hierher, um euch zu warnen und dich zu küssen. Unser Wagen wartet, um uns sofort nach der Stadt zurückzubringen. Im Hafenviertel wird es inzwischen schon losgegangen sein. Der Hauptstoß richtet sich gegen Nob Hill, das Millionärsviertel …«

»Nob Hill?« Sie drückte erschrocken die Hand aufs Herz. »Oh, die arme Florence! Vor kurzem noch war sie hier. Eine Viertelstunde früher hättet ihr sie hier getroffen.«

»Verfl…!« preßte Fox durch die Zähne und warf einen Blick auf seinen Begleiter.

Averil Lowdale war erblaßt. Trotz seiner äußeren Unbewegtheit war seine Aufregung unverkennbar. Ein düsteres Feuer brannte in seinen Augen.

Fox hatte ihn sofort begriffen.

»Du siehst, Helen, daß wir sofort zurück müssen.«

Er wandte sich zu Francis Garvin.

»Sie werden sich unverzüglich mit Helen auf Ihre Jacht begeben? Das Bewußtsein, daß Sie mit Helen außer Gefahr sind, würde mich sehr beruhigen.«

»Ich werde Ihrem Wunsch willfahren, Mr. Fox, obwohl es mir schwer fällt, vor dieser Kanaille aus Garvins Palace zu fliehen.«

»Danke, Mr. Garvin! Leb wohl, Helen!«

Er zog sie an sich und küßte ihr die Tränen von den Wangen.

»Keine Angst, Helen! Du hast mich so oft Unkraut gescholten, daß du jetzt auch an das Sprichwort von jenem edlen Kraut glauben mußt.«

»Wellington! … Wellington!«

Helen sah unter Tränen lächelnd ihrem Verlobten nach. Dann hörte sie den Wagen anfahren. Noch ein Winken der Insassen, und dann war er um eine Wegbiegung verschwunden.

Während die Hauptmasse des aufgehetzten Pöbels sich noch in wechselvollem Kampfe mit den weißen Stoßtrupps beim Plündern der Läden in den großen Geschäftsstraßen aufhielt, war eine offenbar besonders gut dressierte Gruppe, die unter einem außergewöhnlich gerissenen Führer zu stehen schien, bereits ohne Zeitverlust und ganz überraschend durch unbewachte Seitenstraßen in das Viertel von Nob Hill eingebrochen. Bereits hatten sie fast ungehindert, nur mit vereinzeltem Widerstand der Bewohner kämpfend, eine Reihe reicher Privathäuser ausgeräumt. Die Kostbarkeit ihrer Beute sprach für die Richtigkeit ihres Planes, der nach den Anweisungen des Führers streng systematisch durchgeführt wurde.

Erst als sie sich dem Hause von John Dewey näherten, weigerten sich die Farbigen aus der Bande, hier mitzumachen. Nach kurzem, erregtem Wortwechsel trennte sich die Gesellschaft. Die meisten Farbigen zogen weiter, während der Rest mit dem weißen Gesindel in Deweys Haus eindrang.

Das verschlossene Tor war schnell erbrochen. In der großen Halle des Erdgeschosses trat ihnen John Dewey entgegen, während eine kleine Gruppe Bedienter sich ängstlich im Hintergrunde verhielt.

»Was soll das? … Was wollen Sie hier?«

Drohend aufgerichtet stand er vor den Eindringlingen. Seine Augen schossen zornige Blitze.

Einen Augenblick stutzte der Haufe.

»Einen kleinen Zehrpfennig für die Reise!« erscholl es da aus dem Hintergrunde.

Dewey richtete seine Augen auf den Sprecher.

»Was? … Sie, Mr. Cameron? … Sie hier unter diesen Räubern, Plünderern?«

»Sehr wohl, Mr. Dewey!«

Collin Cameron war ein paar Schritte vorgetreten und stand dicht vor dem Hausherrn. Mit einem kalten Hohnlächeln weidete er sich an der grenzenlosen Überraschung Deweys. Die Maske des Gentlemans war von ihm abgefallen. Sein Gesicht war das des großen Verbrechers.

»Sehr wohl, Mr. Dewey! Nachdem unsere gemeinsamen Transaktionen nicht den gewünschten Erfolg gehabt haben, sehe ich mich genötigt, meinen Teil am Geschäfte zu liquidieren. Da von dem bankrotten Haupthause in Peking nichts zu erwarten ist, muß ich mich an den noch zahlungsfähigen Sozius … an das Haus Dewey halten … Da ich für Schecks in meiner augenblicklichen Lage keine Verwendung habe, möchte ich Sie ersuchen, die Rechnung in bar zu begleichen.«

John Dewey stand starr. Mit einem Blick unsäglicher Verachtung maß er den Gegner. Collin Cameron hielt den Blick kühl lächelnd aus.

»Mit Rücksicht auf unsere früheren angenehmen Beziehungen bin ich bereit, die Angelegenheit kulant zu erledigen. Ich wünsche nichts, als den Schmuckkasten Ihrer Tochter … Sie selbst waren ja stets ein Verächter des glitzernden Tandes … Aber auch auf diesen Kasten würde ich sogar verzichten, wenn Sie mir den Preis dafür, den ich billig mit zehn Millionen Dollar taxiere, in bar erlegen … Sie sehen, ich bin bescheiden.«

Dewey hatte die höhnische Suada Collin Camerons zunächst mit beherrschter Ruhe angehört. Erst als der Name seines Kindes fiel, stieg eine dunkle Röte in sein Gesicht. In dem Augenblick, in dem Collin Cameron seine Worte mit einer ironischen Verbeugung schloß, stürmte er mit geballten Fäusten auf ihn los.

»Hund! … Hund, du …!«

Ein schallender Schlag seiner Rechten traf die Wange Collin Camerons.

Im selben Augenblick war Dewey von einem Dutzend kräftiger Arme gepackt und zu Boden geschleudert. In rasender Wut hatte Collin Cameron eine Schußwaffe gezogen und zielte auf den Daliegenden. Im letzten Augenblick besann er sich und steckte sie mit einem Fluche wieder zu sich.

»Vorwärts!« rief er seinen Kumpanen zu. »Nehmt, was ihr findet!«

Mit schnellen Sprüngen eilte er allen voran die Treppe empor. Während die meisten seiner Begleitung sich in den ausgedehnten Räumen zerstreuten, schritt er mit sicherer Ortskenntnis nach den Zimmern von Florence.

Durch den Lärm aufmerksam geworden, trat sie ihm an der Tür entgegen. Fassungslos sah sie auf Collin Cameron und die wüsten Gestalten seiner Begleitung.

»Was ist? … Was geht hier vor? … Wo ist mein Vater?«

Mit tiefem Erblassen wandte sie sich an den durch sein elegantes Äußere von der übrigen Bande so merkwürdig abstechenden Cameron.

»Ihren Schmuckkasten, Miß Dewey … Etwas schnell, wenn ich bitten darf. Wir sind in Eile!«

»Mein Vater! … Wo ist mein Vater? … Sie haben ihn getötet!«

Mit einem Schreckensschrei suchte sie an Collin Cameron vorbeizukommen, um nach unten zu eilen.

»Halt! Hiergeblieben! Ihrem Vater ist nichts geschehen … Zeigen Sie uns, wo Sie Ihren Schmuck verwahren, und alles ist in Ordnung!«

Mit einem lauten Schrei »Vater!« taumelte Florence zurück.

Wie im Nebel sah sie plötzlich Collin Cameron von hinten niedergerissen werden. Sie fühlte, wie ein Arm sie umschlang. Eine ihr so wohlbekannte Stimme drang an ihr Ohr.

»Florence! Ich bin bei dir! … Hierher, Kameraden! … Hierher!«

Vom Erdgeschoß drang der Knall mehrerer Schüsse nach oben. Für die Plünderer in den Räumen ein Signal, schleunigst die Flucht zu ergreifen. Auch Collin Camerons Begleiter waren im Augenblick verschwunden, ohne sich um den Führer zu kümmern, der halb betäubt am Boden lag. In den unteren Räumen und im Garten entspann sich zwischen den flüchtenden Banditen und dem vordringenden weißen Stoßtrupp ein reguläres Feuergefecht. Alle Aufmerksamkeit der Befreier konzentrierte sich hierhin.

Der Lärm dieses Kampfes drang auch nach oben und weckte Collin Cameron aus seiner Betäubung. Er öffnete die Augen und sah um sich. Schnell hatte er die Situation erfaßt. Er kannte das Haus von früher her gut und wußte, daß von Florences Zimmern ein offener Balkon direkte Verbindung mit dem Garten hatte. Einmal aus dem Hause, würde er sich unter die weißen Stoßtrupps mischen und sich bei Gelegenheit unbemerkt entfernen.

Er erhob sich und trat durch die Tür in das benachbarte Zimmer. Blitzschnell glitt sein Blick überall prüfend umher. Vielleicht konnte er den Aufbewahrungsort des Schmuckes doch noch im letzten Augenblick entdecken. Da sah er durch die halbgeöffnete Tür im dritten Raum die Gestalt eines Mannes, der in seinen Armen Florence Dewey hielt.

Er stutzte und blieb lautlos stehen. Da … ein Zittern ging durch seine Glieder. Er erkannte Averil Lowdale, den Sohn des Mannes, der ihm die Lordschaft Lowdale geraubt.

Nur einen kurzen Moment, und er hatte die Ruhe wiedergewonnen, hob die Schußwaffe, zielte sorgsam und drückte ab. Mit einem Sprunge war er an der Balkontreppe. Mit wenigen Sätzen stand er im Garten und eilte um das Haus der Straße zu.

Da knallte es hinter ihm. Er fühlte, wie eine Kugel seinen Rücken streifte. In rasender Eile stürmte er weiter. Noch mehr Schüsse hinter ihm, doch keine Kugel traf ihn mehr.

*

Dort, wo die Havel das Spandauer Gemünd verläßt und sich zum mächtigen See weitet, lag an den Hängen des Ostufers das Besitztum Georg Isenbrandts. Gleich von der Uferstraße aus stieg das Gelände hier scharf in die Höhe, und das geräumige Landhaus lag wohl fünfzig Meter höher als der Fluß. Ein weiter Garten, mit alten Laubbäumen dicht bestanden, erstreckte sich von der Höhe des Hauses bis zur Uferstraße hin. Schon zeigte das Laub in diesen Septembertagen jene leichte Vergilbung, die den kommenden Herbst und Laubfall zuerst verkündet. Aber die Sonne, die schon ziemlich tief über dem Westufer des Sees stand, warf breite Ströme goldenen Lichtes über das Laub der Eichen und Kastanien, ließ die uralten Randkiefern in purpurner Pracht erstrahlen.

Die Villa Isenbrandt hatte Gäste. An einem Kaffeetisch unter der Krone einer mächtigen Kastanie saßen Theodor Witthusen und Francis Garvin. Dem Amerikaner ließen die Geschäfte auch hier keine vollkommene Ruhe. Eine beträchtliche Post lag vor ihm auf dem buntgemusterten Damast, und eilig und eifrig durchlas er Brief auf Brief. Während er die Schriftstücke studierte und hin und wieder mit Randnoten versah, blickte Witthusen in gemächlicher Ruhe auf das weite Panorama, das sich da vor ihm dehnte: die grünen, vom Sonnenlichte goldig gefleckten Flächen des Gartens, den breiten, blauen Havelsee und dann die Uferberge von Spandau bis Potsdam.

Jetzt wanderte sein Blick aus den Fernen zurück und ruhte lange auf dem Paar, das dort unten im Garten an der Böschungsmauer stand: Maria und Helen. Arm in Arm standen sie dort und spähten die Userstraße entlang, als warteten sie auf das Erscheinen weiterer Gäste. Äußerlich ein ungleiches Paar, die zierliche kleine Helen und die hochgewachsene Maria. Verschieden auch nach Charakter und Gemüt, waren sie doch schnell miteinander befreundet geworden. Maria hatte den Arm um Helens Taille gelegt und hörte geduldig und freundlich dem munteren Geplauder Helens zu.

»Meine Freundinnen in Amerika haben mich weidlich um die romantische Art beneidet, in der Wellington um mich geworben hat. Aber genau besehen ist das doch eigentlich gar nichts gegen die Art, in der du mit Georg Isenbrandt zusammenkamst. Die Schreckensstunden in den Ruinen von Karakorum und die Errettung durch Isenbrandt, das wäre an sich schon eine Brautwerbung, wie sie so leicht nicht wieder vorkommt. Aber die Art, wie Isenbrandt überhaupt auf dich aufmerksam wurde, das scheint mir doch der Gipfel der Romantik zu sein. Die Ähnlichkeit mit seiner toten Braut benutzt das Schicksal, dich ihm zuzuführen.«

»Nun ja, Helen … ein reiner Zufall war es doch nicht. Die Ähnlichkeit ist schließlich doch durch eine wenn auch entfernte Blutsverwandtschaft begründet.«

»Ja, das mag ja sein, Maria. Aber wunderbar bleibt diese Fügung des Schicksals doch. Eine derartige fabelhafte Ähnlichkeit ist schon ein großes Wunder. Ich weiß, du mit deinem kühlen Blut empfindest das gar nicht so wie ich. Wenn ich das meinen Freundinnen drüben in den Staaten erzähle, wird man es mir kaum glauben wollen. Bitte, erzähle mir einmal genau, wie das war … damals auf dem Kirchhof.«

Einen Augenblick sah Maria über die weite Fläche, und ein ernsterer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Dann, wie aus einem kurzen Traum erwachend, wandte sie sich zu Helen.

»Es war kurze Zeit, nachdem wir hier in Berlin unser Heim gegründet hatten. Georg führte die Reste seines Haushalts von Wierny hierher. Darunter war auch ein Bild der Maria Ortwin. Die frappante Ähnlichkeit ließ mich sofort erraten, wen das Bild vorstellte. Dies wunderbare Naturspiel wollte mir nicht aus dem Sinn gehen. Ich kam auf die Vermutung, daß hier irgendeine Blutsverwandtschaft vorliegen müsse. Aber von Georg konnte ich darüber nichts erfahren. Auf dem Bilde standen nur der Geburtstag und der Todestag der Verstorbenen.

An dem Sterbetage, der wenige Tage später war, forderte ich Georg aus, mich bei einer Spazierfahrt zu begleiten. Dem Chauffeur hatte ich den Kirchhof als Ziel angegeben. Georg achtete gar nicht auf den Weg. Erst als der Wagen vor dem Tore hielt, merkte er den Zweck der Fahrt.

»Es ist heute ihr Todestag«, sagte ich zu ihm, als wir den Friedhof betraten. »Ich hätte ihn vergessen«, sagte er, aber der Druck seiner Hand zeigte mir, daß er mir dankbar war. Bald standen wir an dem Grabe. Es war ein Familienbegräbnis. Neugierig suchte ich auf den anderen Grabsteinen nach Namen. Auf einem efeuüberwucherten Stein fand ich vermooste Buchstaben, den Geburtsnamen der Großmutter Marias. Es war der gleiche, den die Mutter meines Vaters als Mädchen trug.

An diesem alten Grabe fand meine Vermutung die erste Stütze. Ich forschte weiter nach, und es gelang mir durch Verwandte der Maria Ortwin, die fehlenden Glieder der Kette zusammenzubringen. Jene Ahne Marias und die Mutter meines Vaters waren in der Tat Basen. Das Zauberspiel hatte eine natürliche Erklärung gefunden.«

Der Ruf »Helen!« schnitt dieser, die der Erzählung gespannt gelauscht hatte, die weiteren Fragen ab. Sie winkte ihrem Vater, der mit einem Briefe in der Hand am Tisch stand, Antwort zu. Während sie sich ihm näherte, rief er schon: »Nachricht von Florence!«

»Ein Brief von ihr?«

Mit ein paar Sprüngen stand Helen neben ihrem Vater.

»Nicht von ihr, my darling!«

»Von wem dann?«

»Von ihrem Vater.«

»Wie kommt das? Was will John Dewey von dir?«

»John Dewey wird alt. Der nüchterne, kalte Rechner scheint sich jetzt Idealen zu widmen. Seine Zuneigung zu der seiner Meinung nach unterdrückten schwarzen Rasse treibt sonderbare Blüten. Er bittet, indem er seinem Wunsche ein philanthropisches Mäntelchen umhängt, um nicht weniger als um meine Vermittlung zwischen ihm und Georg Isenbrandt.«

»Und wozu, Pa?«

»Um die Erfindungen Georg Isenbrandts auch für das neue Afrika herzugeben, ihre Wirkungen dort zu nutzen …«

»Ach, Pa! Davon später! Was schreibt er von Florence?«

»Nichts Gutes, Helen, für den, der zwischen den Zeilen zu lesen versteht. Ihr Zustand hat sich anscheinend in keiner Weise gebessert. Die Lethargie, die sie nach dem gewaltsamen Tode Lowdales umfängt, will nicht weichen. Sie lebt immer noch einsam, ja menschenscheu, jeden Verkehr meidend, in ihren ständig verdunkelten Räumen dahin. Jeder Versuch, sie dieser schädlichen Selbstpeinigung zu entreißen, ist mißlungen. John Dewey hofft, daß sie ihm folgen wird, wenn er demnächst nach Afrika übersiedelt. Er hofft, daß die veränderten Verhältnisse; anderes Klima, andere Menschen einen heilsamen Einfluß auf ihren Zustand ausüben werden. Mag er nicht vergebens hoffen. Ihr Geschick ist von einer Tragik, die kaum zu überbieten ist. Vielleicht hätte das Schicksal mitleidiger gehandelt, wenn die Kugel, die das Herz, an dem sie ruhte, traf, sie auch mit hinweggerafft hätte. Wie sich ihr und ihres Geliebten Geschick gestaltet hätte, wenn jene Kugel ihr Ziel verfehlte? … Wer weiß es?«

Nach einer kurzen Pause des Schweigens ergriff Helen wortlos den Arm Marias und zog sie zum Strand hinab. Das traurige Schicksal der Freundin ging ihr tief zu Herzen.

Francis Garvin reichte den Brief, den er bisher in der Hand gehalten hatte, an Witthusen.

»Lesen Sie selbst und sagen Sie mir, ob ich nicht recht habe, wenn ich den Wunsch John Deweys als reichlich naiv bezeichne. Wäre es nicht gerade so, als ob ich einem Gegner dieselbe Waffe reichen wollte, mit der ich ihn eben erst besiegte? Isenbrandts Erfindungen gehören durchaus der weißen Rasse. Lizenzen werden nur an zuverlässige Leute gegeben, und auch dann nur zu Zwecken rein wirtschaftlicher Natur. So groß sind die Möglichkeiten und Auswirkungen der Erfindung, daß Forscherarbeit von Jahren dazu gehört, um sie zu erschöpfen. Die Gefahren, die sie birgt, sind größer, fürchterlicher, als die dem Laien zunächst offensichtlichen Vorteile. Ein Kollegium von europäischen Gelehrten hat sich bereits an diese Riesenarbeit gemacht. Schon bei der Besprechung der Vorfragen ist man sich schlüssig geworden, daß an eine allgemeine Freigabe der Erfindung auch nur für Europa vorläufig nicht zu denken ist. Nur dann kann es glücken, die Naturgesetze so zu meistern, daß nur Nutzen und kein Schaden entsteht, wenn diese Forschungen abgeschlossen sind und dann von einer Stelle aus nach einem festen Plan und Willen gearbeitet wird. Afrika wird gar noch lange warten müssen.«

*

Nachdem die Dinge in Asien geordnet, war Isenbrandt nach Berlin zurückberufen worden und in das Direktorium der E. S. C. eingetreten. Nach jenen sensationellen und politisch so einschneidenden Vorgängen war er von den Berichterstattern der großen internationalen Presse bestürmt worden, die ihn, den neuen St. Georg, den Drachentöter, wie ihn der Volksmund nannte, interviewen wollten.

Doch kein Wort war über seine Lippen gekommen. Auch jetzt, nachdem bereits mehrere Monate vergangen waren, verlautete nichts Näheres über seine wunderbaren Entdeckungen. Übereinstimmend hatten sich natürlich die gelehrten Köpfe jeder Art dahin geäußert, daß diese Entdeckungen in ihrer Anwendung einen völligen Wandel der Weltwirtschaft zur Folge haben müßten. In ununterbrochenen Artikeln beschäftigte sich die Presse der ganzen Erde damit und erschöpfte sich in Vermutungen, ob und wann diese Erfindungen zur allgemeinen Kenntnis und Anwendung kommen würden.

Eine allgemeine Weltkonferenz würde über die schwierige Frage entscheiden müssen, wie und wo diese so scharf in den Gang der Natur eingreifenden Mittel arbeiten durften. Bisher war jedoch von einer Einberufung einer solchen Konferenz nichts bekannt.

Bereits regten sich Stimmen, die Europa beschuldigten, das Mittel für sich allein und zur Verfechtung imperialistischer Ideen behalten zu wollen. Nur das war bekannt geworden, daß die Analysen und die genauen Beschreibungen der Verfahren an wohlgesicherten und versteckten Orten aufbewahrt seien. Und auch dies war nur geschehen, um der Welt das Zwecklose eines etwaigen Attentates auf den Erfinder klarzumachen.

Am Bismarckdamm in Berlin stand Wellington Fox vor dem Palast der E. S. C. und wartete auf Georg Isenbrandt. Die Herbstsonne stand schon tief und vergoldete das rote Laub der Straßenbäume, als der Erwartete endlich aus dem Gebäude trat.

»Das hat ja lange gedauert, Georg!«

»Oh, entschuldige, Fox. Aber die Sitzung war von großer Wichtigkeit.«

»Schadet auch nicht viel! Es fiel mir, während ich hier wartete, so mancherlei von dem ein, was sich ereignet hat, seitdem ich das letztemal hier stand.

Ein schicksalsreicher Sommer! Und vieles von dem, was geschah, seitdem wir uns trennten, bleibt noch zu erzählen … Wird, wenn ich es an meinem Stoff messe, lange Abende am Kamin der Frau Maria füllen. Ich denke, wir gehen den Weg zu deiner Wohnung an diesem schönen Herbsttag zu Fuß.«

Sie bogen von dem hohen Damm zu dem tiefergelegenen Havelufer ab, das mit einem Kranze stattlicher Landhäuser besäumt war. Wellington Fox begann, während sie langsam der sinkenden Sonne nachschritten:

»Denk dir nur, vorhin erhielt ich die Nachricht aus Amerika, daß es dort immer noch unter der Asche glimmt. In den Südstaaten gibt es immer wieder Zusammenstöße zwischen Schwarzen und Weißen. Der Widerstreit scheint nicht zur Ruhe kommen zu wollen.«

»Wird nie zur Ruhe kommen!« warf Isenbrandt ein. »Die Kluft zwischen den Rassen ist zu tief. Keine Brücke führt darüber. Es handelt sich um ein kategorisches Entweder – Oder. Einer muß weichen!«

»Du hast recht, Georg. Aber das ist leichter gesagt als getan. Man kann doch nicht die sämtlichen schwarzen Bürger der Union auf Schiffe verfrachten und nach ihrer Heimat Afrika zurückschicken.«

»Natürlich nicht! Aber man muß die Bestrebungen unterstützen, die schon lange unter den Schwarzen der Union im Schwange sind. Was man vor 150 Jahren im kleinen in Liberia machte, muß man im großen Stil wiederholen. Die schwarze Intelligenz muß dabei den Anfang machen. Sie findet in der neuen alten Heimat ein unendlich viel reicheres Betätigungsfeld. Ich bin auch fest überzeugt, daß bei dem immer stärker werdenden Rassenbewußtsein und Stolz der Schwarzen die Frage in diesem Sinne gelöst werden wird.«

»Hoffen wir, daß du recht behältst! Ich bin etwas skeptisch und möchte nicht die Notwendigkeit von der Hand weisen, der Sache mit etwas Druck nachzuhelfen. Blieben also schließlich noch die Halfcasts?«

»Die wird wahrscheinlich keine von beiden Parteien haben wollen«, sagte Isenbrandt lachend.

»Also ein Schiedsgericht!«

»Jawohl, ein Schiedsgericht.«

Beide lachten laut auf.

»Das wird wohl tagen, bis der Jüngste Tag anbricht«, sagte Wellington Fox. »Die Frage ist buchstäblich eine weitverzweigte. Oft ist kaum zu entscheiden, wo das Halfcaft aufhört oder anfängt. Denke zum Beispiel an John Dewey und seine Tochter Florence.«

»Allerdings. Dein Beispiel ist typisch. Hier wird die Schwierigkeit der Frage evident. Das Schicksal der Florence Dewey und des jungen Discount Lowdale ist tragisch. Die Nachricht von dem Tode Averil Lowdales hat mich tiefberührt. Ich schätzte ihn sehr. Auch der General Bülow betrauert in ihm einen guten Kameraden und tüchtigen Offizier. Du warst bei seinem Tode zugegen?«

»Ich kam leider zu spät. Ich konnte dem Mörder, dem Schuft, dem Cameron nur noch ein paar Kugeln nachschicken, von denen eine auch Gott sei Dank getroffen hat.«

»Wie? Du erschossest ihn?«

»Nicht direkt. Ich verwundete ihn nur. Er lief mir fort. Ungefähr eine Woche später gab es eine Razzia im Chinesenviertel, wo sich viele der Kompromittierten versteckt hatten. Dort fand man auch Collin Cameron. Er lag in den letzten Zügen. Die an sich nicht tödliche, aber schlecht behandelte Wunde führte sein Ende herbei.«

»Maria wird darüber nicht trauern. Ich glaube, sie hat auch jetzt noch manchmal dieses Halunken wegen Beklemmungen gehabt. In seiner Rachgier war er reiner Asiate. Was wurde aus den Deweys?«

Wellington Fox zuckte die Achseln.

»Sie verzogen alsbald aus Frisko und befinden sich seitdem ständig auf Reisen. Die arme Florence ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Nach dem tragischen Ende Averil Lowdales lag sie wochenlang auf den Tod danieder. Für den Vater war diese Krankheit in einer Beziehung sogar ein Vorteil. Man ließ deswegen davon ab, ihm wegen gewisser Konspirationen den Prozeß zu machen. Ich habe mich auf Helens Bitten in diesem Sinne sehr bemüht …«

»Und da du, alter Freund«, vollendete Georg Isenbrandt lachend, »neuerdings einiges in den Staaten zu bedeuten hast, ist dir das natürlich glänzend gelungen.«

»Spotte nur, alter Junge!« lachte Fox. »An der Wiege von August Wilhelm Fuchs in Berlin an der Panke wurde allerdings nicht gesungen, was aus Archibald Wellington mal werden könnte. Mein teurer Schwiegerpapa bedauert täglich, daß ich nicht in den Staaten geboren bin. Sonst wäre mir nach seiner Meinung der Präsidentenstuhl sicher.

Über meine Absichten für die Zukunft wußte er bisher noch nichts Gewisses. Erst jetzt, nachdem ich mit mir klar bin, will ich ihm damit kommen. Erst mußte ich sicher sein, daß meine Pläne deine Unterstützung finden.«

»Die hast du, Fox!«

Die beiden Freunde hatten auf ihrer Wanderung den höchsten Punkt der Straße erreicht. Hier blieben sie eine kurze Zeit stehen. Vom Golde der sinkenden Sonne beleuchtet, dehnte sich weit vor ihren Blicken die Havel. Weit drüben am Horizont schimmerten die Türme und Bauten von Siemensstadt.

Gerade jetzt erhob sich dort eine Flottille mächtiger Flugschiffe. In schneller Folge stiegen sie auf, setzten sich in Kiellinie und nahmen den Kurs nach Osten. Unablässig gewannen sie dabei an Höhe, wurden klein und immer kleiner und waren schon fast Punkte, als sie über den Köpfen der beiden Freunde dahinzogen.

Wellington Fox verrenkte sich beinahe das Genick, um sie über sich zu beobachten.

»Was ist das, Georg?«

Es dauerte lange Sekunden, bevor Isenbrandt, wie aus Träumen erwachend, die Antwort gab: »Was das ist, Fox? Ver sacrum! Ein neuer heiliger Frühling, den das alte Europa nach Asien schickt. Junge Siemensstädter sind es mit ihren Frauen und Bräuten, die dorthin gehen. Das sind keine Bauernsiedler, sondern Industriesiedler.«

Wellington Fox unterbrach den Freund: »Ich hörte davon. Aber ich wußte noch nicht, daß diese Pläne sich bis zur Ausführung verdichtet haben. Bisher wollte sich europäisches und amerikanisches Kapital nicht recht an die Ausbeutung der asiatischen Bodenschätze heranwagen.«

»So war es, Fox, solange die politischen Machtverhältnisse da drüben in Asien unsicher waren. Jetzt hat sich das radikal geändert. Jetzt, wo unsere Herrschaft feststeht, sind plötzlich Riesenkapitalien vorhanden, um die reichen Bodenschätze dort zu heben. Was Europa in Afrika verloren hat, findet es in Asien dreifach wieder.«

Die letzten Flugschiffe der Flottille waren jetzt am dunklen Osthimmel verschwunden. Wellington Fox, der ihnen bis zuletzt nachgespäht hatte, sprach wieder:

»Wenn aber Kapital und Bevölkerung in diesem großen Maße nach Osten verpflanzt werden, wird sich dann nicht der Schwerpunkt Europas, sein Schwerpunkt in jeder Beziehung nach Osten verschieben?«

»Nein, Fox. Man wird dort Eisen schmelzen und Halbfabrikate machen. Aber die Feinfabrikation bleibt in Europa. Die Schreibtische … die Organisation … das Hirn, das diesen ganzen Mechanismus steuert, bleibt hier, wo es wurzelt und ausschließlich gedeihen kann. Du brauchst keine Entvölkerung Europas zu befürchten. Es bleibt das Züchtungsland hochwertigen weißen Blutes.«

Langsam weiterschreitend hatten sie das Heim Isenbrandts erreicht. Durch das Gartentor schritten sie den Abhang zum Hause empor. Unter dem Schatten des schon leicht vergilbenden Laubes einer alten Kastanie saß Frau Maria im Kreise ihrer Gäste.

Theodor Witthusen … Francis Garvin … Helen Fox, geb. Garvin. Ihr Geplauder schallte den Eintretenden entgegen. Jetzt hatte Helen die beiden erspäht.

Schnellfüßig eilte sie ihnen entgegen.

»Endlich kommt ihr. Wir hatten uns so auf die gemeinsame Kaffeestunde gefreut, und jetzt, wo sie vorüber ist, kommt ihr erst. Daran bist du sicher schuld.«

Wellington Fox deutete mit der Miene eines unschuldig Verdächtigten auf Georg Isenbrandt.

»Ich wasche meine Hände in Unschuld. Da steht er, der Missetäter. Zwei Stunden rammte ich das Pflaster des Bismarckdammes. Nimm dir ein Beispiel an dem Gesicht Marias, Helen dear. Nichts von Vorwürfen … nichts von Ungeduld. Glückselig der Mann, der ein sanftmütig Weib freite!«

»Wellington! … Du Ungeheuer … Du Unhöflichster aller Menschen …«

»Diese Versicherung hörte ich seit dem ersten Tage unserer Bekanntschaft wohl täglich ein dutzendmal.«

»Pfui, Wellington! Du bist …«

»… der unhöflichste Mensch auf Erden.«

Ein leiser Klaps auf Wellingtons Wange quittierte seinen Einwurf. Lachend enteilte sie seinem Griff und hing sich in Marias Arm, die an Isenbrandts Seite zur Terrasse emporschritt.

Brummend ging Wellington Fox ihnen nach. Sein Auge haftete auf den beiden ebenmäßigen hohen Gestalten der Isenbrandts. Äußerlich wie innerlich schienen diese beiden Menschen wie füreinander gemacht. Der Zufall, der sie einst zusammengeführt, hatte sie auf ewig aneinandergebunden.

Keine lange Werbung … keine Beteuerung der Liebe … kein langsames Aufsprießen einer Neigung … Das erste Zusammentreffen entschied über ihr Schicksal … und das vollendete sich, als die Stunde gereift.

Und dann glitt sein Blick zu Helen. Mit Entzücken verfolgte er die Bewegungen ihrer zierlichen Glieder und dachte bei sich:

Ich hätte mein Leben lang nicht geglaubt, daß es unter Milliardärstöchtern so ein famoses Mädel gibt. Weiß der Teufel, was die Dollarkönige einen anständigen Menschen abschrecken können. Na! Schließlich hat sich doch auch mein teurer Schwiegerpapa als ganz famoser old fellow entpuppt. Seine Hochachtung vor mir ist geradezu beängstigend. Ich fürchte, mein neuester Plan wird ihm den knock out geben.

Dann war Wellington Fox bei seiner Frau und legte seinen Arm unter den ihren.

»Die Abrechnung zwischen uns beiden wird später geschehen. Ich habe mir meine Rache inzwischen gründlich überlegt. Teuerste Frau Maria, Sie täten unendlich viel Gutes an einem Unglücklichen, wenn Sie diesen Wirbelwind etwas in die Schule nähmen.«

»Ich werde mich hüten, Mr. Fox!« antwortete Maria lachend. »Für Sie ist Helen so, wie sie ist, gerade die Richtige.«

»Bravo, Maria!« rief Helen. »Gib’s ihm … gib’s ihm tüchtig! Zu gut … viel zu gut bin ich für diesen …«

»… unhöflichsten aller Menschen«, vollendete gelassen Fox.

Er wollte sich, eines plötzlichen Angriffs gewärtig, zurückziehen, als Helen ihn umfing und mit schnellem Kusse seine Wange streifte.

Und dann saßen alle zusammen um den runden Tisch im Schatten des alten Baumes. Wellington Fox hatte neben seinem Schwiegervater Platz genommen.

Sein lebhafter Mund war eine geraume Zeit fast auffällig verstummt. Mechanisch rührte er in seiner Tasse und vergaß das Trinken. Endlich ergriff er sie und trank sie mit einem Zuge leer.

»All right!« kam es aus seinem Munde. Er entzündete sich eine Zigarre und legte sich behaglich in seinen Stuhl zurück.

»A propos, teuerster Mr. Garvin, wäre Ihnen mit einer guten Position gedient?«

Der Milliardär sah ihn erstaunt an. Seine buschigen Augenbrauen hoben sich fast bis zu seinen Haarwurzeln. Seine Augen ruhten fragend auf den vollkommen ernsten Zügen seines Schwiegersohnes.

»Hm! … hm! Wie meinen Sie, lieber Wellington?«

»Ob Ihnen mit einer guten Position gedient wäre?«

Jetzt verriet Garvin das leise Zucken um Wellingtons Lippen den Schalk, der hinter der Frage steckte, und er beeilte sich, darauf einzugehen.

»Das wäre … Mr. Fox? … Es ist zwar schon lange her, daß ich eine Position … Sie meinen doch wohl eine Anstellung bei irgend jemand … bekleidet habe. Nach einer dreißigjährigen selbständigen Geschäftsführung würde mir das nicht so leicht fallen …

Ganz abgesehen von der Frage des Salärs … würde die Person meines Chefs für die Frage von ausschlaggebender Bedeutung sein.«

Mit unterdrücktem Lachen folgten die anderen dem Wortgefecht der beiden.

»Hm!« machte Wellington Fox und blies einen schöngeformten Rauchring von sich. »Sie treffen den Punkt nicht ganz, Mr. Garvin. Ihre Stellung würde weniger die eines Angestellten als die eines Partners sein. Der Chef wäre ich!«

»Ah!«

Mr. Garvin beugte sich vor und machte Fox eine Verbeugung.

»Dürfte ich den Herrn Chef nach seinen Bedingungen fragen?«

»Bedingungen, Mr. Garvin, trifft wieder nicht ganz das Richtige. Ich sehe, meine Frage war nicht ganz präzis. Die Sache ist einfach die, ich habe ein gutes und großes Geschäft vor und suche dazu einen kapitalkräftigen Partner.«

»Sehr wohl!« sagte Francis Garvin. »Und Sie wollen mir die Ehre erweisen, mich zu Ihrem Partner zu nehmen?«

»Eventuell, Mr. Garvin.«

»Eventuell?« echote es aus Garvins Munde.

»Ja! Das heißt nämlich, ich brauche ziemlich viel Kapital … und da ich über Ihre Vermögensverhältnisse nicht genau unterrichtet bin, so hängt es davon ab, ob Sie in der Lage sind, das nötige Kapital einzuschießen.«

»Interessant! … Höchst interessant!« flüsterte Garvin. »Sie machen mich gespannt … ein Geschäft … bei dem das Kapital von Francis Garvin nicht ausreichen könnte … wundervoll … höchst interessant, Mr. Fox … Ich bin aufs äußerste gespannt.

Um was handelt es sich? Bitte, reden Sie!«

Wellington Fox sah einen Augenblick einem seiner kunstvoll geblasenen Rauchringe nach.

»Es handelt sich … sagen wir mal … darum, einen Erdteil zu kaufen!«

Garvin fuhr mit einem so komischen Ausdruck des Staunens in seinen Sessel zurück, daß alles hell auflachte.

»Nicht möglich, Mr. Fox! Ihre Idee ist großartig! Und da ich weiß, daß Sie sich mit Kleinigkeiten nicht abgeben, vermute ich, daß es der größte sein wird … also Asien?«

»Nicht doch, Mr. Garvin! Sie verkennen meine Bescheidenheit. Ich meine den kleinsten.«

»Australien? … Meines Wissens gehört Australien dem australischen Volk.«

»Ihr Einwurf trifft wieder nicht ganz das Richtige, Mr. Garvin. Gewiß! Der australische Erdteil gehört dem australischen Volk. Aber der größte Teil gehört ihm ebenso, wie ihm die Luft darüber gehört. Es hat ihn und hat ihn doch nicht. Insofern nämlich, als der größte Teil davon Wüste und für menschliche Siedlungen ungeeignet ist.«

»Ah!« Garvin legte den Finger an seine Nase und sah Fox bewundernd an. Der kluge Geschäftsmann witterte etwas von den Plänen seines Schwiegersohnes.

»All right, Mr. Fox! Soweit stimmt ihr Kalkül. Ich bin gespannt auf das Nähere.«

»Gut, Mr. Garvin! Ich werde Ihnen meinen Plan in aller Kürze auseinandersetzen. Sie wissen, daß von den hundertvierzigtausend Quadratmeilen Australiens fünfzigtausend ganz Wüste und sechzigtausend nur knappes Weideland – in dürren Jahren auch ganz unfruchtbar sind.

Der Ozean bringt von allen Seiten Regen heran. Aber die Randgebirge, die den Erdteil fast wie ein geschlossener Kranz umgeben, lassen die wasserhaltigen Winde nicht in das Innere des Landes vordringen. An den Außenhängen ein Überfluß von Regen, in der Riesenwanne zwischen den Gebirgen ewige Trockenheit.

Die Frage der Besiedlung hängt davon ab, ob sich die Niederschläge im Landesinnern in genügender Weise steigern lassen. Diese Frage dürfte durch die Anwesenheit unseres verehrten Hausherrn ihre Antwort finden. Er würde in unserem Geschäft als stiller Teilhaber tätig sein. Er würde den Geist einschießen. Seines Beitrittes habe ich mich bereits versichert. Wie denken Sie nun über Ihre Partnerschaft, verehrtester Mr. Garvin?«

Garvin saß starr. Die Größe des Planes von Wellington Fox schien ihn zu überwältigen. Dann kam es endlich von seinen Lippen.

»Mr. Fox, Helen ist mein Zeuge, daß ich Sie stets für einen der klügsten und tüchtigsten Köpfe der Staaten gehalten habe. Was Sie mir jetzt vorschlagen, bringt meine Hochachtung an die äußerste Grenze.«

»Sag’ ruhig, zur Anbetung«, warf Helen lachend ein. »Pa, wie hast du dich verändert.«

»Da Mr. Isenbrandt hier sitzt und gegen Ihre im ersten Augenblick so phantastisch klingenden Pläne keinen Widerspruch erhebt, sage ich: Topp, Wellington!

Es wird ein Geschäft werben. Ein großes … ein smartes Geschäft. Wallstreet wird sich neidisch um die Reste raufen. Was sagen Sie zu meinem Schwiegersohn, Mr. Isenbrandt? War es nicht der glücklichste Griff, den ich je in meinem Sehen getan habe?«

»Was sagst du, Pa? Das sagst du, Pa?« Helen warf sich laut lachend in ihren Stuhl zurück. »Du? … Der du mich enterben … verstoßen wolltest, wenn ich diesem Journalisten meine Hand geben würde? Soll ich hier die Worte erzählen, mit denen du seine Werbung aufnahmst?«

»Ich würde mich an deiner Stelle hüten, hier zu verraten, daß du am Schlüsselloch gehorcht hast«, erwiderte Garvin lachend. »Also nochmals: Topp, Mr. Fox! Das Geld ist da! Der Kredit von Francis Garvin genügt zu dem Geschäft«

»Aber, Mr. Garvin« – Wellington Fox hob den Finger, – »eine Bedingung ist dabei. Die Siedler müssen rein weißer Rasse sein!«

Ein leichter Zug von Verlegenheit huschte über Garvins Gesicht.

»Selbstverständlich!« beeilte er sich dann zu sagen. »Aber wird auch genügend Material da sein? Es gehören viele Millionen von Siedlern dazu, um das Neuland zu besetzen. Die E. S. C. zieht alles nach Asien. Jetzt, nachdem die gelbe Gefahr beschworen, wird der Drang nach Osten ungeheuer werden.«

Georg Isenbrandt nahm das Wort:

»Ihre Besorgnis ist unbegründet. Mr. Garvin. Die wirtschaftliche Entwicklung wird auf Grund der neuen Entdeckungen einen derartigen Lauf nehmen, daß Europa einen bedeutenden Bevölkerungsüberschuß abgeben kann. Wir müssen in Turkestan viel Neuland für die Nachkommen unserer Siedler in Reserve halten. Australien als weiteres Siedlungsland ist uns erwünscht, muß uns willkommen sein. Die Patenstelle, die Freund Fox dort übernimmt, gibt ihm eine Aufgabe von größter Bedeutung. Ich weiß, daß seine Worte über das große australische Geschäft Scherze à la Wellington waren. Hier gilt es mehr. Australien soll ein Jungbrunnen der weißen Rasse werden.«

Gesammelte Werke: Science-Fiction-Romane + Abenteuerromane + Erzählungen

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