Читать книгу Gesammelte Werke: Science-Fiction-Romane + Abenteuerromane + Erzählungen - Dominik Hans - Страница 9
Die Spur des Dschingis-Khan
ОглавлениеArchibald Wellington Fox, der Berichterstatter der Chikago-Preß, und Georg Isenbrandt, ein Oberingenieur der Asiatischen Dynothermkompagnie, gingen zusammen den Bismarckdamm in Berlin entlang. Ihr Ziel war ein mächtiges Sandsteingebäude, das sich in der Nähe der Havelbrücke in monumentaler Größe erhob und einen ganzen Straßenblock einnahm. Weithin glänzte von seiner Front ein goldenes Wappen. Drei Ähren, von einer Sichel umschlungen. Darunter ein Monogramm aus den drei Buchstaben E. S. C.
Wellington Fox sprach: »Das war ein guter Zufall, daß ich dich hier in Berlin auf der Straße treffen mußte. Sonst hätte ich dich im fernen Turkestan in deinem Abschnitt am Issi Kul aufsuchen müssen … wo es, wie mir scheint, für den Journalisten, das heißt in diesem Falle Kriegsberichterstatter, nächstens gute Arbeit geben kann.«
»Du meinst, Fox?«
»Allerdings, old fellow, meine ich. Willst du die Möglichkeit leugnen?«
»… will ich nicht. Aber …«
»Kein ›Aber‹, Georg. Du willst mir wohl vorrechnen, wieviel Grad der Wahrscheinlichkeit dagegen sprechen?«
»Du irrst, mein lieber Fox!«
Ruhig, ganz gleichgültig hatte Georg Isenbrandt die Worte hingeworfen. Auf den Journalisten wirkten sie wie ein Blitz in der Nacht. Einen Augenblick blieb er wie angewurzelt stehen.
»Was willst du sagen, Georg?«
Er drängte an den Freund heran und sah ihm forschend ins Gesicht.
»Ich meine, daß erheblich viele Grade der Wahrscheinlichkeit dafür sprechen … müßten. Aber meine Meinung wird von dem Direktorium der E. S. C. leider nicht geteilt.«
»Georg, Krieg! … Krieg zwischen dem Vereinigten Europa und dem großen Himmlischen Reich!«
Der andere nickte stumm. Sein gleichmäßig kühles Gesicht blieb unverändert. Nur ein leuchtendes Funkeln seiner starr ins Weite gerichteten Augen zeigte, daß sein Inneres keinen Teil an seiner äußerlichen Ruhe hatte.
In dem Gehirn des Journalisten kreuzten sich wirr tausend Gedanken. Eine Weile schritten sie wortlos nebeneinander her.
»Du weißt, Wellington, daß unsere Unterhaltungen keine Interviews sind. Der Journalist Wellington Fox von der Chikago Preß hört von unseren Gesprächen nichts.«
»Kein Zweifel, Georg. Doch sag, zu welchem Zweck bist du hier in Berlin?«
»Um einen letzten Versuch zu machen … die Herren der E. S. C. zu meiner Ansicht zu bekehren. Ich habe um fünf Uhr eine Konferenz mit ihnen.«
»Und wenn …? Was wird dann aus dem großen Werk der E. S. C.? Den Hunderttausenden von europäischen Siedlern in Turkestan … und deinen großen Arbeiten? Werden sie nicht durch den Krieg schwer leiden?«
»Du fürchtest für sie? … Ich nicht, wenn man mir folgt … sie zu verteidigen … zu sichern auf Menschenalter … darauf gehen meine Pläne … und wäre dazu Krieg nötig.«
Jede Gleichgültigkeit war jetzt von dem Sprecher abgefallen. Ein eiserner Wille, eine unbeugsame Energie prägte sich auf dem scharf geschnittenen Gesicht mit der kantigen Stirn aus.
Staunen, Überraschung … Bewunderung malten sich in den Zügen des Journalisten. Mit einem zweifelnden Blick maß er die Gestalt des einstigen Schulkameraden.
»Georg, Krieg! Das Wort riecht nach Blut!«
»Hat es stets getan … und wird es immer tun, solange Krieg die Ultima ratio menschlicher Zwistigkeiten ist … das heißt solange Menschen leben werden.«
Ein Augenblick des Schweigens.
»Nur eins möchte ich dich noch fragen.« Ein besorgter Unterton klang aus der Stimme des Sprechenden. »Bist du dir auch bewußt, mit welchem furchtbaren Gegner Europa … du … zu kämpfen haben würdest? Das große geeinte Gelbe Reich ist eine Macht, wie sie die Geschichte der Völker selten gekannt hat. Sein Herrscher, der Kaiser Schitsu ist ein Mann vom Blut und Schlage des Dschingis-Khan.«
»Ich weiß es. Die Gefahr ist groß! Aber sie wird mit jedem Jahr größer … bis sie eines Tages das Abendland verschlingen wird. Deshalb heißt es, ihr zu begegnen … jetzt, ehe es zu spät ist.
Der Kaiser ist todkrank. Ob er am Leben bleibt? … Wer weiß es? Stirbt er, wird man mir leichter folgen. Die Angst vor ihm ist größer als vor seinem Land. Doch wir sind am Ziel.«
Er deutete auf den Sandsteinpalast, den sie jetzt erreicht hatten.
»Was da drinnen in den nächsten Stunden beschlossen wird, ist entscheidend für das Wohl und Wehe von Millionen Menschen, für das Schicksal zweier Rassen … zweier Kulturen.«
Unwillkürlich hatte sich seine Hand erhoben und stand fragend und drohend gegen die stummen Quadern des Riesenbaues gereckt, der hier wie eine Trutzfeste auf dem märkischen Sande ragte. Denn senkte sie sich langsam in die des Freundes.
»Auf Wiedersehen denn heute abend bei dir im Hotel.«
Noch ein Händedruck, und Georg Isenbrandt trat durch das Hauptportal in das Gebäude ein. Unschlüssig blieb Wellington Fox auf der Straße stehen. Dann begann er die Inschriften an dem Gebäude zu studieren. In den steinernen Ornamenten der Portalwölbung wiederholten sich das Ährenmotiv und die verschlungenen drei Buchstaben E. S. C. Jetzt ruhte sein Blick auf den Inschriften in der Höhe des ersten Stockwerkes. Breit und massig leuchteten von dort goldene Buchstaben … Europäische Siedlungs-Compagnie … Daneben in englischer Sprache »European Settlements Company« … wieder etwas weiter stand es auf russisch »Jewropeiskoje Obschtschestwo dlja naselenija Wostoka«.
Das Haus hier war das Verwaltungsgebäude der großen, von den europäischen Staaten mit einem Milliardenkapital begründeten Siedlungsgesellschaft, die den Überschuß der europäischen Bevölkerung seit zehn Jahren in Asien ansiedelte. Auf meilenweiten Ländereien, die vordem unfruchtbare Steppen, nach der Erfindung des Dynotherms bestes Ackerland geworden waren. Hier in Berlin war der Hauptsitz dieser großen internationalen und mit staatlichen Hoheitsrechten ausgestatteten Gesellschaft. Ihr Arbeitsgebiet lag in Asien. Dort reichte es vom Kaspischen Meer bis zu den Grenzen des chinesischen Reiches. Dort dampften die Hochalpen unter der Wirkung des Dynotherms. Dort kochten die großen Seen, und warmer, über das ganze Jahr verteilter Regen schuf fünfzigfältige Ernten, wo früher wandernde Kirgisen kaum das Notwendigste fanden.
Wellington Fox war mit der Betrachtung des Gebäudes zu Ende und ging weiter, dem Grunewaldpark zu. Die letzten Worte seines Freundes gaben ihm reichlich Anlaß zum Nachdenken. Seine Gedanken weilten abwechselnd im fernen Osten und im Palast der E. S. C. Und so übersah er es, wie eine elegant gekleidete Gestalt, die ihm entgegenkam, bei seinem Anblick schon von weitem einen Bogen schlug, um auf die andere Seite der Straße zu gelangen und dann im Hause der E. S. C. zu verschwinden.
Ein dumpfer Knall riß ihn wenige Minuten später aus seinem Sinnen. Der Luftdruck einer schweren Explosion brachte ihn momentan ins Wanken. Mit einem jähen Ruck warf er sich herum und sah aus den zersplitterten unteren Fenstern des E. S. C.-Gebäudes dünne Rauchschwaden ziehen.
Instinktiv lief er auf den Eingang des Gebäudes zu. Durch die aufgerissenen Flügeltüren drang er in das Haus ein und stürmte die Treppen empor. Ein Gemisch von Staub und Rauch benahm ihm fast den Atem. Eine schreiende, in ihrer Aufregung sinnlose Menge drang ihm entgegen. Zwischendurch … darüber hinweg bahnte er sich seinen Weg bis in das zweite Stockwerk, wo er den Freund wußte.
Hier war er ruhiger. Hier ließ auch der Qualm nach. Er lief über einen Korridor und sah die Person, die ihm auf der Straße entgangen, in einen Seitengang verschwinden. Mit einem Ruck blieb er stehen. Ein sekundenlanges Zögern. Dann schlug er den entgegengesetzten Weg zu den Direktionszimmern ein. Noch ehe er sie erreicht, kam ihm Georg Isenbrandt mit einigen Herren entgegen.
»Georg, was ist los?«
»Das wissen wir selbst noch nicht. Wir müssen die Untersuchung abwarten.«
»Ein verbrecherischer Anschlag?«
»Nicht so eilig! Warte mit deinen Telegrammen, bis die Untersuchung Klarheit geschaffen hat.«
Der Donner einer zweiten, schwächeren Explosion in der Nähe verschlang die letzten Worte Isenbrandts. Ohne sich noch aufhalten zu lassen, stürmte der Amerikaner dem Weg nach, den der Fremde vorher eingeschlagen hatte. Die zweite Explosion hatte neue Rauchmengen entwickelt. Er konnte kaum sehen und atmen, lief durch einen anderen Korridor, rüttelte an verschlossenen Türen und stieß schließlich auf eine Tür, die nachgab. Sah zuerst einen mächtigen Tresor, der durch die Gewalt der Explosion von oben bis unten aufgerissen war. Die Kraft der Sprengung hatte die in ihm verwahrten Dokumente durch das Zimmer zerstreut. Sah dann nur undeutlich in dem rauchgefüllten Raum, wie der Gesuchte bemüht war, mehrere Schriftstücke in seinen Taschen verschwinden zu lassen. Mit ein paar tigerähnlichen Sätzen schoß Wellington auf ihn los. Doch noch schneller hatte der Fremde die Tür zum Nebenzimmer aufgerissen. Als Wellington Fox die Klinke berührte, hörte er, wie der Schlüssel im Schloß von außen umgedreht wurde. Im selben Augenblick ließ er sie auch schon los, um über den Flur einen anderen Eingang zu diesem Zimmer zu suchen. Doch umsonst! Alle Türen waren verschlossen.
Wellington Fox blieb stehen. Das Vergebliche einer weiteren Verfolgung hier im Gebäude war ihm klar.
Wo ihn finden? … Ah! … Schon lief Fox dem Hauptportal zu.
Seine Exzellenz Herr Wang Tschung Hu, der chinesische Botschafter beim Deutschen Reiche, saß allein in seinem Arbeitzimmer. Nervös spielte seine Rechte mit einem Bleistift, während sein Auge den langsamen Fortgang des Uhrzeigers auf dem Zifferblatt verfolgte. Hier war er allein, hier brauchte er nicht die unerschütterliche Miene eines gelben Diplomaten zur Schau zu tragen, und seine Ungeduld kam in seinen Zügen und Bewegungen deutlich zum Ausdruck. Er unterbrach das Spiel mit dem Bleistift nur, um hin und wieder das Telephon vom Haken zu nehmen und kurze Fragen zu stellen.
Die Uhr hub aus und schlug halb sechs. In ihren verhallenden Schlag mischte sich der Klang der Telephonglocke.
Die Meldung des Sekretärs, daß Mr. Collin Cameron soeben die Botschaft betreten habe.
Wang Tschung Hu legte den Apparat wieder auf die Gabel, suchte einen Moment zwischen verschiedenen, an dem großen Diplomatentisch befestigten Hebeln und legte einen davon um. Im gleichen Augenblick war ein Telephon auf seinem Tisch mit den Lauschmikrophonen verbunden, die sich in der Wohnung des Hausmeisters der Botschaft befanden. Jedes Wort, was dort unten gesprochen oder auch nur geflüstert wurde, mußte hier oben klar und deutlich aus dem Apparat kommen.
Die Gründe, die Seine Exzellenz Herrn Wang Tschung Hu veranlaßt hatten, diese Verbindung zwischen seinem Schreibtisch und der Wohnung seines Hausmeisters herstellen zu lassen, waren von besonderer Art. Wutin Fang, der da unten in der bescheidenen Stellung eines Hausmeisters wirkte, war in Wirklichkeit chinesischer Generalstabsoffizier und Chef der gelben Spionage in Europa. Der Botschafter mußte jederzeit offiziell versichern können, daß er Leute, wie jetzt diesen Mr. Collin Cameron, nicht kenne, niemals gesehen oder gesprochen habe. Aber Seine Exzellenz hatten ein großes und berechtigtes Interesse daran, zu erfahren, was solche Leute mit Wutin Fang verhandelten. So saß Wang Tschung Hu jetzt mit gespannter Aufmerksamkeit vor dem Telephon. Stimmen erklangen aus dem Apparat.
»Was bringen Sie uns, Mr. Cameron?«
»Schlechte Neuigkeiten, Herr Wutin Fang. Es hat nicht geklappt.«
»Ich verstehe nicht, wie das möglich war?«
»Wie das möglich war? … Ich hatte Ihnen den genauen Plan besorgt … Die Lage der Tresore, in denen die Kompagnie die Proben und Analysen des neuen Dynotherms aufbewahrt. Die Tresore sollten gesprengt werden. Ihre Leute haben ein harmloses Feuerwerk veranstaltet, aber keine Sprengung … Ein paar Fensterscheiben in Trümmer, ein paar Türfüllungen herausgeschlagen, aber die Tresore kaum beschädigt … Ganz unmöglich, an die Proben des Dynotherms heranzukommen … ich habe das Menschenmögliche versucht … Mehr, als für meine Person gut war …«
»… Verdammt … wir müssen die Analysen haben. Wenn es heute nicht ging, muß es das nächste Mal gehen.«
»Halten Sie die Direktoren der Kompagnie nicht für Kinder! Ein zweites Mal wird sich eine Gelegenheit nicht wieder bieten … gewiß nicht … ganz bestimmt nicht … dafür wird der Erfinder des neuen Stoffes sorgen. Isenbrandt war während der Sprengung im Gebäude. Ich sah ihn, wie er mit den Direktoren das Haus verließ. Meinen Sie, der wüßte nicht, um was es sich gehandelt hat …«
»Wir werden die Analysen bekommen. Wenn nicht morgen, dann übermorgen.«
»Machen Sie, was Sie wollen … ich kann mich mit der Angelegenheit nicht mehr abgeben … Ich habe mich schon zu sehr exponiert. Ich bin gesehen worden …«
»Von wem … von Isenbrandt?«
»Nein. Der hatte andere Dinge im Kopf und kennt mich auch nicht … ein Freund von ihm, ein amerikanischer Journalist … ein verdammter Schnüffler. Ich kenne ihn von Frisco her … Jetzt kennt er mich auch. Ich vermute beinahe, daß er mich schon von drüben her verfolgt. Ich muß Berlin von hier aus sofort verlassen.«
»Ihr Bericht ist wenig befriedigend, Mr. Cameron … Sie haben uns zu dem Unternehmen veranlaßt … Jetzt ziehen Sie sich zurück.«
»Weil ich muß. Die Gründe habe ich Ihnen gesagt. Das Unternehmen ist fehlgeschlagen, weil Ihre Leute schlecht gesprengt haben … Immerhin … Ich habe daraus zu machen versucht, was sich machen ließ. An die Analysen in den Panzergewölben war nicht heranzukommen. Für den Tresor im ersten Stock reichten die Sprengmittel, die ich bei mir hatte …«
»Mir wurde von zwei Explosionen berichtet … Haben Sie …«
»Ich habe es getan, weil ich es für die letzte Gelegenheit hielt, in das Kompagniegebäude zu kommen … Auf die Gefahr hin, verhaftet zu werden … auf die Gefahr hin, nichts zu finden … Ich habe gefunden.«
»Was haben Sie …«
»Wollen Sie, bitte, selbst sehen!«
Bisher hatten die Lauschmikrophone jede Silbe in den Apparat des Botschafters geleitet. Aber sehen konnte Wang Tschung Hu nichts. Er hörte deutlich das Knistern, wie wenn Papiere ausgebreitet und gerade gestrichen werden.
Dann wieder die Stimme Collin Camerons:
»Ich meine, der Besuch hat sich immerhin gelohnt.«
»Das Ilidreieck …«
Seine Exzellenz Herr Wang Tschung Hu preßte den Hörer mit Gewalt gegen das Ohr, aber er hörte nichts mehr. Wutin Fang schwieg, als habe er mit dem einen Wort schon zuviel gesagt. Collin Cameron sprach weiter:
»Ich lasse Ihnen die Pläne hier. Ich kann es nicht mehr riskieren, sie selbst nach China zu bringen. Die Marchesa di Toresani ist hier. Die kann das besorgen … ich muß sofort und auf dem schnellsten Wege nach Kaschgar.«
Wang Tschung Hu hörte, wie Papiere gefaltet wurden und die Tür eines Tresors in ihr Schloß fiel. Dann Blättern wie in einem Buche und dann die Stimme Wutin Fangs: »In vierzig Minuten geht das Ostschiff. Sie können es noch erreichen.« – –
Die Hände tief in den Taschen seines Mantels verborgen, ging Wellington Fox auf der gegenüberliegenden Seite der Straße vor der chinesischen Botschaft auf und ab. Der feine kalte Regen schien seiner offenbar recht guten Stimmung keinen Abbruch zu tun.
»Hab’ ich dich doch endlich, mein Freund«, kam es im Selbstgespräch von seinen Lippen. »Zwar nicht in meinen Fäusten, in denen ich dich gern hätte. Aber deine Schliche kenne ich jetzt … und die sind schlimmer, als ich dachte. Georg wird Augen machen, wenn ich ihm schneller als die liebe Polizei volle Aufklärung über den Täter gebe. Es dürfte jetzt auch Zeit sein, Isenbrandt etwas von meinen Beobachtungen in den Staaten zu erzählen … und von der Rolle, die der Bursche da spielt. Isenbrandt! Isenbrandt! Du spielst ein größeres Spiel, als du ahnst … Hier ist meine Arbeit für heute zu Ende.«
Er wollte sich eben dem Innern der Stadt zuwenden, als das plötzliche Halten eines Autos vor der Botschaft ihn noch einmal stillstehen ließ. Er kniff die Augen zusammen, um in der unsicheren Beleuchtung besser zu sehen.
Eine Dame, deren hoher Wuchs die Europäerin verriet, verließ den Wagen und schritt, von einem grauhaarigen Diener begleitet, durch den Vorgarten in das Haus. Mit einem Umwege begab sich Wellington Fox noch einmal auf den Bürgersteig vor der Botschaft. Als er den Wagen erreichte, kam die Besucherin mit ihrem Diener bereits wieder aus dem Gebäude. Ein dichter Schleier verbarg ihre Züge. Aber Wellington Fox starrte den beiden nach und starrte noch, als das Auto längst verschwunden war.
»Hallo! Was war das? Werden deine Augen schwach, Wellington? Vor einer Minute hätte ich noch geschworen, daß der Diener ein alter, grauhaariger Bursche war. Und jetzt hatte er schwarzes Haar. So schwarz wie deines, mein Freund Collin Cameron. Lauf, Bursche! Wir treffen uns wieder.«
Der Präsident Dr. Reinhardt sprach in der Direktoriumssitzung der Europäischen Siedlungsgesellschaft: »… über die wirtschaftlichen und technischen Erfolge im letzten Jahre gibt der Bericht des Aufsichtsrates der Gesellschaft ein anschauliches und erfreuliches Bild. Sie kennen ihn ja alle. Ich möchte nur die wichtigsten Punkte hervorheben. Die Schmelzarbeiten haben mit 3,6 Milliarden Kubikmeter Wasser die Ziffer des Vorjahres um 600 Millionen übertroffen. Die Zahl der europäischen Siedler auf unseren Gebieten hat sich, die russischen nicht miteingerechnet, um 200 000 vermehrt, die auf etwa 50 000 Quadratkilometer Neuland angesetzt sind. Auf das Gesellschaftskapital von einer Milliarde Pfund Sterling wird eine Dividende von 6 Prozent in Aussicht gestellt. Die Börse bewertete unsere Aktien schon seit dem Bekanntwerden des neuen Dynotherms nach dem Verfahren unseres Herrn Isenbrandt mit 150 Prozent des Nennwertes. Sie können an Ihre Staaten nur Erfreuliches berichten.
Die Aussichten für die Zukunft sind ebenfalls günstig. Ich sage nicht ›sehr günstig‹, denn ein voller Erfolg könnte unseren Arbeiten nur beschieden sein, wenn wir auch im Quellsystem der Flüsse schmelzen dürften, die im chinesischen Ilidreieck entspringen und in unserem Gebiet münden. Ich berühre hier eine heikle Frage, über die Herr Isenbrandt ihnen näheren Vortrag halten wird. Herr Isenbrandt hat das Wort.«
Als dieser sich erhob, füllte sich der Raum mit Spannung. Man wußte, daß jetzt etwas kam.
»Meine Herren! Ich will nur ganz kurz auf die heutigen gewaltsamen Anschläge auf unsere Tresore zurückkommen, um ihnen zu sagen: Das war gelbe Arbeit. Der Raub der Analysen und Synthesen des neuen Dynotherms ist mißlungen. Der Vorfall zeigt aber, wie gut es ist, daß wir die Fabrikation des neuen Dynotherms nicht wie die der alten Präparate im Uralgebirge bewerkstelligen, sondern nach den mitteleuropäischen Gebirgen verlegt haben. Der längere Transportweg wird durch die viel geringeren benötigten Mengen reichlich aufgewogen.
Der zweite Anschlag ist leider gelungen. Die Pläne für die Besetzung und Bearbeitung des chinesischen Iligebietes sind fort … in chinesischen Händen. Diplomatische Verwicklungen sind ja nicht zu befürchten, da die Gelben daraufhin keine Vorstellungen machen können. Aber das Beste daran, die Überraschung, ist verloren. Wir würden also gegebenenfalls einen vorbereiteten Gegner finden.
Und doch …!« Die Gestalt des Sprechers straffte sich. Seine Mienen schienen gewandelt. Das waren nicht mehr die Züge eines Gelehrten und Erfinders. Die Augen eines großen Kriegsmannes waren es, die einen Kampf um Sein oder Nichtsein mit einem übermächtigen Gegner schauen. Die schmalen Lippen fest zusammengepreßt, die Rechte auf der Tischplatte zur Faust geballt, so stand er da in sekundenlangem Schweigen.
»Und doch …!« Wie eine Fanfare hatten die Worte durch den Saal geklungen und jedes Ohr aufhorchen gemacht.
»Wir müssen das Ilidreieck haben!«
»Right or Wrong!« nickte der Vertreter Englands.
»Keinen Krieg!« Der Russe rief es und sprang erregt auf.
»Wir sind als nächste Nachbarn des Gelben Reiches am besten über die Machtverhältnisse informiert. Wollen Sie die blühenden Fluren Turkestans in Wüsten und Ruinen verwandelt sehen? Soll die Arbeit eines Dezenniums umsonst gewesen sein?«
Lebhaftes Stimmengewirr erfüllte den Saal. Die Meinungen waren geteilt. In erregtem Für und Wider platzten die Ansichten aufeinander. Gelassen schaute Isenbrandt eine Weile auf die erregten Gruppen. Dann erhob er seine Stimme von neuem:
»Um diese Gefahren zu vermeiden, machte ich meinen Vorschlag. Ich will jetzt nicht von unseren Arbeiten sprechen, die ohne das Ilidreieck nicht zur vollen Auswirkung gelangen können. Ich will mich auch nicht auf die Tatsache stützen, daß das Land vor 150 Jahren schon einmal russischer Besitz war. Daß es Rußland in einer Zwangslage entrissen wurde. Ein Blick auf die Karte hier an der Wand müßte genügen, um Sie von der Notwendigkeit zu überzeugen, daß das Iligebiet unser wird.«
Er war an die Karte herangetreten.
»Sie sehen, wie hier vom Pamirplateau aus nördlich ziehend das Alaigebirge und anschließend der Thian-Schan die Grenze gegen China bilden. Da springt auf dem 80. Längengrad die Grenze plötzlich vom Gebirgskamm ab und geht über das offene Ilital nach Norden, statt naturgemäß auf dem Gebirgskamm zu bleiben.
Was ist die Folge davon? Die Gelben haben hier ein Glacis, das eine ständige Drohung für uns ist. Dessen ist sich China wohlbewußt. Das an sich kleine, mäßig fruchtbare Gebiet bietet wirtschaftlich für das große Himmlische Reich kein Interesse. Aber als Ausfallspforte gegen den Westen ist es von höchster Bedeutung.
Die gelbe Gefahr ist noch im Werden. Sie verkörpert sich nicht nur in der Person des großen Kaisers Schitsu. Stirbt er, wird ein anderer kommen, früher oder später, unter dem sich die Entwicklung fortsetzen wird. Der Kaiser ist nur ein Exponent bei Verhältnisse, die sich in jedem Fall durchsetzen. Nicht um Augenblickspolitik wollen wir handeln. Auf Menschenalter müssen wir uns sichern.«
Georg Isenbrandt hatte geendet. Wiederum begann eine lebhafte, von vielen Stimmen gleichzeitig geführte Debatte. Nicht wenige waren es, die zu Isenbrandt hintraten und ihm zustimmend die Hand schüttelten. Bis der Präsident sich Gehör verschaffte.
»Meine Herren, wir werden morgen um dieselbe Zeit wieder zusammenkommen, um über das heute Besprochene abzustimmen. Sie haben vierundzwanzig Stunden Zeit, um sich von ihren Regierungen die letzten Informationen zu holen.«
Die Strahlen der Aprilsonne vergoldeten die Kuppeln von Orenburg und ließen sie aufleuchten und schimmern wie einst vor einem Vierteljahrtausend, als der Befehl der Kaiserin Elisabeth hier die Grenzburg gegen die Stämme Asiens entstehen ließ. Die Sonnenstrahlen überfluteten das Bahnhofsgebäude und spielten und glitzerten in tausend Reflexen in den gewaltigen Eisenkonstruktionen des großen Postflughafens neben dem Bahnhof.
Zur Höhe von zweihundert Meter reckten sich die stählernen Bauten. Wie seine Filigranarbeit stand ihr Fachwerk in der sichtigen Frühlingsluft. Nur bei der Betrachtung aus der Nähe sah man, daß gigantische Stahlträger die einzelnen Maschen dieses Netzwerkes bildeten. Eines Fachwerkes, das stark genug war, um in schwindelnder Höhe noch die schweren Plattformen zur Aufnahme der großen Flugschiffe zu tragen.
Jetzt war der Flugplatz leer. Verlassen standen die riesigen Landungsanlagen. Scheinbar unbewohnt lag das Posthotel inmitten der parkartigen Gartenanlagen. Langsam wanderte der Zeiger der großen Uhr am Turm des Hotels über das Zifferblatt. Eben erreichte er die Zwölf, und mit weithin schallenden Schlägen verkündete das Werk die Mittagsstunde.
Auf der Nordostecke der Landungsplattform erhob sich ein eiserner Turm und ragte noch einmal fünfzig Meter in die Hohe. In seinem obersten Teil, dicht unter dem Dach, von dem die russische Postflagge wehte, lagen die Diensträume für den Stationschef und die Telegraphisten. Hier liefen Telegraphenleitungen von allen Teilen des Flugplatzes zusammen, hier standen die Wellentelephone, durch welche die Station jederzeit mit den Flugschiffen verkehren konnte.
Der Stationschef trat in den Telegraphistenraum.
»Was Neues, Gregor Iwanowitsch?«
»Alles in Ordnung, Fedor Fedorowitsch.«
Der Chef blätterte in dem Stationsbuch, das aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Notizen über den laufenden Dienst. Telephonate aus den Schiffen der verschiedenen Linien.
Orenburg war ein Knotenpunkt für den Luftverkehr. Die große europäische Linie Berlin–Moskau–Orenburg spaltete sich hier in drei Zweigstrecken. Die sibirische Linie nach Omsk und Tomsk, die Südostlinie nach Ferghana und die persische Linie nach Teheran.
Der Chef überflog die Aufzeichnungen … Das sibirische Schiff hatte vor einer halben Stunde zwei Zimmer im Hotel bestellt … Das persische Schiff hatte vor zwanzig Minuten gesprochen. Vom Moskauer Schiff war vor einer Stunde das letzte Gespräch gekommen. Es meldete die Abgabe und Übernahme der Post über Samara beim Überschreiten der Wolga.
Der Stationschef verglich seine Uhr mit der Normaluhr über dem Apparatetisch.
»Noch fünfundvierzig Minuten bis zur Ankunft des Moskauer Schiffes … Starke Besetzung heute … Nach den Listen hundertsechzig Passagiere … Gregor Dimidow ist ein beliebter Kapitän … Die Reisenden benutzen sein Schiff mit Vorliebe. Obwohl Nummer achtzehn längst nicht mehr das neueste Schiff ist …«
Das plötzliche Ansprechen eines der Telephonapparate unterbrach die Worte des Stationschefs.
»Achtzehn … tick tick tick, tä tä tä, tick tick tick, tä tä tä …«
Achtzehn war die Nummer des Schiffes Moskau – Orenburg, das hier in fünfundvierzig Minuten erwartet wurde. Die Morsezeichen, die danach im peitschenden Rhythmus in je drei Kürzen und drei Längen gegeben wurden, bedeuteten den internationalen Notruf für höchste Gefahr.
Was war geschehen?
Unaufhörlich schrillten die Notrufe weiter durch den Raum … Keine telephonische Mitteilung, die nähere Aufklärung gegeben hätte. War die Telephonanlage an Bord von Nummer achtzehn in Unordnung geraten? Arbeitete nur noch die Telegraphenanlage und schrie in höchster Not die ominösen Morsezeichen in den Raum? Hatten die Telegraphisten an Bord den Kopf verloren?
Mit einem Ruck schaltete der Telegraphist die eigene Sendeanlage ein. Er wollte rückfragen … Auskunft über die Art der Gefahr einfordern. Aber er kam nicht dazu.
Gerade in diesem Augenblick begann es im Telephonapparat in allen nur denkbaren Tonarten zu rauschen und zu pfeifen. Dem erfahrenen Beamten war es klar, daß es eine andere starke Station mit der gleichen Wellenlänge wie Nummer achtzehn gab. Offensichtlich, um die Notrufe des Schiffes zu übertönen und unwirksam zu machen. Über seine Apparate gebeugt, versuchte er durch schnelle Umstimmung der Wellenlängen die Verständigung wiederherzustellen.
Als es ihm nicht gelang, nahm er die Verbindung mit den Städten im Umkreis auf. Der Reihe nach sprach er mit Kasan und Saratow, mit Perm, Tobolsk und Omsk. Er rief Kamlinsk und Gurjew an und hatte keinen Erfolg. Wohl hatte man auch auf diesen Stationen den Hilferuf von Nummer achtzehn vernommen, aber es waren auch dort keine Polizeischiffe zur Verfügung. Viertelstunde auf Viertelstunde verstrich, ohne daß sich eine Möglichkeit bot, dem Postschiff Hilfe zu senden.
Der Telegraphist legte seinen Apparat wieder auf die Wellenlänge von Nummer achtzehn um. Jetzt herrschte Ruhe im Hörer. Das Zwischensprechen der Störungsstation hatte aufgehört. Aber auch das Postschiff meldete sich nicht. Vergeblich rief der Telegraphist es an. Der Zeiger auf der Normaluhr rückte inzwischen unaufhaltsam weiter. Schon war die Ankunftszeit, zu der es hier in Orenburg eintreffen sollte, um zehn Minuten überschritten.
Kurs Ost zu Südost zog das Postschiff Nummer achtzehn der Linie Moskau – Orenburg in zehn Kilometer Höhe seine Bahn. Vor einer Stunde hatte es über Samara die letzte Post abgegeben und empfangen. Noch fünfundvierzig Minuten, und es sollte in Orenburg landen. Mit zweihundert Kilometer in der Stunde strich der mächtige, in den russischen Farben blau und weiß gestrichene Bau durch den Äther.
Im großen Salon und in den Gesellschaftsräumen vertrieben sich die Passagiere die Zeit in der bei solchen langen Reisen üblichen Manier. Hier saßen sie beim Kartenspiel. Dort las einer, dort schlief ein dritter im bequemen Sessel. An anderer Stelle wieder verkürzte man sich in sorglosem Gespräch die Stunden.
In der Zentrale des Schiffes stand der Kommandant Gregor Dimidow neben dem wachthabenden Offizier … und hier war die Sorge zu Haus. Scharf und angestrengt spähte der Kapitän nach Süden. Jetzt griff er zum scharfen Glas. Ein einziges Wort fiel von seinen Lippen:
»Wo?«
Der Wachthabende wies mit dem Finger die Richtung.
»Dort!«
Mit dem Glas untersuchte der Kapitän den Himmel in der angedeuteten Richtung. Sah und suchte, während die Falten auf seiner Stirn sich vertieften.
»Schneller als wir! … Keine Flagge?! … Kein Zeichen? … Was ist …«
Während der Kommandant die beiden letzten Worte sprach, war das fremde Schiff verschwunden. In dieser Entfernung überhaupt nur ein winziger grauer Schemen, war es in eine Wolke getaucht und im gleichen Moment den Blicken der hier so scharf Ausspähenden entrückt.
Der Kommandant ließ das Glas sinken.
»Was halten Sie von der Geschichte?«
Der Wachthabende machte aus seiner Meinung kein Hehl.
»Da stimmt etwas nicht, Kapitän! Seitdem wir über die Wolga gingen, treibt sich das Schiff in unserer Nähe herum. Es ist schneller als wir … Ich glaube viel schneller. Wenn es glatte Wege ginge, könnte es uns längst überholt haben, schon seit einer Stunde in Orenburg sein, wenn’s dahin wollte … Ich halte es nicht für Zufall, daß es sich zeitweis in den Wolken verkriecht … Ich wollte, wir wären fünfundvierzig Minuten weiter.«
Der Kapitän ging mit unruhigen Schritten in dem kleinen Kommandantenraum hin und her. Die Verantwortung für das wertvolle Schiff mit hundertsechzig Passagieren lastete schwer auf seinen Schultern. Sollte er telephonischen Alarm geben? … Sukkurs von Orenburg erbitten? … Oder sollte er notlanden? Tat er es ohne Grund, würde die Verwaltung ihm Vorwürfe machen … Nervöse Kapitäne waren im Dienste der russischen Postlinien nicht erwünscht. Aber … die Verantwortung.
»Dort!«
Zum zweitenmal fiel das kurze Wort von den Lippen des Wachthabenden.
Das fremde Schiff war wieder aus den Wolken herausgetreten und wurde jetzt schnell größer. Der Kommandant faßte seinen Entschluß.
»Wenn es jetzt weiter auf uns zuhält, dann will es was von uns … Und dann nehme ich die telephonische Verbindung auf und rufe um Hilfe.«
Aber während der Kommandant dem Wachthabenden diesen Entschluß mitteilte, überlegte er schon weiter, welche Wirkung er sich von dieser Maßnahme versprechen dürfe. Orenburg war noch zu weit. Ganz unmöglich würde er den Flughafen vor dem fremden Schiff erreichen können … Hilfe von dort? … Raubüberfälle auf Postschiffe waren seit zwanzig Jahren selten geworden. Seitdem die »European Settlements Company« und die »Asiatic Dynotherm Company« hier eingegriffen und mit ihren gut bewaffneten Schiffen den Verkehr geschützt hatten, war das Geschäft für die Lufträuber zu gefährlich geworden. Die Gegend hier galt als vollkommen sicher. Die Schiffe der beiden Gesellschaffen versahen ihren Wachtdienst jetzt viel weiter im Osten, im Herzen Asiens. Es war unwahrscheinlich, daß irgendein Polizeischiff hier schnell zur Stelle sein konnte.
Und Schnelligkeit tat not. Bedeutend näher war das fremde Schiff während der letzten beiden Minuten herangekommen. Jetzt war kein Zweifel mehr, daß es dem Postschiff den Weg verlegen wollte.
Auf einen Wink des Kommandanten schaltete der Wachthabende die Sendestation ein. Automatisch begann das Typenrad zu laufen und gab die Nummer des Schiffes in den Raum … Und dann blitzte ein Wölkchen auf dem fremden Schiff auf, und ein Schrapnell pfiff dicht über das Postschiff hin. Zweihundert Meter seitlich von ihm platzte das Geschoß.
Mit einem Satz stand der Wachthabende an der Morsetaste. Mechanisch hämmerten seine Finger das S. O., S. O., den internationalen Notruf, und tick tick tick, tä tä tä schrie die Station des angegriffenen Schiffes den Ruf in alle Winde.
Jetzt galt es, und jetzt war alle Unschlüssigkeit vom Kommandanten gewichen. Er selbst stand am Steuer und gebot durch den Maschinentelegraphen den Turbinen die Hergabe der höchsten Leistung.
Nach Orenburg war nicht mehr zu gelangen. Aber nach Norden abweichen … etwa noch Ufa erreichen, irgendwo im Schutze menschlicher Ansiedlungen notlanden … Bis dahin aber von den immer häufiger fliegenden Schrapnellen nicht getroffen werden … das blieb die letzte Möglichkeit einer Rettung.
Zickzackfahren, den Kurs so schnell und so sprunghaft ändern, daß die da drüben mit ihrem Schießen immer zu spät kommen mußten … daß nur Zufallstreffer dem eigenen Schiff gefährlich werden konnten … Zeit gewinnen … Raum gewinnen … dem Gegner den Wind abgewinnen!
Fieberhaft arbeitete das Gehirn des Kommandanten, während er sein Schiff in wilden und immer wilderen Zickzacklinien durch den Äther führte.
Immer noch hieb der Wachthabende auf der Morsetaste das Notzeichen S. O., S. O. in den Raum. Der Kommandant sah es in einem ruhigen Moment, als das schwere Schiff, jäh durch eine Kurve gerissen und schief gelegt, sich allmählich wieder aufrichtete.
»Gehen Sie zu den Passagieren! Die Leute müssen bei dem Wenden und Schlingern außer Rand und Band kommen … Gehen Sie schnell in den Salon und beruhigen Sie die Passagiere … irgendwie! … Mit irgend etwas! … Erfinden Sie Ausreden! … Erzählen Sie den Leuten, was Sie wollen … aber halten Sie mir die Passagiere bei Vernunft …«
Der Wachthabende ging, den Auftrag des Kommandanten zu erfüllen. Der Kommandant aber gab sich ganz der immer schwieriger werdenden Aufgabe hin, sein Schiff dem Feuer eines Gegners zu entziehen, der, an Schnelligkeit zweifellos überlegen, von einem unerschütterlichen Vernichtungswillen beseelt zu sein schien. Er versuchte es im Gefühl seiner Verantwortlichkeit, versuchte es, weil ihm ein anderes Mittel als seine Steuerkunst nicht zur Verfügung stand. Aber er sah den Untergang seines Schiffes unabwendbar vor Augen, wenn kein Wunder geschah.
Wellington Fox kam von seinem Rundgang durch die Maschinenräume des Kompagnieschiffes wieder in die Zentrale zurück.
»Alle Wetter, Georg! Meine Hochachtung vor der Chartered Company und ihren Schiffen …
»E. S. Kompagnie!« verbesserte Isenbrandt. »Nicht Chartered Company! Der Name hat einen schlechten Klang in der Geschichte. Europäische Siedlungsgesellschaft, bitte.«
»Meinetwegen! Aber es kommt doch auf was Ähnliches heraus. Eure Gesellschaft ist mit staatlichen Hoheitsrechten ausgestattet, hält auf eigene Rechnung Soldaten und … wird vielleicht eines Tages Krieg führen … auf eigene Rechnung.«
»Laß, Fox! Deine Vergleiche hinken zu stark!«
»Na! Jedenfalls gibt diese Fahrt mir Stoff für einen guten Bericht nach Chikago. Etwa so … Beim Streifkommando der E. S. C. … mit dem schnellsten Schiff der Kompagnie von Europa nach Asien … Die Streitkräfte der Kompagnie … Eine wirksame Sache wird das … Fehlt nur noch ein regelrechtes Abenteuer.«
Georg Isenbrandt saß bequem in einem Korbsessel und verfolgte mit sachkundigen Blicken das Zeigerspiel der mannigfachen Apparate in der Zentrale, während er ab und zu halblaute Worte mit dem Kommandanten des Schiffes, dem baltischen Baron von Löwen, wechselte.
Der Kommandant und der wachthabende Offizier trugen schmucke Uniformen militärischen Schnitts, wie sie in ähnlicher Art nur bei den stehenden Heeren der Staaten zu finden waren. An den Mützen bei beiden ein eigenartiges Wappen mit den verschlungenen Buchstaben der E. S. C. Militärisch waren die Uniformen der beiden Offiziere, militärisch auch ihre Haltung und Sprachweise ebenso wie diejenige der Unteroffiziere und Maschinisten, die gelegentlich mit einer Meldung in den Raum kamen.
Nach den wenigen Worten, die er mit dem Baron von Löwen wechselte, konnte kein Zweifel bleiben, daß das Kompagnieschiff unter dem Befehl Isenbrandts stand.
Wellington Fox sprach weiter:
»Mein Kompliment, Herr von Löwen! Ich kenne unsere amerikanischen Kreuzer … Ich kann beurteilen, was ich hier gesehen habe … Die Maschinen … vorzüglich … Ihre Ausrüstung … unübertrefflich. Sie müssen bei forcierter Fahrt siebenhundert Kilometer in der Stunde hinter sich bringen …«
Georg Isenbrandt und Archibald Wellington Fox waren seit zwanzig Jahren eng befreundet. Ihre Freundschaft datierte schon aus der Zeit, in der beide noch in Deutschland auf derselben Schulbank saßen. Aus einer Zeit, in der Archibald Wellington Fox noch auf gut deutsch August Wilhelm Fuchs hieß.
Das Leben hatte die beiden Schulfreunde später getrennt. Walter Isenbrandt hatte in Deutschland als Assistent des Professors Frowein an der Verbesserung des Dynotherms mitgearbeitet. Jenes künstlich hergestellten radioaktiven Stoffes, der in seinen letzten Auswirkungen zur Gründung der großen europäischen Siedlungsgesellschaft geführt hatte.
Wellington Fox war eines Tages in den Vereinigten Staaten gelandet. Leute, die ihm vielleicht nicht wohl wollten, behaupteten, es habe damals hinter ihm merklich nach verbrannten Schiffen gerochen. Jedenfalls war er im Hexenkessel des amerikanischen Lebens nicht untergegangen und heute der angesehene und hochbezahlte Korrespondent der Chikago-Preß für die Dinge in Asien.
Fox wandte sich wieder an den Kapitän.
»Ein wunderbares Schiff, Herr von Löwen. Es muß Freude machen, so etwas zu führen.«
»Gewiß, Mr. Fox. Es macht mir Freude, einen der schnellsten Kreuzer der Company zu führen. Aber der Dienst wird auf die Dauer eintönig. Es passiert nichts Aufregendes mehr, seitdem wir die neue Flotte haben.
Wir patrouillieren vom Balkasch bis zum Altai. Tagein, tagaus der gleiche Dienst. Es passiert nichts mehr. Die Zeiten der guten alten Lufträuberromantik sind dahin. Vor zehn Jahren kam es noch öfters vor, daß die Postschiffe zwischen dem Aral- und Balkaschsee über der Hungersteppe überfallen wurden. Damals mußten Postschiffe mit größeren Werttransporten noch im Konvoi fahren. Heute ist das längst vorbei … und ich möchte auch keinem dazu raten. Unsere Kreuzer würden den Spaß schnell verderben … Es ist jetzt viel sicherer, aber, unter uns gesagt, auch viel langweiliger.«
Ein leichtes Lächeln zog über die Züge Georg Isen»Brandts, während er die grauen Augen einen Moment auf dem Kommandanten ruhen ließ.
»Es wäre nicht ganz ausgeschlossen, Herr von Löwen, daß der heutige Tag eine kleine Abwechslung in Ihren Dienst bringt.«
Der Kommandant sah ihn einen Augenblick erstaunt, fragend an.
Mit einem leicht hingeworfenen, gleichgültig klingenden »Oh …« tat Isenbrandt die unausgesprochene Frage ab.
Herr von Löwen sprach weiter: »Hm … Es war mir schon eine angenehme Abwechslung, Herr Isenbrandt, als ich den Befehl bekam, in forcierter Fahrt nach Moskau zu gehen und Sie an Bord zu nehmen.«
Isenbrandt zog seine Uhr.
»Das Postschiff Nummer achtzehn muß in fünfundvierzig Minuten in Orenburg landen. Wie stehen wir?«
Der Kommandant beugte sich über die Karte, auf der das Besteck der Fahrt vom Log fortlaufend und selbsttätig aufgetragen wurde.
»Wir stehen zwanzig Kilometer hinter Nummer achtzehn.«
»Halten Sie den Abstand bis Orenburg, wenn nicht …«
Das Wellentelephon schlug an. Scharf und abgehackt kamen die Morsezeichen.
»Nummer achtzehn, tick tick tick, tä tä tä, tick tick tick, tä tä tä …«
Herr von Löwen starrte abwechselnd auf den Apparat und auf den Oberingenieur. Georg Isenbrandt blieb unbewegt sitzen. Nur seine Augen blitzten.
»Also doch … äußerste Fahrt voraus! Dem Postschiff nach … Ihre Kanoniere bekommen Arbeit, Herr von Löwen!«
Ein jäher Ruck ging durch das Wachtschiff und warf Wellington Fox gegen den Türpfosten. Jetzt rissen die mächtigen Maschinen den schnittigen Bau plötzlich mit siebenhundert Kilometer durch den Raum. Und jetzt sahen sie, was geschah. Es war ein Raubüberfall in bester Form. Ein schnelles, gut bewaffnetes Schiff ohne Flagge feuerte unablässig hinter dem schwerfälligen Postschiff her, das sich durch scharfe Wendungen und eine Flucht nach Norden dem Angriff zu entziehen versuchte.
Wellington Fox war an das Fenster gesprungen und verschlang das Raubschiff mit den Augen. Herr von Löwen sprach durch den Apparat mit den Batterien. Unablässig arbeiteten die automatischen Entfernungsmesser und gaben von Sekunde zu Sekunde die errechneten Entfernungen zu den Geschützen weiter.
»Halte dich fest, Fox!«
Die Warnung Isenbrandts kam zu spät. Der schwere Donner eines Schusses, und gleichzeitig führte das Schiff unter der Gewalt des Rückstoßes eine Schlingerbewegung aus, die den Berichterstatter der Chikago-Preß der Länge nach auf den Fußboden schleuderte. Mit der Gewandtheit einer Katze sprang er wieder auf und klammerte sich an der Fensterbrüstung fest.
»Dicht Backbord vorbei, Georg!«
Schon rollte ein zweiter Donner, und der Rückstoß des zweiten Schusses legte das Kompagnieschiff schwer über.
Wellington Fox vergaß alle Vorsicht und machte einen Freudensprung.
»Hurra, der hat gesessen! Ein Backbordpropeller ist beim Teufel … kolossale Frechheit! Die Hunde lassen nicht locker … Schießen wie verrückt auf das Postschiff …«
Beim letzten Worte machte Wellington Fox wieder Bekanntschaft mit dem Fußboden. Ein dritter Schuß war aus den Rohren des Kompagnieschiffes gefahren.
»Ich rate dir wirklich, dich festzuhalten, Fox.«
Georg Isenbrandt sagte es mit unerschütterlicher Ruhe, während er durch ein gutes Glas die Schußwirkungen auf dem Raubschiff beobachtete.
»Auch ein Steuerbordpropeller … gut! … Das hat in die Batterie geschlagen …«
Ruhig und leidenschaftslos stellte er die einzelnen Treffer fest. Ohne Pause krachten jetzt die acht Schnellfeuergeschütze des Kompagnieschiffes und schleuderten einen Strom von Stahl und Dynamit auf das Raubschiff hin. Aber obschon schwer getroffen, setzte dies den Angriff auf das Postschiff fort.
Nur noch aus einem Rohr vermochte es jetzt zu feuern, aber es feuerte, bis ein Treffer des Kompagnieschiffes auch dies letzte Rohr in Trümmern schlug.
Georg Isenbrandt kniff die Lippen zusammen.
»Halt! … Das darf nicht sein … Herr von Löwen!«
Der Kommandant folgte mit den Blicken dem Finger des Oberingenieurs. Ein gelbes Pünktchen löste sich von dem Raubschiff und sank in die Tiefe. Der Kommandant sprach durch das Telephon. In dichten Salven feuerte das Kompagnieschiff. Weiße Schrapnellwölkchen umhüllten das niedersinkende gelbe Fleckchen und dann … ganz plötzlich war das verschwunden, wie weggewischt aus dem blauen Himmel.
»Aber schon tropfte es weiter aus dem todwunden Raubschiff. Ein zweiter, dritter, vierter und fünfter Fallschirm löste sich fast gleichzeitig von ihm und sank nach unten.
Wellington Fox hielt sich mit der Rechten am Fenstergriff und schlug sich mit der Linken auf die Schenkel.
»Nummer zwei ist futsch … Nummer drei ist getroffen … den fünften hat’s gefaßt … der vierte … aber der vierte … Georg … der vierte kommt durch.«
Die Geschütze des Kompagnieschiffes arbeiteten wie Schnellfeuerpistolen. Die Wolken der platzenden Schrapnelle umhüllten den vierten Fallschirm so dicht, daß man das Gelb seiner Form nicht mehr zu erkennen vermochte.
»Jetzt hat’s ihn! … Nein, da ist er noch … jetzt hat’s ihn doch … nein … na … ich weiß nicht …«
Wellington Fox stieß die Worte mit der Leidenschaftlichkeit eines Jägers hervor, während er das Schicksal des vierten Fallschirms verfolgte.
In den letzten Minuten war das Kompagnieschiff dem bewegungslosen Raubschiff immer näher gekommen. Noch einmal drei Schüsse aus den schwersten Rohren. Trümmer flogen auf. Dann brach das führerlose Schiff in drei Teilen auseinander. Schwer wie Steine stürzten sie in die Tiefe und schlugen dumpf auf den Boden auf. Die Rohre des Kompagnieschiffes schwiegen. Unwahrscheinlich wirkte die Stille nach dem Getöse des vorangegangenen Kampfes. Der Kommandant brach als erster das Schweigen.
»Horrido! Herr Isenbrandt … Das war also Ihre kleine Abwechslung!? Der Sieg war ja nicht schwer. Aber immerhin …«
Isenbrandt trat auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand.
»Das war gute Arbeit, Herr von Löwen. Es waren nicht die hundert oder zweihundert Passagiere des Postschiffes, die Sie vor einem schlimmen Tode bewahrt haben … Denn offensichtlich ging die Absicht der Piraten nicht auf Raub, sondern auf Vernichtung … Es war diesmal mehr …«
Herr von Löwen blickte den Sprecher zweifelnd an.
»Also … Es war gute Arbeit, mein Herr von Löwen. Die Kompagnie wird Ihnen Dank wissen. Doch nun runter! Besehen wir uns die Strecke in der Nähe.«
Im schnellen Gleitflug stieß der starke Kreuzer in die Tiefe. Nach wenigen Minuten setzte er dicht neben den Überresten des abgeschossenen Schiffes auf.
Mit dem Kommandanten standen Georg Isenbrandt und Wellington Fox zwischen den Trümmern des Wracks. Verbogenes Fachwerk, zerfetzte Bleche, zerschlagene Transmissionen. Kaum möglich, sich durch den Wirrwarr einen Weg zu bahnen. Jetzt waren sie an der Batterie. Zwischen den zertrümmerten Lafetten lagen die Überreste menschlicher Körper. Zur Not ließen sich Rasse und Hautfarbe erkennen.
»Mongolen … Mongolische Räuber?«
Zweifelnd brachte der Kommandant die Worte hervor.
»Jedenfalls Gelbe, Herr von Löwen! Gelbe! Es ist wichtig, daß Sie das in Ihrem Bericht an die Gesellschaft betonen … Was macht Nummer achtzehn?«
»Ah! … Da!«
Der Kommandant deutete nach Nordosten.
»Es hat wieder Richtung Orenburg genommen. Seine Beschädigungen scheinen nicht allzu schwer zu sein. Es erreicht mit eigener Kraft den Hafen.
Wir sollten bis Ferghana durchfahren, Herr Isenbrandt. Mit Ihrer Zustimmung würde ich indes gern in Orenburg zwischenlanden. Für die weiteren Ermittlungen und meinen Bericht wäre es wünschenswert.«
»Bitte, Herr von Löwen!«
Wenige Minuten später erhob sich das Kompagnieschiff und setzte den Kurs mit forcierter Fahrt auf Orenburg.
Nummer achtzehn steuerte von Norden her den Orenburger Hafen an. Es fuhr schwerfällig, als ob ein Teil seiner Maschinen außer Betrieb sei. Der mächtige Rumpf lag nach Backbord über, als ob das Gleichgewicht gestört sei. Aber es fuhr doch mit eigener Kraft und kam dem Flughafen von Minute zu Minute näher.
Jetzt konnte man auch mit unbewaffnetem Auge erkennen, daß sein Rumpf an mehr als einer Stelle schwere Verletzungen aufwies. Ein Teil seiner Propeller war zerstört. Geknickt und zertrümmert hingen die Bruchstücke in den Lagern. Auf der Backbordseite zeigte der Rumpf große Risse und Löcher. Nur mit Mühe konnte der Führer sein Schiff in der Luft halten und vor dem Kentern bewahren.
Jetzt senkte es sich über der Plattform und warf die Leinen aus. Geschickt griffen die Schaffner zu. Aber sie hatten heute viel länger als sonst zu richten und zu dirigieren, bevor das Schiff endlich über dem Gleis stand und seine starken Räder in die Schienen eingriffen.
Im gleichen Moment begannen die hydraulischen Pressen der Station zu arbeiten. Wie von Zauberhänden bewegt, klappten zu beiden Seiten des Schiffes mächtige eiserne Wände empor, schoben sich hoch und vereinigten sich über ihm. Nur wenige Minuten, und von der aufsteigenden Halle völlig umgeben, stand es dort sicher vor Wind und Wetter geborgen. Treppen wurden ausgeklappt, Türen geöffnet, und in breitem Schwarm ergossen sich die Passagiere aus dem Schiffsinnern in das Freie.
Aber das Bild war heute anders als sonst. Der Schrecken des Überfalles lag den Reisenden in den Gliedern. Es hatte Treffer und auch unter den Passagieren Verwundungen gegeben. Wenn sonst hier ein Schiff der großen europäisch-asiatischen Linie landete, waren seine Promenadendecks stets dicht besetzt, und schon von weitem grüßte Winken und Tücherschwenken. Diesmal dauerte es viel länger, bis das gewohnte Leben und Treiben in Gang kamen. Viele Gesichter zeigten noch die Blässe, die von überstandener Gefahr sprach. Der Überfall, so schnell er auch bestraft wurde, war doch dem Luftverkehr dieses Tages nicht günstig. Die Beamten der Station hatten alle Hände voll zu tun, um Fahrscheine, die nach Omsk oder Andischan weiter galten, für die Eisenbahn umzustempeln. Viele Reisende zogen den langsameren, aber nach ihrer Meinung sicheren Landweg für die Weiterreise vor.
Jetzt lenkte Propellerschwirren die Blicke von neuem aufwärts. In windender Fahrt kam das Wachtschiff der E. S. C. an. Auf der Wölbung des Rumpfes schimmerte in leuchtenden Farben das Kompagniewappen. Die drei Ähren mit der Sichel und die verschlungenen Initialen E. S. C.
Sicher und schnell, ohne die Hilfe der Schaffner abzuwarten, setzte das Schiff auf der Plattform auf. Seine Treppe wurde ausgelegt. Georg Isenbrandt und Wellington Fox traten in Begleitung des Kommandanten ins Freie.
Zu dritt bestiegen sie einen der Fahrstühle, fuhren in die Tiefe und begaben sich zum Posthotel.
Georg Isenbrandt wandte sich an Herrn von Löwen:
»Während Sie sich mit dem Kommandanten von Nummer achtzehn besprechen und das Weitere in die Wege leiten, werde ich mit Mr. Fox im Hotel eine Erfrischung nehmen. Sie werden die Liebenswürdigkeit haben, es uns wissen zu lassen, wenn Sie abfahrtbereit sind.«
In der kleinen Trinkstube hinter dem großen Speisesaal fanden die beiden Freunde eine wohnliche Ecke, in der sie allein und ungestört sitzen konnten.
Der Raum war im Stile der alten deutschen Ratsstuben gehalten, wie man sie heute noch in den baltischen Hansestädten an der Ostsee findet. Man konnte sich hier in das sechzehnte Jahrhundert zurückversetzt glauben. Nur der Funkenschreiber, der auf einem Tischchen an der Wand stand und unablässig Depeschen aus aller Welt aufschrieb, verriet, daß die Zeit inzwischen ein halbes Jahrtausend weitergegangen war.
Wellington Fox sprang auf und trat an den Apparat heran. Einen kurzen Moment haftete sein Blick auf den Schriftzügen des Papierstreifens. Dann wandte er sich an den Oberingenieur.
»Höre mal, Georg, was die Wun-Fang-Ti-Agentur meldet …«
Georg Isenbrandt machte eine abwehrende Handbewegung.
»Laß, Fox! Sie lügen, wie nur Chinesen zu lügen verstehen. Dagegen kommen sogar die Korrespondenten der glorreichen amerikanischen Presse nicht auf.«
Wellington Fox machte ein beleidigtes Gesicht.
»Keine Anzüglichkeiten, Georg! Die Korrespondenten werden leider zu wenig unterstützt. Darüber werden wir noch zu reden haben. Die Agentur meldet: Peking, den 7. April. Die erleuchtete Güte wandelt auf dem Wege der Genesung. Der wachsende Mond wird Seiner Himmlischen Majestät die volle Kraft zurückbringen …«
Georg Isenbrandt zuckte mit den Achseln.
»Lügen haben kurze Beine. Mit allen ihren Lügen können sie das Leben des Kubelai-Khan um keine Minute verlängern. Wenn kein Wunder geschieht, stirbt der Kaiser in wenigen Tagen an der Kugel, die Wang Tschung auf ihn abfeuerte.«
»Ja, zum Teufel, warum lügen die Kerle so gräßlich? Seit Wochen und Tagen ist’s immer dieselbe Leier mit den Bulletins aus Peking. ›Es geht der Verhüllten Weisheit um einen Grad besser, es geht dem Himmelsgeborenen um zwei Grade besser‹ …«
Ein sarkastisches Lächeln ging über die Züge Isenbrandts.
»Fox, du alter Fuchs, du müßtest den Braten doch riechen. Kubelai-Khan, der als Kaiser Schitsu den Thron des Gelben Riesenreiches bestieg, hat nur einen unmündigen Sohn. Die Kugel des Republikaners, die ihn niederwarf, bedroht den Weiterbestand der neuen mongolischen Dynastie. Die ganze Lebensarbeit des Kubelai-Khan ist umsonst gewesen, wenn es nicht gelingt, in Peking eine starke Regentschaft einzusetzen, bevor der Tod des Kaisers öffentlich bekannt wird. Darum glaube ich, Fox, wir werden Bulletins der bisherigen Tonart noch lange zu lesen bekommen.«
Wellington Fox saß wieder am Tisch und stützte den Kopf in die Hand.
»Ich glaube, du hast recht, Georg. Das neue Gelbe Reich wurde erst vor zwanzig Jahren von dem kriegerischen Mongolengeneral und seinen Unterfeldherren zusammengeschweißt. Was bedeuten zwanzig Jahre in der viertausendjährigen Geschichte dieses Riesenreiches?«
»Nichts, Fox! Darum die Furcht, daß die junge Herrschaft wieder in Stücke geht. Nur die mongolische Kriegstüchtigkeit und die japanische Intelligenz halten das Riesenreich zusammen. Entsinken die Zügel der Regierung den Händen des Kubelai-Khan, ohne daß eine andere starke Faust sie ergreift, dann ist es um die Einigkeit des Gelben Reiches und um seine Stoßkraft nach außen geschehen.«
»Einverstanden, Georg! Die Konferenz in Berlin hat ja auch ihre Kriegspläne davon abhängig gemacht. Kaum glaublich, daß der Name Schitsu-Kubelai-Khan auf ganz Europa wirkt wie ein Habichtsschrei auf den Taubenschwarm. Deine Vollmachten müßten dir in der Tasche brennen bei dem ewigen Gedanken: Wird er leben? Wird er sterben?«
»Gut, daß ich die Gewißheit darüber habe. Die Vollmachten brennen nicht. Meine Pläne sind fertig.«
Wellington Fox nahm einen tiefen Zug aus seinem Glase.
»Weißt du auch, Georg, daß derselbe Mann, der in Berlin sprengte und deine Pläne stahl, heute den Überfall auf das Postschiff inszenieren ließ, in dem man dich vermutete?«
»Meinst du diesen Collin Cameron? Den Menschen, von dem du mir schon in Berlin erzählt hast?«
»Den meine ich, Georg! Gerade den! Hüte dich vor Collin Cameron! … Ich möchte wohl wissen, wie Mr. Granson, der dir das Kompagnieschiff schickte, von dem Streich zur rechten Zeit Wind bekommen hat.«
Ein Sergeant des Kompagniekreuzers trat in den Raum und meldete, daß das Schiff in zehn Minuten abfahrtbereit sei.
Am Nordufer des Kisil, dort, wo er bei Kaschgar dem Yarkand zuströmt, lag die Villa Witthusen. Auf steinernem Untersatz ein stattliches Holzhaus im Bungalostil. Rings um das ganze Gebäude zog sich, von dem flachen Dach mit überdeckt, eine breite Veranda. Das Innere des Hauses enthielt große und luftige Räume. Die Einrichtung der einzelnen Zimmer zeugte für den Reichtum des Besitzers.
Hier saß Theodor Witthusen, der Chef des großen Handelshauses Witthusen & Co., im Gespräch mit Mr. Collin Cameron, dem Vertreter der angesehenen amerikanischen Firma Uphart Brothers. Ein beträchtlicher Teil des Handels, der aus dem gelben Osten über Kaschgar nach Westen geht, lag in den Händen dieser beiden Firmen. Das russische Haus Witthusen & Co. importierte Häute und Teppiche, während das Haus Uphart Brothers mit Tee und Seide handelte. Collin Cameron war soeben von seiner Europareise zurückgekommen und hatte die erste Gelegenheit wahrgenommen, den Chef des befreundeten Hauses aufzusuchen.
Theodor Witthusen strich sich über den langen, leicht ergrauten Vollbart. Seine Züge verrieten Besorgnis.
»Wir sitzen hier in der Wetterecke, Mr. Cameron. Das politische Barometer ist gefallen und fällt noch weiter. Ich merke es an meinem Hauptbuch. Haben Sie Bestellungen aus dem Westen mitgebracht?«
Collin Cameron schlug sich auf die rechte Brusttasche.
»Gewiß, mein lieber Witthusen. Eine ganze Tasche voll! Die Nachfrage war sehr stark. Ich habe Aufträge für ein halbes Jahr mitgebracht.«
Theodor Witthusen schüttelte den Kopf.
»Ich habe seit Wochen keine Bestellungen mehr. Meine Lager sind voll bis unter das Dach. Man traut dem Frieden nicht. Die Auftraggeber halten zurück …«
»Sie sehen unnötig schwarz. Ich komme aus England. Man traut überall … Warum auch nicht … Es gab eine Krise, ich will es zugeben. Kurz nach dem Attentat auf den Kaiser. Die Gefahr ist überwunden. Ich habe zuverlässige Nachrichten. Die Kugel ist entfernt. Das Befinden des Schitsu bessert sich von Tag zu Tag. Wir haben nichts mehr zu fürchten …«
Theodor Witthusen war der Rede Collin Camerons Wort für Wort mit wachsender Aufmerksamkeit gefolgt.
»Ich weiß, Sie haben gute Verbindungen. Im Westen und auch hier bei unseren Behörden. Wenn Sie es sagen, glaube ich es. Ich hatte schon den Plan erwogen, Kaschgar zu verlassen und nach Rußland hinüberzugehen. Weg von hier nach Andischan … oder sonst irgendwohin ins Ferghanatal.«
»Sie weg? … Weg von hier? … Und Ihre Lager? … Millionenwerte … Ihre alte Firma, die Sie in zwanzig Jahren aufgebaut haben … passierte wirklich etwas, käme es zu Verwicklungen, so wäre das alles schutzlos feindlichen Zugriffen preisgegeben. Nein! Das dürfen Sie nicht … Schon Ihrer Tochter wegen nicht, der Sie das Vermögen erhalten müssen …«
»Gerade meiner Tochter wegen, Mr. Cameron. Ich bin ein alter Mann, und wenn man mich hier totschlägt, so … aber um meine Tochter bin ich in Sorge. Sie ist von Riga nach hierher unterwegs. Ich hätte sie warnen sollen … ich möchte sie heute noch warnen … ihr telephonieren, daß sie auf russischem Gebiete bleibt … ich werde auch telephonieren … Maria Feodorowna soll in Andischan warten, bis ich ihr weitere Nachrichten gebe.«
Collin Cameron war den Ausführungen seines Geschäftsfreundes mit unbeweglicher Miene gefolgt. Kein Zucken der ebenmäßigen Züge seines Gesichtes verriet, was hinter seiner Stirn vorging.
»Ich glaube, mein bester Witthusen, Sie sind viel zu ängstlich … so ängstlich geworden, weil Sie hier jahraus, jahrein an dem gleichen Fleck sitzen. Ich komme von England … war auch in Deutschland … Kein Mensch denkt an kriegerische Verwicklungen. Von Ihnen werde ich direkt zum Bürgermeister gehen, ihm meine Aufwartung machen. Wenn der Taotai irgendwelche Befürchtungen hat, wird er es mich wissen lassen. Ich stehe gut mit ihm … seit Jahren. Sie wissen, ich verstehe mich auch darauf, die Glocken etwas früher läuten zu hören als mancher andere.
Morgen gehe ich über Peking–Jokohama nach Frisko. Glauben Sie mir, es ist in den Staaten jetzt ungemütlicher als hier in Kaschgar. Sollte ich beim Taotai irgend etwas hören, gebe ich Ihnen noch Nachricht. Aber Ihre Besorgnisse sind sicherlich unnötig.«
Mit einem Händedruck empfahl sich Collin Cameron, um den Bürgermeister aufzusuchen.
Vor dem Hause wartete sein Kraftwagen auf ihn. Ein kurzer Wink Collin Camerons, und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Es rollte durch die von alten Platanen eingefaßte Allee am Ufer des Kisil entlang, überschritt den Fluß auf der neuen eisernen Brücke und wand sich durch die engen emporsteigenden Straßen der Stadt, um das hochgelegene Amtsgebäude des Taotai zu erreichen.
Collin Cameron sah nichts von den Schönheiten dieser Fahrt. Seine Gedanken waren bei dem großen Spiel, das jetzt gemischt wurde. Bei dem gewaltigen Spiel, das die Auseinandersetzung der gelben und weißen Rasse bringen mußte.
Er fuhr zum Taotai. Eine Einladung … ja beinahe ein Befehl rief ihn dorthin. Das Blatt knisterte in seiner Tasche. In eben derselben Tasche, auf die er vorher geschlagen hatte, als er zu Theodor Witthusen von den vielen Aufträgen für seine Firma sprach.
Seine Gedanken flogen zurück. Wie lange schon steckte er in diesem Spiel? Er überzählte die Jahre … acht Jahre … neun Jahre. Vor neun Jahren war es, an einem bösen Wintertage. Da waren die Würfel gefallen, die über sein weiteres Leben entschieden. Da war nach Jahren des Kampfes und der Ungewißheit der große Prozeß zu seinen Ungunsten entschieden, der ihm die Lordschaft Lowdale bringen sollte. Das Urteil wies seine Ansprüche ab und brachte ihm Prozeßkosten in einer ungeheuren Höhe.
Damals stand er mit sich und der Welt zerfallen auf dem Londoner Pflaster. An jenem Tage … in ruhigen Momenten spürte er es oft … war er auf die schlimme Seite gefallen. Mit Leib und Seele hatte er sich in seiner Verzweiflung den Gelben verschrieben. Um jenes Tropfens gelben Blutes halber, der ihm die Pairie raubte, war er ein Feind der weißen Rasse geworden. Obwohl sein Fühlen und Denken ganz arisch waren, obwohl er das unwürdige Spiel, zu dem er hier die Hände bot, klar durchschaute.
Das Knistern des Papiers riß ihn aus seinen Gedanken. Er zog es aus der Tasche und entfaltete es. Eine Einladung des Taotai. Mit chinesischen Lettern auf zähes Papier gepinselt. In der blumigen und schwülstigen Sprache des Ostens abgefaßt. Unverfänglich für jeden, der nur den Text las und das unscheinbare Zeichen neben dem Namenszug des Taotai übersah.
Das Zeichen der Schanti-Partei.
Als Kubelai-Khan vor zwanzig Jahren mit stürmender Hand vorbrach, das neue Reich schuf und als Kaiser Schitsu den Thron bestieg, war Toghon-Khan sein bester Feldherr. Jahre des Friedens folgten auf die wilden Erobererzeiten. Seit Jahren saß Toghon-Khan als Vizekönig von Kaschgarien in Dobraja. Ebenso wie der Kaiser hatte er einen chinesischen Namen angenommen. Als Schanti herrschte er unter dem Zepter des Schitsu, wie er als Toghon an der Seite des Kubelai in die Schlachten geritten war.
Viele Augen im Reiche richteten sich auf den klugen und mächtigen Vizekönig, der hier an der westlichen Grenze des Reiches Wache hielt und ein starkes, schlagfertiges Heer unter seinen Fahnen hatte.
Solange Schitsu herrschte, würde Schanti als treuer Paladin stets an seiner Seite stehen. Aber auch der Kaiser war ein Mensch. Auch seiner Herrschaft konnte der Tod ein Ende bereiten, und Schanti hatte seit langem für sich und seine Herrschaft vorgesorgt. In aller Stille und mit jener Geheimhaltung, die nur der ferne Osten kennt, war die große, auf den Namen des Schanti eingeschworene Organisation entstanden. Ein Staat im Staate. Unsichtbar nach außen. Eine furchtbare Waffe in der Hand des Mannes, dessen Namen sie trug und der sie im rechten Augenblick zu gebrauchen wußte.
Collin Cameron blickte auf das winzige Zeichen neben der Unterschrift am Fuße der Einladung und wußte, daß nicht der Taotai, der einfache Bürgermeister, ihn erwartete.
Nun hielt der Wagen vor dem Amtsgebäude. Collin Cameron schritt die Treppe empor. Tief verneigten sich die Diener vor ihm. Lautlos wiesen sie ihm den Weg. Jetzt schob er einen Vorhang zur Seite und sah, daß er recht vermutet hatte. Nicht der Taotai empfing ihn. Er stand vor Wang Ho. Der Generalstabschef der Armee des Schanti war es, der seinen Besuch gefordert hatte.
Wang Ho, der alle Floskeln und Weitläufigkeiten beiseite ließ und scharf und schnell sofort auf sein Ziel lossteuerte.
»Das Berliner Unternehmen, zu dem Sie uns veranlaßten, ist mißlungen.«
Schroffe Abweisung trat auf die Züge des Angeredeten.
»Nicht meine Schuld, Herr General. Ich hatte in meinem Bericht ausdrücklich betont, daß die Hauptpanzer zu sprengen wären. Die Sprengung ist mit ganz unzulänglichen Mitteln unternommen worden. Ich muß die Verantwortung für die Durchführung dieser Unternehmung ablehnen.«
»Auch das Orenburger Unternehmen ist mißlungen!«
Fragend blickte Collin Cameron den Generalstabschef an.
»Es ist mißlungen, Mr. Cameron! Vor fünf Minuten ist der telephonische Bericht eingegangen. Sie hatten uns gemeldet, daß der Oberingenieur Isenbrandt im fahrplanmäßigen Postschiff fährt. Wir haben das Schiff angreifen lassen. Unser Schiff ist von einem Kompagniekreuzer vernichtet worden. Der Oberingenieur ist nicht in dem Postschiff gefahren. Er hat im Gegenteil das Kompagnieschiff kommandiert. Wie erklären Sie Ihren unzutreffenden Bericht?«
Collin Cameron fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Sekunden hindurch verharrte er in nachdenklichem Schweigen.
»Die Meldung kam von einem unserer zuverlässigsten Moskauer Agenten. Der Betreffende hat mit eigenen Augen gesehen, wie der Oberingenieur das Postschiff bestieg, und dann telephoniert …«
»Wie erklären Sie dann, daß er nicht in dem Schiff war? … Wie erklären Sie das plötzliche Auftauchen des Kompagniekreuzers?«
»Erklären? … Es gibt nur eine Erklärung. Ich vermute … ich fürchte, hier hat ein Verräter seine Hände im Spiel.«
»Ein Verräter … dann wird es Ihre Aufgabe sein, ihn zu finden. Ihre Pläne hat er gestört …«
Noch stärker als zuvor machte sich der abweisende Zug in den Mienen Collin Camerons bemerkbar.
»Herr General, ich lehne jede Verantwortung für das Mißlingen meiner Pläne ab. Den Verräter zu suchen, ist Ihre Aufgabe. Für mich ist die Sache erledigt … Zu etwas anderem … Bitte, lesen Sie …«
Cameron griff in die Brusttasche, entfaltete schweigend ein Papier und überreichte es dem General.
Wang Ho hatte seine Mienen in der Gewalt. Kaum merklich war das Zucken seiner Züge, als er die Schriftzeichen überflog. Unwillkürlich neigte er das Haupt, als er die eigenhändige Unterschrift des Schanti erblickte. Mit unbewegter Miene gab er das Papier zurück.
»Sie haben recht, Mr. Cameron. Es geht um größere Dinge.«
Sorgfältig barg Collin Cameron das Papier wieder in der Brieftasche. Ruhig sprach er weiter. Aber die Rollen schienen jetzt vertauscht zu sein. Jetzt war es nicht mehr der General, der inquirierte, sondern Collin Cameron.
»Sie haben die Pläne des Ilidreiecks erhalten, Herr General?«
»Sie sind in meiner Hand. Die Toresani hat sie durch einen zuverlässigen Boten von Andischan an mich geschickt.«
»Die Wichtigkeit wird von Ihnen richtig gewürdigt?«
»Die Wichtigkeit liegt auf der Hand, Mr. Cameron. Die Kompagnie zeichnet Dämme und Schmelzanlagen auf chinesisches Gebiet ein. Voraussetzung dafür ist, daß sie das Gebiet in ihre Gewalt nimmt.«
»Sie wird es tun, Herr General! Sie wird es in kürzester Zeit versuchen. Dann ist der Konflikt da. Der europäische Staatenbund wartet nur auf die entscheidende Meldung aus Peking, um vorzugehen.«
»Der Bund wird uns nicht unvorbereitet finden, Mr. Cameron. Diese Pläne hier geben uns einen guten Grund, unsere Vorbereitungen in großem Maßstabe zu treffen. Wir werden uns jetzt vor jeder Überrumpelung zu schützen wissen.«
»Was werden Sie mit den Ausländern in den Grenzgebieten machen? In Aksu, in Yarkand, in Khotan, auch hier in Kaschgar sitzen zahlreiche europäische Familien.«
»Wir werden sie von heute an überwachen. Sowie es losgeht, schieben wir sie in Konzentrationslager nach dem Innern des Landes ab.«
»Ich habe es nicht anders vermutet. Im bedrohten Grenzgebiet ist die Maßregel berechtigt. Nur in einem besonderen Falle möchte ich selbst den Schutz oder, wenn Sie so wollen, die Aufsicht übernehmen. Meine Firma unterhält freundschaftliche Beziehungen zu dem hiesigen Hause Witthusen. Ich bitte Sie um die nötigen Vollmachten …«
Wang Ho beugte sich über den Tisch und schrieb. Collin Cameron nahm das beschriebene Blatt, trocknete es sorgfältig ab und steckte es zu den übrigen Dokumenten in seine Brieftasche. Eine Order des Generalsstabschefs. Das unscheinbare Blatt legte das Schicksal zweier Menschen bedingungslos in die Hände Collin Camerons.
Der Sergeant, der die Meldung des Barons von Löwen an Georg Isenbrandt überbrachte, vergaß, bei seinem Fortgehen die Tür hinter sich zu schließen. So blieb sie halb offen stehen und gestattete den Freunden, zu sehen und zu hören, was in dem anstoßenden Hotelsaal vor sich ging.
Aus dem Stimmengewirr, das herüberklang, hoben sich deutsche Worte heraus. Eine Frauenstimme war es. Ein junges Mädchen, das mit einem der Platzschaffner, einem deutschen Wolgakolonisten, sprach. Wellington Fox sah ein feines Gesicht von rein deutschem Typ. Lichtblondes Haar umrahmte die schmale Stirn, unter der lichtblaue Augen erglänzten.
Sie beklagte sich über den Ausfall des Schiffes nach Andischan. In diesem Augenblick sprach sie mehr zu sich selbst als zu dem Schaffner.
»Mein Vater erwartet mich. Was wird er sagen, wenn ich ausbleibe? … Er wird in Angst um mich sein … Was soll ich nur tun?«
Der gutmütige Schaffner suchte sie zu trösten. Wie ein Koloß stand seine riesenhafte Figur vor ihrer zarten Gestalt.
»Wir können ja telephonieren. Wohin wollen Sie denn … nach Kaschgar … ein bißchen weit … telephonieren wir doch …«
Wellington Fox wiederholte mechanisch die letzten Worte.
»Nach Kaschgar will sie … wer mag sie sein?«
»Wer mag sie sein …«
Schwer und langsam waren die Worte von den Lippen Georg Isenbrandts gefallen. Wie traumverloren und geistesabwesend saß er auf seinem Stuhl. Wellington Fox wandte ihm halb den Rücken zu, so daß er die plötzliche Veränderung nicht bemerken konnte, die im Wesen seines Freundes vorging. In seiner leichten Weise plauderte er weiter.
»Weißt du, als Ritter ohne Furcht und Tadel sollten wir uns des armen Dinges annehmen. Wir haben den ganzen Luftkahn für uns. Was steht dem im Wege, daß wir sie bis Ferghana mitnehmen … Soll ich zu ihr gehen, es ihr anbieten?«
Er erhielt auf seine Frage keine Antwort und wandte sich um.
»Na! … Georg! Wie denkst du darüber?«
Noch einmal kam die kurze Frage von den Lippen Georg Isenbrandts: »Wer mag sie sein?«
Jetzt wandte Wellington Fox sich ganz um.
»Was hast du denn, Georg … was ist dir?«
Georg Isenbrandt stützte seine Stirn in die Hände.
»Eine Erinnerung … aus schönen, allzu schnell vergangenen Tagen.«
Isenbrandt sprach. Langsam und stockend, als ob ihm die Worte nur schwer von den Lippen wollten:
»… Dieses junge Mädchen … wie ich die Stimme hörte … als ob ich sie hörte … als ich ihre Gestalt sah … als ob ich sie wiedersähe … Maria … Maria Ortwin …! So war sie … Maria Ortwin … so sprach sie … so sah sie aus …«
Wellington Fox versuchte sich die Szene zu erklären. Er wußte von dem kurzen Liebesglück seines Freundes. Lodernde, brennende Liebe … eine Verlobung … ein reiches Glück und dann die jähe Trennung durch den Tod. Aus blühendem Leben wurde Maria Ortwin in wenigen Tagen dahingerafft.
Wellington Fox war damals in den Vereinigten Staaten. Er hatte die verstorbene Braut seines Freundes nie gesehen. Aber er begriff wohl, daß hier eine täuschende Ähnlichkeit obwalten müsse. Eines jener so seltenen Naturspiele, das Ähnlichkeiten der Stimme und des Aussehens bis zum Verwechseln schafft. Er sah, wie sehr Georg Isenbrandt unter dem Eindruck dieser Ähnlichkeit stand, unter ihr litt, von ihr bewegt wurde.
»Ich glaube, Georg, wir tun ein gutes Werk, wenn wir die junge Dame mitnehmen. Soll ich sie auffordern?«
»Ja … wenn sie mit uns fahren will. Sprich du mit ihr.«
Mit großer Geschwindigkeit ging Wellington Fox daran, diesen Auftrag zu vollziehen. Georg Isenbrandt sah, wie sein Freund dienerte, sprach und lachte. Wie das junge Mädchen erst erstaunt und dann erfreut aufsah, ebenfalls lächelte und die Einladung mit Dank annahm. Er sah, wie der ewig muntere und immer gut gelaunte Wellington Fox sofort in flotter Unterhaltung war, und dachte: Wie schwer ist doch dein eigenes Blut. Wie schwer trägst du an allem, was dieser da spielend überwindet …
Und dann stand Wellington Fox bei ihm und machte ihn mit Maria Feodorowna Witthusen bekannt.
»Ich danke Ihnen, mein Herr, daß Sie mir die Möglichkeit geben, sofort nach Ferghana weiterzukommen.
»Ich bin glücklich, wenn ich Ihnen diesen Dienst erweisen kann …«
Er stockte und schwieg. Auch das Mädchen schwieg. Eine leichte Röte flutete über ihre Wange. Wie im Traum schritt Georg Isenbrandt an ihrer Seite. Sprunghaft überflogen seine Gedanken die letzten Jahre. Wie im Traum glaubte er an der Seite derjenigen zu schreiten, die er einst so sehr geliebt hatte und die nun schon so lange im Grabe lag.
Zu dritt bestiegen sie den Kompagniekreuzer und nahmen in der reservierten Kabine Platz.
In forcierter Fahrt schoß der Kreuzer über die Hungersteppe dahin. Der alte Name hatte heute nur noch historische Bedeutung. Wo sich früher eine dürftige und trostlose Steppe dehnte, da grünten jetzt üppige Felder. Ein fruchtbarer Boden war es, der unter den warmen, gleichmäßig über das ganze Jahr verteilten Regengüssen hier reiche Ernten gab.
Zu dritt betrachteten sie das herrliche Landschaftsbild.
Maria Feodorowna, frohen Herzens, daß jede Propellerdrehung sie ihrem Reiseziel, dem väterlichen Hause in Kaschgar, näher brachte. Wellington Fox vollkommen in seinem Fahrwasser als Kavalier und Cicerone. Georg Isenbrandt noch schweigsamer und nachdenklicher, als es sonst seine Art war.
Wellington Fox trug die Kosten der Unterhaltung. Bald erklärte er die Einzelheiten der unter ihnen fortziehenden Landschaft, bald machte er seiner schönen Reisegefährtin allerlei Komplimente. Während er sprach, ruhte der Blick Maria Feodorownas häufig auf dem Oberingenieur. Isenbrandt saß so, daß sie ihn von der Seite im vollen Profil erblickte. Verstohlen betrachtete sie diese energischen, durchgeistigten Züge, deren natürliche Härte durch einen Anflug von Trauer gemildert schien.
Georg Isenbrandt erhob sich, um eine Karte aus dem Nebenraum zu holen. Forschend schaute ihm Maria Feodorowna nach. Dann richtete sie eine Frage an Wellington Fox.
»Ist Ihr Freund immer so schweigsam und ernst?«
»Immer … Nein! … Nicht immer … Gewiß, sein Charakter ist ernst. Heute kommt ein besonderer Grund hinzu … Wissen Sie, Fräulein Witthusen, warum wir so schnell bereit waren, Sie mitzunehmen?«
Ein leichtes Erstaunen glitt über die Züge Maria Feodorownas.
»Aus welchem Grunde? … Ich habe darüber noch nicht nachgedacht … Ich war so angenehm überrascht, schnell weiterzukommen, daß ich Ihre Einladung gern angenommen habe, ohne viel über die Gründe nachzudenken … aber ich nehme an, Herr Fox, daß Ihre Ritterlichkeit Sie bewog, einer Dame in der Verlegenheit beizuspringen … Sollte ich mich darin täuschen?«
»Aber nein, Fräulein Witthusen, wir hätten wohl in jedem Falle so gehandelt. In Ihrem Falle kam aber noch ein besonderer Grund hinzu … Ein Grund, der Ihnen auch die besonders ernste Stimmung meines Freundes erklären kann …«
»Sie machen mich neugierig, Mr. Fox. Darf man den Grund wissen?«
»Ich sehe nicht ein, warum ich ihn verheimlichen sollte. Sie gleichen in Stimme und Gestalt einer Frau, die Georg Isenbrandt vor Jahren über alles geliebt hat …«
»… einer Frau, die Ihr Freund liebte? … Wo ist sie geblieben … und warum …«
»Sie ist tot … in wenigen Tagen wurde sie aus blühendem Leben dahingerafft … Ich war in Amerika, als sie Maria Ortwin begruben. Als ich zurückkam, war mein Freund ein stiller Mann geworden, der nur noch seiner Arbeit lebte …«
Wellington Fox legte den Finger an die Lippen. Georg Isenbrandt kam wieder in den Raum. Er trug die Karten und breitete sie auf dem Tisch aus. Wellington Fox begann von den Arbeiten zu sprechen, während Georg Isenbrandt nur wenige erläuternde Worte hinzufügte. Sein Blick umfing die Gestalt Maria Feodorownas, und sein Ohr sog den Klang ihrer Stimme in sich auf.
Maria Witthusen horchte auf die Erklärungen von Wellington Fox. Der Kreuzer hatte jetzt reinen Südostkurs. Im Südwesten stand eine gewaltige Wolkenwand an dem bisher so klaren Himmel. Eine mächtige Bank brodelnden und wogenden Wasserdampfes.
Wellington Fox erklärte:
»Der erste der großen kochenden Seen. Alles Wasser, was von den Alpen in den See strömt, dampft hier auf und wird von den Winden nach Norden mitgenommen.« Er deutete auf Isenbrandt: »Und hier ist der Oberkoch, der die Alpen dampfen und die Seen brodeln läßt.«
Marias Blicke flogen zu Georg Isenbrandt hinüber. Nachdem sie den Grund seiner Schweigsamkeit vernommen hatte, gewannen diese scharfen und entschlossenen Züge ein besonderes Interesse für sie.
Ohne daß sie es recht merkte, sprang die ernste und nachdenkliche Stimmung Isenbrandts auf sie selbst über. Sie lachte und scherzte nicht mehr mit Wellington Fox wie zum Beginn der Fahrt. Ruhig hörte sie die Erklärungen des Amerikaners an, aber ihre Gedanken beschäftigten sich mit der Person Isenbrandts.
Wellington Fox riß sie aus ihren Gedanken. Er fand sich in der Karte nicht zurecht und rief Georg Isenbrandt zu Hilfe.
»Hallo, Georg, was haben wir denn hier? Ich kann diese Siedlungen auf der Karte nicht finden.«
Georg Isenbrandt rückte näher heran. Einen kurzen Blick in die Tiefe unter ihnen, und er war im Bilde.
»Neue Siedlungen … hier brandenburgische … dort hinten westfälische … da vor uns niedersächsische … wir sind über dem Gebiete der neuen deutschen Kolonien. Die Kolonisten werden jetzt nicht mehr willkürlich angesetzt, sondern in größeren Gebieten von etwa tausend Quadratmeilen nach Nation und Sprache zusammen. Es erleichtert und verbilligt die Verwaltung und läßt die Siedler die neue Heimat leichter liebgewinnen.«
Während der Kreuzer mit unveränderter Geschwindigkeit seinen Kurs verfolgte, traten die Wolkenmassen über dem Aralsee allmählich zurück. Georg Isenbrandt blickte ihnen kurze Zeit nach. Dann wandte er sich an Maria Feodorowna.
»Wir müßten viel weiter südlich fliegen. Wir müßten dem Hochgebirge folgen. Dann würden Sie unsere Arbeiten sehen können. Dort unten brodelt und braust es auf den Firsten. Da dampft und nebelt es unaufhörlich. Da heben wir die Wassermengen in den Äther, die das Land bis in den hohen Norden warm und fruchtbar machen …«
»O ja! Ich sah etwas davon in Kaschgar. Da sehen wir es im Westen und im Norden dampfen und nebeln, soweit das Auge den Horizont zu erfassen vermag. Sie können viel, Herr Isenbrandt … Aber den Winden können Sie doch noch nicht gebieten. Auch in den seit Menschengedenken regenlosen Monaten fallen jetzt öfters drüben bei uns schwere Regengüsse.
Der Wind tut Ihnen nicht immer den Gefallen, nach Norden zu wehen. Bläst er nach Osten, so bekommen wir den ganzen Segen. Auch unsere Flüsse dort fließen stärker, seitdem die Berge im Norden und Westen brennen.«
Wellington Fox griff den Faden auf.
»Ja! Sag mal, Georg … Fräulein Witthusen hat recht. Da scheitern deine Künste. Die unerwünschte Windrichtung tritt ja Gott sei Dank nur selten ein. Bedenklich wäre es aber doch, wenn es dem guten Gott der Winde gefiele, ein paar Monate hintereinander auf Abwegen zu wandeln. Das könnte peinlich für die Gelben und katastrophal für die Siedler werden.«
Georg Isenbrandt preßte die Lippen zusammen. Die leicht hingeworfenen Worte seines Freundes betrafen ein Problem, das ihm schon manche schlaflose Nacht bereitet hatte, an dessen Lösung er im stillen schon seit Jahren arbeitete. Noch nie war die Frage so brennend gewesen wie jetzt. Seit langen Wochen waren die Winde unregelmäßig geworden. Er wußte auch, daß ein Zusammenhang zwischen diesen Abweichungen und den immer größer werdenden Schmelzarbeiten bestehen müsse. Schon waren aus einzelnen Siedlungsgegenden im Norden Berichte gekommen, die über Regenmangel klagten und mehr Wasser forderten.
Wellington Fox unterbrach sein Grübeln.
»Sieh hier, Georg! Wieder neue Dörfer … Auf der Karte nicht eingetragen … merkwürdiger Baustil … das sieht ja beinahe amerikanisch aus.«
Ein leichtes Lächeln spielte um die Lippen Isenbrandts.
»Es ist auch amerikanisch, Fox! Deutsch-Amerikanisch! Pfälzer aus den Seestaaten, die dort zweihundert Jahre ihre deutsche Sprache bewahrt haben und jetzt nach hierhin übergesiedelt sind. Sie konnten auch in die englischen Kolonien gehen, haben aber die deutschen Siedlungen vorgezogen.«
Wellington Fox schüttelte den Kopf.
»Alle Wetter, Georg, ein Kompliment für die Staatskunst von Uncle Sam ist das gerade nicht.«
»Es hat aber seine Gründe, Fox. Die Deutschen fühlten sich an den amerikanischen Seen nicht mehr wohl. Das schwarze Volk wird ihnen zu aufdringlich.«
»Die Schwarzen …«
Georg Isenbrandt hatte das Stichwort zu einem Thema gegeben, das Wellington Fox nur allzusehr am Herzen lag.
Die Schwarzen in den Vereinigten Staaten! Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt waren sie zahlreicher, gebildeter und mächtiger geworden. Längst waren die Zeiten vorbei, in denen die Regierung sie durch Ausnahmegesetze niederhalten konnte. Überall beanspruchten sie gleiches Recht mit den Weißen, und es war schwer, abzusehen, wie dieser Streit um die Macht einmal enden würde. Seitdem schwarze Regimenter auf amerikanischer Seite gegen Weiße gekämpft hatten, war dem schwarzen Element in den Staaten das Gefühl der eigenen Bedeutung und Macht gekommen.
Wellington Fox wurde wild, wenn er davon sprach. Von der Kurzsichtigkeit der amerikanischen Regierungen, die dem Wachsen der Gefahr solange tatenlos zugesehen hatten. Er sprang auf und lief in dem Gemach hin und her.
»Amerika den weißen Amerikanern! … Das schwarze Volk gehört nach Afrika, von wo es hergekommen ist … Sie wollten auch hin … Sie wollten wieder zurück … warum hat unsere Regierung die Bewegung nicht unterstützt. Warum haben wir sie bei uns behalten. Arbeiterfrage natürlich … kurzsichtiger Kapitalismus!«
Georg Isenbrandt unterbrach den zornigen Amerikaner. Das Schiff stand jetzt über Perowsk und folgte eine größere Strecke dem vielfach gewundenen Lauf des Sir Darja.
Isenbrandt deutete in die Tiefe, wo der breite, grüne Strom deutlich zu sehen war.
»Jetzt sind wir am Sir, am alten Iaxartes. Bis hierhin ist der große Alexander auf seinen Eroberungzügen vorgedrungen. Hier mußte er wieder umkehren und hinterließ keine Spur von seinen Taten. Wir sind weitergekommen. Fünfhundert Meilen weiter nach Osten. Wir schmelzen und dampfen bis in das Himmelsgebirge. Wir schaffen Neuland für Hunderte von Millionen Menschen. Unsere Arbeit lohnt sich … Die Hochalpen brennen, aber die Ebene wird fruchtbar …«
Maria Feodorowna spann seinen Gedankengang weiter:
»Ein gewaltiges Werk! Doch die Gelben sehen es nicht gern. Ich höre, wie sie bei uns in Kaschgar darüber sprechen. Fremde Teufeleien, die dem Gelben und dem Blauen Fluß das Wasser nehmen. Seitdem die Berge um Kaschgar dampfen, sieht man uns scheel an … Vielleicht müssen wir eines Tages den Ort verlassen, an dem wir seit zwanzig Jahren wohnen.«
Prüfend ruhte der Blick Georg Isenbrandts auf den Zügen der Sprecherin.
»Der Tag kann schneller kommen, als Sie denken. Ich werde Sie warnen. Versprechen Sie mir, meiner Warnung zu folgen …«
Maria Feodorowna streckte dem Reisegefährten die Rechte entgegen. Ihre Blicke trafen sich und hingen sekundenlang aneinander.
»Ich danke Ihnen, Herr Isenbrandt!«
Der Kreuzer hatte jetzt den Stromlauf verlassen. Während der Fluß einen weiten Bogen nach dem Süden schlug, verfolgte er den Südostkurs, überflog die Alpen bei Chotkal und stand jetzt schon dicht vor Andischan. Es wurde Zeit, an den Abschied zu denken.
Auf dem Hangar neben dem Endbahnhof der Strecke Andischan–Osch–Kaschgar landete das Kompagnieschiff.
Erst die Technik des Dynotherms hatte es ermöglicht, in kurzer Zeit und mit geringen Baukosten den großen Tunnel durch das gewaltige Terekmassiv zu bohren und die neue Linie bis Kaschgar durchzuführen.
Georg Isenbrandt und Wellington Fox begleiteten Maria Witthusen zum Zug. Sie standen dort, bis das Abfahrtszeichen gegeben wurde und der Zug sich in Bewegung setzte. Wellington Fox zog ein seidenes Tuch und winkte. Georg Isenbrandt sprang mit plötzlichem Entschluß auf das Trittbrett des rollenden Zuges. Er beugte sich zu Maria Feodorowna, flüsterte ihr wenige Worte zu und war mit einem Sprunge wieder neben seinem Freunde. Dort stand er und blickte dem ausfahrenden Zuge noch lange nach.
Der Knall des Schusses, der den Kaiser des Himmlischen Reiches auf das Schmerzenslager warf, war bis in die letzten Erdenwinkel gedrungen. Immer noch, bald schwächer, bald stärker, hallte sein Echo wider. Millionen Herzen erbebten … bebten … wie immer, wenn das Schicksal einen ganz Großen unter den Menschen traf, von dessen Sein oder Nichtsein dasjenige von Millionen Kleiner abhing. Und je länger die Zeit des Wartens, desto unerträglicher wurde die Spannung.
Wann endlich Gewißheit? Würde er sterben … der Große, oder leben bleiben und sein großes Werk vollenden?
Die Bulletins der Ärzte waren dunkel wie die Sprüche des delphischen Orakels. Ein dreifaches enges Gitter von Bajonetten umgab jetzt, nachdem das Unheil geschehen war, die Anlagen von Schehol, dem chinesischen Sanssouci.
Wie alljährlich, hatte sich der Herrscher auch diesmal zu Wintersausgang nach Schehol begeben, um hier Erholung von der Last der Regierungsgeschäfte zu suchen. Hier, wo die strenge Bewachung seiner Person nicht so scharf wie in Peking durchgeführt wurde, hatte ihn die Kugel eines als Jägerbursche verkleideten Republikaners getroffen.
Der Schuß war tödlich. So lautete der Bericht der Ärzte für die wenigen Vertrauten der nächsten Umgebung. Aber die Lage des Reiches verbot eine Veröffentlichung dieses Berichtes.
Kaum zwanzig Jahre waren vergangen, seitdem der junge, tatkräftige Mongolengeneral Kubelai die Herrschaft des Riesenreiches an sich gerissen hatte. Bis dahin war China eine Republik, deren beste Kräfte durch nie zur Ruhe kommende Wirren aufgezehrt wurden. Eine Riesenfarm, die von den Völkern des Abendlandes nach Möglichkeit ausgenutzt wurde.
Auf schneller, blutiger Bahn war der Mongolenkhan an die Spitze des Riesenreiches geeilt, alles niederwerfend, was sich ihm in den Weg stellte. Dann hatte er das Spiel gespielt, das von jeher jedem Usurpator geläufig war. Um seine Herrschaft zu festigen, wurde das chinesische Nationalbewußtsein mit allen Mitteln einer geschickten Diplomatie aufgepeitscht, bis alle Augen gegen den äußeren Feind gerichtet waren.
Und wieder hatte ihm das Glück zur Seite gestanden. In zähem Ringen hatte er den Europäern eine Position nach der anderen entrissen, bis er das Land von den »Bedrückern«, den »Blutsaugern« befreit hatte. In der kurzen Zeit von zehn Jahren hatte er dieses Ziel erreicht. Mit der gleichen Energie und Tatkraft widmete er sich dann dem Ausbau der inneren wirtschaftlichen Kräfte seines Landes. Wohl schufen ihm die Reformen, die er ohne Rücksicht auf die alten Sitten und Gewohnheiten durchführte, viele Gegner. Doch die mußten sich beugen, und in einem halben Menschenalter war ein Werk vollbracht, um das führende Geister sich jahrhundertelang vergeblich bemühten, das Kenner des Landes für unmöglich gehalten hatten.
Mit seinen Erfolgen wuchs sein Ehrgeiz ins Unermeßliche. Träume wurden in rastloser Gehirnarbeit geformt, bis sie als erreichbare Möglichkeiten vor seinem Auge standen, und dann schuf er die Pläne zu ihrer Verwirklichung.
Schon bevor die Europäische Siedlungsgesellschaft ihre Tätigkeit in Turkestan begann, hatte sich sein Auge auf diese Gebiete gerichtet, die ja größtenteils von mongolischen Brüdern bewohnt waren. Doch damals schien ihm der mögliche Gewinn den Preis der hohen Opfer nicht wert.
Erst als die Pläne der Siedlungsgesellschaft bekannt wurden, Pläne, die dort ein großes, weißes Kulturland zu schaffen versprachen, erschienen ihm jene Länder begehrenswert. Um so begehrenswerter, je größer die Erfolge der Siedlungsgesellschaft wurden.
Ein neues Schlagwort war bald gefunden: Panmongolismus! Vereinigung aller Gelben mit dem großen Himmlischen Reich. Schnell wurde es aufgenommen. Bald war eine rege Irredenta in den bis dahin politisch völlig indifferenten Gegenden im Gange.
Die gelben Emissionäre fanden einen Boden, dessen Bearbeitung ihnen die Siedlungsgesellschaft selbst notgedrungen sehr erleichterte. Da die dort ansässigen mongolischen Stämme durch die europäischen Siedler in ihrer Nomadenwirtschaft gehindert oder gar verdrängt wurden, gab es Unzufriedene genug. Die öffentliche Meinung Chinas forderte täglich mehr oder weniger laut das Vorgehen der Regierung. Das diplomatische Spiel hatte bereits begonnen, zum mindesten waren die Karten dazu gemischt … da krachte der verhängnisvolle Schuß.
Über den Gärten von Schehol lag eine milde Frühlingssonne. Sie vergoldete die Mauern der Schlösser und Tempel und ließ deren glasierte Ziegel in allen Farben erglänzen.
Auf einer weiten Dachterrasse des Palastes, deren Rand mit blühenden Kirschbäumen in großen Bronzekübeln besetzt war, stand das niedere Lager, auf dem der Kaiser ruhte. Auf den weißen Seidenkissen wirkte das Antlitz, nur von unten her ein wenig von dem Blutrot der Seidendecke angestrahlt, wie das eines Toten. Die Stirn des Kranken war kahl, steil und gefurcht wie ein zerhauener Helm.
Die Blicke des Kaisers hingen starr am Horizont. Dort hinten … hinter den Schneegipfeln des Thian-Schan lag das Reich seiner Feinde, der Westländischen.
Lebensgier und Drang des Lebendigen zerrten an ihm. Für China leben … leben für die Flut der Aufgaben, die ihn ein halbes Menschenalter bedrängt hatten, die zu erfüllen ihm jetzt nur noch Stunden blieben. Noch klammerte er sich mit schwachen Händen an das Strauchwerk, schon unter sich den Abgrund. Sein stählerner Körper, von Tatenlust durchglüht, so lange das vollkommene Werkzeug einer übermenschlichen Arbeit, war jetzt durch zehrendes Wundfieber gebrochen.
Die Lippen des todkranken Kaisers murmelten die Worte, die einst Wischnu in seiner achten Inkarnation als Gott Krischna sprach. Jene Worte, die das Leitmotiv seines Lebens gewesen waren: »Stehe auf und kämpfe mit einem entschlossenen Herzen, gleichgültig gegen Lust und Schmerz, gegen Gewinn und Verlust, gegen Sieg und Niederlage. Kämpfe mit allen deinen Kräften.«
Kampf war sein Leben von frühester Jugend an gewesen. Nun stand vor ihm der Kampf, der den Traum so vieler Jahrhunderte, den Traum von dem alle Mongolen umfassenden einheitlichen Reich zur Erfüllung bringen sollte.
Ein leichter Glanz belebte die starr blickenden Augen. Wie sie ihn fürchteten … da drüben hinter den Mauern des Himmelsgebirges!
Und jetzt? … Wie würden sie frohlocken, wenn er tot …
Er stöhnte unterdrückt in abgebrochenen Lauten. Seine Hand tastete nach einer Schale mit goldenen Kugeln und ließ eine davon in ein klingendes Bronzebecken fallen. Hinter einem seidenen Vorhang wurde ein Diener sichtbar.
»Toghon-Khan!«
Seit er die Gewißheit hatte, daß er sterben müsse, hatte er sie zu sich gerufen … die Großen seines Landes … einen Starken zu finden, der für seinen unmündigen Sohn das große Reich leiten und schützen könne.
Und alle hatte er wieder weggehen lassen, als zu leicht befunden. Keiner darunter, der würdig war, den Ring zu tragen, dessen schweres Gold den Mittelfinger der kaiserlichen Rechten umschloß.
Ein einziger noch … der letzte, der in Frage kam. Schanti, der Herr von Dobraja und Aksu. Nicht nur ein tüchtiger General, sondern auch ein hervorragender Staatsmann, hatte er es in zäher Energie verstanden, hinter das Geheimnis des Schmelzpulvers der Weißen zu kommen. Zwar war es ihm noch nicht gelungen, Arbeiten in so großzügiger Weise auszuführen, wie sie die Europäische Siedlungsgesellschaft in Russisch-Turkestan betrieb, doch war immerhin ein viel verheißender Anfang gemacht.
Aber würde Toghon-Khan auch der gewaltigen Aufgabe gewachsen sein, die ihm die Regentschaft über das ganze Riesenreich bringen mußte? … Würde er dem schweren Kampf mit dem Abendlande aus dem Wege gehen? … Würde er ihn annehmen und … unterliegen?
Wieder ließ der Kaiser eine Kugel in die klingende Schale fallen. Die seidenen Vorhänge rauschten auseinander, und ein Mann in Generalsuniform trat auf die Terrasse. Ein markantes Gesicht. Der kahle Schädel lud in eine niedere, vorspringende Stirn aus. Die dunklen, kleinen Augen rollten in tiefen, gelben Höhlen. Um die Brauen war die Haut in ein Gewebe tiefer, verwirrter Runzeln gefaltet. Das ganze Äußere zeugte für ein glutvolles und leidenschaftliches Temperament.
Einen kurzen Moment ruhten die Augen des Eingetretenen auf dem todgeweihten Herrn.
Langsam ließ er sich auf die Knie nieder. Auf den Knien legte er die letzten Schritte bis zum Lager des Kaisers zurück und beugte die Stirn, bis sie den Boden berührte.
Eine kalte, feuchte Hand fühlte er auf seinem Haupte. Schwach, wie aus weiter Fern« kommend, schlug eine Stimme an sein Ohr.
»Ich danke dir, Toghon, daß du meinem Ruf schnell gefolgt bist … schnell gefolgt … meine Zeit ist kurz, die Ahnen rufen mich …«
Regungslos verharrte Toghon-Khan, die Stirn am Boden. Leise und flüsternd kam seine Antwort:
»Himmlische Weisheit, du wirst das Reich noch lange lenken …«
»Nein, Toghon … die Ahnen rufen mich. Ich gehe … gehe bald … Aber schwer ist mein Herz … Die Sorge um mein Land und mein Haus …«
Erschöpft schwieg der Kaiser. Minuten verflossen, bis er neue Kraft fand. Toghon-Khan sprach: »Die Blüte der Lotos ist von der allerhöchsten Weisheit gesegnet …«
»Nein, Toghon … Mein Sohn ist ein Knabe und spielt mit den Frauen im Palast. Jetzt wollte ich ihn zu mir nehmen … einen Mann aus ihm machen … Die Vorsehung hat es nicht gewollt. Ich liege auf dem Lager, von dem ich nicht wieder aufstehen werde …«
»Du wirst genesen …«
Toghon-Khan fühlte, wie die matte Hand auf seinem Haupte zitterte.
»Nein, Toghon. Ich sterbe … in Sorge um das Reich. Wolken stehen am Himmel. Von Westen drohen sie. Wer wird das Reich führen? … Ich habe sie alle gehört … Die Statthalter des Nordens und des Südens … den Hohen Rat und die Ratskammer … Kleine Köpfe … kleine Mittel … alle … alle. Du bist der letzte! … Wirst du mich auch enttäuschen? … Was hast du zu sagen …«
»Die Wolken, die dein Herz beschweren, die das Land bedrohen, werden vor der Sonne weichen … Aber wenn sie der Sonne nicht weichen, wird ein Blitzstrahl sie zerreißen. Ein Blitzstrahl des Himmels wird den Himmel wieder klarmachen.«
»Ein Blitzstrahl des Himmels … des Himmels?«
Der Kaiser wechselte die Sprache und sprach Mongolisch weiter:
»Nur denen hilft der Himmel, die sich selber helfen.«
Langsam erhob Toghon-Khan die Stirn vom Boden. Seine Hände ergriffen die kalte Hand des Kaisers, seine Lippen preßten sich darauf. Langsam hob sich sein Haupt, bis es die Kissen erreichte, bis seine Lippen das Ohr des Kaisers berührten. Flüsternd, auch hier kaum hörbar, drangen die mongolischen Worte in das Ohr des Kaisers.
Leichte Röte trat in das Antlitz des Kranken. Glanz kehrte in seine erloschenen Augen zurück. Straff wurden seine von langem Leiden matten Züge, während Toghon-Khan flüsternd weitersprach.
Stärker ging der Atem des Kaisers. Noch höher kam das Haupt Toghon-Khans. Neben dem Haupte des Kaisers lag es jetzt auf dem Kissen.
Stärker wurde der Glanz in den Augen des Kaisers. Er reckte den rechten Arm und ballte die Hand zur Faust. Noch einmal schienen die schwindende Kraft und das fliehende Leben zurückzukehren. Sein Oberkörper hob sich vom Lager. Seine Arme legten sich um den Hals des Sprechenden. Neben dem Kaiser saß Toghon-Khan aufrecht auf dem Lager, und weiter drang flüsternd seine Rede in des Kaisers Ohr.
Jetzt schwieg er. Der Kaiser ließ die Hand sinken. Er öffnete die Faust und legte die Rechte über die Augen. Die Rechte, an deren viertem Finger der kaiserliche Ring mit den Zeichen des Dschingis-Khan glänzte und gleißte. Minuten hindurch saß Schitsu, der sterbende Kaiser des Riesenreiches, so in den Armen des Toghon-Khan. Dann kamen Worte von seinen Lippen:
»Toghon, du Treuester aller Treuen … Auch im Tode verläßt du mich nicht … Du Freund meiner Jugend, meiner Kämpfe … meiner Herrschaft.«
Von der abgezehrten Rechten streifte der Kaiser den Ring. Mit immer kälter und schwächer werdenden Händen griff er die Linke des Toghon-Khan und schob ihm den Ring auf den vierten Finger.
»Du bist … du wirst das Reich verwesen, bis mein Sohn …«
Betäubt und geblendet starrte Toghon-Khan auf den Ring an seiner Linken. Nur ein Gedanke erfüllte sein Herz … Ich bin’s! Ich bin’s …
Noch einmal kamen dem sterbenden Kaiser Kraft und Sprache zurück.
»Geh! Geh, Toghon! Du hast den Ring … Ich bin müde … Nein … müde war ich immer und konnte nie schlafen … Jetzt werde ich schlafen … geh …«
Der Körper des Kaisers sank auf das Lager zurück. Nur noch stoßweise und röchelnd kamen abgerissene Worte von seinen Lippen. Dann wurde er ganz ruhig. Langsam erhob sich Toghon-Khan. Den Körper geneigt, das Gesicht gegen das Lager des Kaisers gewandt, schritt er rückwärts langsam dem Ausgange zu. Von unsichtbaren Händen ergriffen, öffneten sich die faltigen Seidenvorhänge, als er sie erreichte. Noch eine tiefe Verneigung zum Lager des stillen Kaisers. Toghon-Khan wandte sich um und trat in den Vorsaal.
Lange war er allein bei dem Kaiser gewesen. Lange hatten die im Palast versammelten Würdenträger des Reiches geharrt, daß er vom Lager Schitsus zurückkehren möchte. So schnell wie vorher die Statthalter von Suchau, Yarkand oder Tali. So still und niedergeschlagen wie die Vizekönige von Kanton oder Mugden. Anders kam Toghon-Khan zurück. Starr und unbeweglich waren seine Mienen, als er hinaustrat. In wachsender Ungeduld hatten die Würdenträger im Vorsaal gewartet. Hatten durch die leichten Vorhänge den Anfang der chinesisch geführten Unterredung erhascht. Hatten mongolische Worte aus des Kaisers Mund vernommen. Wenige nur und undeutlich und dann nur noch ein leises und immer leiseres Flüstern.
Was brachte Toghon-Khan? … Was hatte der Kaiser mit ihm beschlossen? In den Herzen aller brannte die Frage, aber nichts verrieten die steinernen Züge des Toghon-Khan. Bis in die Mitte des Saales schritt er. Blieb dort hochaufgerichtet stehen und ließ den Blick über die Versammlung schweifen, die Arme zusammengeschlagen, die Hände unter den verschränkten Armen verborgen.
Fünfzig Augenpaare waren auf ihn gerichtet. Suchend flog sein Blick durch den Raum und haftete einen kurzen Moment an einem anderen Augenpaar.
Ein kurzer Wink. Ein mongolischer General eilte auf ihn zu.
»Mangu-Khan übernimmt den Befehl über die Palastwache. Geh!«
Der Angeredete verharrte überrascht und zögernd. Auch auf den Gesichtern der übrigen Anwesenden prägten sich Staunen und Zweifel.
Wie konnte Toghon-Khan solchen Befehl geben?
»Geh!«
Zum zweitenmal fiel das Wort scharf und knapp von den Lippen des Schanti. Die verschränkten Arme öffneten sich. Die Linke wies gebieterisch zur Tür.
»Niemand betritt oder verläßt den Palast ohne meine Erlaubnis!«
Es war ein neuer, schwerwiegender Befehl. Doch allen sichtbar glänzte an der ausgestreckten Hand der kaiserliche Ring, und im Augenblick wandelte sich das Bild im Saale. Sie alle, die eben noch einen Gleichberechtigten, einen Mitbewerber erwartet hatten, sehen jetzt den vom Kaiser bestimmten Regenten vor sich stehen. Den, der mit kaiserlicher Macht das Reich zu verwalten hatte, bis er eines Tages den Ring des Dschingis-Khan von seiner Hand ziehen und dem Kaisersohn auf die Rechte stecken würde.
Tief neigten sich jetzt die Rücken, ehrfurchtsvoll waren die Verbeugungen. Niemand wagte es, dem vom Kaiser selbst ernannten Regenten die schuldige Achtung zu verweigern. Dem Regenten mit dem Ringe des Kaisers an der Hand und mit einer großen Armee hinter sich, die dem alten Mongolengeneral mit Leib und Leben verschworen war. Vorbei an gebeugten Rücken und gesenkten Köpfen schritt der neue Regent des Gelben Reiches durch den Saal.
Weithin dehnt sich das alte Siebenstromland zwischen dem Balkasch- und dem Issisee. In Wierny, der Hauptstadt des Landes, hatte Georg Isenbrandt sein Standquartier. Von hier aus leitete er die Arbeiten, welche die ihm unterstellten Ingenieure und Schmelzmeister in den südlich und westlich gelegenen Alpen ausführten. Seit Jahren war Wierny die zweite Heimat Isenbrandts geworden.
Am Frühstückstisch saßen die beiden Freunde sich gegenüber. Wellington Fox sprach: »Die Lampe hat gestern noch lange bei dir gebrannt, Georg …«
»Berufsarbeit, lieber Freund. Die ersten Transporte des neuen Mittels sind avisiert. Das gibt für die ersten Wochen eine reichliche Dosis Arbeit. Instruktionen für die Schmelzmeister … neue Pläne für die ganze Schmelzstrecke … die Pläne sind zum größten Teil fertig … Die Instruktionen beginnen heute. Beeile dich, damit wir bald aufbrechen können.«
Wellington Fox ließ sich das nicht zweimal sagen. Noch einen Schluck und einen Bissen, und er war fertig. Beim Schlage der neunten Morgenstunde erhob sich die kleine schnelle Flugmaschine des Oberingenieurs. Isenbrandt selbst führte das Steuer und setzte den Kurs nach Süden.
Erst Ebene, dann Berge und dann weiter tiefgrüner See. Der mächtige Issikul breitete seine Fluten unter ihnen aus. Dann wieder Berge. Hoch und immer höher, bis sie den Kamm des Himmelsgebirges erreicht hatten, das hier die Grenze zwischen Rußland und China bildet.
Den Gebirgsgrat entlang in nordöstlicher Richtung führte Georg Isenbrandt jetzt die Maschine. In brodelndem, wogendem Nebel lag das Alpenmassiv unter ihnen. Nur selten einmal brach ein Sonnenstrahl durch diese milchweißen Massen und erreichte schneebedeckte Hänge und glasige Gletscher. Gletscher, aus denen breite Ströme entsprangen und nach Norden hin in den Issi stürzten.
Vom Dynotherm getrieben, arbeiteten die Turbinen der Flugmaschine vollkommen geräuschlos, und mühelos konnten die Freunde ihr Gespräch führen.
Jetzt warf Isenbrandt das Steuer herum und setzte das Schiff auf Nordwestkurs. Wellington Fox sah, wie die Nebelmassen hier wie abgehackt aufhörten und der Alpenkamm sich scharf und klar weiterhin nach Osten erstreckte.
»Warum, Georg … warum geht es hier nicht weiter?«
»Weil wir am kritischen Punkt sind. Du siehst die natürliche Grenze, das Gebirge weiter nach Osten ziehen. Die politische Grenze biegt scharf nach Norden um. Was da halbrechts vor uns liegt, ist das Ilidreieck, seit 150 Jahren ein strittiges Gebiet, bald unter chinesischer, bald unter russischer Herrschaft. Heute wieder chinesisch.«
Das Flugzeug folgte der Grenze nach Norden. Ein mächtiger Strom wälzte unter den Reisenden seine Wogen nach Westen. Georg Isenbrandt senkte die Maschine so tief, daß sie den Boden fast zu berühren schien. Und dann stand sie doch plötzlich wieder hoch über dem Grunde; denn in jähem Abfall senkte sich das Gebirge. Ein breites, tiefes Tal, auf beiden Seiten von schroffen Felsmauern umsäumt, durch das der Ilistrom seinen Weg nahm. Von den Felsen her ein riesenhafter Staudamm, im Bau begriffen. Dort stand der von Menschenhand gefügte Wall schon mehrere hundert Meter hoch. Im mittleren Teil aber waren die Arbeiten noch bei den Fundamenten.
Georg Isenbrandt runzelte die Brauen, während das Flugschiff langsam über der Dammkrone dahinzog.
»Verdammt! Wir kommen hier nicht so schnell vorwärts, wie ich möchte … Ich werde MacClure ablösen lassen … Mag er auch zehnmal ein Protektionskind sein!«
Wellington Fox sah, wie die Fäuste Isenbrandts sich bei diesen Worten um das Steuer krampften.
»Ist der Dammbau so eilig, Georg?«
»Aber sehr eilig! … Die Gelben besitzen ebenfalls Dynotherm und schmelzen damit in ihrem Lande. Fällt es ihnen eines Tages ein, hier im Ilidreieck plötzlich und allzu stark zu schmelzen, so vernichtet das Hochwasser unsere Siedlungen im Siebenstromland … Bei der gespannten Lage zwischen Gelb und Weiß ist eine Überraschung nicht ausgeschlossen. Der Damm muß schnellstens fertig werden.«
In steilen Kreisen ließ Isenbrandt die Maschine steigen. Kilometer um Kilometer ging sie in die Höhe, und immer weiter dehnte sich die Landschaft. Jetzt dämmerte am Osthorizont Kuldscha herauf. Die Hauptstadt des soviel umstrittenen Gebietes. Jetzt lag das ganze Dreieck wie ein offener Kessel unter ihnen.
Isenbrandt deutete mit der Rechten dorthin.
»Begreifst du es wohl, daß wir das Ilidreieck haben müssen? … Siehst du es ein? … Die Siedlungsgesellschaft sieht es freilich auch ein, hat es längst begriffen … Aber die Furcht, die feige Furcht vor den Gelben ist zu groß …«
Wellington Fox umfaßte mit prüfendem Auge die riesenhafte Talmulde. Ein sarkastisches Lächeln glitt über seine Züge.
»Ich vermute, mein lieber Georg, hier wird es eines Tages gehen wie im Erlkönig … Und folgst du nicht willig, dann brauch’ ich Gewalt …«
Georg Isenbrandt antwortete nicht. Seine Züge blieben unbeweglich, nur in seinen Augen flammte ein stählerner Glanz auf. Jetzt stellte et die Maschine ab und ließ das Schiff im gestreckten Gleitflug wieder in die Tiefe schießen. Und dann setzte es leicht und sicher auf einer Bergwiese auf. Sie waren vor einem Bezirkshaus des Abschnittes gelandet. Etwa ein Dutzend Ingenieure war hier versammelt, durch Fernruf benachrichtigt, und erwartete ihren Chef.
Isenbrandt wandte sich an einen jungen Menschen, der in der Nähe stand.
»He! Sie da! Franke, führen Sie den Herrn hier zu Ihrem Großvater. Er soll ihm alles zeigen, was er zu sehen wünscht … Lieber Fox! Du hast drei Stunden Zeit, einen unserer interessantesten Schmelzpunkte zu besuchen. Um vier Uhr bitte pünktlich wieder hier!«
An der Seite des jungen Mannes machte Wellington Fox sich auf den Weg. Er war ein tüchtiger, trainierter Bergsteiger, aber er mußte sich anstrengen, um mit dem hier vorgelegten Tempo Tritt zu halten. Auf dem Wege erfuhr er, daß der alte Schmelzmeister aus Deutschland aus dem Merseburgischen stammte. Jetzt war er seit langen Jahren im Dienste der Dynothermkompagnie tätig. Sein Sohn bewirtschaftete eine der neuen Siedlungen im Siebenstromland. Der Enkel, der Wellington Fox jetzt den Berg hinaufführte, war gleichfalls in den Diensten der Gesellschaft und hegte den Ehrgeiz, ein so tüchtiger Schmelzmeister wie der Alte zu werden.
Jetzt wurde der Weg weniger steil, und dann standen sie auf einer Alm vor einer rohgezimmerten Blockhütte. Mißtrauisch begrüßte der alte Schmelzmeister den Ankömmling. Auch jetzt, nach beinahe zwanzigjährigem Aufenthalt in Asien, sprach er noch unverkennbar den sächsischen Dialekt der Halleschen Gegend.
»Was sind Sie denn? … So! Zeitungsschreiber sind Sie? … Na, gerade für die haben wir hier sehr wenig Verwendung … Nee, nee, da kann ich Ihnen nichts zeigen …«
Der junge Franke mußte sich nochmals energisch ins Mittel legen und den Auftrag Isenbrandts wiederholen, bevor der Alte sich endlich bereitfinden ließ. Aber auch dann brummelte er noch allerlei vor sich hin.
»Zeitungsschreiber … Professionelle Neugierige … Ich kenne die Brüder noch von damals … damals, als der Kessel kochte … Sind mir damals Tag und Nacht nicht von der Pelle gegangen … Und ich wußte doch nichts … Konnte doch nur sagen: Er kocht eben! … Er kocht eben … kocht, ohne daß ich Feuer drunter habe …«
Wellington Fox horchte auf. »Als der Kessel kochte …« Hatte nicht Isenbrandt die Worte erst vor kurzem gebraucht … Hatte nicht der alte Professor Müller ihnen schon in der Schule eine Erzählung unter diesem Titel vorgetragen?
Wie ein Jäger auf seine Beute, stürzte er sich auf den Alten, und in zwei Minuten hatte er ihn so weit, daß er zu erzählen begann:
»Ja, also damals war’s …« Er zählte an seinen Fingern ab.
»Zweiundvierzig, nein, dreiundvierzig Jahre ist es jetzt her. Im Leunawerk bei Merseburg war’s. Der Betriebsingenieur hatte mir den Auftrag gegeben, einen großen Reservekessel für den nächsten Tag anzuheizen. Früh um vier kam ich in das Kesselhaus. Bitterkalt war es und natürlich noch stockdunkel. Der Kessel hatte eine Reparatur hinter sich und war leer.
Ich also … als erstes, was ich tue … ich drehe natürlich zuallererst den Wasserleitungshahn auf, um den Kessel erst mal voll Wasser laufen zu lassen. Derweil das Wasser läuft, suche ich mir Holz zum Feueranmachen zusammen, und so allmählich kommen auch meine Kollegen … Sie müssen wissen, Herr, ich war damals der jüngste und mußte zuallererst da sein.
Wie ich so mein Holz zusammentrage, wird mir warm und immer wärmer, und dabei hatten wir doch 15 Grad Kälte im Freien. Im Kesselraum war’s fast ebenso kalt … denn Sie müssen wissen, Herr, besondere Öfen stellt man nicht in die Kesselhäuser. Die Kessel heizen selber ganz schön, wenn sie in Betrieb sind.
Wie ich noch so stehe und mir den Schweiß von der Stirn wische, da gibt mir mein Kollege einen Stoß in die Rippen und zeigt auf das Manometer am Kessel. Und da denke ich doch … da denke ich doch, der Deubel soll mich holen … da zeigt das Manometer auf zwölf Atmosphären. Dabei, Herr, kein Stückchen Feuer auf den Rosten … eben erst kaltes Wasser aus der Leitung in den Kessel gepumpt.
Ich denke zuerst, ich habe mich verschaltet und Dampf aus einem der anderen Kessel auf den leeren Kessel angedreht. Aber alle Ventile sind zu, und ich verbrenne mir bloß eklig die Finger. Ich lasse vor Schreck die Schaufel fallen und retiriere vor diesem Deubelskessel bis zur Eingangstür.
Da kommt gerade der Ingenieur. Der sagt ganz harmlos: ›Na, Leute, ihr habt ja schon ganz schönen Dampfdruck.‹
›Ja!‹ sage ich. ›Aber den Kessel hat der Deubel geheizt.‹
›Wieso?‹ fragt der Ingenieur. Ich gehe langsam an den Kessel ran, mache die Feuertür auf und zeige ihm die kahlen Roste.
Mit einem einzigen Satz ist er an der Tür und verschwindet, ohne noch ein Wort zu sagen.
In fünf Minuten war er mit dem Direktor wieder da. Und wie der Direktor die Bescherung sieht, da stellt er sich hin und lacht. Gelacht hat der … Ich sage Ihnen, wenigstens fünf Minuten hat er gelacht, daß das ganze Kesselhaus wackelte. Dann sprang er plötzlich zu und schaltete den unheimlichen Kessel auf die Maschinen. Es war aber auch nachgerade Zeit, denn der Druck war inzwischen auf fünfundzwanzig Atmosphären gestiegen, und noch fünf Atmosphären weiter, da wären wir wohl alle in die Luft geflogen.
Da kam der Direktor zurück und sagte nur ganz trocken: ›Der Doktor Frowein soll mal kommen.‹ Und als der kam, da guckte er ihn bloß an und sagte: ›Na, weißt du, Karl, das ist mal wieder ein echter Frowein! Junge, Junge, daß dir das gelungen ist!‹ Und dann fiel der Direktor dem Doktor Frowein um den Hals, und die Tränen kugelten ihm aus den Augen.
Als er ihn wieder losließ, da sagte er zu uns: ›Kinder, merkt euch den heutigen Tag. Der 13. Februar 1963 wird noch für Jahrhunderte ein Gedenktag bleiben. Heute fängt ein neues Kapitel der Technik, der Zivilisation, der Kultur an. Der hier ist’s, dem die Menschheit das verdankt.‹
Wir standen noch da mit offenen Mäulern, denn verstehen taten wir das nicht.
Na, und der Frowein, das war so ein ganzer Stiller, der sagte so nebenbei: ›Bist du jetzt überzeugt, du ungläubiger Thomas?‹ Und dann gingen sie beide Arm in Arm weg. Aber vorher drehte er sich nochmal um und sagte zu uns: ›Na, Jungens, seht euch beizeiten nach was anderem um. Ich glaube, Heizerstellen werden rar werden.‹
Dann ging er los. Ich sage Ihnen, Herr, wenn ich hundert Jahre alt werde, den Morgen da in dem Kesselhaus werde ich niemals vergessen.
Tag und Nacht hat der Kessel gekocht. Wir mußten bloß Wasser nachpumpen. Und in den Zwischenzeiten mußten wir den vielen Neugierigen ihre Fragen beantworten. Aus aller Welt kamen sie, und die Absperrung war einfach nicht durchzuführen. Wenn wir eben einen hinausgeworfen hatten, kroch schon ein zweiter irgendwo her aus dem Aschkasten oder dem Kohlenbunker und setzte uns mit Fragen zu.
Wie es dann mit der Erfindung weiterging, das wissen Sie ja wohl. Kohlen zum Heizen brauchten wir nicht mehr. Öl auch nicht mehr. Die Bergarbeiter wurden größtenteils überflüssig. Die ganze Wirtschaft wurde auf den Kopf gestellt. Na, ganz glatt ist das ja nicht gegangen. Auf einmal so viele Menschen ohne Brot! … Na, Sie können sich ja denken, was das zu bedeuten hat. Aber allmählich hat sich ja alles wieder eingerenkt. Wem das Deubelszeug das Brot genommen hatte, dem gab es durch die Siedlungen bald gesünderes Brot wieder. Wenn Sie hier über die Steppen gefahren sind, dann haben Sie ja was davon gesehen. Zwanzig Millionen Leute aus Europa wohnen jetzt hier in bestem Wohlstand, wo früher ein paar hunderttausend Kirgisen kümmerlich hausten. Aber kommen Sie! Ich will Sie zu unserer Schmelzstelle bringen.«
Gespannt hatte Wellington Fox der Erzählung des alten Schmelzmeisters gelauscht, während der Magnetograph in seiner Tasche sie Wort für Wort niederschrieb. Jetzt folgte er dem Alten, der ihn auf einem neuen Pfade weiter bergan führte. Die Luft war hier verhältnismäßig klar und sichtig, da ein scharfer Südostwind die Nebelschwaden vertrieb. Noch eine kurze Wendung, und vor ihnen lag ein mächtiger Gletscher. Wohl mehrere Kilometer breit und in einer Mächtigkeit von hundert Meter schob sich der gigantische Eisstrom zu Tal. Wie ein dunstiger Schleier lag es auf dem Eise. Wo der Windstrom ihn faßte und zerriß, schimmerte glasig grün das Eismassiv hervor. An solchen Stellen konnte Wellington Fox hier und da schwarze Punkte wie Fliegen über die Fläche kriechen sehen. Er nahm sein gutes Glas zu Hilfe und sah nun, daß es große tankartige Fahrzeuge waren. Riesige Motorwagen, die hier das Gletschereis befuhren und gleichmäßig mit dem Dynotherm bestreuten, ähnlich, wie etwa ein Sämann die Getreidesaat über das Feld verteilt.
Während seine Augen an dem interessanten Schauspiel hingen, nahm der Schmelzmeister seine Erklärungen wieder auf:
»Sehen Sie, Herr, wie der Strom des erschmolzenen Wassers etwa fingerhoch über der Gletscherfläche zu Tal läuft. Meilenweit über das Eis läuft und dabei immer heißer wird.«
Wellington Fox ließ sein Glas sinken.
»… Und wie lange hält der Gletscher aus?«
»Ja … eigentlich sollte der Gletscher längst verbraucht sein, wenn nicht … wenn nicht …«
»Wenn was nicht?«
»Ja … die Gelehrten behaupten, daß hier überhaupt viel mehr Regen und Schnee fällt, seitdem die Schmelzerei im Gange ist. Trotzdem könnten die Gletscher hier bald zu Ende gehen, wenn wir nicht sparsam schmelzen müßten … Ja, wenn wir da oben im Quellgebiet des Ili schmelzen könnten … aber das gehört ja den verdammten Gelben … und die lassen uns nicht ran, obgleich sie auch Vorteil dabei hätten. Reine Bosheit von der Bande!
Und dabei könnten wir noch so viel Wasser gebrauchen, da doch der Balkaschsee mit dem Pulver nächstens zum Dampfen gebracht werden soll. Sie wissen, Herr, damit die Wolkenbildung und die Niederschläge reichlicher werden. Sie machen da unten schon große Vorbereitungen für die großen Feierlichkeiten, die bei der Gelegenheit vom Stapel gelassen werden. Na, davon habe ich nichts. Aber ich werde dann hier oben abgelöst und komme runter an den See. Das ist mir auch viel lieber.
… Die alten Knochen wollen nicht mehr so recht. Warme Buden haben wir ja … aber die feuchte Luft … der ewige Nebel … wie in einem Waschhause … Das Herz will nicht mehr.
Mir ist’s lieber unten am See. Da bin ich unter lauter alten Leunaern. Da unten auf dem Leunaer Kirchhof will ich auch mal begraben werden, wenn’s auch nicht das alte Leuna meiner Heimat ist …«
Der Junge mischte sich ein: »Na, Großvater, erst wolltest du gar nichts sagen, und jetzt kannst du kein Ende finden. Der Herr muß jetzt fort!«
Eine halbe Stunde später saßen die beiden Freunde wieder im Flugzeug, das sie nach Wierny zurückbringen sollte.
»Na, alter Fox, hat unsere Arbeit deinen Beifall gefunden?«
»Aber gewiß, Georg! Interessant war mir auch die Erzählung des alten Schmelzmeisters: ›Als der Kessel kochte.‹ Lebt eigentlich Frowein noch?«
»Aber ja! Der alte Herr sitzt doch ehrenhalber im Aufsichtsrat unserer Gesellschaft.«
»Sage mal, Georg, wie ist denn der damals darauf gekommen?«
»Alter Fox, du fragst verkehrt! Ich bin ja mit Frowein bekannt und über die Entstehung der Erfindung orientiert. Aber um dir das zu explizieren, müßte ich dir tagelange Vorträge halten, die du … deinen hellen Kopf in Ehren … doch nicht begreifen würdest.«
»Na, dann versuch mal in der Zeit, bis wir in Wierny landen, mir die Sache in ihren Grundzügen zu erklären. Ich weiß nur, daß euer Dynotherm ein künstlich hergestellter radioaktiver Stoff ist, der, mit Wasser zusammengebracht, unbändige Wärme entwickelt.«
»Damit hast du den Kern der Sache getroffen. Die Erfindung entstand ungefähr in folgender Weise: Frowein hatte jahrelang mit natürlichen radioaktiven Substanzen gearbeitet. Ihm als erstem war es endlich gelungen, den Zerfall dieser Stoffe, der bis dahin unwandelbar an bestimmte Zeiten gebunden zu sein schien, zu beeinflussen, nach Belieben zu verzögern oder zu beschleunigen Von da war es nur noch ein Schritt, das Verfahren auch an Stoffen zu versuchen, die man bis dahin nur als nicht mehr radioaktiv kannte. Frowein hat diesen Schritt getan, und seine Folgen siehst du hier vierzig Jahre später.«
»Sehr schön! Sehr gut! Der Mann hat meine volle Hochachtung! Die Kohlenzeit damals muß schauderhaft gewesen sein. Ich erinnere mich noch an Bilder, wo Städte, in denen Menschen wohnten, mit Schornsteinen besteckt waren wie der Igel mit Stacheln. Aber du! Was hast du nun jetzt daran verbessert?«
Isenbrandt kniff die Lippen zusammen. Über seine eigenen Leistungen sprach er wenig und ungern. Aus seiner Tasche zog er zwei kleine Zinntuben.
»Da sind je zehn Gramm des neuen, nach meinem Verfahren hergestellten Dynotherms. Sie wirken wie zwei Zentner des älteren Präparates …«
Begierig griff Wellington Fox nach den winzigen Röhrchen.
»Alle Achtung, Georg! Soviel mein dummer Schädel im Augenblick überschlagen kann, muß das ja kolossale Bedeutung haben. Ich kann mir jetzt schon Fälle denken, wo man das Pülverchen gut verwenden kann, ohne gerade Schnee zu schmelzen.«
Isenbrandt sah ihn nachdenklich an.
»Du könntest recht haben, Fox! Behalte sie, wenn du willst. Aber vergiß nicht, daß in jeder dieser winzigen Röhren ein Vulkan schlummert, der, von wenigen Tropfen Wasser geweckt, seinem Träger Lebensgefahr bedeutet. Bewahre sie wohl. Wer weiß … wann du sie brauchen wirst!«
Sorgsam barg Wellington Fox die Tuben in seiner Brieftasche.
»Herzlichen Dank, Georg! Leider muß ich das meiste, was ich bei dir sah, den Lesern der Chikago-Preß vorenthalten. Um sie zu entschädigen, werde ich einen hinreißenden Bericht über das internationale Highlife im asiatischen Davos im Kogarthaus bringen. Da oben am Paß ist ja der Schneesport noch in vollem Gange.
Um die sechste Abendstunde stand Wellington Fox allein auf der Westveranda des Kogarthauses. Nur gedämpft drang die Musik aus den Gesellschaftsräumen des großen Luxushotels bis hierher. Ungestört konnte er Ausschau halten. Seine Augen umfaßten ein Landschaftsbild von majestätischer Schönheit.
Zweitausend Meter unter ihm strömten im Süden die Fluten des Sirflusses durch das Paradies der Ferghanaebene. In allen Tönen spielten die Strahlen der sinkenden Sonne mit den Dampfwolken der heißen Quellen von Andischan. Doch diesen Schönheiten widmete Wellington Fox nur geringes Interesse. Sein Blick haftete auf den Abhängen der Kogartberge, die das Panorama nach Norden zu begrenzten. Prüfend und witternd sog er die Luft mit leicht vibrierenden Nasenflügeln ein, während die Falte auf seiner Stirn sich vertiefte. Mit einem guten Glas durchforschte er die Schneehänge der Kogartberge, die jetzt in den Strahlen der scheidenden Sonne rosig aufzuglühen begannen. Mit einem Ruck ließ er das Glas wieder in die Riemen fallen. Seine Mienen verrieten Ärger und Besorgnis.
»Verfluchter Leichtsinn! Bei solchem Firnwind eine Skitour zu unternehmen. Nicht einmal einen vernünftigen Führer haben sie mitgenommen … Auf die Renommierereien dieses MacGornick sind sie reingefallen. Aus purem Trotz mit dem alten Trottel losgegangen. Möchte er nur das Genick brechen … und die edle Gräfin Toresani meinetwegen auch. Aber Helen Garvin …«
Daß sie mit bei der Tour war, das verursachte seine Unruhe. Wäre er doch so vernünftig gewesen und auch mitgegangen. Jetzt waren sie irgendwo auf den unsicheren Schneefeldern, und er stand hier und machte sich Vorwürfe.
Helen Garvin, dieser kleine Trotzkopf! Vor der Tour und vor der Komtesse di Toresani hatte er sie gewarnt …
Er ließ sich in einen Sessel fallen. Sein Auge haftete auf den Abhängen der Kogartberge. Ihm selbst kaum merklich verschwammen die schneeigen Konturen allmählich und nahmen die Gestalt der Sierra Nevada bei Frisko an. Garvins Park auf San Matteo tauchte vor ihm auf.
Wie er damals Helen Garvin zum erstenmal sah …
Mißmutig war er durch den prächtigen Park geschlendert, in dem die Launen des Besitzers neben den herrlichen Gartenanlagen auch allerlei Merkwürdigkeiten geschaffen hatten. Das Labyrinth wollte er sehen, jenes wunderliche Bauwerk, das der Milliardär dort in die Felsen von San Matteo sprengen ließ.
Ein junges Mädel, das er um den Weg fragte, hatte ihn dorthin geführt. Als er ihr, hingerissen von ihrer jugendlichen Schönheit und ihrem natürlichen Plaudern, allzu lebhaft seinen Dank ausdrücken wollte, da hatte das Mädel überraschend plötzlich die Allüren einer großen Dame angenommen, die ihn mit gespielter Hoheit darauf aufmerksam machte, daß er sich im Parke ihres Vaters befände … Und sie würde gleich die Diener rufen … und ihn hinausspedieren lassen.
Der Schalk, der dabei aus ihren Augen blitzte, verriet ihm zwar, daß das nicht bitterer Ernst war, aber …
Seitdem kannte er Helen Garvin.
Allein war er damals in das Labyrinth gegangen. Durch Kreuz- und Quergänge, bis er den Mittelbau erreichte. Ein mächtiges, elliptisches Gewölbe. Eine reiche Sammlung aztekischer Altertümer war hier aufgestellt. Interessiert hatte er die Sachen betrachtet, ohne auf andere Besucher zu achten.
Da hatten auf einer Bank zwei Männer gesessen und leise miteinander gesprochen. Als er weit von ihnen entfernt vor einer Maske des Mexiki stand und vergnügt die scheußlichen Züge des alten Götzen musterte, waren plötzlich gut verständliche Worte an sein Ohr gedrungen. Worte, die ihn lange und gespannt lauschen ließen.
»Das Ohr des Dionysos!« … Eine halbvergessene Schulerinnerung kam ihm wieder. Das elliptische Gewölbe, das die Laune des Milliardärs hier in den Fels getrieben hatte, ließ ihn in einem Brennpunkte verblüffend deutlich hören, was in der Nähe des anderen viele Meter von ihm entfernt geflüstert wurde. So hatte er hier durch den Zufall mit Leichtigkeit alles das gehört, um dessentwillen er schon seit Wochen in Frisko suchte.
Dort stand er. Mit dem Fleiß eines Forschungsreisenden zeichnete er die greuliche Maske des Mexiki in sein Notizbuch und hörte … von Plänen … Verschwörungen … Organisationen …
Hörte, bis das Flüstern erstarb … sah dann … und sah zwei Gesichter.
Seitdem kannte er Collin Cameron.
Das ferne Donnern einer zu Tal gehenden Lawine riß ihn aus seinen Träumen.
Mit einem Satz stand er auf beiden Beinen.
»Verdammt! Sagt ich’s nicht? … Lawinenwetter …«
Er schickte sich an, die Veranda zu verlassen. An der großen Flügeltür stieß er auf Wilhelm Knöpfle, den Leiter des Kogarthauses. Der hatte die Schneeberge vor Davos mit denen von Ferghana vertauscht, als der Wintersport hier oben in Mittelasien Mode wurde. Die Begegnung gab Wellington Fox Veranlassung, seinem Herzen Luft zu machen.
»Schlechtes Wetter, Herr! Die Luft gefällt mir nicht. Ich fürchte, es wird nach Sonnenuntergang noch mehr Lawinenschläge geben. Einige Leute hier hätten ihre Unternehmungslust zügeln und besser zu Hause bleiben sollen.«
Der Direktor zuckte kaum merklich mit den Achseln.
»Drinnen ist die Luft auch nicht besonders. Gewitterspannung. Eine Atmosphäre, geladen mit allerlei Mißtrauen und verborgener Feindschaft …«
Wellington Fox warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Sind neue Nachrichten aus Peking da?«
»Immer noch das alte Lied. Die verhüllte Weisheit befindet sich auf dem Wege zur vollen Genesung …«
Jetzt war es an Wellington Fox, mit den Achseln zu zucken.
»Der Weg scheint sich in die Länge zu ziehen … Ich mache mir meinen Vers auf die Sache …«
»Gehen Sie in den Gesellschaftssaal, Mr. Fox. Sie werden einen interessanten Fünfuhrtee finden!«
Wellington Fox betrat den großen, prunkvoll ausgestatteten Saal, in dem eine kaukasische Kapelle ihre Weisen ertönen ließ. Man war hier im asiatischen Davos. In zweitausend Meter Höhe an den Hängen der Kogartberge gelegen, bot das Haus seinen Gästen bis tief in den Frühling hinein Gelegenheit zu allem alpinen Sport. Während unten bei Andischan schon die Wiesen geschnitten wurden und die Obstbäume abgeblüht hatten, lag hier oben noch die dichte weiße Decke über den Hängen und bot den Skiläufern gute Wege.
Aus allen Enden der Welt kamen die Gäste hier zusammen. Aus Europa und Amerika waren sie da. Neben Mongolen und Tataren, Turkmenen und Persern saßen Inder und Japaner. Die Tage waren dem Sport gewidmet, die Abende dem gesellschaftlichen Vergnügen. Längst war der Schneesport international im weitestgehenden Sinne des Wortes. Die Angehörigen der gelben und braunen Rasse pflegten ihn ebenso leidenschaftlich und mit gleicher Vollkommenheit wie die Weißen.
Alle Farben waren hier vertreten, aber auf den ersten Blick war es kaum zu bemerken. Der Gletscherbrand hatte alle diese Gesichter noch einmal gefärbt, hatte ihnen die besondere rötlichbräunliche Tönung gegeben, unter der die ursprüngliche Hautfarbe fast verschwand.
An kleinen Tischen saßen die Gäste in dem großen Saal. Erfrischungen aller Art wurden gereicht, und die Kapelle übertönte die Unterhaltung der einzelnen Gruppen.
Wellington Fox fand einen leeren Tisch in einer Ecke. Er begann seine Musterung und fand die Bemerkung des Hoteldirektors bestätigt. Die Sonderung der Farben war heute stärker ausgeprägt als an anderen Tagen. Es fehlten die Gruppen, in denen weiße, gelbe und braune Mitglieder der großen Sportgemeinde früher wohl zusammensaßen.
Wellington Fox witterte hier, wie er draußen auf der Balustrade gewittert hatte. Von Tisch zu Tisch wanderten die scharf blickenden Augen, und mit der charakteristischen Bewegung sog er die Luft ein. Er hätte darauf wetten mögen, daß die Gelben hier allerlei mehr wußten als er.
Die Instinkte des Jägers und des Berichterstatters wurden in ihm wach. Zum Teufel … weg mit diesen Gedanken … Die Sorge um Helen Garvin nahm ihn wieder gefangen.
Wellington Fox erhob sich und schritt durch den Saal. Irgendwie mußte er sich Gewißheit verschaffen. Telefonieren … Rundfragen … Er trat in die Kanzlei und starrte auf die stummen Apparate … Da … ein Ruf eines der hier aufgestellten lautsprechenden Telephone.
MacGornick sprach: »… großes Unglück … sofort vom Hotel Rettungsexpedition schicken … Lawinenschlag … Begleiterinnen Gräfin Toresani und Helen Garvin verschüttet.«
Bevor noch der Portier eingreifen konnte, hatte Wellington Fox den Schalthebel gedreht und die Geberstation des Hotels eingeschaltet. Scharf und knapp kamen seine Rückfragen … wo der Unfall geschehen sei … am Ketmansteg … genau unterhalb des Kogartpasses.
Im nächsten Moment warf Wellington Fox das Mikrophon dem Portier gegen die Brust und stürmte aus der Kanzlei. Im Vorraum stand allerlei Sportgerät. Ohne Besinnen griff er die ersten besten Skier und eilte weiter. In vollem Gesellschaftsanzug war er für eine Skitour nicht eben sehr glücklich gekleidet. An einem Haken sah er den dicken wolligen Pelz eines der eingeborenen kirgisischen Führer hängen und riß ihn mit einem Ruck an sich.
So stürmte er ins Freie. Der aufgehende Mond beleuchtete unsicher die schneebedeckten Hänge und Flächen. Mit geübten Händen zog er die Bindungen der Skier über seine Lackschuhe. Schon im Gleiten, warf er den Pelz über.
Eine Minute nach dem Empfang von MacGornicks Notruf schoß Wellington Fox ohne Rücksicht auf die Gefahr in sausender Talfahrt auf den dreihundert Meter tiefer gelegenen Ketmansteg zu.
Jetzt noch über eine steile Halde hundert Meter hinab … jetzt sah er eine einzelne Gestalt auf der weiten weißen Fläche … war im Augenblick heran … versuchte im letzten Moment durch Abdrehen der windenden Fahrt Herr zu werden … und merkte, daß es nicht mehr ging. Gewaltige, wild und wirr durcheinandergeworfene Schneemassen versperrten ihm den Weg. Mit Aufbietung aller seiner Kraft schnellte er sich in die Höhe, streifte in gewaltigem Sprung MacGornicks Gestalt dort, daß sie der Länge nach in die weißen Flocken hinschlug, und landete dann selbst inmitten der wild aufgetürmten Schneemassen.
Das Mondlicht reichte eben aus, um die Dinge in der nächsten Umgebung zu erkennen. Eine gewaltige Lawine war halb schräg von der Paßhöhe her zu Tal gegangen. Er konnte ihre Spur die Hänge hinauf bis weit nach Norden erblicken. Hier in der Schlucht des Ketmansteges waren die stürzenden Massen zum größten Teil zur Ruhe gekommen. Nur ein Teil hatte sich noch über die Höhe des südlichen Schluchtrandes hinauf gestaut und war über ihn weiter hinab in das Tal gestürzt.
Bevor noch MacGornick sich durch die Schneemassen langsam zu ihm hinzuarbeiten begann, strebte er, so schnell es der zu wirren Blöcken zusammengepreßte Schnee gestattete, der Stelle zu, wo die Bruchstücke eines Schneeschuhes aus den eisigen Massen ragten. Das letzte Zeichen der Personen, die hier vom weißen Tod überrascht worden waren.
Seine Rechte fuhr zur Brusttasche. Jetzt hielt er eine der winzigen Tuben in der Hand, die ihm Georg Isenbrandt in Wierny gegeben hatte. Undenkbar erschien es ihm, daß die geringfügige Menge des unscheinbaren Pulvers gegen die ungeheure, hier in der Schlucht gestaute Schneemasse etwas ausrichten könnte. Aber noch während er den Gedanken dachte, hatte er schon den Verschluß geöffnet. Mit den Fingerspitzen griff er das Pulver und streute die Stäubchen wie kostbare Samenkörner in die Schneewüste, während er den gebrochenen Ski in immer weiter werdenden Spiralen umkreiste.
»Georg, hilf!« …
Wie ein Stoßgebet kam es ihm von den Lippen, während er sich durch die Schneemassen seinen Weg bahnte und Körnchen auf Körnchen streute. Jetzt war die Tube leer, und jetzt stieß er auf MacGornick.
Der Schotte wollte sprechen … wollte fragen, ob die Hilfsexpedition schon unterwegs wäre.
Mit einem schlecht unterdrückten Fluch wandte Wellington Fox ihm den Rücken … und sah über der ganzen Fläche, die er eben noch im Mondlicht begangen und bestreut hatte, dichte Nebel wallen.
Eben noch standen sie kaum fußhoch. Jetzt wogten sie schon in Augenhöhe und stiegen in jeder Sekunde höher. Mit einem Schrei stürzte er in der Richtung davon, in der er eben noch die Skitrümmer erblickt hatte. Warme, dunstige Treibhausluft umfing ihn. Aber eisig umflutete ihn Schmelzwasser bis zu den Knien.
Schon war der eben noch so harte froststarrende Schnee über die ganze Fläche hin eine schmelzende, auseinanderfließende Masse geworden. Jetzt stieß sein linker Ski auf Widerstand. Das mußte der zerbrochene Ski sein.
Mechanisch faßten seine Hände in die Taschen des fremden Pelzes … und griffen eine der tausendkerzigen elektrischen Fackeln, wie sie Bergführer bei sich zu tragen pflegen.
Im nächsten Moment flammte die mächtige Leuchte auf. Wie glühendes Eisen ließen ihre Strahlen die Nebelmassen selbst leuchtend werden. Aber auch in die Klüfte und Spalten der schmelzenden Lawine drang das Licht. Mit einem Ruck entledigte sich Wellington Fox der störenden Schneeschuhe und warf sich auf die Knie in den eisigen Schlamm, um einer dunklen Stelle in den schmelzenden Massen näherzukommen. Schob mit den Händen den erweichenden Schnee zurück, bekam ein Stück Stoff zu fassen und zog mit einer kurzen letzten Anstrengung eine menschliche Gestalt zu sich heran.
Kalt und leblos lag die Gerettete in seinen Armen. Der immer stärker schmelzende Schnee hatte ihre Kleidung vollkommen durchnäßt. Mit Schrecken erkannte Wellington Fox, daß das von ihm angewandte Mittel nicht ungefährlich war. Zwar die Schneemassen selbst schmolz dieses wunderbare Dynotherm in fabelhaft kurzer Zeit zusammen. Aber das abziehende Schneewasser durchtränkte die tieferen Schichten und bedrohte alles, was dort noch etwa verschüttet lag, mit dem Tode des Ertrinkens.
Beim Scheine der starken Leuchte betrachtete er die Züge der Geretteten. Die, die er vor allem suchte, an die er am meisten dachte, war es nicht. Die Marchesa di Toresani hielt er hier in den Armen. Aber Helen Garvin lag noch irgendwo verschüttet, von den schmelzenden Massen immer stärker bedroht.
Er ließ die regungslose Gestalt zu Boden gleiten. Sah dabei, daß der Riemen ihrer Umhängetasche gerissen war, und ließ die Tasche mechanisch in seinen Pelz gleiten. Dann begann er mit der Kraft der Verzweiflung von neuem zu suchen. Nur von der Hoffnung aufrecht gehalten, daß die Katastrophe die beiden Frauen dicht beieinander betroffen habe.
Er suchte und fand. Gerade eben jetzt gaben die schmelzenden und dampfenden Massen den Zipfel eines Gewandes frei. Im Moment stürzte sich Wellington Fox darauf und hielt Helen Garvin in seinen Armen. Ebenso bleich und regungslos wie ihre Gefährtin.
Jetzt schnell heraus aus den dampfenden und schmelzenden Massen. Nur wenige Minuten waren verstrichen, aber wie hatte sich das Bild in kurzer Zeit verändert. Schon stand er in einer tiefen Mulde, und von allen Seiten her schoß das Schmelzwasser in Sturzbächen die Abhänge hinab, um gurgelnd und brausend seinen Weg zu Tale unter den Schneemassen fortzusetzen.
Mit den Zähnen faßte Wellington Fox die Fackel. An seiner linken Brust ruhte Helen. Mit dem rechten Arm umklammerte er den Körper der Toresani. Mit der doppelten Last mußte er sich an dem schmelzenden und weichenden Abhang in die Höhe arbeiten. Bis an den Leib sank er dabei in die wässerigen Massen. Schritt um Schritt kämpfte er sich empor, alle Muskeln und Sehnen bis zum äußersten gespannt. Knirschend gruben sich seine kräftigen Zähne bei der gewaltsamen Anstrengung tief in den hölzernen Griff der Fackel.
Bis endlich die Steigung geringer, der Schnee unter seinen Füßen fester wurde. Bis das Licht einer anderen Fackel in seine Augen fiel.
MacGornick hatte sich endlich zur Tat aufgerafft, hatte sich der eigenen Fackel erinnert. Mit ihr war er jetzt in das Nebelmeer eingedrungen und auf Wellington Fox gestoßen. Mit einer letzten Anstrengung legte ihm Wellington Fox den regungslosen Körper der Marchesa di Toresani in die Arme.
»Zurück, Sir … auf trocknen Schnee …«
Mit pfeifenden Lungen stieß er die wenigen Worte hervor.
Zwei Minuten später traten sie aus dem wallenden Nebelmeer in die klare Luft und sahen das Mondlicht wieder. Ohne ein Wort zu verlieren, ohne einen Blick auf seinen Begleiter zu werfen, bettete Wellington Fox Helen Garvin auf den Schnee und versuchte durch Reiben und Massieren das Leben in den regungslosen Körper zurückzuzwingen. Die Fackel, die er neben sich in den Schnee gestoßen hatte, überflutete die bleichen Züge des jungen Mädchens mit blendendem Licht, ließ sie noch blasser und lebloser erscheinen.
Lange schien Wellington Fox sich um eine Gestorbene zu mühen. Bis endlich eine Spur von Leben zurückkehrte, bis ein leichter Atemzug die Brust erschütterte. Ein kurzer Freudenschrei kam von seinen Lippen. Jetzt galt es, das Werk zu vollenden, die Geretteten in die Wärme und Trockenheit des Kogarthauses zu schaffen.
Das war noch ein langer und steiler Weg über Schnee und Felsen dreihundert Meter in die Höhe. Auch für einen Mann, der ihn unbelastet ging, keine geringe Anstrengung. Wellington Fox hob Helen Garvin mit starken Armen empor und begann den Weg zu schreiten, als ob sie federleicht wöge. Und wäre gern so mit ihr weitergegangen bis in alle Ewigkeit.
Der Lichtschein von Fackeln erreichte sein Auge. Stimmen drangen an sein Ohr. Eine Rettungskolonne kam ihm entgegen. Träger und Führer umringten ihn. In allen Sprachen drangen Fragen auf ihn ein. Doch nur noch undeutlich vernahm er die Stimmen. Nur noch ein dumpfes Gewirr schlug an sein Ohr. Jetzt, da er Helen Garvin gerettet wußte, verließ ihn die Spannkraft. Mit einer letzten Anstrengung half er Helen auf eine Bahre betten. Dann fiel er bewußtlos neben ihr nieder.
Im Süden von San Franzisko auf der Hochebene von San Matteo liegen, von wundervollen Parkanlagen umgeben, die Sommersitze der westlichen Finanz- und Industriemagnaten. Noch vor einem halben Menschenalter streckten sich hier dürre Einöden. Jetzt hatten die Menschen mit Hilfe des Dynotherms ein Paradies aus den wilden Gebirgsgegenden gemacht.
Schattige Reitwege und trauliche Fußpfade. Zwischen Felsenhügeln Miniaturseen, Bäume, Blumenbeete und allerlei blühende Sträucher, von berufenen Künstlern zu einem bildhaften Ganzen verschmolzen.
Der schönste unter den schönen Landsitzen der von Francis Garvin. Unter den reichen Männern der Union einer der reichsten Francis Garvin.
Die Grundlagen zu seinem riesenhaften Vermögen hatte er in jener denkwürdigen Landspekulation gelegt, als er vor einem halben Menschenalter die großen wüsten Landstriche zwischen der Sierra Nevada und dem Koloradofluß für einen Spottpreis an sich brachte und dann durch die Wirkungen des Dynotherms fruchtbar machte und besiedelte. Die Aktien der American Settlements Company waren zum großen Teil noch in seinen Händen. An der Europäischen Siedlungsgesellschaft war er stark beteiligt.
Auf der großen Terrasse, die über Wälder und Wiesen hinweg einen Blick auf die Fluten des Stillen Ozeans gewährte, saßen Francis Garvin und Helen, seine einzige Tochter.
Unruhig maß der Milliardär die Terrasse in ihrer ganzen Länge. Bald fuhren seine Hände in die Taschen, bald gestikulierten sie in der Luft. Mit merkbarem Ingrimm hafteten seine scharfen Augen bald auf diesem, bald auf jenem Gegenstand. Bald fuhr er sich durch das dichte weiße Haar, daß es sich zu Bergen sträubte.
In einen Korbsessel vergraben saß Helen und sah dem Vater halb belustigt, halb ängstlich zu. Gewiß hatte sie nicht erwartet, seinen ungeteilten Beifall zu finden, als sie ihm vor einer Viertelstunde in vorsichtigen Andeutungen ihre Liebe zu Wellington Fox gestand. Aber auf einen so heftigen Widerstand war sie auch nicht gefaßt gewesen. Auf solch schroffes Nein von seiten ihres Vaters, der sie immer verwöhnte, stets jeden ihrer Wünsche erfüllte.
»Habe ich ein Leben voll endloser Sorgen und Mühen geführt, habe ich gearbeitet wie ein Zugstier, um alles, was ich besitze, schließlich einen elenden Zeitungsschreiber in die Tasche stecken zu sehen?!«
Francis Garvin fand keine Worte mehr für seine Stimmung. Mit seinen starkknochigen Händen ergriff er ein unschuldiges Taburett und stieß es zu Boden, daß ihm die dünnen chinesischen Porzellansächelchen wie eine Fontäne um den Kopf flogen und im nächsten Augenblick in tausend Scherben am Boden lagen.
»Schäm dich. Pa! … Mein schönes Porzellan, das ich selbst auf meiner Reise in Kaschgar gekauft habe … Eine liebe Erinnerung …«
»Der Teufel hole deine Reise … und die liebe Erinnerung … und vor allen diesen Fox!«
»Pa!« klang es strafend aus dem Korbsessel. »Mr. Fox ist ein Gentleman, der mit eigener Gefahr deine Tochter gerettet hat und dem du höchsten Dank schuldest.«
»Alles hat seine Grenzen! … Auch die Dankbarkeit. Ich will den Mann empfangen und belohnen … wie kein anderer Mann in den Staaten ihn besser belohnen könnte … Aber dich ihm geben?! … Wäre dieser Fox ein Gentleman, hätte er es niemals gewagt, dein Gefühl einer übertriebenen Dankbarkeit so zu seinen Gunsten auszubeuten.«
»Ach, Pa! … Das tut er ja gar nicht … Leider …«
Helen sagte es in einem Ton, der scherzhaft klingen sollte und doch viel Resignation enthielt.
»Was?«
Francis Garvin blieb mit einem Ruck vor seiner Tochter stehen. Sein offener Mund gab einen Ton von sich, der an die abblasenden Sicherheitsventile einer Frachtlokomotive erinnerte.
»Was … willst du mich ganz und gar verrückt machen? … Er will dich gar nicht … Leider?!«
»Leider«, nickte Helen betrübt. »Das heißt, er hat noch gar nicht gesagt, daß er mich will …«
»Bravo! … Mr. Fox ist mein Mann. Ein Gentleman, der meine Tochter vom Tode gerettet hat und keinen Anspruch auf ihre Hand macht … die sich ihm entgegenstreckt …«
»Pa! Das ist zu arg. Erst beleidigst du Mr. Fox und jetzt mich.«
Sie erhob sich und trat, ihm den Rücken kehrend, zur Brüstung der Terrasse. Sie drehte sich auch nicht um, als Francis Garvin zu ihr trat und in einem Tone voller Befriedigung fortfuhr:
»Ich werde mich revanchieren, my Darling. Morgen kaufe ich die Chikago-Preß und schenke sie diesem Fox. Du wirst sehen, der Mann …«
»Der Mann wird das Geschenk nicht annehmen …«
Helen hatte sich umgedreht und sah ihren Vater mit blitzenden Augen an.
»Abwarten, mein Kleines! … Die zwölf Millionen Dollar, die die Zeitung kosten wird, nimmt jeder, dem Francis Garvin sie schenken will. Du hältst diesen Fox für einen schlechten Geschäftsmann.«
»Ich halte ihn für einen Gentleman, der dir dein Geschenk vor die Füße werfen wird.«
»Wetten, daß nicht?«
»Das gilt, Pa! Verlierst du, mußt du mich zu der Einweihung des Balkaschsees mit nach Asien nehmen! … Abgemacht!« …
Ein Diener brachte eine Karte und überreichte sie Helen Garvin. Ein freudiges Leuchten ging über ihr Gesicht, das aber schnell einem Schein der Trauer wich.
»Florence Dewey! Gut. Ich gehe gleich mit. Auf Wiedersehen, Pa. Die Wette gilt …
Florence!«
Sie flog auf die Freundin zu und faßte sie an beiden Schultern.
»Du bist es wirklich … Ein unerwarteter Besuch.«
»Ich denke wohl, Helen dear.«
Ein größerer Gegensatz als zwischen diesen beiden Freundinnen war kaum denkbar. Helen Garvin … das Köpfchen von goldig schimmernden Locken umgeben, große blaue Augen, ein Stumpfnäschen mit rosigen Flügeln … Das Ganze eine Nippesfigur aus Meißner Porzellan.
Daneben Florence Dewey, schlank und stolz. Schwarzes Haar um ein bleiches Antlitz, dessen Alabaster durch einen kreolenartigen Hauch gefärbt wurde. Trotz ihrer Jugend lag Ernst, ja Trauer in den schönen Zügen des Mädchens.
Von Jugend an waren Helen Garvin und Florence Dewey, die Töchter der beiden reichsten Leute von Frisko, eng befreundet.
Helen Garvin fragte:
»Du bist noch hier? Ich glaubte, du hättest die geplante große Reise längst angetreten?«
»Es war mehr der Plan meines Vaters als meiner. Ich habe ihn wohl erwogen … aber verworfen. Es hätte ausgesehen wie eine Flucht …«
Eine glühende Röte bedeckte ihr Gesicht, und ihre Stimme nahm einen leidenschaftlichen Klang an.
»Ich fliehen? … Und wovor? … Vor häßlichem Klatsch?! Nein … niemals.«
»Und doch waren es sicherlich schwere Tage, die du damals durchlebt hast.«
Helen legte den Arm teilnahmvoll um die Schulter der Freundin. Florence duldete die Umarmung mehr, als sie sie erwiderte.
»Was weißt du, Kleines, von den Kämpfen, die mir das Herz zerrissen! Danke dem Himmel, daß du nicht den tausendsten Teil davon kennengelernt hast.
Wäre es nur das eine gewesen … daß der schwarze Blutstropfen, der von Vaters Seiten in meinen Adern rollt, mir in einer rein weißen Gesellschaft Schwierigkeiten macht … gelacht hätte ich darüber. Aber daß ich deshalb auch meine Liebe lassen mußte … daß ich …«
Die Kehle schien ihr zugeschnürt. Die Stimme versagte. Sie richtete das Gesicht empor, um die Tränen mit den langen Wimpern zurückzuhalten.
»Quäle dich nicht, Florence … versuche Averil Lowdale zu vergessen! Ein Mann, der dich um solch Vorurteil lassen konnte, ist deiner nicht würdig, hat dich nie wahrhaft geliebt.«
»Averil? … Averil mich verlassen?! … Nein. Er tat es nicht!«
»Wie … du sagst? … Ich verstehe dich nicht. Schicktest du ihn von dir?«
Florence hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen. Ihre Schultern zuckten krampfhaft. Ein Lachen, das wie ein Schluchzen klang, kam aus ihrem Munde. Jetzt ließ sie die Hände sinken. Ihre großen, unnatürlich weit geöffneten Augen blickten starr in die Ferne. Eine steinerne Ruhe lag auf den blassen Zügen. Wie eine blutrote Wunde zuckte der Mund in dem schneeweißen Gesicht.
»Florence! … Florence …«
Zweimal … dreimal rief Helen die Freundin an. Langsam lösten sich deren verkrampfte Hände. Mit einer müden Handbewegung strich sie über die Stirn, als wolle sie die quälenden Gedanken hinwegwischen. Dann begann sie mit ruhiger tonloser Stimme zu erzählen: »Du weißt, Helen, wie ich Averil Lowdale kennen- und liebenlernte. Er hielt bei meinem Vater um meine Hand an, der sie ihm nicht verweigerte. Auch der alte Lord Lowdale war mit unserem Bund einverstanden … Warum auch nicht? … Das Vermögen der Lowdale war nie groß gewesen. Ein langjähriger Prozeß um die Lordschaft hatte den größten Teil der Revenuen verschlungen. Die Millionen meines Vaters kamen sehr erwünscht. Daß er ein Selfmademan war, wurde mit in den Kauf genommen.
Da erhielt mein Verlobter plötzlich ein Telegramm, umgehend nach England zurückzukehren. Wenige Tage später hatte mein Vater einen Brief des alten Lords in den Händen: ›Seine Lordschaft zieht ihr Einverständnis mit dem Ehebunde von Deweys Tochter mit seinem Sohn zurück. Weil … weil ich nicht rein weißer Abstammung sei. Der Vater meines Vaters habe eine Quadronin zur Frau gehabt …‹«
»Unmöglich, Florence … und wäre die Behauptung wahr, so wäre es doch nur ein vorgeschobener Grund!«
»Du irrst, Helen …«
Ein Zug von Verachtung und Bitterkeit prägte sich um die Mundwinkel der Sprecherin aus.
»… Es ist wahr … leider ist es wahr. Wirst du mich auch verachten, weil ein paar schwarze Tropfen in meinen Adern rollen?«
»Florence! … Die Unbill, die dir widerfahren ist, macht dich grausam. Ich hoffe es nicht …«
»Du wirst es vielleicht besser verstehen, Helen, wenn ich dir die Vorgeschichte erzähle. Als der Vorgänger des jetzigen Lords Lowdale starb, trat sein Neffe als nächster Erbberechtigter auf. Seine Ansprüche, an sich unanfechtbar, wurden ihm von dem jetzigen Lord streitig gemacht, weil er Halbblut sei. Seine Mutter war eine Gelbe. Ein jahrelanger Prozeß entspann sich um die Erbschaft. Eine besondere Parlamentsbill entschied schließlich zuungunsten des Halbblutes. Seit jener Zeit ist Lord Lowdale ein eifriger Verfechter der Bestrebungen für Reinhaltung der weißen Rasse.«
»Und darum …«
»Darum durfte Averil keine Herrin in die Halle von Lowdalehouse bringen, unter deren Ahnfrauen eine ist, deren Wiege einmal in einem Negerdorf gestanden hatte.«
»Und Averil? Fügte er sich widerspruchslos dem Verbot des alten Lords?«
Florence blickte traumverloren ins Weite. Der abweisende Zug auf ihren Mienen wich einem weichen, glückverlorenen Lächeln.
»Nein, Helen … Averil trat mutig an meine Seite. Er war bereit, das Vaterhaus zu verlassen, mit seinem Vater zu brechen. Er kündigte mir seine Abreise von London an. Da … da gab ich ihm sein Wort zurück.«
»Du … Florence … du tatest das?«
»Ich tat es … nach langem, schwerem Kampf.«
»Warum, Florence? … Zweifeltest du doch an Averil … an seiner Treue?«
Tief atmend lehnte sich Florence zurück und bedeckte mit der Hand ihre Augen.
»Warum? … Weil ich ihn liebte … mehr liebte als mein Glück. Averils Entschluß war eine Tat, die mich beseligte … mich beglückte. Wer England und seine Institutionen kennt, weiß, was er meinetwegen aufgeben wollte. Sein Opfer war groß. So groß, daß ich es nicht annehmen durfte …
Laß die Vergangenheit. Es ist nutzlos, davon zu sprechen. Weg mit den Erinnerungen an jene Tage und Nächte der Verzweiflung …«
Sie erhob sich und ging ein paarmal mit starken Schritten durch das Gemach.
»Deine Erzählungen von den wunderbaren Arbeiten in Asien reizen meine Neugier, Helen. Du sprachst davon, daß du vielleicht mit deinem Vater zur Einweihung des Balkaschsees dorthin zurückgehen würdest. Wäre dir meine Begleitung angenehm?«
»Du fragst, Florence?! … Mit tausend Freuden begrüße ich deine Begleitung. Aber … es ist noch zweifelhaft, ob ich selbst gehe. Ich muß …«
Ein Lächeln stand in ihrem Gesicht. »Ich muß erst noch eine Wette gegen Pa gewinnen.«
»Eine Wette? … Und warum … worüber?«
»Nicht jetzt fragen, Florence. Später werde ich dir den Scherz erzählen. Ich glaube bestimmt, die Wette zu gewinnen. Sonst würde deine Helen sehr traurig sein … Aber nicht der verlorenen Wette halber.«
John Dewey, der reiche John Dewey saß in seinem Palast in Nob Hill zu Frisko in seinem Arbeitzimmer. Ihm gegenüber Melan Fang, einer der reichsten chinesischen Großkaufleute Friskos.
Seit Jahren waren sie bekannt. In letzter Zeit schienen die lockeren Verbindungen enger geworden zu sein. Enorme Summen waren von Deweys Konten auf das chinesische Handelshaus überwiesen worden. Es verlautete, daß John Dewey, der die meisten Silbergruben des amerikanischen Kontinents in seiner Hand vereinigte, große Konzessionen im südlichen Altai erhalten habe. Man sprach auch davon, daß er sie zusammen mit der chinesischen Firma ausbeuten wolle.
Zwischen den beiden Partnern lag ein mit vielen Zahlen bedecktes Papier.
»Wenn Zahlen allein beweisen könnten, wäre ich überzeugt, Melan Fang …«
Dewey lehnte sich in den Sessel zurück und sah seinen Gast prüfend an.
»… In der Bilanz fehlen einige Imponderabilien, deren Bedeutung nicht zu unterschätzen ist!«
Der Chinese schien solchen Einwand erwartet zu haben.
»Sie meinen die überlegene Intelligenz der weißen Rasse, Mr. Dewey?«
»Zweifellos!«
»Der Gedanke, daß die weiße Rasse der gelben und schwarzen an Intelligenz weit überlegen sei, muß als erledigt angesehen werden. Die weiße Rasse teilt das Schicksal vieler anderer Rassen, die vor ihr waren und ihr Ende fanden. Sie ist an der gefährlichen Stelle der Zivilisation angekommen, die ein Volk nicht erreicht, ohne von unwiderstehlichem Drang erfaßt zu werden, sich in den Abgrund zu stürzen.
Die ausgesuchteste Klugheit ist nicht imstande, den unwandelbaren Gesetzen des Geschehens entgegenzuwirken … Ist der Fall der weißen Rasse zu bedauern? Kaum … An ihren Leistungen gemessen. Wo waren die großen Kulturen der Vergangenheit? … Bei den Völkern des Orients!
Im Bereich der praktischen Wissenschaften und der Technik mögen die kommenden Jahrhunderte noch von den Weißen zu lernen haben. Sonst hat … diese Rasse … kaum etwas geleistet … was den Leistungen des Orients auch nur verglichen werden könnte … Ein paar Menschenalter, und die Weltherrschaft der Weißen ist nur noch eine Episode der Weltgeschichte. Noch vor hundert Jahren betrachteten sie China als eine Riesenfarm, die zum Nutzen der weißen Welt ausgebeutet wurde. Und heute? China steht fest auf eigenen Füßen, gestützt durch chinesische Intelligenz und chinesische Tüchtigkeit! …
Noch vor zwei Jahrhunderten definierte Franklin den Neger als ein Tier, das soviel wie möglich frißt und so wenig wie möglich arbeitet.
Und heute. Als vollkommen gleichberechtigte Vertreter menschlicher Kultur und Wissenschaft stehen die Schwarzen hier in der Union den Weißen gegenüber. Denken Sie nur an die schwarzen Universitäten und Schulen, an die großen Bank- und Geschäftshäuser, die ausschließlich von Schwarzen geleitet werden …«
John Dewey hatte während dieser langen Auseinandersetzung seines Gegenübers gedankenvoll auf den bunten Teppich geblickt.
»Und Sie halten jetzt schon den Zeitpunkt für gekommen, der Herrschaft der weißen Rasse für immer ein Ende zu machen? Der Gedanke ist kühn!«
»Der Kampf beginnt jetzt! Mehr will ich nicht sagen. Wir würden schneller zur Entscheidung kommen, wenn der große Schitsu am Leben geblieben wäre. Man raunt in seinem Reich, daß weiße Hand die Kugel des Attentäters lenkte. Aber unser Land ist nicht arm an großen Männern. Ein anderer wird erstehen … das Werk vollenden.«
»Wer wird für den unmündigen Thronerben die Regentschaft übernehmen? Wird … er es sein?«
Der Chinese nickte.
»Bestimmt?«
Nochmals ein Nicken.
»Er übernimmt eine schwere Bürde. So schwer, daß sie vielleicht auch der lebende Kaiser nicht hätte tragen können. Die Arbeiten der Europäischen Siedlungsgesellschaft drängen zu einer Entscheidung. Ist Neuland im Herzen Asiens mit hundert Millionen europäischer Siedler besetzt, dürfte es schwer sein, den Vorstoß nach Westen zu wagen. Die Gebirgszüge, die China vom Westland trennen, werden dann, gehörig befestigt, eine chinesische Mauer sein … gegen China.«
»Er ist ein Mann der Tat. Er wird keinen Tag verlieren. Der diplomatische oder militärische Sieg in der Besitzfrage des Kuldschagebietes wird die große Umwälzung einleiten …«
»Sie rechnen mit dem Sieg, Melan Fang?«
»Unbedingt! Die größeren Machtmittel sind auf unserer Seite … nicht zu reden von unserem unerschöpflichen Menschenreservoir.«
»Und doch …«
Ein nervöses Zucken lief über das Gesicht des Chinesen, als diese Frage des kühlen Rechners Dewey sein Ohr traf.
»… und doch will er den entscheidenden Schritt nicht wagen, ohne der Hilfe der schwarzen Rasse sicher zu sein … wollten Sie sagen.«
Dewey nickte schweigend.
»Ich kann Ihre Bedenken nicht teilen. Haben Sie bei ihren großen geschäftlichen Unternehmungen nicht auch zuweilen mit der Hilfe anderer gerechnet?«
Wieder schüttelte Dewey den Kopf.
»Nie!«
Melan Fang rückte unruhig auf seinem Stuhl.
»Es ist wichtig, den kommenden Krieg schnell und sicher zu beenden. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, dazu alle Mittel, die sich bieten, zu benutzen.«
Ein ironischer Zug legte sich um Deweys Mund.
»Schlagwörter wie Menschlichkeit haben schlechten Kurs in solchen Fällen. Sprechen wir offen, Melan Fang. China allein fühlt sich nicht stark genug. Es will die Kräfte Amerikas binden, damit Europa in dieser blutigen Auseinandersetzung auf keine amerikanische Hilfe zählen kann. Der Bürgerkrieg zwischen Weißen und Schwarzen in der Union scheint das beste Mittel.
Der Plan ist gut. Aber …«
»Aber?«
»Ich bezweifle seinen Erfolg!«
John Dewey war aufgestanden und ging mit großen Schritten durch den Raum. Melan Fang hatte sich tief in seinen Sessel zurückgelehnt. Seine zusammengekniffenen Augen ruhten argwöhnisch auf dem unbewegten Gesicht Deweys.
War das Spiel verloren?
»Sie sprechen in Rätseln, Mr. Dewey!«
»Es mag Ihnen rätselhaft vorkommen, daß ich meine Hände in ein Geschäft stecke, zu dessen Verlauf ich kein Vertrauen habe. Ihre Interessen und die der amerikanischen Negerbevölkerung sind grundverschieden.
Wir …«, ein ingrimmiger Humor sprach aus seinen Worten … Ich sage wir … mich einbegriffen … obgleich kein Satan mich jemals im Leben als black man taxiert hat … bis auf jenen englischen Lord … Wir kämpfen um die Gleichberechtigung mit anderen Rassen. Sie kämpfen um Macht und Land.
Unser Kampf hat ein ideales Ziel, ist eine interne Angelegenheit der Vereinigten Staaten. Ihr Streit wird die Weißen der ganzen Welt unter einer Fahne vereinigen, denn es geht um die weiße Existenz. Der Untergang des europäischen Abendlandes würde das Ende der weißen Kultur überhaupt bedeuten. Sehen Sie sich vor. Schrauben Sie Ihre Hoffnungen nicht allzu hoch, daß nicht … ein unerwartet starker Frost den Blütentraum auf viele Menschenalter vernichtet …«
Melan Fang wollte sprechen, aber John Dewey ließ sich nicht unterbrechen.
»Die weiße Intelligenz wird in diesem Kampf neue, unerhörte, ungeahnte Leistungen vollbringen und … vielleicht die Oberhand behalten.
Ihre Prophezeiung wird einmal eintreten, aber wann …?«
Der Chinese war aufgestanden. Geschmeidig lächelnd trat er an Dewey heran.
»Sie müssen gestehen, daß ein Kampf zwischen China und den Westländern eine gute Unterstützung Ihres Streites um die Gleichberechtigung der schwarzen amerikanischen Bürger ist. Unser Zusammengehen bringt beiden Vorteil …«
Er streckte Dewey die Hand hin, die dieser ergriff.
»Abgemacht!«
»Wann?«
»Nach der Wahl um den Gouverneurposten von Louisiana. Wird Josua Borden, der schwarze Kandidat, gewählt und nicht bestätigt, beginnt der Kampf!«
»Ich bekam heute ein Telegramm aus Peking. Er will den genauen Termin wissen. Bei Ihnen und bei uns muß der Schlag gleichzeitig fallen.«
»Den Tag anzugeben, ist unmöglich.«
»Der Tag der Wahl ist bestimmt und wird nicht verschoben?«
»Ich wüßte keinen Grund …«
»Sind Sie des unverbrüchlichen Schweigens aller Mitwissenden sicher, Mr. Dewey?«
»Unbedingt! … Warum fragen Sie?«
»Man hat mich auf einen Berichterstatter der Chikago-Preß aufmerksam gemacht. Es hat den Anschein, als sei er … Zufall oder … Verrat … der Organisation auf die Spur gekommen.«
»So muß alles geschehen, was geeignet ist … Unheil zu verhüten. Sie haben … wohl Mittel und Wege dazu … Melan Fang …«
Der Kraftwagen, der Florence Dewey von San Matteo zurück nach der Stadt brachte, mußte schon in der Market Street seinen Lauf verlangsamen. An der Kreuzung mit der Mason Street wurde das Gedränge auch auf dem Fahrdamm so arg, daß der Chauffeur bis zur Stocton Street weiterfuhr.
Die ganze Negerbevölkerung Friskos schien auf den Beinen zu sein. Von allen Seiten strömten schwarze Scharen heran und wälzten sich in der Richtung auf Chinatown durch die Straßen.
Der Chauffeur versuchte es, durch die Stocton Street seinem Ziele näher zu kommen. Doch vergeblich unternahm er es mehrere Male, nach Nobhill abzubiegen. Es ließ sich nicht mehr durchführen. Auch aus allen Seitenstraßen quollen fortwährend neue Massen immer dichter heran, je mehr sich der Wagen Chinatown näherte. An der Ecke der Sacramento Street wurde das Gedränge so dicht, daß das Auto eingekeilt stehenbleiben mußte. Auch der freie Platz vor der Markthalle war bereits von Tausenden besetzt, und immer neue Tausende drängten nach.
Florence hatte die Vorhänge ihres Wagens geschlossen.
Durch einen schmalen Spalt beobachtete sie die ungewöhnliche Szene. Erst neugierig, dann besorgt.
Aus der tosenden wilden Menge drangen zerrissene Rufe an ihr Ohr:
»Hängt das weiße Vieh! … Schlagt ihn tot, den Hund! … An den Pfahl mit dem Mädchenschänder!«
Neues stärkeres Gejohle verschlang die einzelnen Stimmen. Florence sah mit steigendem Entsetzen, wie ein Trupp Schwarzer einen Weißen nach dem Marktplatz zerrte. Die Kleider hingen ihm in Fetzen vom Leibe.
Ein riesenhafter Hafenarbeiter schwang eine schwere Eisenstange gegen den Gefangenen. Bevor er ihn damit erreichte, warf ihn selbst ein Schlag zurück. Schnell und sicher schob sich eine Kette schwer bewaffneter Schwarzer zwischen den Gefangenen und die tobende Menge.
Jetzt erkannte Florence die Bedeutung der Vorgänge da draußen. Mit einem Schrei sank sie in das Polster zurück und barg das Gesicht in den Händen.
Ein Lynchmord an einem Weißen! … Hier mitten in der Großstadt und in aller Öffentlichkeit … So weit waren die Dinge gediehen.
Als der bewaffnete Trupp mit dem Gefangenen den Marktplatz erreichte, brach die vieltausendköpfige schwarze Menge in ein infernalisches Geheul aus. Einige stießen mit schweren Stangen taktmäßig und triumphierend auf das Pflaster. Andere knirschten vor Wut mit den Zähnen. Ihre blutunterlaufenen Augen hingen mit den Blicken hungriger Raubtiere an dem Gefangenen. Zuweilen zuckte ein heiseres Gelächter auf.
Vergeblich zerrte der Gefangene an den starken Armen, die ihn gepackt hielten. Vor dem Eingang zur Markthalle machte der Trupp halt.
Auf das Kommando eines Führers drängten die Bewaffneten die Menge zurück. Ein freier Raum entstand, in dessen Mitte sich ein Kandelaber erhob. Ein neues Kommando, und eine Schar stürzte in die Markthalle und schleppte Kisten und Körbe heraus, die sich schnell um den Mast türmten.
Der Gefangene schrie in seiner Todesangst auf. Er warf sich auf das Pflaster und schlug verzweifelt um sich. Einer der Bewaffneten stieß ihm mit einer brennenden Fackel in das Gesicht, daß er heulend wieder aufsprang. Mit geballten Fäusten stürmte er auf seine Peiniger ein. Hohnlachend stießen sie ihn zurück, daß er wie ein Ball hin und her flog.
Ein neuer kurzer Befehl. Im Augenblick hatten sie ihn ergriffen, zum Mast hingeschleppt und mit einer eisernen Kette angebunden. Irgendwoher kam ein Eimer Teer und wurde über ihn ausgegossen. Die ersten Fackeln flogen zwischen die Körbe und Kisten.
Eine Flammensäule umloderte den Kandelaber. Schreien … Wimmern … Röcheln … dann Ruhe in dem dicken Teerqualm … gräßlicher Jubel in der drängenden Menge …
Die Bewaffneten gaben den Platz frei. Von allen Seiten stürmten die Massen auf die brennenden Trümmer los. Eine Szene aus dem Inferno. Wahnsinn peitschte die Menge. Lachend … schreiend … singend umtanzten sie den Pfahl.
Dazwischen wilde Verwünschungen auf die Weißen.
»Nieder mit den Unterdrückern! … Schlagt sie alle tot!« …
Bisher war der Kraftwagen kaum bemerkt worden. Der Chauffeur und der Diener neben ihm waren selbst Schwarze. Jetzt begann er die Aufmerksamkeit der in Bewegung geratenen Menge zu erregen.
Der Schlag wurde aufgerissen.
»Ah! … ein weißes Täubchen!«
Gierige Hände streckten sich nach Florence Dewey aus. Entsetzt suchte sie in die äußerste Ecke des Wagens zurückzuweichen …
Da plötzlich ein Hagel von Stockschlägen auf die wolligen Köpfe!
Im Augenblick der höchsten Gefahr war der schwarze Diener vom Bock gesprungen. Mit herkulischer Kraft hatte er sich den Weg bis zu einem Mann gebahnt, der wenige Schritte vom Wagen entfernt in der Menge stand.
Nur zwei Worte waren es, die er dem zurief:
»Deweys Tochter!«
Im nächsten Augenblick hatte der Mann dem Nächststehenden einen schweren Knüppel aus der Hand gerissen und ließ ihn auf die Köpfe der Bedränger niedersausen.
»Zurück! … Zurück … oder …«
Eine Schußwaffe unterstützte die Drohung. Sie war nicht mehr nötig. Sobald diese scheinbar doch bis zum Wahnsinn erhitzte Bande die Stimme hörte … das Gesicht sah, ließ sie von dem Angriff auf Florence ab.
Ein kurzes Kommando des Mannes schaffte dem Wagen freie Bahn.
Von fernher wurde Gewehrfeuer vernehmbar. Aus der Sacramento Street brach ein Trupp berittener Polizisten und schlug auf die festgekeilte Menge ein. Wer nicht ausweichen konnte, wurde niedergeschlagen oder von den Pferden zu Boden geworfen.
Da krachte von der Markthalle her eine Salve und riß blutige Lücken in die Reiterschar.
Jetzt brachen auch aus den anderen Straßen Polizeitruppen vor und drangen auf den Platz. Von der Halle her wurden sie mit wütendem Gewehrfeuer empfangen.
Die bewaffneten Schwarzen hatten sich in der Halle verbarrikadiert und schossen vom Dach und von den Fenstern aus auf die anrückenden weißen Polizeitruppen.
Feuerschein zuckte auf. Brennende Teile des Scheiterhaufens waren vom Winde bis in die Halle getrieben worden und hatten gezündet. Die Eingeschlossenen versuchten das Feuer zu löschen. Die Schüsse der Angreifer trieben sie zurück oder töteten sie. Gierig fraß das Feuer weiter. Bald war die große Halle ein einziger Flammenherd.
Ein wildes Geschrei drang aus dem Innern. Die Polizisten erwarteten, daß die Schwarzen nach irgendeiner Seite hin einen Durchbruch versuchen würden. Doch nichts geschah.
Weiter fraß das Feuer. Die Fenster zersprangen in der Glut. Lauter als bisher drangen durch die offenen Höhlen der wilde Gesang und das fanatische Geschrei der Eingeschlossenen.
Jetzt wurde es schwächer. Im Rauch erstickten die Stimmen der Männer, die lieber sterben, als sich den Weißen ergeben wollten.
Georg Isenbrandt stand in seinem Laboratorium in Wierny. Er hatte die Tür des Raumes sorgfältig verschlossen. Niemand sollte ihn bei diesen Versuchen stören, die ihm die letzte Sicherheit bringen mußten.
Das Dynotherm wirkte wie eine radioaktive Substanz. Seine Materie zerfiel, löste sich scheinbar in das Nichts auf und verschwand aus der Schöpfung. Dafür aber traten riesenhafte Energiemengen auf, entstanden scheinbar ebenfalls aus dem Nichts und dienten bei den Arbeiten der Kompagnie dazu, die Hochalpen Asiens in einen heißen, viele Tausende von Meter in die Höhe reichenden Dampfnebel zu hüllen.
War das Prinzip umkehrbar, ließ sich eine Kombination finden, bei der neue Materie aus dem Nichts entstand und als Gegenwert Energiemengen gebunden wurden, spurlos aus der Schöpfung verschwanden. Seit Jahren bewegte diese Frage Georg Isenbrandt. In rastloser Forscherarbeit war er dem Problem immer näher gekommen. Der heutige Versuch mußte den letzten Beweis erbringen.
Er saß vor der Apparatur und schüttete eine sorgfältig abgewogene Prise seines neusten Präparates in das Wasser einer hohlen Quarzkugel, die ihrerseits die Kugel des Heliumthermometers umgab.
Er saß und verfolgte die Skala des Thermometers. Was sich hier etwa an neuer Materie bildete, konnte rechnungsmäßig nur Bruchteile eines Milligramms ausmachen. Aber die Energiemengen für die Schaffung auch dieser geringen Stoffmenge mußten gewaltig sein. Das Thermometer mußte ihm zuerst und unfehlbar Aufschluß geben, ob Praxis und Theorie auch wirklich übereinstimmten.
So saß er und verfolgte den schmalen roten Weingeiststreifen, der das im Thermometer eingeschlossene Heliumgas von der Außenwelt abschloß.
Das Thermometer fiel. Schon hatte es den Gefrierpunkt erreicht, und langsam, aber stetig wanderte der rote Faden in dem Thermometerrohr weiter nach unten. Jetzt begann sich die Quarzkugel, in der das Präparat arbeitete, mit einer Eisschicht zu überziehen. Bei der Berührung mit der Zimmerluft schlug sich der in dieser vorhandene Wasserdampf sofort als massives Eis an der Quarzwand nieder.
Und immer noch fiel das Thermometer. Jetzt hatte es 100 Grad Kälte erreicht, jetzt stand es schon auf 180 Grad. Ein massiver, wohl einen halben Fuß starker Eisblock umgab bereits die ganze Apparatur.
Ein eigenartiges Prasseln und Knattern ließ Georg Isenbrandt aufhorchen. Es klang, als ob jemand Schrotkörner auf den Fußboden fallen ließ.
Schon zeigte das Heliumthermometer 250 Grad Kälte. Wo immer die Luft mit der Apparatur in Berührung kam, ging sie selbst sogleich in den flüssigen Zustand über, wurde dann fest und fiel zu Boden und verdampfte dort wieder nebelnd und brodelnd. Aber es wurde kalt und immer kälter auch im Zimmer bei diesem Vorgang. Georg Isenbrandt spürte die Kälte nicht. Wie gebannt hing sein Auge am Thermometer.
… 260 Grad … 270 Grad … nur noch drei Grade trennten die Apparatur von dem absoluten Nullpunkt, bei dem jede Wärme erlischt, jeder Stoff in den festen Zustand übergeht.
Ein Kältegefühl an den Knien ließ ihn aufschaudern. Er faßte mit der Hand nach dem Rockzipfel und brach ein Stück des feinen flämischen Tuches glatt ab. Die flüssige Luft hatte den Stoff durchtränkt und war schließlich in ihm gefroren.
Achtlos warf er das Stück zur Seite. Nur noch das Thermometer interessierte ihn … 271 Grad … der rote Faden blieb plötzlich regungslos stehen. Der Alkohol war von der Kälte erreicht worden und zu einer massiven Stange gefroren. Jetzt aber sah er, wie die Heliumfüllung in Tropfen im Thermometer hinunterzufallen begann, wie das Heliumgas als feste Kruste an der Innenwand haftete.
Der absolute Nullpunkt war erreicht. Auch der flüchtigste aller bekannten Stoffe, das Heliumgas, erlag dieser exzessiven Kälte und wurde starr und fest.
Georg Isenbrandt ließ sich auf einen Sessel sinken. Minutenlang haftete sein Blick auf dem erstarrten Thermometer. Erst klar und fest. Dann wie träumend. Bilder und Szenen kommender Ereignisse zogen an seinem geistigen Auge vorüber. Fast plastisch sah er, was er bis dahin nur in kühnen Träumen zu hoffen gewagt hatte.
Ein Rütteln an der Tür riß ihn aus seinen Gedanken.
»Wer ist da?«
»Ich! Wellington Fox.«
»Einen Augenblick, Fox … sofort …«
Georg Isenbrandt sprang auf und machte mit größter Schnelligkeit eine Dynothermlösung zurecht. Im nächsten Augenblick goß er sie über den Apparat aus und riß die Fenster auf. Dann ging er, die Tür zu öffnen.
Wellington Fox stand vor ihm. Regennaß, triefend und kleine Wasserbäche hinter sich lassend.
»Ein schandbares Wetter, Georg … d. h. für eure Siedlungen wohl das rechte. Aber höchst unangenehm für mich, der ich ohne Schirm und Regenmantel losgeflogen bin. Ich störe dich bei deinen Arbeiten? Du hast dich eingeschlossen …«
»Nein, du störst mich nicht. Du kamst zu einer glücklichen Stunde …«
»Glückliche Stunde!? … Du meinst, weil es hier endlich kräftig gießt. Seit vier Wochen kein Tropfen Regen hier. Jetzt der Mordsguß. Na! Es war wohl höchste Zeit … Ich habe allerlei gehört. Hier blieb es dürr, und woanders war der Regen zu reichlich. Menschenwerk bleibt Stückwerk. Richtig wird die Sache erst, wenn ihr eure Suppe auch den Mäulern vorsetzen könnt, die sie brauchen.«
Georg Isenbrandt blieb unbewegt. Sein Gesicht zeigte gleichmäßige, freundliche Mienen. Dann sprach er:
»Ja … das … sag mal, Fox, willst du nicht ablegen? Du triefst ja aus allen Nähten.«
Wellington Fox schüttelte sich.
»By Jove! Naß bin ich, aber eine sibirische Kälte ist hier bei dir. Draußen der schönste warme Mairegen, und hier … was hast du denn da auf dem Tisch?«
Wellington Fox trat näher heran und betastete den in eine wogende Nebelwolke gehüllten Apparat.
»Dampf? … Eis? … Ja … was … pfui, Teufel! … das ist ja kalt!«
»Eis ist meistenteils kalt, lieber Fox.«
Wellington Fox hauchte auf seine weiß angelaufene Fingerspitze.
»Weiß ich, Georg … ist mir nicht neu. Aber das Eis hier … ist ja … na, ich taxiere …« Er betrachtete seine Fingerkuppe, auf der sich eine schwere Frostblase zu bilden begann … »… das Eis hier ist ja wenigstens 100 Grad kalt.«
»Sage ruhig 200 Grad, Fox. Das Eis ist kein Wassereis. Es ist Lufteis. Luft ist hier gefroren. Du siehst, was das Dynotherm zu tun hat, um die Frostmasse aufzutauen und zu verdampfen.«
Wellington Fox betrachtete die dampfende und nebelnde Apparatur, von der die Wolken jetzt bereits bis zur Zimmerdecke emporstiegen.
»In der Tat, Georg, das dauert lange. Wenn ich bedenke, wie fabelhaft schnell eine ganz große Lawine auf eine kleine Tube von deinem Dynotherm Wasser und Dampf wurde. Ich habe dir ja mein Abenteuer schon telephonisch erzählt.«
Isenbrandt lachte.
»Ja, Fox, so kopflos darauf loszupudern! Habe ich dich nicht gewarnt, vorsichtig damit umzugehen? Die Leute im Ferghanatal haben nicht schlecht über den unverhofften Segen geflucht. Du bist doch sonst relativ vernünftig. Was lag denn da vor?«
Wellington Fox lächelte etwas gezwungen.
»Zwei so hübsche junge Damen, wie dort im Schnee begraben lagen, konnten auch einen alten Fuchs zu Torheiten veranlassen … Na, jedenfalls … ich habe da etwas gefunden, was mich veranlaßte, dich aufzusuchen.«
Wellington Fox griff in die Tasche und brachte ein feines, in Marocainleder gebundenes Notizbuch zum Vorschein.
»Das ist ein Souvenir an die eine der beiden Damen, die Gräfin di Toresani.«
»Du behältst das? Du gibst es nicht zurück?«
»Nein!«
»Ah? Also ein Andenken an die Herzallerliebste. Mit Gräfinnen hast du es vor?«
»Falsch geraten, Georg. Die schöne Toresani hat ganz andere Ziele, als einen Journalisten zu heiraten. Ziele … die sie in meinen Augen zu einer sehr gefährlichen Person …«
»Oho … wieso?«
»Ich bin überzeugt, sie ist eine Abenteurerin, die Spionendienste für die gelbe Seite leistet.«
»Hast du Beweise dafür?«
»Ja – das heißt erstmal starken Verdacht. Den strikten Beweis hoffe ich in diesem Büchelchen zu finden. Es geriet mir in die Hände, als ich die Toresani aus der schmelzenden Lawine hervorzog. Sie trug es in einem Ledertäschchen verwahrt unter ihrem Sweater. Als ich sie aus dem Eisschlamm riß, blieb es mir in den Händen.«
Wellington Fox öffnete das kleine Buch.
»Unter diesen harmlosen Notizen hier ist nichts Interessantes. Ich hätte es ihr vielleicht längst zurückgegeben. Aber da fand ich hier noch diesen …«
Er blätterte weiter und hielt Isenbrandt die Seite hin. Sie war vollkommen weiß. Nur am Rand, wo offenbar die Nässe gewirkt hatte, traten einzelne Buchstaben hervor. Die äußersten stärker, die innersten nur schwach.
b …r …a …n …d …t entzifferte Georg Isenbrandt nicht ohne Mühe.
»Und du meinst?«
Er sah Wellington Fox fragend an.
»… Daß vor dem ›brandt‹ noch ›Isen‹ stehen muß!«
»Also ›Isenbrandt‹ … mein Name?«
»Richtig, mein Freund! Ich wette, daß das Wort vollständig Isenbrandt heißt.«
»Und was weiter?«
»Daß hier zweifellos noch einige für dich sehr interessante Notizen stehen, die ich leider nicht lesen kann. Der Teufel mag wissen, mit welcher sympathetischen Tinte das geschrieben ist.«
Georg Isenbrandt hielt das aufgeschlagene Buch zwischen den Händen.
»Mag es geschrieben sein, womit es will. Auf Dynotherm reagiert es. Das dynothermhaltige Schmelzwasser der Lawine hat diese wenigen Buchstaben sichtbar gemacht … Sehen wir weiter …«
Er wandte sich nach dem Laboratoriumstisch und fuhr mit dem Buch über den dort stehenden und immer noch dampfenden Eisblock, bis die beiden Seiten völlig durchfeuchtet waren. Dann kehrte er wieder zu Wellington Fox zurück.
Gespannt waren vier Augen auf das Papier gerichtet. Buchstabe auf Buchstabe trat hervor. Triumphierend schlug Fox in die Hände.
»Da steht es: ›Isenbrandt!‹ … und nun? – Was sonst noch?«
Wellington Fox hatte das Buch ergriffen und las die Worte langsam herunter. Als er geendet, legte er es vorsichtig auf den Tisch und wandte sich zu Isenbrandt, der stumm mitgelesen hatte.
Einen Augenblick schauten sie sich wortlos an.
»Der Fund hat sich gelohnt, Georg! Über die Absicht der Orenburger Räuber besteht nun kein Zweifel mehr. Es ging um dein Leben … Deine Feinde haben deine Bedeutung besser erkannt als deine europäischen Freunde.«
»Du hast recht, Fox. Der Fund war gut. Eine Warnung für die Zukunft.«
Er nahm das Buch und schloß es in seinen Tresor.
»Na … siehst du, Georg, ich hatte doch eine glückliche Hand, als ich die starken Prisen auf den Schnee ausstreute. Andernfalls wären die inhaltschweren Buchstaben kaum sichtbar geworden.«
»Es ist noch einmal gut gegangen, alter Fox. Trotzdem muß ich dich warnen. Mit dem Dynotherm ist nicht zu spaßen. Es sind ungeheure Energiemengen, die du da auf dem kleinen Raum eines Lawinenfeldes entfesselt hast. Es konnte dir sehr leicht gehen wie dem Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wurde. Was war damals mit dir los? … Irgend etwas anderes? Fox, meine Junge, ich glaube fast, daß dein Herz auch eine Dosis Dynotherm abbekommen hat.«
»Und wenn es wirklich so wäre, dann würde ich schließlich doch auch nur berühmten Beispielen folgen.«
Georg Isenbrandt blickte den Sprecher fragend an.
»Ja! Dich meine ich, Georg … Gerade dich. Sollte es nur die Erinnerung an Maria Ortwin sein, die dir jene andere Mara, unsere junge Reisegefährtin, so teuer macht?«
Isenbrandt kämpfte kurze Zeit mit einer leichten Verwirrung.
»Du versuchst vergeblich, nach alter Fuchsenweise deine Spur zu verwischen. Aber … das wird dir nicht gelingen.
Da es nicht die Gräfin Toresani ist, so muß es logischerweise die kleine Garvin sein, die es dir derart angetan hat … Immerhin … Francis Garvin ist dir großen Dank schuldig …«
»… Und da Mr. Garvin niemand etwas schuldig zu sein wünscht, so hat er mir eine Vertragsurkunde zugehen lassen, die bis auf meine Unterschrift fertig war …«
»Und die enthielt?«
»Wenn ich sie unterschrieb, war ich der alleinige Besitzer der Chikago-Preß.«
»Oho …!«
»O ja! Francis Garvin läßt sich nicht lumpen … Aber Wellington Fox auch nicht!«
»Und?«
»Ich habe ihm seinen Vertrag fein säuberlich ohne Unterschrift zurückgeschickt … mit dem Anheimgeben, mit der Chikago-Preß andere Leute glücklich zu machen.«
»Gut gemacht, Fox! Deine Beziehungen zu Francis Garvin werden damit nicht abgebrochen sein … taxiere ich … du lachst? … Ich werde die weitere Entwicklung mit Interesse verfolgen … Willst du mich jetzt auf einem Fluge begleiten?«
»Gern, Georg! Aber erst muß ich mich bei dir umkleiden. Der Regen ist durch und durch gegangen. Ich hatte meine Nässe über unsere Experimente hier fast vergessen. Jetzt macht sie sich doppelt fühlbar.«
Eine Viertelstunde später stieß die schnellste Flugmaschine der Station Richtung Nord zu Nordwest durch den strömenden Regen. Nur die beiden Freunde waren an Bord, und Georg Isenbrandt steuerte selbst.
Je weiter sie vorwärtskamen, desto schwächer wurde der Regen, bis er jenseit des Balkaschsees ganz aufhörte. Jetzt war die Luft gut sichtig. Grüne Felder und Triften zogen unter ihnen hin, während Isenbrandt die Maschine auf die höchste Geschwindigkeit setzte. Mit etwa tausend Stundenkilometer schoß sie jetzt durch den Äther.
Grauer wurde das Grün unter ihnen. Die Zeichen der Trockenheit, ja der Dürre mehrten sich.
Über einer unbestellten Steppe ließ Isenbrandt das Flugschiff tief hinabgehen. In einer Höhe von kaum hundert Meter zog er an einem Hebel. Wellington Fox glaubte durch die Scheiben der Kabine eine glitzernde, flockende Masse nach unten fallen zu sehen. Es war ihm, als ob etwas auf die Fläche eines kleinen, beinahe ausgetrockneten Landsees aufschlug. Aber er war seiner Sache nicht sicher. Schon hatte Isenbrandt die Steuerung herumgeworfen und ließ das Fahrzeug in steilen Spiralen steigen. Schon hatte es wieder eine Höhe von zehn Kilometer erklommen und gewährte den Insassen einen weiten Rundblick … Vorwärts weithin in die endlose sibirische Steppe … Rückwärts bis zu den Gestaden des Balkaschsees und den Kämmen der Himmelsberge.
Wellington Fox hatte den jähen Abstieg und das schnelle Wiederaufsteigen der Maschine mit Verwunderung beobachtet. Jetzt stellte Isenbrandt die automatische Steuerung ein und trat frei in den Raum.
»Was war das? … Was bedeutete das?«
In Erregung stieß Wellington Fox die Frage hervor. Instinktiv spürte er, daß etwas Außergewöhnliches im Gange war, ohne das Was und Wie zu wissen.
Isenbrandt trat an die Fenster und wies mit der Hand nach Osten.
»Sieh dort hin!«
Wellington Fox trat neben ihn.
»Was soll ich denn sehen? … Ich sehe dort nichts!«
»Schau!«
»Ja, was denn? … Nebel … Ich sehe die Kämme des Thian-Schan … Im Nebel … Die Wolken strömen hierher … Sie werden immer größer … sie kommen hierher … Immer schneller … Und jetzt … Und jetzt …«
Wellington Fox war in höchster Erregung. Fast lallend kamen die letzten Worte aus seinem Munde. Jetzt wandte er sich zu Isenbrandt. Ein Blick auf dessen Gesicht … Das Gesicht des sieghaften Tatmenschen.
Taumelnd trat er zurück. Grauen malte sich auf seinen Zügen.
»Georg! Du? … Du! Dein Werk ist das?«
Schweigend nickte Isenbrandt.
Wellington Fox ließ sich auf einen Sessel fallen. Auch er sprach nicht mehr. Er deckte die Augen mit der Linken. Nur das Zucken seiner Rechten auf der Sessellehne verriet seine tiefe Erschütterung.
Wie im Traum erinnerte er sich später daran, wie das Flugschiff noch mehrere Male in die Tiefe schoß. Wie Isenbrandt seine Bomben warf. Wie Nebel, Donner, Blitze und schwere Regengüsse dem Wege des Flugschiffes folgten.
Waffenklirren … Kommandorufe … Der Taktschritt kleiner, aber auserlesener Formationen. Die helle Maisonne bestrahlte das Lager der Kompagnietruppen am Nordabhang des Alatau. Von einer Übung im Gebirge kehrten die Truppen zurück.
Vielleicht hatte Wellington Fox doch in einer Beziehung recht, als er einmal die European Settlements Company mit der südafrikanischen Chartered Company des neunzehnten Jahrhunderts verglich. Wie diese einst in den großen afrikanischen Gebieten, so unterhielt die E. S. C. hier im Herzen Asiens, in den östlichen Teilen der Siedlungsgebiete, ein kleines, aber ausgesuchtes und schlagfertiges Heer. Normalerweise nur für die Aufrechterhaltung der Ordnung und den Schutz der Siedler gegen zufällige Räubereien bestimmt. Im Notfall aber auch der erste Prellbock gegen einen offenen Angriff, bis die reguläre europäische Waffenmacht zur Stelle war.
Die wirtschaftliche Autonomie der Siedlungsgebiete bedingte auch den Selbstschutz. Im Innern der Gebiete, soweit sie nicht unter russischer Hoheit geblieben waren, durch eine Siedlermiliz. An den Grenzen durch jene Berufstruppe.
Nachdem die europäischen Bürgerkriege, wie man jetzt die früheren Streitigkeiten der europäischen Nationen ironisch nannte, aufgehört hatten, war nur hier noch eine der wenigen Möglichkeiten, gelegentlich Pulver zu riechen. So traf sich unter den Fahnen der Kompagnie viel von dem alten guten Soldatenblut Europas. Kameradschaftlich dienten hier die Urenkel berühmter europäischer Heerführer, die einst schwere Schlachten gegeneinander geschlagen hatten.
Das Flugzeug Isenbrandts landete auf dem Flugplatz des Lagers. Das Kompagniewappen, das groß und weithin sichtbar seine Flanken zierte, erlaubte es ihm, die Lagergrenzen zu überfliegen und hier niederzugehen. Auf die Meldung des Wachthabenden am Lagertor erschien ein Adjutant des Generals Effingham, des Oberstkommandierenden der Kompagnietruppen. In seiner Begleitung gingen sie zur Wohnung des Generals.
Wellington Fox blieb mit dem Adjutanten auf dem Vorplatz vor dem Hause zurück. Georg Isenbrandt trat ein und traf im Vorzimmer den Obersten von Bülow, der dem Kommandierenden als Generalstabschef beigegeben war.
Mit herzlichem Händedruck begrüßte Isenbrandt den ihm seit langen Jahren bekannten Offizier. Er wußte, daß der lieber heute als morgen gegen die Gelben vom Leder gezogen hätte. Aber die Entscheidung darüber lag nicht in den Händen des Obersten.
»Sie wünschen den Herrn General zu sprechen, Herr Isenbrandt?«
Isenbrandt nickte. Der Oberst fuhr fort:
»Schlecht Wetter heute! Der hat sich auf seine alten Tage noch ein paar Skier angeschnallt … Den Knöchel verrenkt. Können Sie Ihren Besuch nicht verschieben?«
»Nein! Die Sache ist von Wichtigkeit!«
»Na, dann Hals- und Beinbruch! Wollen Sie mir, bitte, folgen.«
Wellington Fox und der Adjutant Averil Lowdale saßen in der warmen Frühlingssonne auf ein paar Feldstühlen vor der Baracke des Generals. Die Unterhaltung der beiden schleppte sich nur mühselig weiter. Mochte es sein, daß der Berichterstatter der Chikago-Preß allerlei fragte, was der Adjutant aus militärischen Gründen besser unbeantwortet ließ … oder mochte Averil Lowdale selbst wenig sprechlustig sein?
Schließlich kam das Gespräch ganz ins Stocken. Wellington Fox betrachtete von der Seite her das verschlossene Gesicht seines Partners. Es verriet ihm noch mancherlei zu dem, was er bereits wußte. Die Affäre Lowdale-Dewey hatte nicht allein für die Upper ten der Union Wochen hindurch den Gesprächsstoff gebildet. Die schwarze Presse hatte das Vorkommnis weidlich ausgeschlachtet. Die gelbe Presse hatte die Affäre mit der älteren ähnlichen Geschichte desselben weißen Adelshauses zusammen behandelt. So waren Wellington Fox alle Einzelheiten dieser Affäre natürlich genau bekannt. Aber jetzt erst hatte er Gelegenheit, den Hauptbeteiligten zu sehen … kennenzulernen.
Averil Lowdale saß immer noch in tiefe Gedanken versunken und starrte in die Ferne, während die scharfen Ohren des Journalisten bereits Bruchstücke der Unterhaltung aus dem Generalszimmer auffingen. Dort war der Wortwechsel inzwischen recht lebhaft geworden.
»Zum Teufel mit Ihrer Gespensterseherei! … Das traurige Kirgisengesindel halten unsere Gendarmen in Ordnung …«
»Sie weigern sich also, Herr General, meinem Ersuchen zu willfahren?«
Bisher hatte Wellington Fox nur das Poltern des Generals gehört. Jetzt klangen auch die Worte Isenbrandts scharf und schneidend an sein Ohr.
Einen kurzen Moment schien auch Averil Lowdale aufzuhorchen. Aber er war das Poltern des Generals gewohnt und sank wieder in sein Sinnen zurück.
»Selbstverständlich weigere ich mich! … Ich denke gar nicht daran, die Milizen aus den Kolonien zu mobilisieren. Wohin sollten wir kommen, wenn ich jedem Abschnittsingenieur einen besonderen Schutz stellen muß … Kirgisenaufstände … Humbug … Macht auf mich keinen Eindruck …«
»Dann bitte ich Sie, Herr General, dies hier zu lesen … Es wird hoffentlich Eindruck auf Sie machen.«
»Was soll mir das?! … Was? … Vollmacht!? … Vollmacht?! … Den Wünschen des Ingenieurs Isenbrandt ist unbedingt Folge zu leisten … Folge leisten!?«
Die Stimme des Generals war im Begriff, sich zu überschlagen.
»Ich … Der General Effingham! … Folge leisten …«
Das stiermäßige Gebrüll hatte auch Averil Lowdale aus seiner Apathie aufgerüttelt. Er hielt es für geboten, den Berichterstatter der Chikago-Preß aus der Hörweite der Unterhaltung heranzubringen. Aber seine indirekten Versuche stießen auf außergewöhnliches Nichtverstehen. Wellington Fox hatte viel zuviel zu tun, um noch mit gespitzten Ohren die Antwort Isenbrandts zu erhaschen.
»Wie Sie denken, Herr General! Wenn Sie es nicht können oder wollen, wird es ein anderer an Ihrer Stelle machen.«
»Denjenigen meiner Untergebenen möchte ich sehen, der das wagt?!«
»Herr General, ich ersuche Sie, Ihr Kommando an Herrn Oberst von Bülow abzugeben!«
»Sind Sie verrückt, Herr?«
Man hörte, wie zwei Fäuste dröhnend auf die Tischplatte krachten.
»Ich denke nicht! Bitte, hier! Lesen Sie auch diese Vollmacht!«
Averil Lowdale hielt es jetzt für angebracht, seinen schwerhörigen Gast mit sanfter Gewalt aus der Reichweite dieses Dialogs zu entfernen.
Als Erster sprang Georg Isenbrandt aus dem Coupé, als der Zug in den Bahnhof von Kaschgar einfuhr. Mit größtmöglicher Schnelligkeit folgte ihm Wellington Fox. Durch das Gewühl der Passagiere suchten sie den Weg ins Freie.
»Noch einmal, Georg … Zum letzten Male. Es ist ein bodenloser Leichtsinn, daß du dich hier geradeswegs in die Höhle des Löwen wagst. Kann ich das nicht allein ebensogut ausrichten?«
»Nein!«
Während Georg Isenbrandt gleichmäßig weiterschritt, traf ein entschlossener Blick den Freund.
»Nein! Ich habe es versprochen … Ich halte, was ich versprach.«
Wellington Fox gab es auf, weiter in ihn zu dringen. Aber seine Hand tastete nervös nach der kleinen wirksamen Waffe in der Rocktasche.
»All right, Georg! Die Kühnheit ist zu groß, um zu mißlingen. Georg Isenbrandt am hellichten Tage in den Straßen Kaschgars, am Sitze des chinesischen Generalkommandos … Das Stückchen ist nicht übel.«
Sie durchwanderten Straßen und Gassen und standen vor dem Gartentor des Witthusenschen Hauses. Sie zögerten betroffen, noch ehe sie die Glocke zogen.
Die Vorhänge herabgelassen … Alle Fenster verhängt. Schon von außen ein totes Bild der Verlassenheit.
Mit einem energischen Ruck riß Fox an der Klingel. Lange Zeit schien niemand zu hören. Endlich öffnete sich ein Spalt in dem massiven Tor. Das Gesicht des alten chinesischen Boys kam zum Vorschein.
»Herr Witthusen?!«
Wellington Fox stellte die Frage, während er gleichzeitig den Fuß in die Türspalte schob und mit einem kräftigen Schulterdruck den Flügel so weit zurückdrängte, daß sie eintreten konnten.
»Herr Witthusen ist nicht zu Haus?«
Zum zweitenmal und noch dringlicher fragte Fox.
Der Chinese schüttelte verneinend den Kopf.
»Und Fräulein Witthusen?«
Das Gesicht des Gelben sagte mehr als Worte.
»Wo sind sie hin?«
Isenbrandt war auf den Gelben zugetreten. Der schüttelte nur den Kopf und machte ratlose Gebärden mit den Händen.
Wellington Fox schob sich zwischen Georg Isenbrandt und den Boy. Eine Note von hohem Gepräge raschelte in der Faust des Gelben und verschwand zauberhaft schnell in der faltigen Kleidung.
»Wo sind sie hin?« wiederholte Fox. »Wann sind sie abgereist?«
Der Gelbe krümmte sich verlegen. Seine Hände tasteten nach der Stelle, wo der Schein knisterte.
»Wohin sie sind, hoher Herr … Hui-Fang weiß es nicht … Vorgestern abend in der zehnten Stunde kam ein Auto vorgefahren. Zwei Offiziere stiegen aus und gingen zu dem Herrn … Und dann … Dann kamen sie wieder heraus … Mit ihnen der Herr und Fräulein Maria Feodorowna und … stiegen zusammen in das Auto … und fuhren fort.«
»Wohin sind sie?«
Georg Isenbrandt hatte Fox beiseite geschoben und stand vor dem Chinesen, der sich unter seinem Blick zusammenkrümmte.
»Wohin? … Bei den Geistern deiner Ahnen!«
Das gelbe Gesicht nahm einen grauen Schein an. Seine Augen hingen an denen Georg Isenbrandts und konnten nicht los davon. Dann sank er in die Knie und hob beschwörend die Hände.
»Ich weiß es … nicht … hoher Herr! Ich weiß es nicht.«
Georg Isenbrandt taumelte zurück. Tiefaufatmend bedeckte er die Augen mit der Rechten. Wellington Fox fragte: »Hat der Herr etwas hinterlassen? … Befehle?«
»Nein! Nichts …« Nach einer Weile kam es zögernd von den Lippen des Gelben.
»Gestern in der Frühe war Mr. Cameron hier. Der sagte, der Herr ist verreist und kommt vorläufig nicht wieder. Jeder Arm, der etwas aus dem Hause nimmt, wird abgehackt. Mr. Cameron hat alles verschlossen … hat alle Schlüssel mit sich genommen …«
Als der Name »Cameron« fiel, zuckte Wellington Fox zusammen.
»Ist Mr. Cameron noch in Kaschgar?«
»Ich weiß nicht … Sicher … Ich glaube …«
Der Gelbe wand sich unter der Frage, während ihm Wellington Fox Wort für Wort abrang.
Georg Isenbrandt fuhr dazwischen. Mit der Rechten hatte er das Gewand des Gelben an der Brust gepackt und schüttelte ihn wie ein Bund Flicken.
»Wo ist Mr. Cameron?«
»Der Diener sagte, sein Herr wäre …«
»Wo ist Mr. Cameron?«
»… in Peking.«
Mit jähem Ruck warf Georg Isenbrandt das taumelnde Etwas in einen Winkel.
»Komm, Fox, wir haben hier nichts mehr zu tun!«
Fast mechanisch schlugen sie den Weg zum Bahnhof ein. Minuten hindurch gingen sie stumm nebeneinander her. Dann brach Wellington Fox das Schweigen.
»Was tun?«
Er erhielt keine Antwort. So sprach er selbst weiter:
»Also nach Peking!«
»Wer?«
»Ich! … Mit dem nächsten Postschiff!«
»Du wolltest?«
»Selbstverständlich, Georg! An der Quelle ist am meisten zu holen. Der selige Pinkerton soll sich vor Neid über meine Erfolge noch im Grabe umdrehen! Collin Cameron ist jetzt ein doppeltes Jagdobjekt für mich. Ich werde ihn finden … und ihm das Handwerk legen … Was wirst du tun?«
Georg Isenbrandt schwieg.
»Ich würde dir raten, eine vertraute Person auf die Spuren der Vermißten zu setzen. Hast du nähere Bekannte in Kaschgar?«
Isenbrandt schüttelte den Kopf.
»Nein, Fox!«
»Glaubst du deinem Dienet Ahmed trauen zu können? Er ist doch Dschungane.
»Ahmed? Er ist treu. Ja! Ihn werde ich schicken. Gut, Fox! Wann willst du fahren?«
»Sofort!«
»Dein Gepäck? … Deine Sachen?«
»Die liegen gut im Kogarthaus. Mit dem nächsten Postschiff.«
»Fox … du guter Freund … du weißt immer Rat … du wirst mir Nachricht geben … auch von der kleinsten Spur.«
Einen Moment standen sie sich Hand in Hand gegenüber.
»Frisch auf, Georg!«
»Halt! Noch eins!«
Georg Isenbrandt griff in seine Tasche und holte eine kleine Glasröhre hervor.
»Du kommst nach Peking. Du wirst morgen früh dort sein. Um die Mittagsstunde wirf dies hier von irgendeiner Brücke ins Wasser!«
Wellington Fox ließ das Röhrchen in die Tasche gleiten.
»Noch etwas?«
»Ja! Bevor du es wirfst, mußt du den Korken öffnen. Aber auch keine Sekunde früher. Vergiß das nicht. Denke an deine Erfahrungen mit der Lawine!«
»All right, Georg!«
»Der Himmel hat seinem erlauchten Sohn die Gesundheit wiedergegeben. Die vollendete Weisheit ist genesen. Schitsu, der Hwangti, der Herr und Kaiser, kehrt in seine Residenz zurück.«
Seit 24 Stunden hielt diese Nachricht die Bewohner Pekings in Atem. Seit den frühen Morgenstunden begannen die Volksmassen aus dem Stadtinneren hinauszuströmen und die Straße zu umlagern, die von Schehol nach Peking führt. Zu Hunderttausenden umsäumten sie die breite Landstraße, lagerten hier und dort in Gruppen, begannen die mitgebrachten Lebensmittel zu verzehren und beschwatzten auf ihre Art das bevorstehende Ereignis, den Einzug des wiedergenesenen Kaisers.
Die Stunden verstrichen darüber. Höher stieg die Sonne und näherte sich ihrem höchsten Stande. Drückend heiß wurde der Maitag, und die Händler, die mit Erfrischungen erschienen, fanden reißenden Absatz für ihre Ware.
Um die zwölfte Stunde marschierten von Peking her auf der Landstraße die Garden des Schanti heran. Nach Ausbildung und Ausrüstung Elitetruppen. Die anmarschierenden Regimenter schwenkten mit der Präzision eines Uhrwerkes noch rechts und links gegen die Straßenränder aus, drängten die Menge, soweit sie die Straße noch besetzt hielt, über die Gräben zu beiden Seiten zurück und bildeten einen zusammenhängenden, von Bajonetten starrenden Kordon.
Die Straße war jetzt hermetisch abgesperrt. Die Menge, zur Seite gedrängt, breitete sich über die Felder aus und suchte erhöhte Punkte, von denen aus über die Köpfe der absperrenden Garden hinweg möglichst viel von dem kommenden Schauspiel zu sehen sein mußte.
Es waren nur sehr wenige Weiße in der Menge zu sehen, und auch diese Wenigen hielten sich stark zurück. Es war nicht angebracht, in dieser fanatisch erregten Menge Aufsehen zu erregen, denn nur allzu leicht konnten die Volksleidenschaften explodieren.
Auf einer kleinen Erhöhung in einer gelben Gruppe hatte Wellington Fox seinen Platz gefunden. Dort stand er, wartete und sah, wie plötzlich Bewegung in die Menge kam. Wie diese Tausende von Köpfen sich nach einer Richtung drehten, wie ein Murmeln und Rauschen durch die Massen ging.
Der Wagen des Kaisers kam. Eine der alten, schwervergoldeten Staatskarossen mit großen Glasscheiben. Von acht Pferden gezogen. Im Schritt, die Pferde von den Bedienten des Marstalls an Kopfhalftern geführt.
Der Kaiser aufrecht auf dem Rücksitz, allein im Wagen.
Wellington Fox verschlang das Bild mit den Augen. Er sah, sah viel, doch er wollte noch mehr sehen.
Als der Wagen die Straße gerade vor ihm passierte, konnte er seine Neugier nicht länger meistern und brachte sein scharfes Perspektiv an die Augen. In greifbarer Nähe erblickte er jetzt die markanten Züge des Kaisers. Doch nur für einen kurzen Augenblick.
Er fühlte, wie seine Füße plötzlich nach hinten gerissen wurden. Unsanft schlug er zu Boden. Wütend blickte er um sich und sah in eine Reihe von Augen, aus denen drohender Haß blitzte.
Beim Nahen des kaiserlichen Wagens hatte sich alles Volk, dem alten Brauche folgend, auf die Knie geworfen. Er allein hatte in seiner Erregung nicht darauf geachtet und war stehengeblieben. Zu spät bereute er jetzt seinen Fehler. Der Wagen war vorüber, die Möglichkeit, von dieser Stelle noch etwas zu sehen, nicht mehr vorhanden. Wohl aber erschien es ihm sehr angebracht, sich aus der Nähe dieser Menge zu entfernen, deren Mienen und Blicke wenig Gutes prophezeiten.
Es glückte ihm, von dem Haufen loszukommen. Auf einem Richtweg zwischen bebauten Feldern und Wiesen strebte er wieder der Stadt zu. Und während er dahinschritt, jagten sich die Gedanken in seinem Gehirn.
Wie war das möglich? … Wie konnte das sein? … Hatte ihm nicht Isenbrandt auf das bestimmteste versichert, daß die Tage des Kaisers gezählt seien? … Hatte er ihm nicht gesagt, daß ein Sterbender sich auf den seidenen Kissen in Schehol quäle?
Und was hatte er eben gesehen? … War das Wirklichkeit?
Unwillkürlich griff er nach seiner Tasche. Das Fehlen seines Perspektivs bewies ihm nur zu deutlich, daß die Szene, die er soeben erlebt hatte, in Wirklichkeit vor sich gegangen war.
Was hatte er gesehen? … Einen Mann in militärischer Kleidung in der großen Staatskarosse … Der Kaiser? … Der Kaiser!
War das auch der Kaiser Schitsu? … Ohne Zweifel. Die Bilder des Kaisers, die er in der Erinnerung hatte, konnten ihm die Frage nicht sicher beantworten.
Und doch … es wäre … er … er mußte es sein. Hier einen anderen an des Kaisers Stelle zu zeigen … Wer hätte den ungeheuerlichen Betrug wagen sollen?
Verflucht die Hand, die ihn im kritischen Moment zu Falle brachte. Noch eine Sekunde länger, und er hätte Gewißheit gehabt …
Wie schauten die Augen des Mannes? … So starr … so ernst … so tot … tot?
Aber hatte er sich nicht bewegt? Hatte das Antlitz nicht leicht genickt? Hatte er die Grüße des ihm huldigenden Volkes nicht deutlich erwidert?
Die Gedanken von Wellington Fox sprangen zu Isenbrandt zurück. Wie würde das alles auf dessen Pläne wirken? … Wie auf diejenigen der Siedlungsgesellschaft?
Noch nie in seinem Leben hatte er vor solchem Rätsel gestanden. Vergebens suchte er nach einer Lösung … Er fand sie nicht … Und doch, was Isenbrandt gesagt hatte, mußte richtig sein. Er klammerte sich an die Worte des Freundes.
Der Weg führte ihn an einer Telegraphenstation vorbei. Einen Augenblick zögerte er. Bericht an die Chikago-Preß geben? … Daß der Kaiser in voller Gesundheit in seiner Residenz eingezogen sei … Nein! … Nichts! … Mögen sie diesmal ihre Berichte aus einer anderen Quelle schöpfen.
Fest entschlossen schritt er weiter der Stadt zu. Seine Gedanken konzentrierten sich auf die Person, derentwegen er hierhergekommen war. Collin Cameron!
Ohne große Schwierigkeiten hatte er das Hotel ausfindig gemacht, in dem der Gesuchte wohnte. Auf dem Umwege über die Filiale von Uphart Brothers hatte er das festgestellt. Aber als er heute früh in dies Hotel kam, hatte er gerade noch die Rückseite von Collin Camerons Auto gesehen. Der Einzug des Kaisers hatte ihn vorübergehend vom weiteren Nachspüren abgebracht. Mechanisch verfolgte er jetzt die Straße nach der Stadt.
Ein Blitzen in der Ferne erinnerte ihn an Isenbrandts Auftrag. Da blinkte über die Felder her in den hellen Strahlen der Maiensonne der Spiegel eines kleinen Weihers. Wellington Fox schlug einen Seitenpfad ein und schritt darauf zu. Die Gelegenheit war günstig. Weit und breit kein Mensch zu sehen. Was Beine hatte, trieb sich an der Straße nach Schehol herum.
Er rief sich die Vorschrift Isenbrandts ins Gedächtnis. Dann griff er in die Brusttasche. Ein kurzer Ruck, und der Pfropfen war entfernt. In weitem Bogen flog die Tube in das Wasser. Wellington Fox sah sie versinken und spurlos verschwinden. Einen Augenblick zögerte er. Dann wandte er sich um und ging mit schnellen Schritten der Stadt zu. Der plötzliche Kniefall vor einer halben Stunde wirkte noch nach und ließ ihm Vorsicht geboten erscheinen. Mochte Georg Isenbrandt da für die Bewohner Pekings zusammengebraut haben, was er wollte, es war jedenfalls nicht angebracht, daß irgend jemand hier Wellington Fox bei der Ausführung dieses Auftrages beobachtete und in Zusammenhang damit brachte.
Er gelangte in die Stadt zurück. In einer Teestube, gegenüber dem Hotel, in dem Collin Cameron abgestiegen war, nahm er an einem Fenster Platz. Der, auf dessen Kommen er hier lauerte, saß indessen im Palaste des Regenten dem Schanti gegenüber.
»Das Wunder, das an dem Sohn des Himmels geschah, war unfaßbar groß … so groß, daß es niemand glauben kann, der es nicht gesehen hat, wie die erleuchtete Weisheit in die alte Kaiserstadt einzog.«
»Sie sahen den Kaiser?«
»Nein, Hoheit. Ich wartete hier im Palast.«
Ein leichtes, kaum merkbares Lächeln glitt während der Antwort über Collin Camerons Züge.
»Der Kaiser lebt! Weh dem, der … der … seine Hand würde ihn furchtbar treffen …«
Die Worte, scheinbar so leicht und beziehungslos hingesprochen, ließen Collin Cameron innerlich erbeben.
»Die Welt wird erzittern, wenn des Kaisers Name wieder ertönt. Europa … dieses altersschwache Land wird seinen Flug nach Osten hemmen. Gelähmt werden seine Flügel herabhängen, wenn ihm der Name der erleuchteten Weisheit in die Ohren dringt. Unsere Feinde werden erbeben. Unsere Freunde in den Vereinigten Staaten werden frohlocken … Zusammen mit den Söhnen des Himmlischen Reiches …«
Collin Cameron hatte immer lauter und schneller gesprochen, um den Eindruck seiner unvorsichtigen Worte zu übertönen und zu verwischen. Die Stimme des Schanti unterbrach ihn.
»Sie werden noch heute nach den Vereinigten Staaten fahren!«
Die Züge Collin Camerons blieben unbewegt, trotzdem ihm der Auftrag höchst unerwünscht kam.
»Es ist der Wille unseres Herrn, dem die Götter so wunderbar die Gesundheit wiedergeschenkt haben. Am 6. Juli, das heißt an dem Tage nach der Wahl Josua Bordens, sollen die Pläne der höchsten Weisheit zur Ausführung kommen.«
Collin Cameron sah den Regenten erstaunt an. Wagte dann die Erwiderung: »Und wenn die Wahl nicht am 5. Juli stattfindet?«
»Auch dann!«
Mit einem Ruck war Collin Cameron aufgestanden.
»Auch dann?«
Der Regent nickte stumm.
»Ich verstehe nicht, Eure Hoheit … Die Wahl Josua Bordens …«
»… Braucht nicht am 5. stattzufinden. Der sechste Juli ist der Tag …«
»Ich verstehe nicht, Hoheit.«
»Die Wahl soll am fünften stattfinden … Es wäre gut, wenn es geschähe. Doch es könnte sein, daß die Wahl verschoben wird … Das Geheimnis scheint nicht gut gewahrt worden zu sein … Es wäre möglich, daß man einen Strich durch alle Pläne macht, indem man die Gouverneurswahl verschiebt. Ein solcher Aufschub … und ginge es nur um wenige Wochen … würde die Absichten des großen Herrn stören. Ihre Aufgabe ist es, dahin zu wirken, daß die schwarze Bewegung unter allen Umständen am sechsten losbricht!«
»Hoheit! … Die schwarzen Führer dahin zu bringen, ist unmöglich!«
»Dann ist es Ihre Aufgabe, die Bewegung auch ohne die Führer zum Ausbruch zu bringen. Das »Wie« ist Ihre Sache. Ihre Vollmachten sind unbegrenzt. Mittel aller Art stehen in jeder Menge zur Verfügung.
Der Regent hatte geendet. Collin Cameron starrte stumm vor sich hin. Der Schanti sprach weiter: »Sie werden die Aufgabe annehmen … und vollbringen!«
Noch immer schwieg Collin Cameron. Erst nach einer geraumen Weile erhob er sich. Sein Gesicht verriet die Bewegung, die in ihm arbeitete.
»Der schwerste Auftrag, den mir Eure Hoheit je gegeben. Ich übernehme ihn.«
»Sie fliegen mit dem Postschiff.«
Collin Cameron verließ den Raum. Im Vorzimmer fiel ihm das verstörte Gesicht eines Adjutanten auf, der sich sofort dem Zimmer des Regenten näherte. Als Collin Cameron den Palast verließ, sah er die blühenden Gärten unter einer leichten Schneedecke liegen und unaufhörlich schwere Flocken niedergehen. Einen Augenblick zögerte sein Fuß.
Schnee … In dieser Jahreszeit … In solcher Menge?
Die Gedanken an seine Reise … an seine schwere Aufgabe ließen ihn das Außergewöhnliche nicht voll empfinden.
Regungslos, so wie ihn Collin Cameron verlassen hatte, saß der Regent. Seine Hand tastete nach einem Globus und ließ ihn mechanisch rotieren.
»… Um die ganze Welt spinnen sich meine Fäden zu einem Netz … stark … unzerreißlich … der 6. Juli …«
Seine Hände legten sich ineinander. Die Finger der Rechten griffen nach dem Ringe des Dschingis-Khan und zogen ihn von der Linken. Wie von selbst glitt der Ring auf die Rechte. Wie im Spiel wiederholte der Schanti das Hin- und Herschieben des Ringes.
Ein Klopfen an der Tür ließ ihn aufschrecken. Hastig schob er den Ring auf die Linke zurück.
»Was ist?«
Sein persönlicher Adjutant stand vor ihm. Dessen Gesicht war verstört, seine Augen blickten irre.
Noch einmal rief der Schanti: »Was ist?!«
»Es ist Winter geworden, Hoheit!«
»Es ist Winter geworden? … Willst du mich narren?«
Der Adjutant deutete nach den durch schwere Seidenvorhänge verhüllten Fenstern. Mit einem Ruck sprang der Regent auf und riß die Vorhänge auseinander. Ein schweres, dichtes Schneetreiben verdunkelte die Luft.
Eine Sinnestäuschung? …
Die Rechte des Schanti riß die Fensterflügel auf, die Linke streckte sich hinaus. Wie wenn sie in Feuer gefaßt hätte, fuhr sie wieder zurück. Die Augen des Regenten ruhten darauf … sahen, wie die Flocken unter der Wärme der Hand rasch dahinschmolzen, sahen, wie eine an dem goldenen Ring länger haftete und nur langsam schwand. Sein Auge glitt über die Gärten, die unter den Schneemassen wie unter einem Leichentuch ruhten.
War das Natur? … Menschenwerk? … Dann …
Zurück! Collin Cameron!
Er wollte es schreien, als sein Blick auf den Adjutanten fiel, der stumm dastand. Im Augenblick hatte er sich wieder in der Gewalt.
»Was willst du? … Es schneit … Es schneit … Ja natürlich, es schneit … Hast du noch keinen Schnee gesehen? … Fürchtest du dich vor Schneeflocken? … Geh!«
In einer Baumlaube des Garvinparks in Frisko saß Wellington Fox. Die Sonne war längst untergegangen. Vom Ozean her wehte eine kühle Brise. Fröstelnd schlug Fox den Kragen seines Jacketts in die Höhe. Die Hände in die Taschen vergraben, legte er sich bequem auf der Bank zurück und schaute sinnend dem Rauch seiner Zigarre nach.
»… Daß ich hier als Ritter Toggenburg seit einer geschlagenen Stunde sitze und geduldig auf das Kommen eines kleinen Mädchens warte … und, wenn es darauf ankommt, die ganze Nacht warten würde, hätte ich mir vor ein paar Monaten nicht träumen lassen … Ich, Wellington Fox, der mit seinen 35 Jahren bisher der Ansicht war, daß die Rose menschlicher Liebe vor ihm auch nicht ein Blatt mehr zu entfalten habe … Keinen Duft, den er nicht eingeatmet hätte …«
Ein leises Knirschen des Kiesweges ließ ihn aus seinem Träumen aufschrecken. Schnell warf er die Zigarre auf den Boden und trat mit der Schuhsohle darauf. Im nächsten Augenblick stand Helen Garvin vor der Laube. Sie tat einen schnellen Blick rückwärts und beugte sich dann lauschend nach vorn. Und schrie leise auf, als sie sich plötzlich an der Hand ergriffen fühlte und mit sanfter Gewalt in das Dunkel der Laube gezogen wurde.
»Komm, Helen. Das dichte Blätterdach schützt uns vor allen Späherblicken.«
»Ah, Sie sind es, Herr Fox? Ich hatte doch die Bank auf der anderen Seite des Weges als Treffpunkt bezeichnet. Beinah wäre ich umgekehrt. Da glaubte ich hier das Glühen einer Zigarre zu sehen.«
»Das dich anzog, wie das Licht die Motte.«
»Herr Fox! Ich gehe sofort, wenn Sie Ihre Redensarten nicht lassen. Nein, ich konnte mir kaum denken, daß Sie es waren, der hier rauchte.«
»Warum, Helen?«
»Weil es sich nicht gehört, daß ein Herr raucht, wenn er eine Dame erwartet …«
»… Die wiederum erwartet, von diesem Herrn geküßt zu werden«, vollendete Fox.
»Herr Fox, ich weiß nicht, was man zu solcher Unverschämtheit sagen soll. Ich gehe!«
»Gar nichts, kleine Helen, soll dein süßer Mund sagen, küssen … «
Im Nu hatten starke Arme Helens Schulter umfaßt und eine Flut von Küssen verschloß ihren Mund …
»Jetzt ist es aber genug.« Atemlos klang die Stimme dicht an Wellingtons Ohr.
»Bitte! Bitte!«
Sie entwand sich Wellingtons Armen und begann ihr verwirrtes Haar in Ordnung zu bringen.
»Schämen Sie sich, Sie schrecklicher Mensch. Gut, daß es das letztemal war.«
»Wann wollen wir nun heiraten?« war Wellingtons ganze Antwort.
»Heiraten? … Wir … heiraten?«
Helen trat entrüstet auf Fox zu, der sich auf der Bank niedergelassen hatte und mit einer Handbewegung Helen einlud, neben ihm Platz zu nehmen.
»Erstens will ich gar nicht heiraten … und zweitens nicht einen Mann wie Sie, den allerunhöflichsten Menschen, den ich je kennengelernt habe. Alle anderen Männer sind höflich und zuvorkommend zu mir. Besonders die, die mir Heiratsanträge gemacht haben.«
»Sie haben dich aber trotzdem nicht wie ich viermal küssen dürfen.«
»Viermal? … Hundertmal!« rief Helen und geriet dann in unbeschreibliche Verwirrung.
»Wenn du mich nicht heiraten willst, kleine Helen, warum hast du dich dann mit mir verlobt?«
»Verlobt?«
»Gewiß, Helen! Eine wohlerzogene junge Dame küßt keinen Mann, wenn sie nicht mit ihm verlobt ist. Und ist sie verlobt, muß sie ihn doch schließlich heiraten … klar?«
Einen Augenblick stand Helen wortlos.
»Ja … ja, das mag schon richtig sein. Aber wenn nun mein Vater nicht damit einverstanden ist, eine Abneigung gegen Sie hat und gar nicht mit sich reden läßt? Ich liebe meinen Vater sehr, aber ich kann sein Vorurteil gegen Leute, die nicht reich oder von hohem Rang sind, nicht teilen, aber … gegen seinen Willen …
Ich bin deshalb heute zum letztenmal hierhergekommen … und will Ihnen sagen …«
»Daß du morgen abend um dieselbe Zeit hierher, …«
»Herr Fox! Ich gehe jetzt und komme nicht wieder!«
»Gut!«
»Sie dürfen mir auch nicht mehr schreiben.«
»Gut!«
»Sie …«
»Bitte.«
»Sie dürfen mich auch nicht so …«
»Bitte.«
»… so ansehen.«
»Gut … Noch etwas?«
»Nein! … Adieu, Sie …«
Helen raffte ihr Kleid zusammen und schickte sich an zu gehen.
Am Ausgang der Laube drehte sie sich nochmals um.
»Adieu, Sie Mr. Gut … Sie Papagei … Sie Ungeheuer … Sie, Sie …«
Mit drei Schritten stand sie vor Wellington Fox und hielt ihm die kleine geballte Faust vors Gesicht. Da fühlte sie sich plötzlich neben Fox sitzen und ein anderer Mund verschloß den ihren. Erst nach geraumer Weile klang die Stimme Wellingtons wieder:
»Glaubst du wirklich, meine liebe kleine Helen, Wellington Fox ließe sich das Glück seines Lebens entgehen, weil ein alter, harter Mann ihn seines schmalen Beutels halber nicht für würdig hält? Ihn und alle seine Schätze mag der Teufel …«
»Wellington, es ist mein Vater.«
»Leider, Helen! Doch Geduld. Wir wollen sehen, wessen Schädel auf die Dauer der härtere ist.«
»Ach Wellington, du hoffst ihn zu zwingen? Dann werde ich nie im Leben die Deine werden. Ach, wenn du wüßtest, wie grenzenlos unglücklich ich bin.«
Tränen erstickten Helens Stimme. Weinend barg sie ihr Gesicht an Wellingtons Brust.
»Geduld, Geduld, kleine Helen! Ich weiß, wie man Leute vom Schlage deines Vaters auf seine Seite zwingt. Man muß etwas tun, was ihnen imponiert, was ihnen Respekt beibringt. Und warum sollte das nicht auch deinem Wellington gelingen? Noch einige Wochen. Dann ist die Saat reif, dann …«
Die weiteren Worte gingen in einem unverständlichen Gemurmel unter.
»Du sprichst so geheimnisvoll, Wellington, was meinst du?«
»Nichts, nichts, kleine Helen. Doch noch eins, Liebste. Es könnte sein, daß du mich in den nächsten Tagen vergeblich erwartest. Vielleicht kann ich sogar vor eurer Abreise nach Asien überhaupt nicht mehr hierherkommen.«
»Warum nicht, Wellington? Was sollen diese Andeutungen? Was hast du vor?«
Helen drängte sich ungestüm an Wellingtons Brust.
»Nichts Besonderes, liebe Helen. Mein Beruf zwingt mich häufig zu unvorhergesehenen Reisen … Es könnte sein, daß ich morgen … wichtige Geschäfte … auf ein paar Tage verreisen müßte. Das ist alles. Wünsche mit mir, daß diese Reise guten Erfolg hat. Sie wird uns auch unserem Glück näherbringen. Am Balkaschsee treffen wir uns bestimmt wieder.«
Es war eine kleine, gut bürgerliche Teestube, die Tschung Fu in der China town von Frisko hielt. Keine Hafenarbeiter, keine Wäscher, Köche oder dergleichen Volk verkehrte hier. Nur das bessere Publikum, Kaufleute, Händler und jene gelben Künstler, die mit unendlichem Geschick und noch größerer Ausdauer die Erzeugnisse chinesischen Gewerbefleißes, die wunderbaren Lack- und Filigranarbeiten herstellten, die in der Hauptstraße von China town in den Basaren verkauft wurden.
Aber diese solide Teestube war nur der Vorhang vor schlimmeren Dingen. Die gelben und weißen Gäste Tschung Fus konsumierten nicht nur den duftigen Trank der Pekkoblüte. Sie huldigten auch dem Genusse des Opiums. Diesem Zweck dienten die hinteren Räume des Teehauses.
Eine kaum sichtbare Tür an der Wand der Teestube … Ein langer, winkliger Gang … Ein Vorhang … Noch einmal ein Stück Gang … Ein zweiter Vorhang, und man war in dem Raum, in welchem Tschung Fu seinen Gästen, aber nur wohleingeführten und unbedingt zuverlässigen Gästen, das verbotene Narkotikum verabreichte.
Ein großer, nur durch künstliche Beleuchtung erhellter Raum. An den Wänden kleine, durch Vorhänge verschließbare Nischen. Im Raume selbst noch zahlreich jene niedrigen, weichgepolsterten Lager, auf denen die Opiumraucher den Genuß ihres Rausches mit gelösten Gliedern auskosten konnten.
In den Vorhängen, im Holzwerk der Wände, ja im ganzen Raume haftete unvertilgbar der süßliche, für den Ungewohnten widerliche Duft des kalten Opiumrauches.
Es war um die dritte Nachmittagsstunde. Schon hatte das Lokal Tschung Fus reichlichen Zuspruch gehabt. Alle Nischen des hinteren Raumes waren belegt, alle Polster und Kissen im Raume selbst besetzt. Gelbe und auch einzelne Weiße lagen hier. Die meisten bereits im tiefen Rausch. Nur einige wenige noch fähig, die Pfeife zum Mund zu führen … die letzten Züge zu tun, die sie in das Land glücklicher Träume bringen sollten. Tschung Fu war zufrieden. Jede hier gerauchte Pfeife brachte ihm ein blankes Goldstück von den bewährten alten Gästen … viel größere Beträge von denen, die zum ersten Male kamen, die erst eingeführt wurden oder sich selbst einführen wollten.
Jetzt begleitete der Wirt dienernd und kriechend Collin Cameron und dessen Begleiter, ein gelbschwarzes Halbblut, in den Raum.
»Es tut mir sehr leid, Mr. Cameron … alle Kojen sind besetzt …«
Collin Cameron blieb zögernd mitten im Raume stehen. Ein halbunterdrückter Fluch kam über seine Lippen. Sein Blick glitt über die Gäste, die hier als die willenlosen Sklaven einer Droge und einer Leidenschaft auf den Kissen lagen.
»… Verdammtes Pack! … Versoffenes Lumpengesindel …«
Er machte eine Bewegung, als ob er den nächsten mit einem Fußtritt von seinem Lager hinabschleudern wolle.
Der Wirt deutete einladend auf einen unbesetzten Tisch in der Mitte des Raumes. Collin Cameron fragte: »Wer ist hier?«
»Nur alte Bekannte! Sichere Leute! … Sie schlafen alle. Sind im siebenten Paradiese. Man könnte sie hinaustragen, ohne daß sie es merken.«
Noch einmal ein kurzes Überlegen. Dann ließ sich Collin Cameron an dem Mitteltisch nieder und lud seinen Begleiter durch eine Handbewegung ein, das gleiche zu tun. Der Wirt brachte ihnen selbst den frischen Tee. Dann zog er sich scheu zurück.
Collin Cameron schwieg. Mit verächtlichem Lächeln beobachtete er einen der Raucher, der es noch einmal versuchte, die Pfeife an die Lippen zu bringen. Die Kräfte des Mannes reichten nicht mehr aus. Seine Augen, groß und glasig, starrten empfindungslos in den Raum. Jetzt ließ er die Pfeife fallen und sank der Länge nach auf den Diwan zurück. Die Augen schlossen sich, und ein glückliches Lächeln nistete sich in den ausgemergelten Zügen des Rauchers ein.
Collin Cameron wartete geduldig, bis auch dieser letzte Raucher sicher in dem Hafen der Bewußtlosigkeit gelandet war. Dann eröffnete er die Unterhaltung.
»Was Neues?«
»Nein, Mr. Cameron. Sie haben die letzten Artikel in meinem Blatt gelesen. Waren sie nicht gut?«
»Sie waren gut. Aber von nun ab muß ein anderer Ton angeschlagen werden.«
»Noch schärfer? Vergessen Sie nicht, daß mein Blatt schon jetzt in Gefahr stand, unterdrückt zu werden.«
»Die Wahl Josua Bordens ist verschoben!«
»Verschoben! Warum? … Ein böses Zeichen … Verrat?«
»Es kann nicht anders sein.«
Ein schwerer Fluch kam aus dem Munde des anderen. Danach seine Frage:
»Was nun?«
»Das frage ich Sie.«
»Dann muß eben alles andere auch verschoben werden.«
»Ausgeschlossen!«
Der andere pfiff leise durch die Zähne und kniff die schmalen Schlitzaugen noch enger zusammen. Prüfend blickte er in das Gesicht Collin Camerons, in dem sich starke Erregung malte.
»Ihre Worte sind dunkel, Mr. Cameron. Das eine fällt mit dem anderen.«
»Nein! Das darf es nicht!«
»Ah! … Weht der Wind daher? … Aber unsere Führer werden nicht mitmachen.«
»Dann werden andere die Führer sein! … Einer davon Sie!«
Der andere sank in seinen Sessel zurück. Die kleine Figur verschwand fast in den Polstern, während er die Hand an die Stirn legte.
»Es wird nicht gehen, Mr. Cameron. Die Massen werden uns nicht folgen.«
»Zugegeben! Die große Masse der Schwarzen nicht … das heißt nicht sogleich … Aber sind Sie sich der Hafenarbeiter sicher? … Auf alle Fälle?«
Ein übles Grinsen ließ die Züge des schwarzgelben Halbblutes noch abstoßender als gewöhnlich erscheinen.
»Mit genügend … so etwas …«, seine Hände machten die Bewegung des Geldzählens, »und dem nötigen Whisky … Ja!«
»Wie steht’s mit den Mortonwerken?«
»Das kann ich nicht sagen. Aber … der Führer … ist empfänglich für … Wieder vollführten die Finger des Sprechenden die Bewegung des Geldzählens.
»Ich werde mit ihm reden. Wie steht’s mit der schwarzen Universität? Ihre Organisation ist die beste. Ihr Beispiel würde große Wirkung haben.«
»Die jungen Hitzköpfe müßten sich bei zweckmäßiger Behandlung wohl gebrauchen lassen … Ein geschickt inszenierter Streit mit den weißen Studenten … Gut ausgewalzt und kräftig breitgetreten … Alles im richtigen Moment … Das dürfte genügen.«
»All right! Die Arbeit in Frisko lege ich in Ihre Hände.«
Der andere schwieg. Aber seine Augen blinzelten begehrlich nach der Stelle, an der sich Collin Camerons Brusttasche befand, und seine Mienen sprachen eine beredte Sprache. Collin Cameron riß ein Scheckbuch heraus und reichte es seinem Gegenüber.
»Wie hoch?«
»In jeder Höhe!«
Das Grinsen auf den Zügen des anderen verbreiterte sich. Seine Finger umklammerten das Buch, und im Nu war es verschwunden.
»Ich fahre heute nacht nach Louisiana, um dort weiterzuarbeiten. Meine Adresse kennen Sie.«
Ein Nicken des anderen. Noch einmal ließ Collin Cameron einen Blick auf den Raum und seine trunkenen Insassen gleiten. Dann schritt er mit seinem Partner dem Ausgang zu. Ihre Schritte verklangen auf dem Flur.
Plötzlich blieb Collin Cameron stehen und schlich leise wieder dem eben verlassenen Gemache zu. Mit unendlicher Vorsicht schob er den Vorhang um wenige Millimeter zur Seite, daß sein Auge eben den Raum überblicken konnte. Alles war noch genau so, wie er es verlassen hatte. Als er sich umdrehte, stand der gelbe Wirt katzenbuckelnd vor ihm.
»Alles in Ordnung, Mr. Cameron. Die Toten auf dem Kirchhof haben keine tauberen Ohren als meine Gäste.«
Während Collin Cameron dem Ausgang zuschritt, kehrte der Wirt in das Gemach zurück. Sein Auge blieb an einem Weißen hängen, der in tiefem Schlaf der Wand zugekehrt dalag.
»Du Sohn eines Schakals! … Deinethalben hat Tschung Fu eine böse Stunde gehabt. Du bist ja keiner von meinen Stammgästen … für die ich mich verbürgt habe … Du sollst es mir bezahlen.«
Unhörbar schlich er auf seinen Filzsohlen auf den Schläfer zu. Prüfend glitten seine Hände über die Kleidung des Daliegenden und tasteten nach der Gegend der Brieftasche.
Von einem Faustschlage getroffen, flog er bis in die Mitte des Raumes zurück.
»Du Sohn einer gelben Hündin, bezahlt bist du schon im voraus!«
Es war Wellington Fox, der bei diesen Worten von dem Diwan aufsprang. Doch bevor der Berichterstatter der Chikago-Preß den Ausgang erreichen konnte, hatte sich der Wirt schon wieder aufgerafft. Ein Tisch flog Wellington Fox empfindlich gegen das Schienbein. Schon war der Wirt draußen und ließ einen gellenden Pfiff ertönen.
Wellington Fox stürmte ihm nach. Aber es war nicht der Gang nach der vorderen Teestube, sondern ein anderer, ein viel längerer und winkliger Gang, in den er geriet und durch den er bis auf den Hof gelangte. Hier sah er sich plötzlich von allen Seiten umringt.
Wellington Fox war gut gebaut und gut trainiert. Nach rechts und links teilte er solide Faustschläge aus, brachte hier und dort einen Meistergriff des Dschiudschitsu zur Anwendung und bahnte sich über taumelnde und stöhnende gelbe Körper seinen Weg.
Aber er war in einer Falle. Die Tür zum Vorderhaus war verschlossen. Eine Möglichkeit, sie aufzubrechen, nicht vorhanden. Von allen Seiten schlossen steile Wände den Hof ein. Nur an einer Stelle führte an der Wand des Nebenhauses eine schmale Stiege empor. Er stürmte sie hinan und landete atemlos auf dem flachen Dach des Nachbarhauses. Chinesische Wäscher betrieben hier ihr Gewerbe.
Ausgespannte Leinen … mit Wäschestücken behängt … allerlei Zuber und Bottiche …
Einen Augenblick blieb er schnaufend stehen und blickte sich orientierend um. Der Anblick eines gelben Kopfes, der sich über die Dachkante schob, mahnte ihn an seine Gegner. Vor einem plötzlichen kräftigen Fußtritt wich dieser Kopf zurück. Aber ein Blick über den Dachrand belehrte Wellington Fox, daß die Stiege bis hinauf zum Dach bereits dicht mit Gelben besetzt war.
Suchend sah er sich nach einer geeigneten Waffe um. Sein Blick fiel auf einen zur Hälfte mit Wasser gefüllten Waschzuber.
In der nächsten Sekunde hatte er jene zweite Dynothermtube Isenbrandts herausgerissen und in den Zuber ausgeschüttet. So schnell wie möglich zerrte er den Zuber über das Dach bis zur Stiege hin. Schon stiegen gewaltige Dampfwolken aus dem Bottich, schon trafen einige Spritzer des siedenden Wassers seine Hände und verursachten an den Treffstellen große Brandblasen.
Dann war es geglückt … Der Inhalt des Bottichs über die Stiege hinabgegossen.
Ein Schrei des Entsetzens … ein tierisches Brüllen … vermischt mit dem Wimmern Sterbender … belehrte ihn, wie das Dynotherm gewirkt hatte. Schon war der ganze Hofraum in seiner Tiefe ein einziges wogendes Dampfmeer, in dem sich nichts mehr erkennen ließ. Schon strömten die Dampfwolken weiter empor zur doppelten und dreifachen Höhe des Hauses, während dort unten das letzte Wimmern erstarb. Schon mischte sich brenzliger Qualm in den Wasserdampf. Schon zuckte es feurigrot aus den wogenden und wirbelnden weißgrauen Massen.
Das Haus, auf dessen Dach Wellington Fox stand, war nicht allzu hoch. Mit schnellen Griffen hatte er die Wäscheleine gelöst und um einen Pfosten an der Vorderseite des Hauses geschlungen. Schnell glitt er an ihr auf die Straße hinab.
Er sah sich um. Ein kleines, ihm unbekanntes Seitengäßchen. Aufs Geratewohl lief er darin entlang und erreichte die Hauptstraße. Noch einen Blick rückwärts. Feuerlohe schlug zum Himmel, wo das Teehaus gestanden hatte.
Langsam glitt das Schiff Isenbrandts flußabwärts der Mündung des Ili zu. Schon zogen sich die mächtigen Schilfhorste zu beiden Seiten des Stromes weitauseinander, und unmerklich vermischten sich die Wellen des Ili mit den Wassern des Balkaschsees.
Kreischend stiegen ganze Schwärme von Wasservögeln empor, die der Kurs des Schiffes in ihrer Abendruhe störte. Rosig schimmerte das helle Gefieder der tausend und aber tausend Vögel in den Strahlen der sinkenden Sonne. Wie dichter grauer Dunst standen Myriaden von Mückenschwärmen dazwischen und drohten die Sonne zu verdunkeln.
Georg Isenbrandt streckte die Hand nach einem Hebel aus. Ein kurzer Druck darauf, und automatisch schlossen feine Gazefenster die Kabine.
Er lehnte sich ruhig in seinen Sessel zurück. Noch trug er den Gesellschaftsanzug, in dem er den ganzen Tag hindurch die offiziellen Empfänge der zahllosen Gäste aus allen Weltteilen mitgemacht hatte. Seine Mienen verrieten Ermüdung und zeigten, daß die Anstrengungen dieser Feierlichkeiten selbst für seine eisernen Nerven recht reichlich gewesen waren. Da er außer den wichtigsten europäischen auch mehrere asiatische Sprachen beherrschte, war seine Person bei diesen Empfängen ganz besonders beansprucht worden.
So war er gern dem Vorschlage von Wellington Fox gefolgt, eine Abendfahrt von Wierny zum Balkaschsee zu unternehmen, um hier in ruhigen Stunden wieder Erholung und Stärkung für die Strapazen des kommenden Tages zu finden. Denn die heutigen Empfänge waren ja nur der Auftakt für die großen Feierlichkeiten des morgigen Tages.
Von morgen ab sollte der mächtige, vierhundert Quadratkilometer große Balkaschsee ein neues wichtiges Glied in der Kette der Unternehmungen der E. S. C. werden. In feierlichem Akte, im Beisein von führenden Männern aller Staaten der Welt sollte dem See die Dynothermmenge einverleibt werden, die seine Wassermengen in Dampfform in die Lüfte jagen mußte. Der Plan ging dahin, die vielen hundert Milliarden Kubikmeter Wasser, die hier die Schale des Sees füllten, als fruchtbaren Regen nach Norden und Nordosten zu senden. In seiner ganzen Größe konnte er nicht ausgeführt werden, solange dem See die verstärkten Zuflüsse aus dem chinesischen Gebiete fehlten, dem Ilidreieck.
»Deine Einrichtung mit diesen Mückennetzen ist zweifellos ohne Tadel, Georg. Meine Zigarre ist machtlos gegen solche Moskitomengen … Sieh nur, wie die Fenster schon davon bedeckt sind … Eine ganze Schicht … Ja … das heißt … auf diese Weise sehe ich ja nichts mehr … und um zu sehen bin ich doch hierhergekommen.
Heute nacht noch muß mein erster Bericht nach Chikago gehen. Wozu hätte ich denn den Manager des Ganzen zum Freund, wenn ich nicht schon heute als geschehen melden könnte, was morgen erst geschieht. Die Manuskripte der Reden hast du mir ja schon zur Verfügung gestellt.«
»Hast du eskamotiert, mein Lieber«, warf Isenbrandt trocken ein.
»Fehlt mir nur noch die Kenntnis der Stätten, an denen sich alles abspielen wird … Aber by Jove, es ist wirklich kaum noch was zu sehen. Hol der Teufel die Mückenbrut!«
Wieder griff Isenbrandt nach einem Schalter und sprach von seinem Platz aus leichthin ein paar Worte. Fast im gleichen Moment hob sich das Schiff leicht von den Fluten ab. Während das Wasser noch von seinem Kiel tropfte, reckte es zwei weite Schwingen aus und strich wie ein gewaltiger Nachtvogel über die Seefläche. Schnell verjagte der frische Fahrwind die unwillkommenen Gäste. In freiem Ausblick konnte Wellington Fox den See und seine südlichen Ufer überschauen.
»Ein wunderbares Bild, Georg. Wir sehen es heut das letztemal. Ich kann begreifen, daß du den Flug hierher schon öfters zu deiner Erholung gemacht hast. Die dunkelnden Fluten mit den rosigen Lichtern der Abendsonne. Im Osten die unabsehbaren Rohrhorste. Ein Bild, das jedes Malerauge entzücken muß. Dazu die wohltätige Ruhe einer unberührten Natur. Wie schade, daß das alles verschwinden muß! Schon morgen werden es ewige Nebel und Dämpfe verhüllen … Doch eins, Georg. Die Frage brennt mir schon seit langem auf dem Herzen. Was ich bei unserer letzten Fahrt in der Steppe erlebte … Was ich in Peking sah … ist danach das alles hier noch notwendig?«
»Ich habe dich einen tiefen Blick in meine Karten tun lassen, alter Fox, weil ich deine Verschwiegenheit kenne … Deine Frage ist an sich berechtigt. Doch andere Gründe spielen mit, bewegen mich, das geschehen zu lassen, was morgen geschieht.«
Während Georg Isenbrandt sprach, schien alle Abspannung von ihm zu weichen. Er erhob sich und schritt in der Kabine hin und her.
»Das Programm für den morgigen Tag wurde früher erdacht als das, was du gesehen. Das Programm aufzugeben, wäre in doppelter Hinsicht verkehrt. So gut kommt die Gelegenheit nie wieder, die Augen des Mutterlandes Europa auf uns zu richten, die wir hier im fernen Osten als Pioniere der weißen Rasse kämpfen. Hier werden seine Vertreter mit eigenen Augen sehen, wie groß das Werk ist, welche Bedeutung es für Europa hat. Gerade hier sollen die Herren Diplomaten sehen, wie wichtig die Ilifrage für uns ist. Und dann … die Gelben … mein letzter Trumpf muß bis zum letzten in meiner Hand bleiben. Ist der einmal ausgespielt, dann mag auch der See sein altes Aussehen wiedergewinnen!«
Während Georg Isenbrandt sprach, ging das Schiff wieder bis auf den Seespiegel hinab. In langsamer Fahrt näherte es sich einem gewaltigen, bojenartigen Körper, dessen massiger Rumpf sich silbergrau von den Fluten abhob.
Unheimlich, fremdartig und drohend wirkte der riesige Metallkörper an dieser Stelle. Wellington Fox sprach zuerst.
»Also hier schwimmt der Mörder des Sees.« Schon hatte er den photographischen Apparat gerichtet. Eine Leuchtkugel entschwebte seiner Hand, stieg empor und badete die Landschaft für den tausendsten Teil einer Sekunde in einer Überfülle ultravioletten Lichtes.
»Auch eskamotiert, mein lieber Georg! Nun weiter, zu der Strandkanzel hin, von der sie morgen die Leichenreden halten werden.«
Georg Isenbrandt lachte. »Deine amerikanische Presse wird hier besser von dir bedient als damals in Peking. Übrigens, unter den amerikanischen Gästen ist auch Mr. Francis Garvin.«
»Nebst Tochter!«
»Ah, du weißt schon, schlauer Fuchs?«
»Verabredetermaßen.«
»Mit ihm oder der Tochter?«
»Wo denkst du hin. Der Alte verhält sich dauernd ablehnend. Vielleicht werde ich hier einen Speech mit ihm haben, durch den die Sache endlich eine andere Wendung bekommt.«
»Gehört er nicht dem Weißen Orden an?«
»Leider nein! Sonst würde er jetzt schon anders von mir denken. Sein allzu reger Geschäftssinn läßt ihm keine Zeit für Ideale. Sonst wären seine Siedlungen an der Sierra Nevada nicht zum Teil in schwärze Hände geraten.«
»Armer Fox!«
»Keine Ursache dazu. Keine Bange um mich, Georg! Mit dem Alten werde ich fertig. Aber du? Hast du Nachricht von Ahmed über Maria?«
Die Züge Isenbrandts verfinsterten sich. Schweigend schüttelte er den Kopf.
»Mut, Georg! Übermorgen sind die Sachen hier zu Ende. Dann gehe selber für dich suchen.«
Am steilen, schilffreien Südufer des Sees erhob sich, von mächtigen, blumengeschmückten Tribünen umflankt, die Kanzel für den Festtag. Die Flaggen aller europäischen Staaten und die Embleme der E. S. C. zierten den hochragenden Balkenbau.
Wie einst um den Turm von Babel, so wogten auch hier alle Völker und Sprachen der Erde durcheinander.
Ein Chaos von Farben! Bunt waren die Trachten, bunt die Gesichter. Heiter der Himmel und heiter die Mienen.
Den größten Teil der Besucher stellten die Siedler aus den Kolonien der E. S. C. Zu Tausenden umbrandeten sie die Tribüne.
Weiter zurück Massen der alten Herren des Landes, der Kirgisen. Die Neugier trieb sie wohl hierher, doch ihre finsteren Gesichter verrieten, daß sie wenig Freude an dieser Feier hatten. Wer näher hinschaute, der hätte wohl aus ihren Blicken wenig Gutes für die Zukunft der Siedlungen und der Siedler herauslesen können.
Um die elfte Stunde bestieg der Präsident der E. S. C. die Kanzel. Zehntausende lauschten aufmerksam seiner Rede.
In kurzen, knappen Worten schilderte er die Arbeiten der Gesellschaft von ihren Anfängen am Aralsee bis zur Mauer des Thian-Schan. Er sprach auch von den vielen Schwierigkeiten, die Himmel und Erde, Wasser und Luft, Zeiten und Winde und nicht zuletzt die Menschen selbst dem Werke bereitet hätten. Er betonte den friedlichen Zweck der Arbeiten. Wie sie bestimmt seien, allen, auch den früheren Bewohnern dieser ehemaligen Wüsten, nur Nutzen zu bringen.
Doch gar mancher Kopf unter den Zuhörern wandte sich der Diplomatentribüne zu, auf der die Vertretungen der asiatischen Nationen ihren Platz hatten, als er fortfuhr:
»Wenn dies Ziel heute noch nicht voll erreicht ist, so bedauern wir das. Unverstand und Mißtrauen haben in Verkennung unserer Absichten manchmal die friedliche Entwicklung unserer Arbeiten gestört. Und« – hier wandte er sich zu den Vertretern der Kolonien – »und oft werden eure Augen mit Bangen nach Sonnenausgang geblickt haben. Heut kann ich euch sagen, daß die Mutter, die euch aus ihren Armen entlassen hat, stets hilfsbereit hinter euch steht. Wie einst das alte Rom hinter seinen Kindern, die als ver sacrum in die Fremde zogen …«
Seine weiteren Sätze gingen unter in dem tosenden Jubel und den brausenden Beifallstürmen, die bei diesen Worten in allen Sprachen Europas aus den Kehlen der Kolonisten drangen.
Der Beifallssturm mochte dem Redner wohl etwas überraschend kommen. Um die Spitze, die unverkennbar darin enthalten war, abzubrechen, schritt er zum Taster, der die Funkenstation auf der Tribüne betätigte.
Ein kurzer Druck seiner Hand auf die Tasten … ein Rad begann sich schnurrend zu drehen. Auf Ätherwellen flog die Sprengdepesche über den See hin.
Von Menschen verlassen, unbemannt, lag dort die Riesenboje. Aber in ihre Antenne fingen sich die Zeichen der Depesche. Exakt arbeiteten ihre Relaiswerke und begannen ihrerseits zu schalten und zu wirken.
Noch tobte der Jubel der großen Masse. Schon aber richteten die Tribünenbesucher, welche die Bewegung des Präsidenten aus nächster Nähe gesehen und richtig gedeutet hatten, ihre Gläser auf die weite Seefläche.
Jetzt sah es auch die Menge. Rufe des Staunens, der Überraschung in allen Sprachen. Ist’s schon so weit? Geht es schon los? Wird schon gesalzen?
Im Nu war der Platz um die Tribünen geleert. Ein Teil der Massen strömte so nah wie möglich an das Seeufer heran. Der andere größere eilte die Höhen empor, die den See hier umsäumten. Auf Felsen und Hängen suchten sie die besten Plätze, um soviel wie möglich von diesem bisher nie erschauten Schauspiel zu erhaschen. Viele Tausende von scharfen Gläsern waren auf die Seefläche gerichtet. In allen Sprachen Europas und Asiens schrien sie einander zu, was jeder da draußen zu sehen meinte.
Die Riesenboje, eben noch durch scharfe Gläser deutlich sichtbar, war verschwunden, spurlos in die Tiefe versunken.
Aber rot leuchtete es aus dieser Tiefe. Einen glühenden Rachen glaubten viele dort unten zu sehen, dem gräßliche Strudel entwichen.
Dann kam die Wirkung.
Unter Donnern und Krachen stieg aus dem See ein riesiger Geiser in die Höhe. Aber ein Geiser, dessen Wasser nicht wieder in die Tiefe zurückfielen, sondern frei in der Luft kochten und zu Dampf versprühten.
Schon wurde aus dem Geiser ein anderes Gebilde, das an den Ausbruch eines Vulkans erinnerte. Wie eine gigantische Dampfpinie stand es auf der Seefläche, ein enormer Stamm, dessen Äste sich in Wolkenform ausbreiteten, als Wolken den bisher stahlblauen Himmel zu bedecken begannen.
Und wie sich das Wellenspiel um einen in das Wasser fallenden Stein nach allen Seiten ausbreitet, so begann die Wirkung dieser kochenden, siedenden Masse nach allen Seiten hin über das Wasser zu wandern. Immer breiter, immer massiger wurde der Dampfstamm, der diesen Dampfbaum trug. Schon stiegen leichte Wolken auch in der Nähe des Gestades vom Spiegel auf. Die Massen, die das Ufer umsäumten, drängten sich begierig vor. Tausende von Händen tauchten in die Wellen … prüften, fühlten … stellten fest, daß das Seewasser auch hier am Gestade schon warm wurde.
Jetzt bedeckten die wolkigen Äste des gigantischen Dampfbaumes bereits den halben Himmel. Die Massen am Gestade sahen, wie die Fische des Sees, von der Hitze getrieben, an die Oberfläche kamen. Welse von unerhörten Abmessungen, die erst die Kraft des Dynotherms aus ihren dunklen Schlammlagern emporscheuchte, Hechte und Karpfen, was alles der See an Fischen und an anderem Getier barg, suchte sich in verzweifelter Flucht zu retten, sprang und kroch sinnlos vor Angst an die Gestade, soweit die Leiber nicht schon tot und gesotten auf der Oberfläche trieben.
Und dann … beinahe so pünktlich, als ob es auch auf dem Programm gestanden hätte, begann ein frischer Südostwind zu wehen. In immer schärferem Zuge jagten die Luftmengen über den See. Sie packten den phantastischen Dampfbaum und zerbrachen seinen Stamm. Sie ergriffen seine Zweige, breiteten sie weiter aus und trugen sie als schwere, regenschwangere, fruchtbringende Wolken in nordwestlicher Richtung von dannen, wo das durstende junge Siedlungsland seit Wochen sehnsüchtig auf das kostbare Naß wartete.
Jetzt war die ganze Seefläche nur noch eine einzige gleichmäßige Dampfquelle, und wie der Dampf emporstieg, ergriffen ihn günstige und bereitwillige Winde, um ihn einem gewollten Ziele zuzuführen.
Schon lenkten die taktmäßigen Klänge militärischer Märsche die Aufmerksamkeit der Massen nach einer anderen Richtung. Auf einer großen, freien Fläche am Südufer des Sees begann die Parade der Kompagnietruppen.
Alles, was auch nur irgendwo innerhalb der weiten Siedlungsgebiete von Streitkräften der Kompagnie entbehrlich war, hatten die großen Transportflieger hierhin zusammengebracht. Diese Parade war nicht nur als unterhaltsames Schauspiel für die Gäste der Feier gedacht. Sie sollte denen, die es anging, auch zeigen, daß die E. S. C. über schlagkräftige Mittel verfügte, um das Ihre zu wahren.
War auch die Zahl dieser Truppen nicht imponierend groß, so mußte doch jedes militärisch geschulte Auge sehen, daß das Menschenmaterial und die Ausrüstung von einer bisher nie erschauten Güte waren.
Die Fußtruppen eröffneten die Parade. Ihre Ausrüstung war gleichmäßig für die Ebene und die Hochalpen geeignet. Wie die Regimenter hier im Gleichschritt vor den Tribünen mit den diplomatischen Vertretern Europas und Asiens vorüberzogen, mochten sie wohl äußerlich an die Infanterie vergangener Zeiten erinnern. Doch wie der jetzige Kommandierende General Bülow dem Präsidenten der Kompagnie die einzelnen Bataillone meldete, so hätte man hundert Jahre früher noch ganze Korps melden müssen. Denn im Ernstfalle verwandelte sich jeder einzelne dieser ausgesuchten Leute in eine Kampfmaschine, von deren Furchtbarkeit sich nur wenige ein Bild machen konnten. Ein Heer des vorigen Jahrhunderts hätte diesen Truppen etwa gegenübergestanden wie ein Haufe nackter Kannibalen einer kleinen Maschinengewehrtruppe.
Die Artillerie, die nun folgte, zeigte auch äußerlich die große Veränderung gegenüber vergangenen Zeiten. Die Rohre mit ihren Lafetten wurden hier von kleinen Dynothermtraktoren gezogen. Aber es hätte nur eines kurzen Kommandos und einiger weniger exakter Griffe der Bedienungsmannschaften benötigt, und jede dieser unscheinbaren Zugmaschinen reckte Schwingen aus und erhob sich in die Lüfte, ihr Geschütz unter sich, wie wohl ein Adler ein Zicklein in den Fängen davonträgt.
Es gab weder in der Ebene noch in den Hochalpen eine Stellung, die nicht schnellstens von dieser Artillerie besetzt werden konnte. Eigentliche technische Truppen hatte die Kompagnie nicht. Jeder ihrer Soldaten war in allen Sätteln der Kriegstechnik gerecht.
Während die Regimenter und Batterien vorüberzogen, die Musikkapellen ihre Märsche schmetterten, lagen die Schiffe der Luftflotte, die sie gebracht hatten, in weitem achtunggebietenden Bogen auf dem anschließenden Blachfeld. Als der letzte Mann der Truppenparade vorübergezogen war, ging ein Ruck durch die Flotte. Wie eine Schar von Krähen erhoben sich alle Flugschiffe mit einem gleichzeitigen Schwung vom Boden und zogen zunächst in geschlossenen Reihen über das Paradefeld.
Auf ein neues Kommando teilte sich der Schwarm in zwei Parteien, die sich voneinander entfernten. In rasendem Fluge schossen sie dann wieder gegeneinander. So unvermeidlich schien der Zusammenstoß, daß manchem der Zuschauer der Herzschlag stockte. Doch im letzten Moment wichen die schwergepanzerten Luftkreuzer elegant und sicher dem Zusammenstoß aus und eröffneten gleichzeitig aus allen Rohren ein rollendes Schnellfeuer aufeinander.
Während noch das Scheingefecht in der Luft tobte, hatten die Truppen in einer eigentümlichen, schachbrettartigen Ausstellung das Paradefeld besetzt.
Ein neues Manöver! Die Luftflotte ordnete sich in neuen Formationen, ähnlich der Truppenaufstellung auf dem Felde. Ein neues Kommando, und die Schiffe gingen senkrecht nach unten. Schon stand neben jedem Truppenkörper ein Schiff.
Wieder Kommandos! Im Augenblick waren die Truppen in den Kreuzern verschwunden. Schon erhob sich der Schwarm wieder und trug die Streitkräfte der Kompagnie in schnellem Fluge nach ihren verschiedenen Stationen innerhalb der weit ausgedehnten Siedlungsgebiete zurück.
In das kräftige Beifallsklatschen, das den gelungenen Manövern folgte, stimmte auch Wellington Fox lebhaft ein. Mit den anderen Pressevertretern hatte er neben dem Adjutanten Lowdale, der für diese Herren den Cicerone machte, das Schauspiel von bevorzugter Stelle aus mit angesehen.
Seine Kollegen stürzten jetzt schnellstens nach den Telegraphenkojen. Wellington Fox, der à conto seiner guten Beziehungen alles soeben Gesehene schon längst als geschehen berichtet hatte, blieb ruhig bei dem Adjutanten.
»Ich muß gestehen, Herr Hauptmann, das, was ich hier gesehen habe, bleibt um keinen Schritt hinter den fulminanten Schilderungen in meinen Telegrammen zurück. Jetzt wäre nur noch zu untersuchen, ob auch der Kranz von schönen Damen, den ich unter den Gästen erwähnte, in Wirklichkeit vorhanden ist. Nehmen wir auch hier die Parade ab.«
Er richtete sein Perspektiv auf die Tribünen, und lächelnd folgte ihm Lowdale.
»Ah! Hier! … Da habe ich zweifellos nicht gelogen …«
Er zog aus seiner Tasche ein Tüchlein und ließ es winken.
»Was sagen Sie dazu, Herr Adjutant?«
»Oh, eine Dame Ihrer Bekanntschaft … Oh, selbstverständlich, eine selten schöne Blume in Ihrem Kranz.«
Im gleichen Augenblick durchfuhr Wellington Fox ein kalter Schreck. Hinter Helen Garvin, der alle seine Betrachtungen galten, war eine Dame aufgestanden, die er bisher nicht sehen konnte … Florence Dewey.
Langsam ließ er das Glas von seinen Augen sinken und schaute verstohlen nach seinem Begleiter. Mit abgewandtem Gesicht, tiefatmend stand Averil Lowdale da. Fox suchte nach Worten … Was sagen? … Was tun? Stumm sah er den Kampf der Gefühle, der in jenem tobte.
Da … Averil Lowdale drehte sich um und wandte sich mit einem leichten Lächeln zu Fox. Der Kampf war vorüber. Mit bewundernswerter Kraft hatte er die Gewalt über sein Mienenspiel zurückgewonnen.
»Nach der Stichprobe zu urteilen, Mr. Fox, trifft Ihr Bericht auch in dieser Beziehung zu.«
Wellington Fox wußte nichts anderes zu tun: Er ergriff die Hand des Adjutanten und drückte sie stark.
»Ihr Dienst ruft Sie jetzt zu anderer Stelle. Ich hoffe, wir haben uns nicht das letztemal gesehen. Meinen herzlichsten Dank für Ihre besonderen Bemühungen um mich. Wenn die Chikago-Preß bei dieser Gelegenheit in der schnellen Berichterstattung den Vogel abschießt, so dankt sie das Ihnen.«
Mit federnden Schritten, den eben gehörten Kompagniemarsch pfeifend, ging Wellington Fox der Tribüne zu, während Averil Lowdale die entgegengesetzte Richtung einschlug.
Der Höhepunkt der Festlichkeiten war überschritten. Eine Reihe von rauschenden Tagen, während der kochende See unaufhörlich unendliche Wolkenmengen nach Nordwesten entsandte.
Die offiziellen Gäste waren abgereist, die Siedler zu ihren Farmen zurückgekehrt. Das sportliebende Reisepublikum benutzte die Gelegenheit, Hochgebirgstouren zu unternehmen und Schneesport an den Hängen der Kogartberge zu treiben.
Die Mitglieder des Direktoriums der E. S. C. und die diplomatischen Vertreter der europäischen Staaten weilten noch in Wierny. In den letzten Maitagen traten die Direktoren hier zusammen. Es war ein besonderer Wunsch Isenbrandts gewesen.
Isenbrandt sprach in dieser Sitzung. Er knüpfte an die Salzung des Balkaschsees an. Überzeugend wies er nach, daß dies Unternehmen nur teilweise Wirkung haben könne, solange die politische Grenze die Schmelzungen im oberen Ilitale unmöglich mache.
Georg Isenbrandt sprach weiter:
»Die Dämpfe, die der See jetzt hergibt, reichen eben aus, um ein Gebiet von zehntausend Quadratmeilen dauernd zu befruchten. Ganz anders wäre es, wenn wir im ganzen Quellgebiet des Ili schmelzen könnten. Viele tausend Quadratmeilen Landes würden dann für Siedlungen neu gewonnen werden.
Ich berühre damit ein Ihnen wenig angenehmes Thema … Die Besitzfrage des Ilidreieckes …«
Ein nervöses Summen ging beim Fallen dieser Worte durch die Versammlung. Einen Augenblick war es still. Dann sprang der französische Direktor mit romanischer Lebhaftigkeit auf:
»Ich begreife nicht, wie diese Frage gerade jetzt aufs Tapet gebracht werden kann, da sie doch dem Schiedsgericht unterliegt, das in nächster Zeit seinen Spruch fällt. Nach meinen Informationen ist ein für uns günstiges Ergebnis zu erwarten.«
»Letzteres ist mir neu«, sagte Isenbrandt. »Wäre es wahr, würde die Frage noch viel dringender sein.«
Mit unverhohlenem Erstaunen blickten die Teilnehmer auf Georg Isenbrandt. Wie war das gemeint?
»Sie sehen mich fragend an, meine Herren. Wie der Schiedsspruch auch ausfallen mag, gutwillig wird China diese starke Position nicht aus den Händen lassen.«
»Aber der feierlich beschworene Vertrag?«
Von verschiedenen Seiten klang der Einwurf.
»Der Schiedsgerichtsvertrag wurde zwischen Europa und dem Kaiser Schitsu geschlossen.«
»Und weiter?« schallte es ihm entgegen.
»Er wird keine Geltung haben … für des Kaisers Nachfolger!«
Einen Augenblick herrschte absolute Stille. Dann kamen die Fragen von allen Seiten.
»Was? … Was? … Was geht uns des Kaisers Nachfolger an, da er selbst lebt … in voller Gesundheit lebt?«
»Der Kaiser Schitsu ist tot. Schanti … Toghon-Khan von Dobraja ist Regent!«
Der Eindruck der Worte auf die Versammlung war nicht zu beschreiben. Einige fuhren überrascht auf. Ein anderer und nicht der kleinste Teil gab seinem Unwillen, ja seiner Entrüstung über die Äußerung Isenbrandts lebhaften Ausdruck.
»Wie können Sie es wagen, uns solche Märchen aufzutischen?«
Über das Stimmengewirr erhob sich die schneidende Stimme des Franzosen:
»Wie können Sie ableugnen, was tausend Augen gesehen haben?«
Wieder trat Stille ein. Man wartete auf die Rechtfertigung Isenbrandts.
»Tausend Augen haben gesehen, daß ein Mann von Schehol in einem Glaswagen nach dem Kaiserpalast in Peking gefahren wurde.«
Isenbrandt hielt einen Augenblick inne. Mit einem Lächeln sah er auf die Gesichter, die gespannt zu ihm aufblickten.
»Ich leugne nicht, daß dieser Mann der Kaiser Schitsu war … aber …«
Hier vertiefte sich der lachende Zug um seinen Mund.
»Der Mann war tot! … Komödie war alles!«
Wie eine Bombe wirkten die Worte Isenbrandts. Keiner blieb auf seinem Platz. Von allen Seiten umströmten sie den Sprecher und bestürmten ihn mit Fragen.
»Meine Herren,« begann Isenbrandt nach einer kleinen Weile, »die Zeichen Ihrer Verwunderung kommen mir nicht überraschend. Was die Welt, was ganz China geglaubt hat, weshalb sollten Sie es nicht auch geglaubt haben?«
Wieder die schneidende Stimme des Franzosen:
»Unmöglich! Eine derartige Blasphemie! Das wäre der gröbste Betrug, den die Welt je gesehen!«
»By Jove!« kam es lachend aus dem Munde des Engländers. »Eine Komödie der Weltgeschichte, die ich den gerissensten aller Schauspieler, den Gelben, wahrhaftig zutraue … ha ha … das Stückchen wäre nicht übel!«
Er schlug sich behaglich lachend auf seine prallen Schenkel und brachte auch einen Teil der Gesellschaft zum Lachen.
»Meine Herren« – die Stimme des Präsidenten durchbrach das Stimmengewirr – »ich bitte Sie, wieder Platz zu nehmen. Herr Isenbrandt wird seine Behauptungen begründen.«
Der stand einen Augenblick sinnend da.
»Begründen? … Wie soll ich das begründen? Den toten Kaiser kann ich Ihnen nicht vorführen. Ich kann Ihnen nur folgendes versichern. Bei meiner Ehre … Meine Gewährsleute zu nennen ist unmöglich …
Am 5. Mai um die sechste Abendstunde ist Kaiser Schitsu in Schehol an seiner Schußwunde gestorben. Am 4. Mai ernannte er den Herzog von Dobraja, den Schanti, zum Regenten. Der ominöse Ring des Dschingis-Khan ist am Finger des Schanti.
Glauben Sie mir … ober glauben Sie mir nicht! Für mich stehen diese Tatsachen fest.«
»Für mich auch!« bekräftigte der Engländer. »Nur noch eine Frage, Mr. Isenbrandt. Zu welchem Zweck wurde diese göttlichste aller Komödien in Szene gesetzt?«
»Die Erklärung ist einfach. China ist schweren inneren Erschütterungen ausgesetzt, wenn der Tod des Kaisers bekannt wird, bevor eine kräftige Faust die Zügel der Regierung fest in den Händen hat. Vergessen Sie nicht, der todbringende Schuß wurde von der Hand eines Republikaners, eines Südchinesen, abgefeuert. Die Herrschaft des Kaisers war zu jung, der Einheitsgedanke noch nicht allgemein genug geworden. Ehrgeizige Machthaber der früheren Zeit sind noch am Leben, ihre Hoffnungen nicht begraben. Alles dessen ist sich der Schanti bewußt. Ich kenne den Mann! Sein Ehrgeiz ist unermeßlich. Er war in jeder Beziehung die rechte Hand des verstorbenen Kaisers. Mein Interesse hat sich ihm deshalb besonders zugewandt, weil er gerade unseren Unternehmungen vom Kaiser als Gegenpart an der chinesischen Westgrenze entgegengestellt war. In mancher Beziehung ist der Schanti vielleicht sogar vorausschauender und großzügiger, als es der tote Kaiser gewesen. Mit Entsetzen wird einst die weiße Welt seine furchtbare Gegnerschaft erkennen.«
Georg Isenbrandt schwieg. Zum Zeichen, daß er nicht gewillt sei, noch weitere Erklärungen zu geben, nahm er auf seinem Stuhl Platz. Wie in Erz gegossen lehnte er ruhig in seinem Sessel, unbewegt von den vielen fragend auf ihn gerichteten Blicken.
Wieder ein Durcheinander von Reden und Gegenreden. Dann der Präsident:
»Meine Herren! Mag der Kaiser oder der Regent in China herrschen. Ich für meine Person bin geneigt, den überraschenden, aber gutbegründeten Mitteilungen des Herrn Isenbrandt Glauben zu schenken. Aber ich kann nicht glauben; daß eine neue chinesische Regierung nicht die von der alten unterzeichneten Verträge halten sollte. – Der Spruch des Schiedsgerichts ist bestimmt in kurzer Zeit zu erwarten. Wir müssen ihn abwarten, bis dahin die Grenzen respektieren. Ich bitte die Herren, die meiner Meinung sind, aufzustehen.«
Die bei weitem größere Anzahl der Anwesenden erhob sich. Isenbrandt war überstimmt.
»Cowards!« murmelte der Engländer, der sitzengeblieben war. »Auf die Manier hätten wir das englische Weltreich nie zusammengebracht.«
Der Basar in Wierny zeigte unter dem Einfluß der Festlichkeiten ein besonders lebensvolles Bild. Seit Menschengedenken hatten die Kaufleute, die hier mit den Erzeugnissen Asiens handelten, nicht solchen Umsatz gehabt. Fast jeder Bewohner glaubte, von hier ein Andenken mitnehmen zu müssen.
In buntem Strom zogen Fremde und Einheimische durch die schmale Basargasse.
Vor einer Auslage mit seinem chinesischen Porzellan stand Helen Garvin mit ihrer Freundin Florence.
»O sieh, Florence, da, die wundervollen, zarten Muster! Noch schöner als die von Kaschgar, die mir Pa in einer bösen Laune verdarb.«
»Noch nicht genug, Helen? Du kaufst ja, als ob du eine Ausstattung kaufen müßtest. Dein armer Diener keucht bereits unter seiner Last. Kann dein Vater so böse werden, daß er … das Eigentum seines Lieblings zerschlägt?«
»Ach, Florence, nur dann, wenn der Name Wellington Fox fällt. Dann kann er sehr, sehr böse werden.«
»Wer ruft hier Wellington Fox?« klang es hinter ihnen.
»Ach … du? … Sie?« … Mit einem kleinen Schrei drehte Helen Garvin sich um.
»Sie? … Herr Fox! … Wenn man den Fuchs ruft, sitzt er hinter der Hecke.«
Mit einem freundlichen Lächeln begrüßte Florence Dewey den Journalisten.
»Es bedarf wohl keiner Vorstellung mehr, meine Gnädige. Miß Helen wird Ihnen von mir erzählt haben, wie sie mir von Ihnen sprach. Sie werden es mir nicht übelnehmen, wenn ich die Gelegenheit benutze, einige Worte mit Miß Helen zu sprechen. Über das Prekäre unserer Lage dürften Sie wohl genügend unterrichtet sein.«
»Oh, sehr wohl, Mr. Fox. Meine Sympathien sind ganz bei Ihnen beiden. Doch ich glaube, aus den paar Worten werden viele werden. Du wirst verzeihen, liebe Helen, wenn ich mich eine Weile entferne. Am Ende der Straße sahen wir einen kleinen stillen Park. Dort kannst du mich später wiedertreffen.«
Mit flüchtigen Schritten eilte Florence ihrem Ziele zu. Tief aufatmend trat sie in das kühle Grün. Die Stille, die in dem parkartigen Garten herrschte, legte sich beruhigend auf ihr erregtes Herz. Das Liebesglück der Freundin hatte die alten Wunden ihrer Seele schmerzlich berührt.
In einem stillen Seitenweg fand sie eine Bank, auf der sie sich niederließ. Seltsame Schauer liefen über ihr Herz.
Kämpfen um das Glück? fragte sie sich bang. Ein leises, aufschluchzendes Stöhnen kam aus ihrer Brust.
War’s nicht auch der tiefverwundete Stolz der Florence Dewey gewesen, der ihr den letzten Brief an Averil Lowdale diktierte? Sie suchte in den verstecktesten Falten ihres Herzens.
Nein! Der Spiegel ihrer Seele war rein. Die Liebe zu Averil war größer als alles gewesen.
Sie schloß die Augen und versank in unruhiges Träumen … Plötzlich war’s ihr, als sei ein Schatten vor sie getreten. Noch zögerte sie, die Augen zu erheben, da klang das Wort »Florence« an ihr Ohr.
Mit einem leichten Aufschrei taumelte sie empor. Ihre Hände griffen an die Schläfen.
»Averil!«
Halb ohnmächtig sank sie auf die Bank zurück, die Arme wie zur Abwehr von sich gestreckt.
»Ich bin’s, Florence.«
»Nein! … Nein, Averil! Laß mich gehen, gehe fort!«
Ein tödlicher Schrecken klang aus ihren Worten.
»Oh, sei nicht so grausam, Florence. Höre mich an … was tat ich, daß du meine Liebe zurückwiesest? … Soll ich büßen, was mein Vater dir antat? Florence, bei der Erinnerung an die seligen Stunden unseres Glücks … war es Wahrheit, was du in deinem Brief schriebst … oder war es gekränkter Stolz, der dich so schreiben ließ? Sprich, Florence! Antworte mit!«
Er beugte sich nieder und berührte ihre Hand. Sie zuckte vom Kopf bis zu den Fußspitzen. Sie sah ihn an mit weitgeöffneten Augen. Dann senkte sie die Lider.
»Averil!«
Sie hatte den Namen kaum hörbar geflüstert, und doch lag in diesem sterbenden Hauch aus den bleichen Lippen mehr als in dem lautesten Schrei.
Mit der Berührung ihrer Hände schien sie sich umgewandelt zu haben. Jedes Hemmnis sank auf den Grund, verschwand in endlosem Dunkel. Eine Vorstellung des Glücks glitt durch ihre Seele, ein unbeschreibliches Lächeln ging über ihre Züge. Rückhaltlos gab sie sich in diesem einen hingehauchten Wort.
»Florence!«
Averil kniete nieder und küßte die Hände, die sie ihm willenlos überließ.
»Kann Liebe so grausam sein?«
Ein Wunsch schien sich in ihr zu regen, den sie nicht ausdrücken konnte. Mit zager Bewegung nahm sie seinen Arm und legte ihn um ihren Hals … schlang ihre Arme um seinen Nacken. Da zog er sie an sich und küßte sie auf ihren Mund.
»Alles ist versunken … alles ist verschwunden. Nur unsere Liebe ist geblieben … Daß ich ihn je wieder küssen würde, deinen süßen, reinen Mund!«
Ein Schauer rann durch ihre Glieder.
»Das ist er nicht mehr … der reine Mund«, sagte sie mit leisem Klagelaut.
»Florence! Du …«
Averil war aufgesprungen. Keuchend kamen die Worte aus seiner Brust.
»Willst du mich wieder aus dem höchsten Himmel in die tiefste Hölle stürzen?«
Er stand da … in dem gebrochenen Schatten des Baumes, jeder Kraft beraubt … verirrt wie in einer Wüste.
Florence hatte das Gesicht in den Händen vergraben …
Der Kies knirschte unter einem Schritt.
Mit jähem Ruck blickte sie auf.
»Du willst gehen? … Ja, gehe … gehe. Es ist zu spät, zu spät. Ich bin einem anderen versprochen!«
Sie taumelte und wäre zu Boden gestürzt, hätte er sie nicht in seinen Armen aufgefangen.
»Florence! Es ist nicht wahr. Ich bitte dich, sprich!«
Er schrie es fast. Zitternd lag Florence an seiner Brust. Ihre Zähne schlugen aufeinander. Ihr war, als versänke sie in einem eisigen Strom.
Da fühlte er die Wahrheit. Es war kein leeres Wort, das in sein Ohr geklungen.
Regungslos stand er, sog mit bebenden Atemzügen den Luftstrom ein und starrte in den weiten Raum. Zerbrochen, zerschellt lag alles am Boden.
»Du liebst ihn … den anderen? … Nein! Du liebst ihn nicht … Kannst ihn nicht lieben. Und doch willst du ihm folgen! … Und ich?«
Er löste ihre Arme und drängte sie zurück.
»Und ich? … Ich soll zugrunde gehen?!«
»Averil!«
Flehend kam es von ihren Lippen. Alle Kraft schien von ihr gewichen. Schwach und gebrochen sank sie auf der Bank zusammen.
Unendliches Mitleid wogte im Herzen Averils. Er hätte sie in seine Arme nehmen, sie trösten, sie hegen mögen. Und trotzdem bewegte er sich nicht, sprach er nicht, machte er keinen Versuch, diese Qual zu kürzen, an der sie beide litten.
Der Klang einer Glocke, der aus weiter Ferne zu ihm drang, ließ ihn aus seiner Erstarrung erwachen. Er hob die Hand und fuhr ihr mit linder Bewegung über das Haar, die Wange, das Kinn. Und als ob diese Hand ihr das Herz zerspalte, brach sie in haltloses Schluchzen aus.
Er setzte sich zu ihr, hob ihr tränenüberströmtes Gesicht und legte es an seine Brust.
»Erzähle, Florence!«
Mit schmerzlicher Anstrengung entwand sie sich seinen Armen.
»Averil …«
Ihre bebenden Lippen suchten vergeblich nach Worten.
»Wenn ich dir weh tat, Florence, verzeihe mir!«
Averil versuchte ihre Hand zu nehmen, sie durch die Berührung zu beruhigen.
Da plötzlich erhob sie den Kopf. Ihre Augen blickten mit totenhafter Starrheit ins Weite, als sähen sie etwas, was nicht da war. Ihre trockenen Lippen begannen zu sprechen.
»Ich war krank … ich hatte nur den einen Wunsch zu sterben, um die Qual zu kürzen. Ich hatte dich von mir gewiesen und sah und dachte nichts anderes als dich. Du warst in mir, wie eine Qual … ein Feuer … ein Wahnsinn … Ein mexikanischer Geschäftsfreund meines Vaters besuchte uns. Ich kannte Don Manuel Oregon seit meiner frühesten Jugend. Oft hatte ihn mein Vater als meinen ältesten und treuesten Verehrer geneckt … Ich sah in ihm nie mehr als einen liebevollen väterlichen Freund. Es war kurz vor meiner Abreise mit Helen Garvin … Er warb um mich … Er sah meine Seelennot und schaute hinein in mein zuckendes, sich abringendes Herz, als ob es offen vor seinen Blicken läge. Er nahm meine Hände und sprach liebevoll … demütig zu mir. Und doch lag in seinen Worten der Wille und die Kraft, mich zu befreien … mir das Glück zu geben, für das mein Herz noch Raum bot. Und … ich gab ihm meine Hand.«
»Und du wirst ihm folgen … diesem Manne? … Liebelos?«
Alles heiße Wünschen, alle Leidenschaft, Empörung und Klage sprach aus Averils Worten.
»Florence, ich lasse dich nicht. Mein bist du allen zum Trotz. Dir selbst zum Trotz!«
Er preßte sie an sich und küßte auf ihre Augen, ihre Stirn, küßte die Tränenspur auf ihren Wangen und verschloß die widerstrebenden Lippen mit glühenden Küssen.
Sie versuchte ihn zu beruhigen, sich loszumachen. Gewaltsam befreite sie sich aus seinen Armen, sprang von der Bank empor und wich vor ihm zurück.
»Sei gut zu mir, Averil! Schone mich. Es kann nicht sein … Du mußt nun gehen, vergiß mich!«
»Ich dich vergessen? … Ich gehen, wo ich weiß, du liebst mich … liebst mich noch!«
»Ja, Averil! … Gehe, ich bitte dich. Was uns damals trennte, trennt uns heute auch.«
»Und weißt du, wohin du mich schickst? Ich gehe zugrunde ohne dich! … Florence!«
Seine Augen rangen mit ihr in stummer Verzweiflung. Da schritt sie auf ihn zu und legte die Hände auf seine Schultern.
»Averil! Ich habe dich lieb … bis in den Tod.«
Eine schmerzlich-selige Milde lag auf ihrem Gesicht.
»Wenn meine Liebe dich bittet, zu gehen, wirst du es tun?«
Ein Beben ging durch die Gestalt des Mannes. Alles Blut wich aus seinem Gesicht. Kaum verständlich, nur ein rauhes Flüstern war sein: »Leb wohl!«
Kaum hatte Wellington Fox seinen Namen genannt, als ihn der Diener in das Arbeitszimmer Garvins führte. Ein großes, von angenehmer Kühle durchwehtes Gemach. Schwere Vorhänge verhüllten die Fenster und schufen ein leichtes Dämmerlicht.
An einem kleinen Schreibtisch saß Francis Garvin, von Kopf bis zu Fuß in blendendes Weiß gekleidet. Das Gesicht verschlossen und eisig kühl.
Mit einem kurzen Kopfnicken beantwortete er die achtungsvolle Verbeugung von Fox. Noch ehe dieser auf einem Sessel Platz genommen hatte, begann er die Unterhaltung.
»Ich habe Sie zu einer Unterredung gebeten, um Ihnen das mündlich zu sagen, was Sie sich bei einiger Überlegung selbst hätten sagen können.«
Er hielt einen Augenblick inne. Seine harten, grauen Augen sahen Fox durchdringend an.
»Daß ich meine Einwilligung zu einer Verbindung zwischen Ihnen und meiner Tochter Helen nicht geben werde.«
Fox nickte leicht zustimmend.
»Sehr wohl, Mr. Garvin. Ich habe darüber keinen Zweifel gehabt.«
Garvins Brauen zuckten fragend empor.
»Dann darf ich wohl fragen, weshalb Sie sich meiner Tochter Helen in so unzarter Weise genähert haben? Helen ist ein Kind. Sie haben eine schwere Schuld auf sich geladen, als sie Helens Dankbarkeit für die Errettung aus dem Schneesturm in einer Weise … in einer Weise ausnutzten, die den Seelenfrieden meines Kindes tief stören muß.«
Wellington Fox schlug behaglich ein Bein über das andere und lehnte sich bequem in seinen Sessel zurück.
»Ihr Vorwurf trifft mich nicht, Mr. Garvin. Zunächst ist Helen kein Kind mehr. Sie ist seit einem Jahr volljährig. Ihre Einwilligung zu unserer Verbindung ist daher ohne Belang. Wenn Helens Natur viel von der Unbefangenheit und Fröhlichkeit eines Kindes behalten hat, so sehe ich darin ein Geschenk Gottes, für das ich ihm von ganzem Herzen dankbar bin … aber Ihre Einwilligung … die brauche ich nicht, Mr. Garvin.«
Es schien einen Augenblick, als wolle Garvin aufspringen, um dem unverschämten Gast die Tür zu weisen. Doch er beherrschte sich schnell. Seine stahlharten Augen bohrten sich drohend in das gleichmütige Gesicht Wellingtons. Er schluckte einige Male. Bevor er reden konnte, sprach Fox mit unerschütterlicher Ruhe weiter:
»Ich bin Ihrer Einladung gefolgt, weil ich mich, wenn irgend möglich, mit dem Vater meiner Frau gut stellen möchte.«
Francis Garvin lehnte sich tiefatmend in seinen Stuhl zurück. Er preßte die Hände ineinander und schaute zur Decke empor. Seine Züge blieben unbewegt, und doch sah man an dem Flackern der Augen, wie schwer der Kampf war, der in ihm tobte.
Wellington Fox sah mit einem gewissen Mitleid auf den Vater Helens.
Armer alter Kerl, dachte er bei sich, meine letzten Worte haben dir den Knockout gegeben.
Francis Garvin sprach: »Sie wollen also, Mr. Fox, ohne meine Einwilligung eine Ehe mit Helen eingehen?«
»Das zweite ganz gewiß. Ob auch das erstere, hängt von Ihnen ab.«
»Haben Sie auch darüber nachgedacht, wie sie Helen standesgemäß ernähren und kleiden werden? Ich taxiere, daß Helens Hutbudget Ihr Jahresgehalt beträchtlich übersteigt.«
Wellington Fox zuckte die Achseln. Während er mit seiner Antwort zögerte, ging es ihm klar durch den Kopf: Aha, alter Freund! Dein Widerstand läßt nach. Es fällt dir nur zu schwer, dich offen geschlagen zu bekennen.
Dann sprach er: »Den Luxus von Garvins Palace Helen zu bieten, bin ich selbstverständlich nicht in der Lage. Doch mein Einkommen genügt durchaus, einer Frau ein behagliches, glückliches Heim zu bieten, die ihre Ansprüche nicht allzu hoch stellt, die sich zu schicken weiß …«
»Glück ist in der kleinsten Hütte«, warf Garvin ein, doch der Hohn, der darin liegen sollte, war matt.
»Unser zukünftiges Heim wird im Vergleich zu Garvins Palace eine Hütte sein, gewiß, Mr. Garvin. Aber es stände schlimm um die Menschheit, wenn das Glück nur in den Schlössern der Reichen zu finden wäre.«
Francis Garvin machte eine wegwerfende Gebärde.
»Verliebte Leute sehen den Himmel voller Geigen. Der Katzenjammer bleibt nicht aus. Ich will mein Kind davor bewahren. Ich möchte unsere Unterredung damit beenden, Mr. Fox, daß ich Ihnen für Ihre aufopfernde Tat bei der Rettung Helens meinen herzlichsten Dank ausspreche. Ich wollte Sie zum Besitzer der Chikago-Preß machen, um meinen Dank auch tatkräftig zum Ausdruck zu bringen. Sie haben mein Angebot zurückgewiesen. Wir sind quitt!«
»Ich nicht!«
Wie ein Wirbelwind war ein weißes Etwas aus dem Nebenzimmer hereingeflattert. Mr. Garvin war plötzlich unter einer Wolke von hellem Batist verschwunden.
Ein Flüstern und Raunen, so zärtlich, so innig, drang an das Ohr von Fox, daß er die Zähne aufeinanderbeißen mußte, um seine Bewegung zu unterdrücken. Er sah den grauen Kopf Garvins über Helens blonde Locken gebeugt, sah, wie dessen Arme sein Kind fest umschlossen, und verließ leise das Zimmer.
Im Vorraum schritt er ruhelos auf und ab. Tausend Ideen schossen durch sein Hirn. Eine Welt von Feinden wünschte er zu haben, nur um Helen schützen zu können. Knirschend preßten sich seine Zähne auseinander, seine Fäuste ballten sich gegen andere noch unsichtbare Fäuste.
Alle Strafen des Himmels und der Hölle mögen mich treffen, wenn ich dich, mein Liebling, nicht ehren und schützen werde bis zum letzten Atemzug.
Und dann ging es ihm plötzlich wie Mr. Garvin. Wie durch einen Schleier sahen seine Augen eine weiße Gestalt auf sich zueilen. Zwei liebevolle Arme umschlossen seinen Hals, und ein tränenüberströmtes Gesichtchen lehnte sich an seine Brust.
Ein Stammeln … ein Weinen … ein Lachen.
»Wie glücklich bin ich, Wellington!«
Nach einer Weile drang die Stimme Garvins in den stillen Raum.
»Mr. Fox, Sie haben gesiegt. Helens Wille war stärker als der meine … Es fällt einem alten Mann schwer, sein einziges Kind … sein alles wegzugeben … Ich werde alt, ihr müßt Geduld mit mir haben … Der Gedanke quält mich, daß Helen in den veränderten Verhältnissen ihres neuen Lebens doch gar manches Liebgewonnene aus dem Vaterhaus vermissen wird …
Ich bitte Sie, Mr. Fox, mir zu erlauben, Ihre Stellung in irgendeiner Weise zu verbessern. Der Gedanke ist mir unerträglich, daß … Mr. Fox, Sie dürfen nicht weiter ein einfacher Berichterstatter bleiben … Ich werde Ihnen entsprechende, ich hoffe, Ihnen auch zusagende Vorschläge machen. Sie müssen Ihre Position verbessern.«
Francis Garvin war bei den letzten Worten auf Wellington Fox zugetreten und drückte ihm die Hände. Wellington Fox hatte seine volle Selbstbeherrschung wiedergewonnen.
»Daß Sie mir Ihre Helen nicht gern geben, weiß ich … will es Ihnen auch nicht verdenken, obwohl Sie als freier Amerikaner von den Vorurteilen von Rang und Reichtum unabhängiger sein sollten. Meine Position zu verbessern? … Ich habe schon lange daran gedacht … und daran gearbeitet. Ich kenne das alte Wort, daß man bei der Presse alles werden kann, vorausgesetzt, daß man nicht dabei bleibt. Unsere Wünsche begegnen sich also. Doch die Vorschläge für eine Verbesserung überlassen Sie, bitte, mir. Ich habe ein Geschäft im Auge … ein Geschäft? … Nein! … Mein Geschäftssinn ist alle Zeit schwach genug gewesen, Gott sei’s geklagt.
Ein Werk … Eine große Tat habe ich vor. Zur Ausführung gehört Geld … viel Geld. So viel, wie vielleicht auch Sie nicht haben. Aber das Werk wird gelingen, und das Geld wird hundertfache Zinsen bringen. Wenn die Zeit gekommen ist … bald … sehr bald wird sie kommen … werde ich Ihnen meine Pläne entwickeln, werde Ihnen das Geschäft antragen.«
Francis Garvin hatte der langen Rede ruhig zugehört. Nun sprach er: »Ihre Hoffnungen nehmen einen kühnen Flug, Mr. Fox. Sie gestatten, daß ich Ihrem Geschäftssinn, den Sie selbst als schwach bezeichneten, sehr skeptisch gegenüberstehe.«
»Ich nehme es Ihnen nicht übel, Mr. Garvin. Sie haben mich bisher nur als einfachen Journalisten kennengelernt. Sie wissen nichts … weniger als nichts von meinen sonstigen Plänen und … Unternehmungen, Mr. Garvin.«
»Unternehmungen?«
Fragend und zweifelnd war das eine Wort von den Lippen Garvins gekommen.
»Unternehmungen, Mr. Garvin. Sie werden anders von mir denken, wenn einige Wochen ins Land gegangen sind. Ich möchte Sie bitten, Mr. Garvin, meine Verlobung mit Helen nicht vor dem August bekanntzugeben.«
Verwundert und fragend blickte Francis Garvin auf Fox. Eben erst hatte der mit Gewalt seine Verlobung durchgesetzt, hatte den Widerstand des Vaters gebrochen, und jetzt bat er selbst, diese so mühsam erkämpfte Verlobung bis zum August noch geheimzuhalten.
»Ich verstehe Sie nicht, Mr. Fox.«
»In wenigen Wochen werden Sie mich um so besser verstehen. Sie werden dann, das hoffe ich sicher, die Veröffentlichung unserer Verlobung nicht mehr wie jetzt unter Bedenken und Zweifeln, sondern mit willigem Herzen vornehmen. Sie werden an diesem Tage wissen, Mr. Garvin, daß der Verlobte Ihrer Tochter etwas mehr ist als der einfache Berichterstatter, für den Sie ihn jetzt nehmen … für den die Welt ihn vorläufig noch nehmen muß.«
Georg Isenbrandt befand sich in seiner Station zu Wierny. Seit jener letzten Sitzung des Direktoriums der E. S. C., seitdem die maßgebenden Herren der E. S. C. den Beschluß gefaßt hatten, den Spruch des Schiedsgerichtes abzuwarten, die strittige Ilifrage bis dahin in der Schwebe zu lassen, war er in gedrückter Stimmung.
Die Ereignisse des heutigen Tages waren in ihrer Gesamtheit nicht geeignet, einen Stimmungsumschwung bei ihm hervorzurufen. Zwar der Vormittag hatte ihm eine große, kaum erwartete Freude gebracht: Ein Telegramm in verabredeter Sprache von Wellington Fox. Georg Isenbrandt hatte es Wort für Wort dechiffriert, hatte tiefaufatmend die gute Nachricht gelesen, daß der treue Fox die Vermißten, Theodor Witthusen und Maria Feodorowna, in Urga entdeckt habe. Das Telegramm war nur kurz. Die erste knappe Nachricht von der glücklichen Entdeckung des Aufenthaltes der Vermißten. Wer aber Wellington Fox und seine Art so genau kannte wie Georg Isenbrandt, der konnte noch mancherlei zwischen den Zeilen herauslesen.
Nun beschäftigte Isenbrandt eine ganze Reihe von Fragen. In wessen Gewalt waren die Verschleppten? Wie wurden sie gehalten? Würde es Fox gelingen, mit ihnen in Verbindung zu treten? Würde es ihm glücken, sie zu befreien?
Die wenigen Worte des Telegramms klangen zuversichtlich. Isenbrandt kannte Fox als einen entschlossenen, tatkräftigen Mann, dem in kritischen Lagen auch List und Erfindung in weitgehendem Maße zu Gebote standen. So durfte er wohl hoffen, daß Wellington Fox bald weitere gute Nachrichten senden würde, und jenes Telegramm aus Urga wäre wohl geeignet gewesen, die Stimmung Isenbrandts zu heben.
Aber andere Nachrichten waren geeignet, sie wieder hinabzudrücken. Seit zwölf Stunden liefen unaufhörlich Hochwassermeldungen aus dem oberen Ilital bei seiner Station ein. Von Stunde zu Stunde stiegen die Zuflüsse des Stroms aus dem chinesischen Gebiete. Das ganze Quellgebiet des Flusses schien in Aufruhr geraten zu sein.
Die Sonne sank hinter die Berge. Dämmerung schlich durch den Raum, in dem Georg Isenbrandt an seinem Arbeitstische saß. Der Telegraphenapparat zu seiner Rechten begann zu ticken. Neue Meldungen von der Terekstation.
Die Vermutung, die ihm schon in den Nachmittagstunden durch den Kopf gegangen war, wurde jetzt zur Gewißheit. Das war nicht mehr ein zufälliges Naturereignis. Gewiß war im Frühjahr mit vorübergehendem Hochwasser zu rechnen. Aber die Wassermengen, die hier von allen Seiten des Quellgebietes gemeldet wurden, überstiegen das normal zu Erwartende in einer gewaltigen und unerklärlichen Weise.
Er verband sich direkt mit der Station von Terek. Dort hatte er den gewaltigen Staudamm anlegen lassen, um plötzlich einbrechende Wassermengen sicher auffangen und speichern zu können. Durch die Unfähigkeit eines Bauleiters hatten die Arbeiten sich stark verzögert. Erst in den letzten Wochen hatte Georg Isenbrandt mit eiserner Hand dazwischengegriffen, hatte die tüchtigsten Ingenieure an diese Stelle gesetzt und die Vollendung des riesigen Betondammes mit allen Mitteln betrieben.
Erst gestern hatte er die Baustelle besucht. Der Damm war jetzt fertig. Aber die letzten Teile der gewaltigen bergehohen Staumauer waren erst vor 48 Stunden in die Holzformen eingestampft worden. Diese Zeit war viel zu kurz, um den Beton schon erhärten zu lassen. Kamen jetzt plötzlich die schwersten Hochwasser, preßten die gestauten Mengen mit vollem Druck auf den noch frischen Teil der Mauer, so war ein Dammbruch, eine schwere Katastrophe zu gewärtigen.
Er fragte durch den Apparat und erschrak über die Antwort. Das Wasser schon zwei Meter unter dem frischgestampften Teile. Stieg die Flut in dem bisherigen Tempo weiter, mußte sie in kürzester Zeit die frischen Teile erreichen, und dann begann die schwere Gefahr.
Georg Isenbrandt sprang auf und lief unruhig im Raume hin und her. Einen Augenblick erwog er den Gedanken, selbst nach der Terekstation zu fahren, um ihn dann sofort wieder zu verwerfen. Etwas anderes … etwas Größeres mußte geschehen. Während er hin und her wanderte, fiel sein Blick auf die Apparatur, in der ihm neulich das Helium erstarrt war. Da … greifbar vor ihm lag das Mittel, alles zu verhindern, was er befürchtete. Mußte er es nicht auf jeden Fall anwenden? Ganz abgesehen von dem gewaltigen, mit Sicherheit zu erwartenden Materialschaden – waren nicht auch Hunderte von Menschenleben auf das schwerste bedroht, wenn die Hochwasser des Dammes von Terek Herr wurden?
Die Verantwortung war fürchterlich schwer. Ruhelos lief er durch den Raum.
Was tun? Was waren die Menschenleben, und wären es auch Hunderte, gegen die Tausende und aber Tausende, die ihr Leben lassen mußten, wenn er sein Spiel zu früh aufdeckte? Dann war alle Wirkung seiner wohldurchdachten Pläne verloren.
Das Mittel einmal anwenden, hieß eine vollkommen veränderte Lage schaffen, hieß die besten Waffen vorzeitig schartig werden lassen.
Einen Ausweg! Das Übel kam von den chinesischen Bergen … Das Unheil an der Quelle verstopfen … Sollte das möglich sein, ohne das Geheimnis preiszugeben?
Vielleicht! … Fox war der einzige, der außer ihm um das Mittel wußte. Wäre er hier, wäre es leicht auszuführen gewesen. Wen jetzt senden? … Wen einweihen? …
Der alte Schmelzmeister Franke trat ein. Der hauste jetzt seit einigen Wochen unten am Balkaschsee. Er kam, um sich Instruktionen zu holen. Die gewaltigen Wassermengen, die der Ili seit zwölf Stunden in den See trug, beeinflußten dort die Dampfentwicklung. Der Alte wollte wissen, ob neues Dynotherm in den See gegeben werden solle. Er meldete, daß die Rohrhorste am südlichen Seeufer schon zum Teil überflutet seien, und er fluchte grimmig auf die Gelben. Ebenso fest wie Isenbrandt war er davon überzeugt, daß diese plötzliche Flut nur auf Schmelzungen im chinesischen Iligebiet zurückzuführen sei.
Schon immer hatte er ihnen einen solchen Streich zugetraut. Es war ja bekannt, daß auch die Gelben über große Dynothermvorräte verfügten, wenn sie auch das neueste Präparat Isenbrandts noch nicht besaßen. Seit langem puderten sie auf ihren Bergkämmen herum. Bisher war das aber immer nur in kleinem Maßstabe geschehen und immer so, daß die erschmolzenen Wassermengen den chinesischen Strömen zugute kamen und die Nachbarn jenseits der Grenze nicht gefährdeten.
Isenbrandt war noch im Zweifel, ob das Unheil mit Absicht verursacht oder ob es durch einen unglücklichen Zufall, durch eine unvorsichtige Dosierung des Schmelzpulvers hervorgerufen worden sei. Der alte Franke war unerschütterlich davon überzeugt, daß es ein purer Schabernack der Gelben sei.
Isenbrandt unterbrach den Redefluß des Schmelzmeisters:
»Ob der Damm noch zu retten sein wird, ist fraglich. Aber die Möglichkeit besteht, den Schrecken zu kürzen, die Zeit der Furcht und der Gefahr zu verkleinern.«
Verständnislos blickte ihn der Alte an.
»Wie sollte das möglich sein, Herr Isenbrandt? Die Gelben haben in ihren Bergen gepudert. Das ist mir absolut klar … und da muß es im Laufe der nächsten Stunden und Tage doch immer noch schlimmer werden.«