Читать книгу Gesammelte Werke: Science-Fiction-Romane + Abenteuerromane + Erzählungen - Dominik Hans - Страница 12

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Die Schulreiterin … sie stockte … was war’s, was ihn zu dieser Frau zog? War’s auch hier nur der Trieb der Sinne? Nein! Hier schien es mehr zu sein. Durch einen Zufall war sie auf die Spur gekommen, war ihr nachgegangen. Sie hatte zurückgeführt bis zum Kanal.

In der gleichen Zeit, in der er in ihr Leben brach, hatte er auch jene umworben. Umworben? Ja! Hier war’s Werben, Werben um mehr als das jugendschöne Mädchen. Gefühlsmäßig hatte sie das erfaßt. Ein Hieb für ihren Stolz, für ihr Selbstbewußtsein.

Und dann hatte sie dieses Mädchen gesehen … im Zirkus in Kapstadt, und Hass und Neid hatten ihre Hand geführt, hatten sie jene Rosen schleudern lassen, die die andere zum Sturz brachten. Im letzten Augenblick wollte ihre Hand zurück, aber der Wurf war geschehen … und dann war Tredrup gekommen. Zu spät! Hätte sie ihn nur früher gesehen!

Alte, verborgene Wunden rissen damals wieder auf. Die Szene im Park in Kapstadt stand greifbar vor ihren Augen. Hätte er ihn nicht gesehen, den verhängnisvollen Wurf! Die Stunden des reinen Glücks, die sie mit ihm verlebt, waren in Sekundenschnelle an ihr vorübergegangen; ein reines Gefühl war in ihr aufgewallt, das sie zu ihm hinzog.

Da stellte der Mann die Frage, die sie zur Lüge zwang, zur Lüge, die mehr als alles andere sie für immer von ihm schied.

Ihre Hände sanken schlaff auf die Decke zurück. Unaufhaltsam liefen zwei Tränen über die blassen Wangen. Zu spät! Immer zu spät!

Erregt schleuderte sie die Decke zurück, sprang auf und eilte aus dem Raum.

Weg mit den Gedanken! Den Erinnerungen! Ablenkung! Was anderes!

Da! Der Fernseher! Mechanisch betätigte sie ihn. Eine Weile stand sie … hörte und sah mit halben Sinnen.

Immer wieder der Kanal?

Da! Ihre Augen weiteten sich. Was vernahmen sie? Der ganze Isthmus erschüttert … in fürchterlichen Erdbeben, die alles vernichteten … die Zahl der Todesopfer ungeheuer … der Golfstrom … Europa … Sie schaltete den Apparat ab.

Sein Werk! Mein Werk!

Wie eine Irre stürzte sie aus dem Haus in den Park. Wie eine Irre jagte sie durch seine verschlungenen Wege … weiter … immer weiter dem Ausgang zu. Das große eiserne Tor war verschlossen. Ihre Hände umkrampften es, rissen an ihm.

»Mörderin! Mörderin!« gellte es aus ihrem Munde.

Sie sah es nicht, wie ein Kraftwagen vor dem Tor halt machte, Guy Rouse ihm entstieg, auf das Tor zuschritt und es aufschloß.

»Juanita!«

Der Name, von seinem Munde gerufen, brachte sie zum Bewußtsein.

Mit wirren Augen sah sie um sich, fühlte, wie er sie umfaßt hielt, zum Wagen führte, bis in das Haus brachte, zu dem Ruhebett geleitete.

Und da saß er neben ihr und hielt ihre Hand und streichelte ihr Gesicht und sprach zu ihr. Den Kopf dicht an ihrem Gesicht. Und wie wenn ein Zauberer neben ihr säße, wandelte sich alles in ihrer Seele … bis die Schreckensbilder verflogen, bis sie wieder das Wachs wurde, das er in seinen Händen knetete. Bis ihr die Sprache wiederkam. Und dann sprach er immer wieder zu ihr. Ihre Sinne wurden schärfer von Satz zu Satz.

Er brauchte sie wieder … sein Werkzeug.

»Ich fahre fort von hier, Juanita. Nur ein paar Stunden noch kann ich bleiben. Fort aus den Staaten! Längst hätte ich sie hinter mir, wenn ich nicht dich noch hätte sprechen müssen.«

Eine kurze Freude war ihr der Gedanke, mit ihm wegzugehen, zu fliehen.

»Du mußt bleiben, Juanita! Für mich wirken … arbeiten … nicht hier in den Bergen, du mußt nach Washington. Spätestens morgen.«

Mit abwehrenden Händen hatte sie sich weggewandt.

»Nein! Nein! Nimm mich mit. Ich kann nicht mehr …«

»Doch, Juanita! Du wirst bleiben, du wirst stark sein. Du mußt tun, was geschehen muß.«

Und dann brachte er den Mund ganz nahe an ihr Ohr und sprach zu ihr.

Von James Smith, den man verhaftet hatte, sprach er, von der kommenden Gerichtsverhandlung, von den Aussagen des verhafteten Chefingenieurs vor den Richtern, sprach von seiner Angst, daß dieser unter dem Druck des Geschehenen schwach werden könne … sagte, wie sie zu Smith eilen müsse, mit ihm reden, ihn festhalten in dem Rausch, daß er standhaft blieb … ein Zufall war’s gewesen, der alle Minen gleichzeitig zur Explosion brachte …

Und sie sank unter seinen Worten zusammen … ihr Leib wand sich wie unter martervollen Mißhandlungen. Ihre Seele schrie unablässig nein!

Nein … zuviel! Zuviel! Die gerungenen Hände streckten sich ihm entgegen in tiefster Qual. Er griff sie, und die zusammengekrampften Finger lösten sich. Er küßte sie, streichelte sie. Die Augen, die blicken konnten wie die keines anderen Menschen, senkten sich in ihre. Wie eine schwere Decke legte es sich über ihre Stirn.

Er beugte sich über sie. Seine Lippen berührten die ihren. Ein Zucken ging über ihre Gestalt, als wolle sie ihn zurückstoßen. Dann flüsterte sie:

»Ja! Ich werde gehen!«

Mit geschlossenen Augen lag sie da. Er war hinausgegangen. Sie hörte die Tür hinter ihm ins Schloß fallen. Langsam richtete sie sich empor.

Ihre Hand griff zur Brust. Da war es wieder … der Schmerz … der brennende Schmerz.

Ein kurzes Husten erschütterte ihren Leib. Sie führte das Tuch zum Munde, ihn aufzuhalten, den Lebensstrom, der da sich lösen wollte. Mit aller Willenskraft kämpfte sie, sich aufrecht zu halten, und es gelang.

Der Anfall verging.

Langsam schritt sie zum Spiegel! Wie eine Fremde starrte sie das Bild an, das der ihr entgegenwarf. Und dann fiel ihr Blick auf das Taschentuch, das der Spiegel zeigte. Die roten Flecke dann, sie waren wieder da.

Christie Harlessen stand am Kai von Valparaiso. Ihre Augen hingen mit verzehrender Ungeduld an einer Turbinenjacht, die draußen von einer Boje losmachte. Ihr Fuß stampfte ungeduldig auf die Steinplatten.

»Schneller! Schneller!« murmelten ihre Lippen. Sie riß das Glas an die Augen und richtete es auf den Horizont. Da! Da drüben, da fuhren sie … die beiden Simmons-Schiffen mit ihrer kostbaren Kobaltladung. Eben noch hatte sie die Farben der amerikanischen Flagge am Heck der Schiffe erkennen können. Jetzt nicht mehr. Ihre Rechte ballte sich, schlug an die Ledertasche, Papiere knisterten darin.

»Hier hab’ ich sie! Die Dokumente, die die Schiffe, die Ladung in meine Hand geben.«

Ihre Augen flogen zurück zu der Jacht. Diese hatte losgemacht und schob sich langsam durch das Gewirr der großen und kleinen Fahrzeuge.

»Endlich! Endlich, Herr Mönkeberg!«

»Ruhig Blut, mein liebes Fräulein Harlessen.« Das breite, freundliche Gesicht des jungen Hamburgers lachte ihr zu.

»Wir kriegen sie doch noch.« Er reichte ihr die Hand und riß die Springende an Bord.

»Los! Los, Herr Mönkeberg!«

»Immer noch nicht, Fräulein Harlessen. Der Señor da drüben, der Vertreter der heiligen Hermandad, muß auch noch mit.«

»Hallo, Señor! Vamos! Andelante! Los!«

»Sofort! Sofort, Señor.«

Christie sah, wie der sich eben noch eine Zigarette drehte.

»Vorwärts! Los, los!« Christie war auf dem Sprung zum Land zurück.

»Ich bin schon da … schon da, Señorita!«

Tatsächlich kam er endlich in beschleunigtem Tempo an Bord.

»Los!«

Die »Hirundo« drehte vom Kai ab. Langsam ging’s durch das Gewimmel des Hafens.

»Halbe Kraft voraus«, schrie Mönkeberg, der auf der Brücke stand und das Steuer selbst führte. Mit einem Ruck zog die Jacht an.

Schneller, immer schneller schoß ihr Kiel durch die leichte See.

Minuten später, und die letzten Landmarken lagen zurück. Da!

»Volle Kraft voraus!«

Das Summen der Maschinen ging in helles Klingen über. Schneller, immer schneller wurde die Fahrt. Dann, als wenn das Boot Flügel bekäme, fing es an, sich zu heben. Höher … höher … Der Bug schien das Wasser zu verlassen.

»Höchstgeschwindigkeit!« gab Mönkeberg das Kommando. Aus dem Maschinenraum klang’s wie das Spiel höchstgestimmter Saiten. Und dann … ein Gleiten … ein Schweben. Wie ein Schlitten über Schnee fuhr der breite Kiel über das Wasser.

Hirundo … die Schwalbe! Wie das Spiel der Schwalben über dem Wasser war die Fahrt des Gleitbootes. Christie stand neben Mönkeberg.

Das Gesicht des Hamburgers war verwandelt. Verschwunden das behäbige, gemütliche Lächeln. Die Augen starr über den Steven nach vorn, zwei tiefe Falten über der Nasenwurzel, die Lippen zusammengekniffen, die Hände um das Steuer gekrampft. Sportsmann in jeder Faser. Vergessen war alles, was ihn zu dieser Fahrt gebracht.

Nur der eine Gedanke … sie einholen, abfangen vor dem Ziel, der Dreißigmeilengrenze, an der die chilenische Souveränität endete.

Wieviel Knoten? Sein Blick fuhr zum Zeiger des Tachometers.

Neunzig Knoten! Nicht genug! Mehr Druck auf die Turbinen, mehr Kompression in die Gaskammer! Dann … wie ein Stöhnen ging es durch den Schiffskörper; die Maschinen heulten auf. Der Bug hob sich wie zum Sprung.

Christie taumelte zur Rückwand.

Der Vordersteven, hoch aus dem Wasser gehoben, schien, wie von Flügeln getragen, den ganzen Schiffskörper mit sich zu reißen. Kaum daß noch das Heck im Wasser blieb, die Schrauben im Wasser schlugen.

Mönkeberg blickte aufs Tachometer. Er nickte. Achtundneunzig … neunundneunzig … hundert … hundertundeinhalb … Sein Gesicht flog zu Christie herum.

»Eine knappe Viertelstunde, zehn Minuten noch, und wir haben sie …«

Christie starrte hinüber zu den Simmons-Schiffen, jede Faser ihres Körpers bebte.

Bei Tagesgrauen war sie in Valparaiso angekommen … nach einem Eilflug von zwölf Stunden. Ihr erster Schritt war zum Hafen gewesen.

Die beiden Schiffe lagen klar zur Abfahrt.

Sie war an Bord geeilt, hatte mit dem alten Kapitän gesprochen, ihm ihre Papiere, ihre Vollmachten gezeigt. Dieser hatte mit den Achseln gezuckt, sie an den Vertreter der Firma gewiesen. Alle Vorstellungen, alle Bitten waren vergeblich. Das Äußerste, was sie ihm abzuringen vermochte, daß er die Abfahrt um ein paar Stunden verzögern wolle.

Zwei Uhr nachmittags spätestens in See! Am Hafen hatte sie ein Taxi genommen, war zum Konsulat gefahren, hatte lange mit dem Mißtrauen des Konsuls zu kämpfen gehabt, der sie schließlich an die Gerichtsbehörde verwies, einen Anwalt empfahl. Diesen hatte sie aufgesucht. Er war nicht zu Hause, war im Gerichtsgebäude. Dorthin!

Langes Suchen, endlich fand sie ihn. Ein kluger, ein ehrlicher Mann!

Sie gingen zum Richter, trugen die Sachlage vor. Christies Kenntnis der spanischen Sprache erleichterte die Verhandlung.

Der Richter zögerte, konnte oder wollte nicht an den ungeheuren Betrug glauben und lehnte jede gerichtliche Verfügung ohne Anhörung der Gegenseite ab.

Ein Expreßbote wurde geschickt, den Vertreter zu laden. Der war nicht aufzufinden …

Wieder begann der Kampf um einen Gerichtsbeschluß. Ein Funkgespräch mit der Hamburger Stammfirma! Das war die äußerste Konzession des Richters. Die Verbindung versagte … atmosphärische Störungen.

Christie war verzweifelt. Sie ließ den Anwalt bei Gericht zurück und raste im Wagen zum Hafen. Zwei Uhr!

Schon von weitem suchte ihr Blick die Schiffe. Sie hielt am Kai. Von der Stadt her kam der Ton der schlagenden Uhren. Das Herz drohte stillzustehen.

Der Kapitän … würde er? Da! Ja! Die Anker gingen hoch, die Schlepper zogen an. Ein Schrei kam aus Christies Kehle. Ihre Hände streckten sich nach den Schiffen aus, als wollte sie sie halten. Halt!

Halt! Zu spät … zu spät … !

Sie taumelte, wäre fast von der Kaimauer abgestürzt, als eine starke Hand sie faßte.

»Halt, mein Fräulein … Mein Fräulein aus Deutschland … Erst mal selber halt. Viel fehlte nicht, und Sie lägen da unten im Nassen.« Der Klang der deutsch gesprochenen Worte ließ Christie zusammenzucken.

»Ein Deutscher?«

»Hermann Mönkeberg aus Hamburg.«

»Mein Name ist Harlessen. Ich kam hierher, um …«

»Etwa gar Firma Harlessen & Uhlenkort?«

»Ja! Ja!« Mit fliegenden Worten erzählte sie ihm, was geschehen war.

Er horchte, hörte, nickte.

»Haben Sie die Vollmachten bei sich?« unterbrach er sie. »Ich kenne Uhlenkorts Handschrift.«

Christie riß die Vollmacht aus ihrer Tasche und gab sie ihm. Er überflog sie prüfend. Dann drehte er sich um, der See zu.

»Da fahren sie … fünfundzwanzig Knoten mindestens … sie einholen, ehe sie die Dreißigmeilenzone überschreiten … Ja, hätten Sie den Gerichtsbeschluß! Noch wär’s Zeit. Zurück zum Gericht, das ist das einzige …«

Er rief seinen Chauffeur heran und gab ihm einen kurzen Auftrag.

»Kommen Sie, Fräulein Harlessen. Ich fahre mit Ihnen in Ihrem Wagen zum Gericht. Vielleicht, daß ein günstiger Himmel Ihnen wohl will … die Funkverbindung mit Hamburg geglückt ist.«

Sie rasten zur Stadt. Mönkeberg fuhr selbst. Am Eingang des Gerichts trafen sie den Anwalt. Seine Miene verriet, daß es gut stand.

»Verbindung geglückt! Beschluß erwirkt! Noch ein paar Minuten für die Ausfertigung … Sind die Schiffe noch da?«

»Sind weg, aber wir kriegen sie!« rief Mönkeberg. Er winkte ein Auto heran und erklärte den beiden in hastigen Worten seinen Plan.

Er wolle zum Hafen zurück, seine Turbinenjacht, ein Gleitschiff neuester Konstruktion, klarmachen. Fräulein Harlessen mit einem Gerichtsbeamten solle sofort nachkommen, sobald das Dokument in ihrer Hand sei. Und nun stand sie hier auf der »Hirundo« an Mönkebergs Seite. Schon längst sah sie wieder die Farben der Heckflaggen. Die Aufbauten wuchsen vor ihren Blicken von Minute zu Minute. Sie sah, wie von deren Bord sich Ferngläser auf sie richteten, wie Menschen verwundert an die Reling drängten. Ihre Rechte ließ das Glas und fuhr winkend in die Höhe.

»Halt! Halt!« Unbewußt kam der Schrei von ihren Lippen.

»Flaggen ’raus!« schrie Mönkeberg. »Verflucht, daß wir ohne Sender fahren mußten. Flaggen ’raus!«

Hinter dem Aufbau am Stern tauchte der Signalgast auf. Seine Arme spreizten die chilenische Flagge an zwei Stäben auseinander. Er streckte sie hoch. Zerrissen flogen im selben Augenblick ihre Fetzen nach hinten. Mönkeberg lachte.

»Der Deubel soll bei der Fahrt signalisieren … Sie entgehen uns auch so nicht.«

Da! Der singende Ton im Maschinenraum wurde eine Nuance tiefer.

Mönkebergs Stirn krauste sich. Sein geübtes Ohr hatte den geringen Tonunterschied in der Sekunde erfaßt.

»Hallo! Was gibt’s?« brüllte er hinunter.

»Kammern zu heiß! Kein Druck mehr!« klang es aus der Maschine zurück.

Tiefer wurde der Turbinenton. Die Geschwindigkeit der Jacht fiel ab.

Christie starrte angstvoll in das Gesicht Mönkebergs. Sah, wie dessen Lippen sich fester preßten, wie sein ganzer Körper angespannt war, dem Maschinenton zu lauschen. Christie riß ihr Glas nach vorn, ließ es sinken, hob es wieder.

»Die Schiffe laufen schneller … Die Heckflaggen! Wie Bretter stehen sie im Fahrtwind …«

Mönkeberg ließ die Linke vom Steuer, entriß ihr das Glas. Er blickte hindurch. Ein Fluch brach von seinen Lippen … es war konzentriertes St. Pauli.

»Können Sie steuern?« herrschte er Christie an. Statt einer Antwort sprang sie ans Steuerrad und griff sofort in die Speichen.

Mönkeberg stand einen Augenblick, sah, wie ihre Hände sich spannten, sicher das Steuer führten.

»Weiter so!«

Mit ein paar Riesensätzen verschwand er in der Luke nach unten, stand bei den Maschinen, übersah mit einem Blick, was war.

Die Gaskammern überhitzt, die Luftzufuhr gehemmt.

»Her mit der Flasche! Der Sauerstoffflasche!« Die Maschinisten starrten ihn mit großen Augen an. »Her damit! Schnell, zum Donnerwetter!«

Da brachten sie sie heran.

Er nahm einen Schlüssel, öffnete das Ventil. Zischend drang der komprimierte Sauerstoff in die Verbrennungskammern.

Mönkebergs Augen hingen am Tachometer. Der Zeiger ruckte an.

Stieg, stieg weiter … hundert … hundertfünf … hundertzehn … Der Maschinist trat zu ihm.

»Herr! Wie lange soll das dauern? Die Maschine muß brechen!«

»Wann? Wie lange?« schrie ihn Mönkeberg an. Der zuckte mit den Achseln.

»Eine Viertelstunde höchstens! Dann ist sie kaputt!«

Mönkeberg nickte. »Gut! Eine Viertelstunde? Gut … Mag sie zum Teufel gehen … mag sie niederbrechen, wenn sie durchs Ziel ist … noch fünf Minuten …«

Er sah nach der Schiffsuhr. »Noch fünf Minuten! Wenn sie die noch hält, haben wir sie.«

Noch einen kurzen Blick auf die stöhnenden Turbinen. Er stand wieder auf der Brücke. Da waren sie … Backbord voraus.

Er nickte Christie zu.

»Gut, gut, Fräulein Harlessen! Her mit dem Steuer! Holen Sie den Chilenen! Wir haben sie.«

Christie ließ ihm das Steuer. Schon lagen sie quer zu den Schiffen.

Taumelnd schritt sie die Treppe zum Kajütenraum hinab. Auf der letzten Stufe schlug sie mit Gewalt gegen die Seitenwand. Die Fahrt ging hart Steuerbord auf neuen Kurs, verlegte den beiden Schiffen den Weg.

»Kommen Sie! Kommen Sie!«

Sie schlug dem Chilenen die ewige Zigarette aus der Hand und riß ihn mit sich. Stürzend, stolpernd kamen sie nach oben. Christies Blick flog zu den Schiffen. Die fuhren langsamer, man schien endlich begriffen zu haben.

»Heraus mit der Flagge!« herrschte sie den Beamten an. Noch ehe der Antwort fand, hatte sie ihm das Tuch aus der Hand gerissen. Ihr Arm stieß es in die Luft. Die Farben Chiles standen weithin sichtbar in der leichten Seebrise.

Halt! Der Signalgast setzte das Zeichen. Die Schiffe stoppten. Ihre Schrauben schlugen rückwärts. Langsam kamen die mächtigen Körper zum Stillstand. In kurzer Wendung legte sich die »Hirundo« backbord an das vorderste an. Der Gerichtsbeamte schrie dem Kapitän, der sich über die Reling beugte, ein paar Worte zu. Der zuckte die Achseln.

Schien nichts zu verstehen. Gab aber Befehl … Das Fallreep kam herunter.

Christie stand vor dem Kapitän. Der starrte sie mit unwirscher Miene an, hörte, was sie ihm zurief, unterbrach ihre Rede.

»Den gerichtlichen Beschluß! Haben Sie ihn?«

Der chilenische Beamte trat vor. Mit einem rasenden Wortschwall überschüttete er den Kapitän. Dieser schüttelte den Kopf. Soweit gingen seine spanischen Kenntnisse nicht, den wie ein Hagelwetter niederprasselnden Worten des Chilenen zu folgen. Mönkeberg griff ein, nahm dem Beamten das Dokument aus der Hand und las es langsam, erst in spanischer Sprache, dann in englischer Übersetzung dem Kapitän vor. Der ließ es sich reichen, prüfte Kopf und Siegel. Ein Kommando zur Brücke.

»Entfernung zum Leuchtturm?«

»Achtundzwanzig Seemeilen und eine halbe.«

Sie waren noch innerhalb der Dreißigmeilenzone.

»All right!« rang es sich endlich von seinen Lippen. Dann, ohne sich weiter um die kleine Gruppe zu kümmern, gab er seine Befehle.

»Zurück zum Hafen!«

Und dann standen sie wieder auf der Kaimauer. Der Beamte hatte sie verlassen.

»Wie soll ich Ihnen danken, Herr Mönkeberg! Ohne Sie wäre all mein Bemühen umsonst gewesen.«

»Danken, Fräulein Harlessen? Warum? War mir ein Vergnügen, ein Fest ersten Ranges, meine ›Hirundo‹ – vorige Woche kam sie erst von Hamburg herüber – in solcher Fahrt zu erproben. Alle Achtung vor der ›Hirundo‹ und der Werft! Soll’s mal einer nachmachen. Was wollen Sie mit der Beute machen?«

»Ich habe den Auftrag, sie nach Kapstadt zu dirigieren.«

»Und Sie selbst?«

»Ich selbst?« Christie zögerte. »… zunächst nach New York.«

»Und dann nach Hamburg«, setzte Mönkeberg wie selbstverständlich hinzu.

»Kann sein … vielleicht.« Sie wandten sich zum Gehen.

Ein Menschenauflauf vor einem New Yorker Passagierschiff am Kai.

Von allen Seiten strömten Menschen hin.

»Hallo! Was gibt’s da?« Mönkeberg wies mit der Hand hinüber.

»Da geht’s ja selbst für chilenisches Temperament recht lebhaft zu. Ist irgendwo die Welt untergegangen?«

Ein Reporter der »Deutschen Zeitung« in Valparaiso rast an ihnen vorüber. Mönkeberg, der ihn kannte, sprang ihr in den Weg.

»Halt, mein Lieber! Was gibt’s? Wo brennt’s?«

Der wand sich vergeblich unter dem festen Griff, mit der Mönkeberg ihn gepackt hielt.

»Lassen Sie mich los! Um Gottes willen, ich muß zur Redaktion!«

»Der Isthmus ist gesprengt … zerrissen … vom Meer verschlungen.

Tausende … Millionen …«

Mönkebergs Hände hatten losgelassen, sanken langsam nieder.

Entgeistert starrte er dem Enteilenden nach. Er hörte nicht auf Christie, die sich an seinen Arm klammerte. Er stand, die Augen weit geöffnet, über See nach Norden gerichtet.

Ein Zittern ging durch die kräftige Gestalt. Er schlug die Hände vors Gesicht.

»Das ist das Ende!« Stoßweise rang es sich aus seinem Munde. »Das Ende für Hamburg … für Europa … für uns.«

Christie legte ihre Hand in seinen Arm und führte ihn beim Gehen. Ihr kühler, klarer Verstand rang mit dem Gehörten! Unmöglich!

Unmöglich! schrie es in ihrem Innern. Es kam nicht … es wird nicht sein. Die Heimat! Das Wort, früher nicht gekannt, von Uhlenkorts Mund gesprochen, es hatte Wurzeln in ihrem Herzen geschlagen Hamburg … die Heimat! Ein Sehnen war ihr aufgegangen … größer … immer größer werdend. Hamburg … Harlessen … Heimat. Und das alles weggewischt jetzt?

Nein! Nein! schrie es in ihr.

Ihr Herz sträubte sich gegen den logischen Zwang des ungeheuren Ereignisses.

Die beiden Freunde standen auf der steilen Westwand von Black Island. Zweihundert Meter fiel die Klippe vor ihren Füßen schroff ab.

Dort unten in der Tiefe, wo früher die See brandete, streckte sich weithin das neue Land. Uhlenkort nahm das Fernglas von den Augen.

Seine Hand deutete nach Norden.

»Die Luft ist klar geworden. Mit bloßen Augen sehe ich da die Grenze zwischen altem und neuem Land, den Kranz von Tang und Muscheln.

Laß uns noch eine Weile stehen, Johannes, daß meine Augen sich satt trinken an dem Bild, das mir tieferen Frieden gibt als die schönste Landschaft des Südens. Und jetzt kannst du mir erzählen, was da unten geschah am Isthmus. Was es war, das die Erde erbeben, zerreißen ließ.

Du sahest es voraus. Du weißt, wie es geschah … wie es geschehen konnte.«

Der andere wandte sich um … dem Süden zu.

»Wenn irgendwo es gefährlich war, den Leib der Erde so schwer zu erschüttern, so war’s auf dem Isthmus von Panama. Sie hätten gewarnt sein müssen, die Toren! Dort, wo seit Menschengedenken die unterirdischen Kräfte an ihren Ketten zerren, wo die Magmamassen immer wieder an die Schranken der Erdhülle pochten, dort war es mehr als vermessen. Das atomare Sprengmittel, das sie in so riesigen Mengen in die Eingeweide des Isthmus packten, es mußte, auf einmal detonierend, die Katastrophe bringen. Die Gewalt der gleichzeitigen Explosion mußte, nach unten sich fortpflanzend, die Sialscholle bersten lassen.

Die Risse, durchreichend bis hinab zu den Feuergluten der Tiefe, ließen die beiden Elemente sich vermählen. Ihre Umarmung gebar Untergang … Tod. Während die unfreiwilligen Hochzeitsgäste oben jubelten und frohlockten, kreißten die Elemente in stundenlangen Wehen. Dann brach’s ans Licht. Die Wasserdämpfe, mit Gewalt sich frei machend, zerrissen den Leib des Isthmus. Im Fieber bebten dessen Glieder. In immer neuen Ausbrüchen riß der Spalt, bis er klaffte … ein neues Feld dem Unheil … weiter klaffte, bis die Wogen der beiden Ozeane in freiem Schwall auf die Gluten des Inneren fielen. Das war das Ende. Der Bogen, schon längst zum äußersten gespannt, zerbrach.

Die Enden, die freien Zungen, schnellten auseinander. Weiter, immer weiter klaffend, bis die Ränder der Kluft standen, dreihundert Kilometer dazwischen lagen.«

»Und so wird es bleiben?« fragte Uhlenkort.

Der Freund schien den Sinn der Frage nicht zu verstehen.

»Nein. Es wird weitergehen, das Unheil. Mag das Fieber jetzt nachgelassen haben, die Zeit wird kommen, wo es wieder hervorbricht … früher oder später …«

»Ich erwartete Trost. Und du kündest mir neues Unheil. Ist’s nicht genug? Für Europa wird es keinen neuen Schrecken bringen. Der Golfstrom … die Golfdrift … unser Wärmespender ist dahin. Millionen Menschen durch eines Menschen verbrecherische Hand zugrunde gerichtet, gemordet.«

»Trost? Gab ich ihn dir nicht schon, Walter Uhlenkort? Noch mehr? … Schon zuviel war es, was der Freund dem Freunde sagte. Mag das Schicksal es mir verzeihen.«

Walter Uhlenkort stand auf dem Zechenhof. Der Chefingenieur hatte zu ihm gesprochen. Was hatte er gesprochen?

Stillegung der Minen … Abmontieren der Maschinen … Wegtransport der Belegschaften … Unmöglichkeit, die notwendigsten Arbeiten zur Erhaltung der Bergwerke fortzusetzen …

Immer wieder hatte Uhlenkort genickt, zustimmend, alles bejahend, was der vorschlug. Und dann hatte er ihm die Hand gereicht, hatte gesagt:

»Sie werden alles machen, wie Sie es planen. Sie haben meine Zustimmung.«

Und dann hatte der Chefingenieur gesagt:

»Ich werde bleiben bis zur letzten Minute. Bis zu dem Augenblick, in dem der Kapitän sein Schiff verläßt«, und Uhlenkort hatte ihm die Hand gedrückt und ihm ins Gesicht gesehen.

Lange … und war gegangen …

Der Chefingenieur sah ihm nach. Was war das für ein Gesicht? Ein Rätsel … eine Sphinx …

Hatte der den Verstand verloren unter dem ungeheuren Verlust, der ihn treffen mußte, oder …

Die kommende unvermeidliche Vereisung, die über das nördliche Europa hereinbrechen mußte, unterband den Betrieb der Kohlenminen auf Spitzbergen wahrscheinlich auf ewige Zeiten. Die Belegschaften jetzt noch länger zu halten, wäre verbrecherisch. War es schon unbegreiflich, daß die völlige Zerstörung vermieden wurde, als Black Island sich hob, jetzt war sie unaufhaltsam … unabwendbar.

Der Golfstrom war die Ader, die sie hier oben am Leben erhielt. Der Golfstrom war weg … für immer. Der Minenbetrieb hier oben war zu Ende, wenigstens unter den bisherigen Verhältnissen. Ob die Minen jemals wieder in Betrieb kommen würden, ob der ruinenhafte Rest Europas sie noch benötigen würde, wer konnte das sagen?

Das Turbinenschiff »Präsident« der Reederei Uhlenkort hatte Sandy Hook hinter sich gelassen und steuerte in den Atlantik hinaus.

Der Kapitän stand neben dem Ersten Offizier im Kartenhaus. Ihre Augen ruhten auf der Tabelle, welche die Wassertemperatur seit dem Verlassen des New Yorker Hafens in viertelstündigen Intervallen enthielt.

»Nach der Karte laufen wir jetzt vierundzwanzig Stunden mit dem Golfstrom. Auf diesem Kurs haben wir noch vor vier Wochen 23,5 Grad Celsius gemessen. Heute haben wir 20,5 Grad Wassertemperatur.

Zufall? Möglich … Aber bei den Lufttemperaturen des letzten Monats nicht anzunehmen. Stromgeschwindigkeit? Wir haben die Bestecke mit größter Sorgfalt genommen … Ergebnis … unanfechtbares Ergebnis: Es fehlen uns gegen damals annähernd zehn Seemeilen … Andere Windverhältnisse? Zufall? Möglich am Ende, aber kaum noch wahrscheinlich. Zwei Zufälle? Ausgeschlossen! Der Golfstrom fehlt!

Die Drift von Süden her fehlt. Der Druck, der die Massen hier schneller trieb, sie wärmer hierher brachte.«

»Ohne Zweifel, Herr Kapitän. Die Messungen werden morgen um diese Zeit noch interessanter sein. An den Neufundlandbänken muß der ewige Kampf von Kalt und Warm noch deutlicher werden.«

»Ja, ja, ob wir da jetzt schon was merken werden? Ob der ewige Nebel da jetzt schon weniger dick sein wird?«

»Unbedingt, Herr Kapitän. Dort ist die Stelle. Dort müssen die eisigen Wasser des Baffinstromes die warme Golfströmung von Stunde zu Stunde mehr und mehr unterkriegen. Sie lahmen, schwächen, wegdrücken, ihr die Kraft nehmen, den gewohnten Weg bis zum Ende zu gehen. Da oben, im Eismeer, wie lange wird’s dauern, und es wird ein Eismeer im wirklichen Sinne des Wortes. Die Fahrten da hinauf werden wohl bald der Sage angehören.«

Der Kapitän nickte.

»Der Sage angehören wie unsere Kohlenminen in Spitzbergen. Mir ist es, als ob wir das in den nächsten Tagen wiedersehen würden.«

»Nach Spitzbergen?« Der Erste Offizier schaute ihn fragend an.

»Ja! Ich glaube es. Als wir vorgestern in New York plötzlich die Order erhielten, statt mit Ladung nach Rio de Janeiro nur mit Ballast und vollen Ölbunkern nach Hamburg zu fahren, überkam mich die Ahnung.

Warum die Order?

Spitzbergen ist uns verloren. Was dort ist, Menschen, Maschinen, muß fort. In Spitzbergen ebenso wie an all den anderen Orten, die durch den Golfstrom leben. Der Schiffsraum wird knapp werden, alles rechtzeitig zu bergen. Die Messungen werden in jedem Falle fortgesetzt, einerlei, wohin der Kurs geht … auch wenn wir das Ende schon jetzt wissen.«

Auf dem fünfzigsten Grad östlicher Länge traf den »Präsident« der Funkbefehl: Direkter Kurs nach Wibehafen!

Knapp vierzehn Tage waren seitdem vergangen. Der »Präsident«

lichtete in Wibehafen die Anker, zweitausend Seelen an Bord.

Erst die Menschen, dann die Maschinen! lautete die Order. Nach Hamburg stand der Kurs. Nach Hamburg vorerst … der Heimat der meisten.

Und dann? Die Frage lag auf den Lippen dieser Tausende, auf den Lippen derer, die auf anderen Schiffen folgten. Bewegte die Herzen der Millionen, die früher oder später das gleiche Schicksal teilen mußten.

Flucht aus der Heimat! Wohin? Schon flüchteten sie aus Hamburg, von der Küste nach Süden … der Sonne zu. Der Schiffsraum war knapp … ja, er war knapp geworden.

Sinnlos, regellos trieb die Furcht vor dem eisigen Tod das Volk aus Norden zur Flucht. In den Hafenstädten sammelten sich die Massen, wurden größer von Tag zu Tag.

Die Schiffe, die da lagen, wurden gestürmt. Die Führer zur Abfahrt gezwungen. Wohin? Nach Süden, der Sonne zu. Nur die eine Losung in aller Munde. Die Verwirrung wuchs ins Unendliche. Das Chaos stand vor der Tür. Die Schiffsführer wußten nicht, was anfangen. Ihre Reeder waren ebenso ratlos … die Regierungen?

Da, in letzter Stunde setzten ihre Anordnungen ein. Ein großzügig angelegter Organisationsplan, zu dessen Durchführung Polizei und Militär zu Hilfe genommen wurden. Die Verbände der Industrie und der Landwirtschaft erhielten genaue Richtlinien. Alle Transportunternehmungen zu Wasser, Luft und Lande wurden unter behördliche Kontrolle gestellt. Nie bisher war ähnliches geschehen, seitdem Menschen Geschichte schrieben. Nur in großen, in allgemeinen Zügen konnten Vorschriften gegeben werden.

Halt für alle, deren Leben nicht unmittelbar bedroht war. Zuerst die, denen das Verderben am nächsten war, denen im hohen Norden.

Mit eiserner Strenge wurde es erzwungen. Nur das eine Ziel wurde verfolgt, das Leben der Bedrohten zu retten. Der wirtschaftliche Ruin war unabwendbar. Für jene Menschen … die Gemeinden … die Staaten … Europa.

Und die Kunde drang in alle Welt und beherrschte aller Herzen.

Überall da, wohin das Unheil nicht treffen konnte, wo man über den möglichen Eintritt der Katastrophe und ihre Auswirkungen kaum nachgedacht hatte, sah man jetzt die Schreckensbilder, die sich in Europa abspielen mußten, klar vor Augen.

Die Verantwortung für das Fürchterliche wurde bedingungslos Amerika zugeschoben. Die gereizte Stimmung machte sich vielerorts in drastischer Weise Luft. Die Weltpresse erging sich in den heftigsten Schmähungen gegen dieses von einem ausgearteten Kapitalismus beherrschte, verderbte Land.

Soziale Unruhen, Revolten in den Industrieländern häuften sich. Ein Weltboykott amerikanischer Waren drohte als Vergeltung.

Und dann setzte überall in der Welt spontan ein großzügiges Hilfswerk ein. Überall und am schnellsten und besten in den USA. Der Kongreß, der unmittelbar nach der Katastrophe am Isthmus einberufen worden war, stellte als erster Europa einen Riesenkredit zur Verfügung.

Sammlungen im ganzen Lande wurden veranstaltet. Mit einer Milliarde Dollar stand die New Canal Company obenan. Jede Tonne entbehrlichen Schiffsraums, große Lastflugzeuge wurden nach Europa dirigiert. Arbeitsgelegenheit und Platz für Millionen sollten frei gemacht werden. Alles wurde getan, um das Odium zu mildern, das auf dem Lande lastete.

Die Schreckensszenen, die in Wort und Bild dem amerikanischen Publikum Tag für Tag vorgeführt wurden, trugen das Ihre dazu bei, die Hilfsbereitschaft zu steigern. Ergreifende, entsetzliche Bilder brachten die Filmstreifen und Fernsehbilder aus dem sterbenden Europa.

Ein freundliches Dorf in blühender Landschaft … eine Industriestadt mit Hunderten von Fabriken. Einen Tag später … Dorf und Stadt halb leer von Menschen. Die anderen … zu Fuß, zu Wagen, beladen mit ihrer Habe, auf der Flucht nach den Hafenstädten. Wilde Bilder dort! Alle Häuser überfüllt … Tausende auf den Feldern nächtigend …

Menschenmauern auf den Kaimauern …

Ein ankommendes Schiff … in Booten ihm entgegen! An Bord!

Das Schiff im Hafen. Die Landungsbrücken in die gedrängten Menschenmassen stürzend, sie niederschlagend, erdrückend … darüber drängend … stoßend … wahnsinnige Massen.

Eine Brücke bricht … Hunderte im Wasser … rettungslos versinkend.

Angehörige auseinandergerissen … alle Bande des Blutes gelöst.

Das Schiff überladen. Keine Abfahrt … tausend Hände um die Trossen geklammert … Der Kapitän, die Mannschaft Waffen in den Händen. Die Trossen gekappt! Verzweifelter Sprung … ihm nach, dem Schiff …

Schüsse knallen … Flüche … Verwünschungen … Bitten … Flehen … das Schiff in Fahrt …

Wohin?

Tausend Wünsche … Der Kapitän ratlos.

Wohin?

Alle Mannschaft auf die Brücke und an die Rudermaschine … Waffen zur Abwehr gegen die Massen gerichtet …

Vorbei an verlassenen Leuchtfeuern … Sturm im Kanal … kein Platz mehr unter Deck. Verzweifelte … Kranke, Sterbende auf Deck. Im Wetteifer überboten sich Fernsehen, Radio und Presse in diesen Szenen.

Und doch waren es nur kleine Ausschnitte aus dem Riesenbild der Zerstörung eines großen Landes. Eines Bildes, das ganz zu malen Wort und Licht versagten.

Nur eins bei alledem war auffallend. Während die Presse der übrigen Welt in erster Linie der New Canal Company und ihrem Leiter die Schuld an dem Geschehen beimaß und sich in Schmähungen gegen sie ergoß, schwieg die amerikanische Presse, von wenigen Ausnahmen abgesehen, beinahe völlig über diesen Punkt.

Es war die immer wiederkehrende Wendung, mit der die Klippe der Schuld umschifft wurde: Der Verantwortliche ist vor Gericht gestellt.

Schuld oder Unschuld, der Richterspruch wird es erweisen. In den wenigen Ausnahmen freilich stand es anders. Die New Canal Company und ihr Leiter Guy Rouse, sie waren die Schuldigen.

Das Berner Parlament war wieder versammelt. Ein anderes! Bild als vor vier Wochen. Gewiß! Die Tribünen wieder überfüllt. Doch der große weite Saal wies beinahe soviel Lücken als Abgeordnete. Wie lange würde es dauern, und diese würden für immer fehlen. Die aus dem Norden!

Nur spärlich waren die erschienen. Wozu auch? Da oben standen Not und Tod vor der Tür, wogegen hundert Parlamentsreden nichts nützen konnten. Das Leben retten! Zusammenraffen, was an Geld und Vermögenswerten blieb … Das ging vor.

Die Sitzung begann. Einige Redner, die in leidenschaftlichen Worten die schwersten Anklagen gegen Amerika schleuderten. Man hörte sie … zuckte die Achseln. Was war damit gewonnen? Der Kranke mußte sterben. Nichts rettete ihn vom Tode.

Dann eine Reihe anderer, die mit unmöglichen Vorschlägen kamen.

Man schüttelte den Kopf darüber. Die Liste war erschöpft. Die meisten hatten verzichtet. Der Minister des Innern war der letzte. Er stand auf der Tribüne. Aller Augen hingen an ihm.

Der Minister sprach. Und mit jedem Worte, das aus seinem Munde kam, wurden die Herzen der Hörer schwerer und schwerer.

Verloren! Verloren! Nichts anderes klang aus seiner Rede. Das nackte Leben retten … den Millionen im Norden. Mehr vermochte die Regierung nicht.

Die Periode sinnloser Flucht war vorbei. Das Organisationssystem der Regierung arbeitete. Ein Riesenproblem … unvollkommen natürlich gelöst … nicht ausreichend gegenüber der Größe des Unglücks, aber genügend, um das Chaos zu verhindern.

Zweihunderttausend Menschen an jedem Tag galt es aus den bedrohten Gebieten abzutransportieren. War das schon eine Riesenaufgabe, kaum zu lösen ohne die Unterstützung der ganzen Welt … noch schwerer war hier die zweite … wohin?

Und nun entwarf der Minister in großen Zügen den Plan der Regierung. Abtransport mit vorgeschriebenem Gepäck und Gewicht.

Nach den Häfen Europas … Sammlung in großen Lagern … Einteilung der Massen nach Zielen und Wünschen … später Weitertransport nach Amerika … Südafrika … Asien … Australien.

Jahrzehnte würde es dauern, bis der Rest Europas seine wirtschaftliche Umstellung finden und sich in die neuen Lebensbedingungen eingewöhnen würde. Hoffnungslosigkeit sprach aus den Worten des Ministers, Hoffnungslosigkeit lag über der Versammlung. Das Parlament ging auseinander, nachdem es der Regierung unbeschränkte Vollmachten für das nächste Jahr gegeben hatte.

»Das sterbende Europa«, das war die Überschrift, die von nun an in den ausländischen Blättern über den europäischen Nachrichten stand.

Sie stand, wenn auch ungeschrieben, über dem Bericht des afrikanischen Botschafters an die kaiserliche Regierung in Timbuktu.

Dieser Bericht war soeben in der Sitzung des Kabinetts, die im Beisein des Kaisers und des Generalstabschefs stattfand, verlesen worden. Aller Augen hingen an Augustus Salvator.

Tief in den Stuhl zurückgelehnt, die Augen halb geschlossen, hatte er den Bericht vernommen. Kein Muskel in seinem Gesicht verriet, was dabei in seinem Innern vorging. Minuten verrannen. Tiefste Stille im Raum. Der Kaiser … was dachte, was sann er? Die drückende Stille wirkte lastender, je länger sie dauerte. Endlich! … Der Kaiser richtete sich auf. Sein Blick ging zu dem Generalstabschef.

»Wie weit sind die militärischen Bewegungen an der Südgrenze gekommen?«

»Alle Punkte von strategischer Wichtigkeit sind besetzt und gesichert.

Verschleierte Mobilmachungsbefehle haben im Norden des Reiches die zahlenmäßige Stärke der dortigen Truppen um das Dreifache erhöht.

Alle Möglichkeiten für den Abtransport nach Süden sind geregelt.

Munitions- und Lebensmitteltransporte gehen Tag und Nacht in das Aufmarschgebiet …«

»Wie steht es drüben?« unterbrach ihn der Kaiser. »Die gleichen Vorbereitungen! Irreguläre auf beiden Seiten haben heute Nacht die ersten Schüsse gewechselt. Die Vorfälle sind unblutig verlaufen.«

Der Kaiser nickte.

»Wiederholen Sie nochmals ausdrücklich den Befehl an alle Kommandeure im Süden, sich vor jeder Grenzverletzung – selbst bei Herausforderungen – zu hüten. Es würde den Krieg bedeuten, den Krieg, den …«, der Kaiser sprach es mit starker Stimme, »… ich nicht wünsche.«

Sein Auge ging in die Runde.

»Nein! Ich wünsche ihn nicht. Ich will ihn nicht, den Krieg. Jetzt weniger denn je.

Meine Herren! Das Unglück, das über Europa hereinbrach, es ist zu groß, zu unausdenkbar groß, als daß ein Mann in dessen Ausnutzung etwas tun könnte, was dem Sterbenden den Becher der Linderung aus der Hand schlagen würde.

Ich sehe einige Herren erstaunt über meine Worte. Ich verstehe ihren Gedankengang. Gewiß! Ein Strom von Menschen, von Männern, mehr jungen als alten, wird sich nach Südafrika ergießen. Siedler, Soldaten.

Ungeahnter Zuwachs für die Kräfte der Südafrikanischen Union. Neue Arbeitskräfte, die unsere schwarzen Brüder allmählich immer mehr verdrängen werden. Ich weiß es, ich sehe es. Jetzt Krieg! Aasgeier würden sie mich nennen … mit Recht.

Nein! Die Verhandlungen mit der Südafrikanischen Union werden weitergehen wie vorher unter gleich starken Nachbarn, Gegnern, wie vorher, ehe das Unglück eintrat. Meine Forderungen werden nicht um einen Deut höher werden. Die Verhandlungen werden in demselben versöhnlichen Sinne weitergeführt werden – die Verhandlungen über die Gleichberechtigung der beiden Rassen in der Südafrikanischen Union.

Die dilatorische Behandlung der Frage hat allerdings ein Ende. Die Hoffnungen, die bisher dazu Anlaß gaben, liegen begraben unter den Ruinen Europas.«

Der Kaiser schwieg. Sinnend starrte er ins Weite. Dann schüttelte er den Kopf.

»Nein. Nein! Sie können es nicht mehr. Sie dürfen es weniger denn je verweigern. Die Gleichberechtigung der Rassen.«

Bei dem Wort, kurz, hart hervorgestoßen, war er aufgesprungen. Seine Augen blitzten. Das Gesicht schien verwandelt, unbeugsamer Wille jeder Zug darin.

»Die Gleichberechtigung, meine Herren! Hier und in der Welt, ist mein Ziel. Erst hier auf afrikanischem Boden … und wenn die da unten … ich glaube es nicht … kann es nicht glauben … Gott müßte sie mit Blindheit geschlagen haben … wenn die sich weigern … auch jetzt noch weigern, dann … werde ich sie zwingen.«

Die Stimme des Kaisers sank bis zum Flüsterton. »… mit dem Schwert … mit dem Schwert! Die Truppenbewegungen gehen weiter.

Auch die übrigen Maßregeln«, er wandte sich zu dem Marineminister, »nehmen ihren Fortgang. Von Ihnen …« zum Ministerpräsidenten gewandt, »… erwarte ich morgen den Entwurf eines Programms für eine Hilfsaktion für die europäischen Staaten.«

Er wandte sich zu dem diensttuenden Flügeladjutanten.

»Mr. Rouse«, flüsterte dieser leise.

Die Miene des Kaisers verfinsterte sich. Ein abweisender Zug trat auf sein Gesicht. Mit einer kurzen Begrüßung verließ er den Raum.

»Nehmen Sie Platz, Mr. Rouse. Die Nachricht von Ihrer Ankunft heute morgen traf mich überraschend.« Rouse sah den Kaiser fragend an.

»Überraschend! Ja! Die Sprengung am Kanal, die Gerüchte in Ihrem Land, in der Welt, zwangen die Sie nicht zum Bleiben?«

Guy Rouse schwieg. Vergeblich suchten die scharfen Augen des Kaisers nach einer Bewegung in seinem Gesicht.

»Es war also ein Zufall, Mr. Rouse, der die Minen auf einmal zur Explosion brachte, das Unglück geschehen ließ?«

»Es war ein Zufall, Majestät!«

»Ein schlimmer Zufall, Mr. Rouse.«

»Ein Zufall, Majestät. Die Gerichtsverhandlung wird den Beweis erbringen.«

Gleichmäßig, ohne Betonung kamen die Worte aus seinem Munde.

»Sie sagen es, Mr. Rouse. Ich glaube es Ihnen … und doch! Warum verließen Sie Ihr Land in diesen Stunden? Fürchten Sie nicht, daß man Ihre Reise als Flucht, als den Ausdruck eines nicht reinen Gewissens auslegen wird?«

»Fürchten, Majestät? Guy Rouse fürchtet nichts. Das Wort Furcht kennt Rouse nicht … Nicht gegenüber einem persönlichen Gegner … nicht gegenüber der öffentlichen Meinung. Flucht! Das Wort, das Euer Majestät der Welt in den Mund legte, es ist auch der Gedanke Euer Majestät. Doch nochmals, Guy Rouse flieht nicht. Der Starke flieht nicht.«

Eine leichte Röte war auf dieses bleiche Steingesicht getreten.

»Der Starke verschmäht es nur, einem Haufen Schwacher gegenüberzustehen und Rechenschaft abzulegen. Ich bitte Euer Majestät, einen Vergleich nicht falsch auszulegen. Wem außer dem Schicksal würden Euer Majestät geneigt sein, Rechnung zu legen?«

Der lange, hagere Oberkörper richtete sich empor, schien zu wachsen.

»Ich, Euer Majestät, kennen keinen Menschen in der Welt, dem Guy Rouse Rechnung abzulegen hätte außer sich selbst. Ich will sprechen auf die Gefahr hin, mir Euer Majestät Ungnade zuzuziehen. Der einfache Rock des Privatmannes Guy Rouse deckt ebenso einen Mann wie andere der Purpur. Was der eine tut, was der andere tut, er selbst ist sein Richter. Richter? … Glauben Euer Majestät, die Richter dort drüben – die Richter des Gerichtshofes oder, noch weitergegangen, die öffentliche Meinung –, sie wären kompetent, über Guy Rouse zu urteilen? Nein, Majestät! Das Urteil läge doch in meiner Hand. Gold!

Mein Gold … und sie wären für mich.«

Es war ein Zug unsäglicher Verachtung, mit dem die letzten Worte aus Rouses Munde kamen. Der Kaiser schaute ihn wie gebannt an. Was er im stillen gedacht, gefühlt über diesen Menschen, es hatte keinen Bestand. Ja! Das war ein Mann! Anders … größer als alle, die er je gesehen.

Die Worte aus seinem Munde, wie hatten sie ihn gezwungen, wie er sich auch sträubte. Er riß seine ganze Willenskraft zusammen, fest zu bleiben … fest gegenüber dem starken Gegner … dem Stärkeren?

Nein! Nein! Mit äußerster Gewalt zwang der Kaiser sich. Unterlag er jetzt diesem überstarken Willen? Der leichte Glanz in dessen Augen … in diesen stahlharten grauen Augen. Ein kurzer Blitz nur war’s gewesen.

Der Kaiser hatte ihn gesehen … gesehen … Triumph? Fühlte sein Gegenüber sich als Sieger?

Des Kaisers Hand strich über die hohe kahle Stirn. Er war wieder ganz Herr seiner selbst, hatte seine volle Kraft wiedergewonnen.

Nein! Nicht stärker war jener! Ein starker Gegner blieb er. Der Kaiser erhob sich. Ein leises Lächeln zwang seine Lippen.

»Mr. Rouse, ich verstehe Sie. Verstehe, was die Welt Flucht nennen mag. Kein irdischer Richter ist für Sie geboren. Gott … das Schicksal nannten Sie es, wird richten …« Er trat einen Schritt auf Guy Rouse zu.

»Ich begrüße Sie als meinen Gast in meinem Lande, Mister Rouse.«

Die grüßende Hand blieb gesenkt.

»Die Geschäfte, über die wir vor Wochen sprachen, werden sie durch den Gang der Ereignisse beeinträchtigt?«

»Kein Grund, Euer Majestät. Sie sind bereits eingeleitet. Der Gang der Gerichtsverhandlung, die sich gegen meinen Chefingenieur richtet, wird auch ohne die mit Sicherheit zu erwartende glänzende Rechtfertigung desselben daran nichts ändern. Ich erwarte diese Rechtfertigung bestimmt Euer Majestät werden denken, meine Hoffnung gründe sich auf das Gold … mein Gold in den Händen der Richter … Nein, Majestät!

Ich habe es verschmäht, dieser Weg zu gehen. Das Gegenteil tat ich. In einem Schreiben an den Kongreß bat ich, bei der Zusammensetzung des Gerichtshofes Männer zu nehmen, die meine notorischen Gegner sind, wirtschaftlich und politisch. Man hat meiner Bitte entsprochen. – Doch zu unseren Geschäften. Es wäre etwas anderes, wenn Euer Majestät in Anbetracht der veränderten politischen Konstellation – die Afrikanische Union im Bunde mit Europa – Ihre Dispositionen geändert hätten?«

Der Kaiser schwieg. Guy Rouse fuhr fort:

»Daß die Verhältnisse der Parteien sich durch die letzten Ereignisse von Grund auf geändert haben, dürfte keinem Zweifel unterliegen. Wie könnte die Südafrikanische Union es jetzt noch wagen, die berechtigten Wünsche Euer Majestät zu verweigern? Gewiß, es wird sich ein Strom von Europäern über Südafrika ergießen. Darunter die Mehrzahl waffengeübte Männer. Aber … die Männer allein. – Die Zeiten, wo die Macht der Fäuste entschied, sind vorbei. Die europäischen Lieferungen, Kriegslieferungen werden und müssen ausbleiben. Ein anderer, der an Europas Stelle träte? Wer sollte es sein? Amerika? Die Vereinigten Staaten …«

Ein kurzer Ruck, der durch den Körper des Kaisers ging.

»Die Vereinigten Staaten?« Die Augen des Kaisers bohrten sich in das kühle, unbewegte Gesicht des Sprechenden.

»Die USA, Majestät. Ich muß hier meine Ansicht über die sogenannte öffentliche Meinung etwas revidieren. Es gibt Momente, Majestät, wo die öffentliche Meinung unter dem Druck der Sentiments den Einflüssen des Goldes nicht zugänglich ist. Momente! Aber wie oft in der Weltgeschichte waren es Momente, die den Ausschlag gaben.«

Der Kaiser schaute ihn an, lange.

Ja, das war ein Mann, ein Mann von außergewöhnlicher Größe. War die verkörperte Macht des Goldes … ein Herrscher, ungekrönt, doch größer als so mancher …

»Ihr Gedankengang, Mr. Rouse – immer wieder bewundere ich Ihren Weitblick, Ihren Scharfsinn –, er ist mir klar. Meine Dispositionen haben sich nicht geändert. Alles bleibt, wie wir es vor Wochen besprochen haben. Europa … sein Schicksal … tritt es ein …«

Einen Augenblick schien es, als zweifle der Kaiser, als könne er nicht glauben.

»Meine Regierung wird Europa beistehen. Die Afrikanische Union wird nachgeben … Gott helfe mir, müßte ich …«

Augustus Salvator war aus dem hellen Licht der Lampe in das Dunkel zurückgetreten. Die Unterredung, die vorangegangene Kabinettssitzung … Er fühlte, daß seine Kräfte nachlassen würden, bliebe er noch länger unter dem zwingenden Bann dieses Mannes.

»Sie werden mir jederzeit willkommen sein, Mr. Rouse.«

»Ich danke Euer Majestät.«

Er beugte sich, als wenn er eine Hand küßte, die doch nicht da war, und ging hinaus.

Der Stettiner Hafen zeigte ein ungewohntes Bild. Seit Tagen schon.

Schiffe aller Größen, von Norden kommend, legten an den Kais an, Menschenmassen an Land speiend. Grubenarbeiter aus Spitzbergen, die nach den russischen Kohlenzechen im Donezbecken und im Uralgebirge dirigiert wurden.

In der Mehrzahl verheiratete Leute, die mit Weib und Kind neue Heimat und neue Arbeitsstätten zu suchen gezwungen waren. Die Unterkunftsmöglichkeiten, für einen solchen Andrang nicht eingerichtet, waren überfüllt. Viele lebten in Schuppen, viele im Freien. Auf den Sachen sitzend, die ihre geringen Habseligkeiten bargen.

Eine neue Völkerwanderung! Doch die Gesichter der Auswanderer so ganz anders! Kein Zeichen froher Hoffnung. Mißmutig, düster standen sie in dem nässenden Nebel, der bleigrau Hafen und Stadt deckte. Selbst die Kinder waren gedrückt, unbewußt fühlten sie den Druck des Unheils, das alles vor sich hertrieb.

Bei einer Gruppe, die fester als andere zusammenhielt, saß Klaus Tredrup. Es waren die Leute seiner Belegschaft. In den wenigen Wochen, die er mit ihnen zusammengearbeitet hatte, hatte sein offenes, freies Wesen sie eng an sich zu fesseln gewußt. Als die Minen stillgelegt wurden, der Abtransport feststand, hatte er sich eines befreundeten russischen Ingenieurs im Ural erinnert, hatte sich telegrafisch an ihn gewandt, die Zukunft seiner Leute so gut wie möglich zu sichern. Der war gern bereit gewesen, und so fuhren sie jetzt zum Ural. Plaudernd, scherzend mit den Leuten, hatte er es verstanden, ihnen Furcht und Bedenken vor der weiten Reise nach einem unbekannten Lande zu zerstreuen. Er selbst hatte zunächst die ganze Fahrt mitmachen wollen, erwogen, eventuell dort zu bleiben. Da, im letzten Augenblick, war Walter Uhlenkort nach Spitzbergen gekommen, hatte ihn zu sich gebeten zu einer Unterredung im alten Leuchtturm.

Tredrup war gegangen. Gegangen … nicht mit dem gewohnten freien Schritt. Einmal nur war er da gewesen. Einmal hatte er seinen Bewohner gesehen. Die nächtliche Fahrt!

Tagelang … nächtelang … unaufhörlich tobten die Erinnerungen daran in seinem Hirn. Immer wieder hatte er versucht, all das Mystische, Geheimnisvolle auszuschalten. Streng logisch, mit kühlem, klarem Kopf alles zu rekonstruieren, was da geschehen.

Da war er bei dem Schiffer, dessen Weib krank lag. Bewog den, ihn als Stellvertreter zu melden. Da stieg er in das Motorboot. Da fuhren sie im Schein der Mitternachtssonne nach Süden.

Fuhren sie? Flogen sie?

Da begann schon das Rätsel. Was war das für eine Schnelligkeit, die das Boot – es war ein Boot wie tausend andere – durch die See trieb? Er hatte keine Karten, keine Instrumente, gehorchte nur den Weisungen des Steuermanns.

Doch sein Gefühl sagte ihm … lange genug war er in seiner Jugend auf See gefahren … diese Schnelligkeit überstieg alles, was die kühnste Phantasie sich vorstellen konnte.

Die skandinavische Küste – im Flug war sie erreicht. Weiter, weiter nach Süden. Fjord an Fjord, Fjord nach Fjord. Wie im Fluge schossen sie daran vorbei. Bis die mitternächtige Stunde schlug, bis der vom Leuchtturm … Dann brach es ab … brach ab … ein paar Bruchstücke.

Was hatte er getan, der Geheimnisvolle? Immer wieder die Frage. Was hatte er getan?

In stundenlangem Brüten hatte er sein Gehirn zermartert, das zu ergründen. Es gelang nicht, gelang auch nicht, den Weg zu finden, zu dem Traum … Traum. War das ein Traum? Vineta? Die versunkene Stadt im Ostmoor. Die Sage, die sich daran knüpfte … gewiß! Er kannte sie von Jugend auf.

Aber das andere, was er wie im Traum weiter gesehen? Das Bild, wie sie dalag an der Nordspitze der Insel. Oben die Burg, zu ihren Füßen die Stadt.

Er war darin gewesen, war über Straßen und Plätze gegangen. Hatte das reiche Leben gesehen, das sich dort abspielte.

Ein Traum? Wie konnte er träumen, was er nie gewußt, was er nie gelesen, was seine Sinne nie aufgenommen? Er hatte sich nach Hamburg gewandt, hatte sich verschafft, was die Forschung über Vineta ergeben. Da stand es schwarz auf weiß … was er geträumt. Die Bilder, die er gesehen, da waren sie.

Er hatte gegrübelt, ob ihm nicht doch jemals das schon vorher zu Gesicht gekommen, ob es nicht doch nur ein Widerspiel im Schlaf gewesen. Nein! Sein Seelenheil hätte er verwetten mögen, daß er nie gelesen, was ihm der Traum zeigte.

Und nun das, was hinausging über die Grenzen … über alle Grenzen des klaren Verstandes. Nach langem Schlaf war er in seinem Zimmer erwacht … kämpfend mit den wirren Eindrücken des Erlebten.

Die Zeitung hatte er ergriffen. Das armselige Blatt, wo es stand: Die Stätte, wo einst Vineta lag, ist wieder erstanden. Seine Augen hatten an der kleinen Notiz gehangen, als gelte es Leben und Sterben für ihn.

Immer wieder hatten seine Lippen die Worte wiederholt: Die Stätte, wo einst Vineta lag, ist wieder erstanden.

Zuviel. Das war zuviel! Mechanisch hatte er das Blatt in die Tasche gesteckt, war zur Grube gegangen, war eingefahren. Wie Feuer hatte ihm das in der Tasche gebrannt. Immer wieder beim trüben Schein der Grubenlampen hatte er es herausgezogen, gelesen: Die Stätte, wo einst Vineta stand, ist wieder erstanden.

Der Morgen … unvergeßlich war die Erinnerung daran … die Erinnerung an jene Fahrt und alles, was dann folgte.

Nur mit größter Willensanstrengung hatte er sich vom Alpdruck der Erinnerung an diese Fahrt befreit. Den alten Leuchtturm hatte er seitdem gemieden. Dessen Anblick allein schon hätte genügt heraufzubeschwören, was er mit aller Kraft zu vergessen suchte.

Jetzt stand er am Fuße des Turmes. Vor ihm die Stufen, die zu der Pforte führten. Er strich sich mit der Hand über die Stirn, als wolle er alle die Bilder … Erinnerungen, die der Weg hierher in ihm wachgerufen, verscheuchen.

In dem Wohnraum hatte ihn Uhlenkort empfangen. Allein … der andere war nicht da … war oben im Laboratorium in der Laterne.

Uhlenkort hatte zunächst ein paar gleichgültige Worte über den Abbau des Minenbetriebes, den Abtransport der Belegschaft gesprochen. War dann auf die Frage übergegangen: Wohin? Die Frage, die einzige Frage!

Was gab es noch für andere?

Er, Tredrup, hatte ihm von seinem Plan gesprochen, eventuell in den Uralgruben Beschäftigung zu suchen. Uhlenkort hatte genickt, war dann auf andere Ziele übergegangen, auf Südafrika.

Da hatte er verweilt. Hatte gesprochen. Wie dies Land, in erster Linie bestimmt, Massen der Auswanderer aufzunehmen, am Vorabend eines Krieges stände. Wer würde eine neue Heimat suchen in einem Lande, das von einem schweren Krieg bedroht sei? …

Der Kaiser Augustus das … Salvator.

Timbuktu der Obermoser …

Die paar Worte, die Tredrup damals achtlos gesprochen … Uhlenkort hatte sie ihm jetzt wiederholt. Ihn wie beiläufig gefragt, wie er das gemeint, wie er sich das gedacht. Tredrup hatte ihm die Erklärung gegeben, noch immer ohne Ahnung ihrer vollen Bedeutung. Uhlenkort hatte lange Zeit in tiefem Nachdenken gesessen, hatte ihn angeblickt, als wolle er in seinem Innersten lesen. Hatte dann gesagt:

»Sind Sie orientiert über die Schwierigkeiten, die gegenwärtig zwischen der Regierung der Südafrikanischen Union und der des Kaisers Augustus bestehen?«

»Gleichberechtigung der Rassen!« Achselzuckend hatte es Tredrup erwidert. »Der eine will’s, der andere will’s nicht. Doktorfrage! Was weiß ich? Ich kenne sie alle, die Rassen auf der Welt.

Gleichberechtigung? Die Frage hat mir nie Anlaß zum Nachdenken gegeben.«

Und dann hatte Uhlenkort zu ihm gesprochen. Lange, eindringlich, bis es auch ihm klar geworden. Die Bedeutung der Frage:

Gleichberechtigung der Rassen … gleichbedeutend mit dem Abstieg der weißen Rasse. Erste Stufe eines Abstiegs, der weiter und weiter zum Unterliegen führen mußte.

Tredrup hatte gesessen, alles um sich vergessend. Bis das Wort Tschadseeschlacht ihn weckte. Noch einmal hatte Uhlenkort die Worte wiederholt, die Tredrup beim Obermoser gesprochen. Dann hatte er gewußt, um was es ging.

Erste instinktive Regung: Weigern! Diese Aufgabe … riesengroß hatte sie vor ihm gestanden. Schon war sein Mund geöffnet zu dem Wort: Unmöglich.

»Sie wären der einzige in der Welt, der es könnte.«

Wie ein Hieb hatten ihn diese Worte Uhlenkorts getroffen. Er, der einzige in der Welt … er, Tredrup. Das Wort haftete in seinem Hirn, dem Ansturm kühler Überlegung spottend. Aufgesprungen war er, hatte dem anderen die Hand gereicht.

»Ich tu’s!«

Uhlenkort hatte noch weitergesprochen. Tredrup hatte nichts davon gehört. Seine Gedanken waren bei der Tat. Noch am selben Tag war Uhlenkort zurück nach Hamburg geflogen, hatte ihn mitnehmen wollen.

Doch er hatte es abgelehnt. Seine Belegschaft wenigstens ein Stück des Weges zu geleiten lag ihm am Herzen.

Und so stand er jetzt am Stettiner Kai. Abschiednehmend von ihnen, die sich um ihn drängten, immer wieder seine Hände ergriffen und schüttelten, ihm das Versprechen abzwangen, sie aufzusuchen da drüben im alten Land in Asien. Das Postflugzeug, das von Hafen zu Hafen die Küste entlangstrich … Stralsund … Tredrups Hand glitt von dem Kabinenfenster ab, legte sich lieber die Augen. Suchend glitt sein Blick nach Nordosten. Die alten Bilder waren wieder da.

Vineta! Ein Zauberwort! Es zwang ihn. Er rief den Steward.

»Mein Gepäck weiter nach Hamburg! Ich steige aus … folge mir einer der nächsten Maschinen.«

Ein flinkes Hochseeboot fuhr eben hinüber. Er sah auf dem Vorderdeck. Das Glas ruhte in seiner Hand. Was er im Traum gesehen, was jetzt sein leibliches Auge sah, verschmolz zu einem Bild. Da war Rügen … Da war seine Südspitze … jetzt … da war die Rudenbucht, die Südspitze von damals. An ihr vorbei. Der Oderarm. An seinem Ostufer wieder wie damals … Vineta. Seine Augen starrten darauf. Was er da sah … im hellen Sonnenschein. Das Bild, es kam … es ging. Die Stadt mit der ragenden Burg … das graue, kahle, schlickbedeckte Land …

Visionen, wechselnd wie im Kaleidoskop. Bald das … bald das. Was war Wirklichkeit? Was war es? Die Frage! Aber dann stand er an Land.

Sie hatten die Anker geworfen. Sah den Boden, den seine Füße traten.

Er beugte sich hinunter, daß seine Hände den feuchten, kühlen Boden berührten. Sand … Schlick! Wie draußen auf den Watten der Nordsee zur Zeit der Ebbe. Wie da oben auf dem neugeborenen Black Island.

Black Island … Vineta … ein Rätsel wie das andere. Eine Lösung wie die andere. Was war’s? Die Lösung. Beide … aus dem Meer waren sie entstanden … gewachsen wie das Korn auf der Flur, das der Sämann in die Erde gesenkt. Der Sämann! War’s nicht der Geheimnisvolle … in seinem Boot? Black Island … Vineta …

Vergeblich kämpfte Tredrup mit den wirr sich überstürzenden Gedanken. Die alte Klippe! Immer wieder scheiterte er daran. Wo blieb der Zusammenhang, für eines Menschen Geist begreiflich? Er taumelte vorwärts, die Füße haftend in dem zähen Sand.

Dem alten Land zu! Usedom! Er stolperte, stürzte, richtete sich auf.

Tiefe Gruben durchzogen den Boden. Da lagen Spaten, Hacken. Frische Menschenarbeit.

Weiter! Eine leichte Wellblechhütte vor ihm. Er kam heran, trat ein.

Zwei Männer saßen darin. Bei seinem Eintritt drehten sie sich um.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie?«

Einen Augenblick stand er, keuchend, tief atmend, bis er die Antwort fand. »Ich kam von Stralsund mit dem Schiff. Ich suchte Vineta und …«

»… fanden es nicht!« Der Ältere fiel ihm lachend in die Rede. »Sie glauben wohl, hier im alten Vineta wie in den Ruinen Pompejis wandern zu können. Durch die Mauern der alten Jomsburg steigen zu können?

Nein, mein Lieber.«

Er lachte. »Die werden Sie nicht sehen … nie sehen. Nie wird ein Mensch – mögen auch die Ausgrabungen noch so weit vorschreiten –, nie wird ein Mensch das Bild vor Augen haben, wie sie aussah, die versunkene Königin des Meeres: Vineta! Wie schön ihr Gesicht war, wie köstlich ihre Kleidung!«

Tredrup stand da, starrte den Mann an. Es schrie in ihm, zu sagen: Ich weiß, wie es aussah … Ich kann es euch zeigen und malen, das Bild der Königin Vineta … Ich sah sie … war ihr Gast … sah sie sterben …

Sein Blick fiel auf einen Haufen Geräte … Rüstzeug, das man aus dem Schlamm geborgen, angerostet. Es schrie in ihm, zu sagen: Ich sah den Helm … das Schwert in der Hand des Wikingers, der auf stolzem Ross von der Jomsburg nieder ritt zur Stadt. Ich sah die Zinnkelche in den Händen der Trinker in den Herbergen. Hörte den Klang der Glocke vom Turm Sankt Maria klingen.

Der andere schob einen Stuhl an ihn heran.

»Sind Sie krank, Mann? Was haben Sie? Setzen Sie sich. Was erregt Sie so?«

Er setzte ein Glas Wein vor Tredrup hin. Der stürzte es hinunter.

Noch eins! Noch eins …

Die Bilder schwanden. Die graue Wirklichkeit stand vor seinen Augen. Er erhob sich, folgte den beiden, die ihn hinausführten, ihm zeigten, was die See und die Erde wiedergegeben von der versunkenen Stadt.

Und dann stand er. Die Sonne war verschwunden … Ein dünner kühler Regen rieselte vom Himmel. Tredrup nahm den Hut vom Kopf. Ein leichtes Wohlbehagen durchströmte ihn. Hinüber über Schlick und Land ging sein Blick zum Boot.

Zurück, Schemen! Nacht! Rätsel!

Weg! Nach Hamburg! Nach Süden! Der Sonne zu, dem Licht zu … der Tat zu!

Ein kleiner Raum. Die notwendigsten Möbelstücke darin. Kaum erhellt von den wenigen Strahlen, die das Sonnenlicht durch das kleine Fenster warf. Kein Gitter vor den Fenstern zwar … das Zimmer des Untersuchungsgefangenen James Smith.

Die lange, sehnige Gestalt auf dem Bett ausgestreckt, die mächtigen Schultern die Breite des Bettes bedeckend. Die Rechte schlaff zum Boden hängend. Ein Bündel Zeitungen am Boden verstreut, als wären sie eben der Hand entglitten.

Der Isthmus … der Golfstrom … Europa … von überall her grinsten die Aufschriften zu ihm empor. Seine Linke preßte sich auf die Augen, drückte sie fest zu, als wolle sie sie von diesen Worten, diesen folternden, marternden Worten befreien. Waren nicht allein schon die Gedanken genug? Die Gedanken, die nicht loskonnten von dem Isthmus … dem Golfstrom … dem sterbenden Europa?

Die große Gestalt bog sich, reckte sich, sprang auf. Die Füße traten und stampften auf die Schlagzeilen der Blätter. Von einer Wand zur anderen. Fünf Schritte hin und her. Immer schneller … rasend, bis er tief atmend stehen blieb. Seine Rechte klammerte sich um den Bettpfosten.

Wo gab es einen irdischen Richter, der schwerere Strafen über ihn hätte verhängen können, Schwereres als das, was er jetzt schon litt, gelitten hatte seit jenem Tage? Er preßte die freie Hand vor die Stirn.

Wie war das möglich gewesen? Er, James Smith, unterlegen dem Glanz des Goldes? Er, James Smith, dem das Gold nie mehr bedeutet hatte als die Möglichkeit zu leben? Er, dem nur das große Ziel, nur die Arbeit Befriedigung gegeben hatte?

Seine Gedanken flogen zurück. Zu seiner Jugend, zu den Anfängen seiner Tätigkeit als Ingenieur. Gold! Nie hatte es ihn gelockt.

Etwas leisten! Etwas Großes leisten. Das war immer das Ziel gewesen.

Der Panamakanal, der Isthmus! Er, der Chefingenieur! Der Gipfel aller seiner Wünsche. Was gab’s da noch mehr? Das schmale silberne Band von Ozean zu Ozean. Auf ihm sich kreuzend, sich überholend die Schiffe aller Nationen der Erde.

Sein Werk. Ein Werk. Groß, größer als das der Pyramiden des Altertums, unvergänglich für alle Zeiten. Unvergänglich sein Name damit verknüpft.

Die Cheopspyramide! Durch vier Jahrtausende trug sie den Namen ihres Schöpfers. Smith! … ein simpler Name. Und doch! Durch Tausende von Jahren würde die Welt ihn nennen … Smith-Kanal …

Seine Rechte ließ den Bettpfosten los. Er sank auf das Lager zurück.

Alltäglich dasselbe. Dieselben Fragen und Antworten … täglich dasselbe. Ohne Schlaf, Tag und Nacht … und jetzt?

Das Werk war getan. Und er sein Schöpfer. Schöpfer! Ein gräßliches Lachen gellte durch den Raum … Nein! Er war nicht der Schöpfer! Er war’s nicht! Jener war’s … dieser Teufel … Rouse. Er war es, der hierher gehörte an seiner Statt. Der hätte alle diese Qualen und Martern der vergangenen Tage erdulden müssen.

Er packte eins der Blätter, hob es auf. Da stand es: Mister Rouse ist aus gesundheitlichen Rücksichten nach Afrika gereist.

Seine Hände zerrissen den Bogen, warfen die Fetzen zu Boden. Er stampfte mit den Füßen darauf. Der Teufel! Zur Hölle! Das wäre sein Weg gewesen. Seine höllischen Kräfte allein waren es, die ihn zur Tat gebracht, gezwungen hatten!

Wie stand’s in der Schrift? Und der Versucher führte ihn auf einen Berg und zeigte ihm alle Schätze der Erde.

»Fünf Millionen Dollar waren es, die er mir zeigte. Und ich unterlag … unterlag? Nein, ich unterlag nicht. Der gleißende Glanz des ungeheuren Goldbergs blendete mich einen Augenblick. Einen Augenblick … dann wäre der gleißende Glanz verglommen. Einen Augenblick … da kam sie – Juanita –, von ihm geschickt!«

Er preßte die geballten Fäuste vor die Augen. Sein Atem ging keuchend. Auch das … wie war das möglich gewesen, wie kam es, daß er, daß sein kühler, klarer Verstand dem Girren dieses Weibes unterlag?

Mit einem jähen Ruck warf er sich in die Höhe. Mit einem Satz war er am Fenster, riß es auf. Seine Fäuste krampften sich um das leere Kreuz.

Ein Ruck, ein Sprung, und er wäre draußen. Die Wachtposten davor … er schlüge sie nieder oder stürbe von ihren Kugeln. Seine Sehnen spannten sich zum Sprung.

Nein! Die Hände glitten nieder. Wo blieb dann seine Rache an ihm?

Rache für alles, was er erduldet. Die Gerichtssitzung, er konnte sie nicht erwarten. Da würde er sprechen … In der öffentlichen Sitzung. Die volle Wahrheit. Alles so, wie es gekommen. Rückhaltlos würde er da die Wahrheit sagen. War’s auch sein Verderben … der andere mußte mit.

Der Schlüsselbund des Schließers. Er kannte den rasselnden Klang.

Was wollte er jetzt?

»Eine Dame, Mr. Smith, will Sie sprechen.«

Eine Dame? Sein Atem stockte … Juanita? Was er gedacht, hatten seine Lippen geschrieen.

»Juanita!«

»Ja, Mr. Smith, ich bin es. Sie erwarteten mich … wie es mich zu Ihnen trieb.«

Der Schließer war hinausgetreten. Der Schlüssel drehte sich im Schloß. Die beiden standen sich gegenüber. Sekundenlang. Dann schritt sie auf ihn zu … näher … näher, bis ihre Körper sich berührten. Ihre beiden Hände legten sich auf seine Schultern. Ihr Mund schob sich an sein Gesicht heran.

»James! Sie erwarteten mich … erwarteten mich heute … gestern … vorgestern … an all den Tagen, die man Sie hier gefangen hielt. Ich weiß es, ich wußte es … Ich wollte kommen. Täglich wollte ich kommen. Es ging nicht. Aber jetzt bin ich da. Jetzt bin ich bei Ihnen, James.«

Smith stand starr. Langsam hoben sich seine Arme zu ihrem Gesicht.

Die massigen Hände umklammerten den schmalen Kopf, seine Augen bohrten sich in ihre, drohend, fragend …

»Juanita!«

Das Wort, es rang sich aus tiefster Brust herauf. Sie schloß sekundenlang die Augen. Die versteckte Drohung, die im Ton des Wortes lag, spürte sie, ihr Herz bebte … diese Hände … ein Druck, und er würde sie zerquetschen.

»James!« flehte sie in Todesangst.

Seine Hände ließen los, glitten an ihr nieder, faßten ihre Hände.

»Juanita!« Wie ein Schrei aus tiefster Not brach es aus seiner Brust.

Seine hohe Gestalt sank zusammen. Seine Hände umklammerten sie.

»Juanita! Du warst es, die mich zwang. Du zwangst mich. Jeden Tag, jede Stunde, die seitdem vergangen, schrie es mir zu. Deine Hand war’s, die mich leitete, die meine Hand führte … Ich versinke … ich kann nicht mehr … rette mich … führe mich hinaus, wie du mich hineintriebst!«

Juanita stand da, ihre Blicke dem kleinen Fenster, dem Tageslicht zugewandt. Ihre Hände krampften sich in ihre Brust.

Da war er wieder in ihrer Gewalt! Doch kein Gefühl des Triumphes in ihr! Helfen? Sie? Dem Versinkenden? Sie, die selbst versank in Not und Qual? Nein! Ihre Hände schlug sie vors Gesicht … Ihre Aufgabe … diesen Mann stark machen! Daß er festblieb vor dem Gerichtshof! Ein Schrei brach aus ihrem Munde. War’s Lachen … war’s Weinen? Und dann kam es wieder … der Feind … der böse Husten. Die schlanke, schmale Gestalt bebte unter seinen Erschütterungen. Bebte, daß James seine Hände sinken ließ, sich aufrichtete und sie anstarrte. Was war das?

Was war mit ihr? Die zarte Gestalt zitterte und krümmte sich in schwerstem Schmerz.

Die eine Hand an das schlagende Herz gepreßt, die andere vor die zuckenden Lippen … die fiebrig glänzenden Augen halb geschlossen …

Dieser Anblick war zuviel für ihn.

Vergessen war alles, was ihn die Tage und Nächte gemartert hatte.

Vergessen Ruf und Ehre … Vergessen sein Feind.

Juanita! Sie allein zählte. Nichts anderes mehr!

Mit einem Sprung war er bei ihr. Er trug sie zum Lager, bettete sie, streichelte ihr Gesicht. Seine Lippen stammelten wirre Worte …

»Die Besuchsstunde ist vorüber.«

Der Schließer stand vor ihnen. Von Smiths Arm geleitet, schritt Juanita der Tür zu. Die Tür fiel ins Schloß.

Die »Abraham Lincoln«, achtzigtausend Tonnen, Turbinenschiff auf der Route Valparaiso-New York, hatte die Galapagosinseln hinter sich und setzte Kurs auf den Kanal von Panama.

»Kap Azuero in Sicht!«

Die Lautsprecher hatten es gerufen. Wie ein Lauffeuer ging es durch alle Räume des mächtigen Schiffes! Kap Azuero! Das Wort weckte die Tausende von Passagieren, die der Bauch des Riesenschiffes barg.

Azuero! Bis vor kurzem noch Halbinsel am Isthmus, jetzt das Südkap von Nordamerika. Kontinent Amerika; der frühere Begriff der großen von Pol zu Pol zusammenhängenden Landmasse war ja hinfällig geworden.

Gewiß, schon seit Jahrzehnten hatte eine kleine Wasserstraße zwischen den beiden Ozeanen bestanden. Ein kleiner, schmaler Wasserpfad, auf dem die Schiffe vermittels mächtiger Schleusen über das Land hinweggehoben wurden. Ein Wasserpfad, der schließlich doch nur einen mikroskopisch feinen Riß auf der Erdkruste bedeutete.

Aber was war jetzt da? Eine zweihundert Meilen breite Riesenkluft.

Ein weiter Meeresarm. Ein Tummelplatz für die Gewässer der beiden Ozeane, die sich hier im freien Spiel der Kräfte maßen. Die Landbrücke des Isthmus an dieser Stelle verschwunden, zwei Kontinente jetzt, der nordamerikanische, der südamerikanische.

Ein Ereignis von ganz unvorstellbarer Größe hatte das vermocht. Doch nicht aus sich selbst heraus war es geschehen. Menschenhand hatte einen für Menschengedenken ewigen Zustand in Minuten vernichtet, älteste Weltordnung über den Haufen geworfen. Das Ungeheure des Geschehens, das Ungeheure seiner Folgen hatte seit jenem Tage unzählige Scharen von Schausüchtigen, Neugierigen dorthin gezogen.

Gab auch das neuentstandene Meer allein nicht die gewünschte Sensation, so fand sie sich bei dem Besuch der noch stehenden Zeugen des zerfetzten Isthmus. Freilich ein ergreifendes Bild.

Die reiche, blühende Landschaft war Wüste, Chaos! Die kühnste Phantasie durch die Wirklichkeit übertroffen. Berge, wo Täler, Täler, wo Berge! Flüsse … ihr Jahrtausendealter Lauf verschwunden … neue entstanden! Alle menschlichen Behausungen bis zur leichtesten Indianerhütte zerstört. Tausende und aber Tausende von Menschen getötet … verschüttet … verbrannt … ertrunken. Das sterbende Europa war das letzte, fürchterlichste Glied dieser Kette von Unheil.

Vom Tag der Abfahrt an war dies das Tagesgespräch der Passagiere gewesen … war es geblieben, die Spannung steigernd bis zu dem Augenblick, wo man vom Schiff aus mit eigenen Augen ein Bild – war es auch nur ein kleiner Ausschnitt des Riesengeschehens – sehen mußte.

Sie kamen auf Deck gestürzt.

Azuero! … Azuero!

Der Kapitän auf der Brücke, zu seinem Navigationsoffizier gewandt, wies lachend auf die Menge, die sich an die Reling drängte.

»Bis Mittag können sie warten, ehe sie ihre Neugier befriedigen können. Und dann«, er lachte laut, »werden sie lange Gesichter machen.

Wir werden uns dicht an der Westküste halten. Die Ostküste ist nach den letzten Segelanweisungen nicht frei von Riffen. Es wäre Zeit, daß die Regierung neue Seekarten herausbringt. Aber die Vermessungsarbeiten dafür scheinen der amerikanischen Schiffahrt aufgepackt zu werden. Lotungen, Peilungen, Temperaturen, Strommessungen – das Schiffahrtsamt verlangt alles von uns.«

Er nahm das Glas vor die Augen.

»Da hinten! Das leichte Kräuseln im Westen und Osten! Es müssen schon die Ränder des neuen Stromes sein. Lassen Sie mit den Messungen beginnen. Ich bin selbst auf das Ergebnis neugierig. Ist es doch auch für mich das erstemal, daß ich auf diesem Meere fahre.«

In einem Liegestuhl des Oberdecks lag Christie Harlessen. Sie preßte die Hände an die Stirn. Wie eine körperliche Qual empfand sie das laute Tun und Treiben der Passagiere. In der Mehrzahl waren es ja Amerikaner.

Aber doch – sie wußte es aus der Schiffsliste – befand sich auch eine beträchtliche Anzahl von Europäern, auch aus den nordeuropäischen Ländern, an Bord. Wie konnten die? War es nicht genug, das Bewußtsein allein: Europa stirbt? Konnten diese ihre Neugier an der Quelle des Unheils nicht bezähmen? Mußte nicht jeder Schraubenschlag des Schiffes, der sie näher heranbrachte, sie niederdrücken?

Seit jenem Tag … jede Minute des Tages stand ihr deutlich vor Augen.

Der Kampf um die Schiffe von Sonnenaufgang bis Untergang … der Sieg … Triumph … unendliches Hochgefühl im Herzen. Die Millionen gerettet für die Firma Harlessen und Uhlenkort.

Durch sie! Die Harlessen und doch Fremde. Fremde? Nein! Die geretteten Schiffe, sie wischten es fort, das Wort »fremd«. Die kostbare Ladung der Schiffe gerettet durch sie, diese Tat öffnete das Tor, das zur Heimat führte. Hamburg … Heimat … wo blieb es jetzt?

Der Strom der Völkerwanderung, vom Norden Europas einsetzend, zum Süden flutend, sich zerteilend nach allen Himmelsrichtungen … wohin würde er das führen, womit sich ihr der Begriff Heimat verband?

Wo in der Welt würden Harlessen-Uhlenkort ihren neuen Sitz gründen, aus dem neue Heimat entstand – wenn es überhaupt noch möglich war?

Politik! Nie hatte sie sich darum gekümmert. Gleichgültig war ihr das Wort geblieben. In jenen Tagen erst, in denen sich die Fäden von ihr zu Harlessen-Uhlenkort gesponnen hatten, war es ihr ins Bewußtsein getreten. Überall in der Welt saßen die Vertreter der Firma, überall waren ihre Interessen verknüpft mit der Weltwirtschaft. Doch die Hauptadern, die Kohlengruben in Spitzbergen, die Zinngruben in Südafrika: unabwendbares Unheil stand darüber.

Walter Uhlenkort! Er, der Kopf, das Gehirn des Ganzen! Wo war er jetzt? Im Geiste fühlte sie sich an seiner Seite stehend. Übernatürliche Kräfte fühlte sie in sich, ihm zu helfen, sein Werkzeug, seine Gehilfin zu sein. Was war jetzt noch ihre Tat? Was waren die geretteten Millionen gegenüber dem Zusammenbruch, der alles verschlingen mußte und auch sie zu verschlingen drohte?

Ein Freudenschrei, von Backbord beginnend, pflanzte sich über das Schiff hin.

»Die neue Küste! Der Kanal! Das neue Meer!«

In wirren Rufen klangen die Worte über das Schiff. Das steuerte Nordnordwest. Von Steuerbord strömten die Massen zur Backbordreling. Da! Da mußte etwas zu sehen sein! Näher fuhr man an der neuen Küste. Christie sprang auf. Unerträglich dieses Schreien, Jubeln der Neugierigen. Sie ging hinunter in ihre Kabine, warf sich dort auf das Bett.

Nur der Gedanke: Allein sein! Weg von diesen! Sie war allein … gewiß. Der Lärm von Deck drang nicht bis zu ihr hinunter.

Und doch! Ihre Gedanken kamen nicht los von dem, was sie peinigte, marterte von jenem Tage an. Stunden verrannen. Sie hörte nicht, wußte nicht, wie sie von dem einen in den anderen Ozean in freier, breiter Fahrt hinübergekommen war. Uhlenkort … Hamburg … ihre Gedanken gingen um diese beiden Worte.

Der Kapitän starrte auf die Tabellen, die der Navigationsoffizier vor ihm ausgebreitet hatte.

»Die Tiefenmessungen? Fast durchgehend mehr als tausend Meter!

Ich verstehe das Stöhnen der Erde … die Wunde, die ging tief …

Wasserwärme achtundzwanzig Grad. Der Golfstrom … schon die Temperatur allein sagt’s. Fahrtversetzung? Fünf Meilen! Das heißt, der Golfstrom auf seinem neuen Weg durch die Landenge verringerte unsere Fahrt um fünf Meilen in der Stunde. Kein Zweifel mehr! Der Golfstrom fließt restlos im neuen Bett.

Die Folgen für Europa? Fehlt er, fehlt auch die Golfdrift … fehlt die Kraft, die das Wasser des Atlantiks in warmem Strom nach Norden riß, dort oben Leben und Lebensmöglichkeit spendete …

Ah! Der Gong schlägt zum Abendessen. Die Reling wird leer. Das mag jetzt ein schönes Geschnatter an der Tafel geben.«

So war es auch, wenn es auch nur wenig gewesen, was die neugierigen Augen gesehen hatten. Deshalb hielt sich das Thema von der Kanalkatastrophe nicht allzu lange als Tischgespräch und war nur zu bald erschöpft.

Seeräuber! Das ältere, beliebteste Thema der Schiffspassagiere dieser Zeit! Am untersten Ende der Tafel aufgeworfen, eilte es wie ein Stichwort von einem zum anderen. Allerdings war man jetzt im Atlantik in belebtester Fahrstraße. Westlich die amerikanische Küste, östlich die Antillen. Ganz aktuell war hier das Thema nicht. Der Stille Ozean in seiner südlichen Ausdehnung mit viel schwächerem Verkehr war das eigentliche Feld für die modernen Piraten.

Als hätte man nur auf das Stichwort gewartet, schwirrten die Geschichten von den Piratenstückchen – sich übertrumpfend an Frechheit, Tollkühnheit – durch den Raum. Schon hatte sich ein Schleier von Romantik um dieses neue, früher kaum noch der Sage nach bekannte Freibeutertum gewoben. Da waren zum Beispiel einzelne Piratenkapitäne – sie erfreuten sich der besonderen Hochachtung des Publikums –, die mehr aus politischen als aus verbrecherischen Instinkten diese Laufbahn ergriffen hatten. Motive aller Art, von den edelsten hinab bis zu den verworfensten, sollten die Triebfedern dieser modernen Seehelden sein, die schließlich – die Motive sprachen da nicht mit – doch meistens lebenslängliche Haftstrafe ereilte.

Auch die andere Seite, die Seepolizei der Mächte, bot hervorragende Figuren, die Besonderes in der Verfolgung und Bekämpfung der Freibeuter leisteten. Ihr Kampf war sehr schwer. Fanden doch die Seeräuber bei manchen Staaten offene oder geheime Unterstützung. Auf freier See bei frischer Tat ihnen beizukommen war so gut wie unmöglich. Sie in ihren Schlupfwinkeln aufzusuchen, dort zu bekämpfen, darin sie zu vernichten, die einzige Möglichkeit.

Schlupfwinkel für ein U-Boot? Die Wasser der Erde boten unzählige.

Der große Aktionsradius der Boote – mit ihren Atomreaktoren konnten sie monatelang auf See fahren, ermöglichte es ihnen, Stützpunkte an den entlegensten Stellen des Weltmeeres zu wählen. Bis zu den Polen hin waren sie bei entlegenen Inseln, an abgelegenen Küsten versteckt. Doch besonders guten Unterschlupf bot den Piraten der Stille Ozean mit seinen unzähligen kleinen Koralleninseln, die kein Verkehr berührte.

So manche Tragödie hatte sich hier abgespielt, von der die Zeitungen und Magazine spaltenlang berichteten. Der übliche Gang! Ein Schiff fuhr. An Bord alles sorglos. Da, plötzlich ein Schuß, ein zweiter, ein dritter, und die Antennen der Funkanlage sind zerstört, bevor das überraschte Schiff um Hilfe funken kann.

Die Musik bricht jäh ab. Der Kapitän stürzt auf die Brücke. Längsseit der graue Leib eines U-Bootes. Keine Flagge … Ein Boot mit Bewaffneten … Hands up! Das alte Räuberwort …

Eine halbe Stunde später taucht das U-Boot mit seiner Beute an Geld und Geiseln … wie sich’s traf. Altes, schon längst Gehörtes. Die geschwätzigen Lippen wiederholten es hier an Bord der »Abraham Lincoln« zum hundertsten Male.

Das neueste, beinah stärkste Stück! Es war in aller Munde. Der Herzog von Bloomfield befand sich auf der Fahrt von England nach New York.

Auf seiner Rapid-Jacht, um an den Regatten von Atlantic Company.

teilzunehmen. In Sicht der amerikanischen Küste. Scharfer Schuß vor den Bug, zweiter über den Steven. Die Jacht versucht zu fliehen …

Schuß in die Schraube. Er funkt um Hilfe … Schuß in die Antenne.

Das feindliche Boot legt an. Das alte Rezept. Und doch! Dies ist ein Extrastück, hier im belebtesten Teil des Weltmeeres.

Von allen Seiten eilen Schiffe herbei, die den Hilferuf noch vernommen hatten, große, kleine; die Bewaffneten darunter lösen ihre Geschütze, schießen auf den Räuber. Der wehrt sich, erwidert das Feuer mit schwerem Geschütz. Ein Seekampf! Die großen Schiffe werden getroffen, Feuer bricht aus, Boote stoßen ab … der Seeräuber wehrt sich wie ein gestellter Eber, verbirgt sich hinter der gekaperten Jacht und taucht weg. Die Hilfe kommt heran, zu spät! Der Herzog ist geraubt, mitgeführt auf dem verschwundenen U-Boot.

Am nächsten Tag erhält seine Familie Nachricht: Lösegeld, eine Million Dollar in bar, abzuwerfen vom Postflugzeug London-New York am 12. Februar in Schwimmboje zehn Uhr dreißig Minuten vormittags.

Geschieht dies, so wird der Herzog unverletzt an Land gesetzt. Bei Verweigerung des Lösegeldes oder Verfolgung durch englische Polizei ist das Leben des Herzogs verwirkt. Und es geschah, mußte so geschehen, wie es die Herren Piraten wollten. Das Postflugzeug warf die Boje mit dem Lösegeld zur bestimmten Zeit ab. Es war beinahe lächerlich, die Sorge in der Öffentlichkeit drehte sich weniger um das Leben des Geraubten, als darum, ob der Pirat auch die Boje mit dem Geld finden würde.

Wetten wurden abgeschlossen. Ein Kordon von U-Booten umzog den mittleren Atlantik. Die sahen, wie die Boje aufgenommen wurde, und mußten tatenlos zusehen. Denn der Geraubte war ja noch an Bord des Räubers. Jeder Schritt, den Piraten zu fangen, brachte das Leben des Herzogs in Gefahr.

Drei Tage später wurde der Herzog an der amerikanischen Küste abgesetzt, kam nach New York. Ein Heer von Interviewern lagerte vor der Tür seines Hotels.

Die Meinung des Herzogs: »Nette Leute, die Herren Piraten, vollkommene Gentlemen, habe keine Bequemlichkeit vermißt, tadellose Verpflegung und Unterkunft, modernstes Zehntausendtonnenboot. Ein höchst interessantes Erlebnis, mit einer Million nicht zu hoch bezahlt …

Konversationsstoff bis ans Lebensende …«

Der Herzog nahm die Sache von der leichten Seite. Doch nicht immer war es so gegangen, daß die Betreffenden es als interessantes Abenteuer buchen konnten.

»Jamaika Nordost voraus!«

Der Lautsprecher meldete es von der Brücke her durch den Speisesaal.

Der Kapitän der »Abraham Lincoln«, der mit an der Tafel saß, nickte kurz, hob sein Glas.

»Auf einen weiteren glücklichen Verlauf der Reise, nachdem wir die Durchfahrt durch das neue Meer hinter uns haben!«

Der scharfe Knall eines Schusses! Die Hände sanken von den Gläsern.

Noch ehe eine Stimme das Wort »Schuß« herausbrachte, ein zweiter Knall.

»Seeräuber!«

Eine Frauenstimme gellte es über die Tafel. Mit einem Ruck gingen alle Blicke nach dem Kapitän. Der stand auf, das gebräunte Gesicht erblaßt. »Seeräuber? Hier Seeräuber? Unmöglich … unmöglich …«

Er murmelte ein paar undeutliche Worte zu den Gästen …

»Keine Beunruhigung …«, und stürmte hinauf. Kam an Deck … eine Granate pfiff über seinen Kopf hinweg, riß die Antenne ab.

Keuchend stand er auf der Brücke. Schon hatte der Wachoffizier das Kommando »Stopp« gegeben, schon schlugen die Maschinen rückwärts.

»Wo? Woher? Der Schuß!«

»Nordost voraus U-Boot«, schrie der Wachoffizier.

»Flagge?«

»Nicht zu erkennen … die Dämmerung …«

»Unmöglich!« Der Kapitän murmelte immer wieder das eine Wort.

»Unmöglich. Es wird ein Boot der USA sein, das uns hier anhält.

Weiß der Teufel, was sie wollen!«

»Ein Boot stößt ab«, rief der Wachoffizier unter seinem Glas hervor.

»Uniformen?«

»Noch nichts zu sehen … sie kommen näher … das Boot ist voll Bewaffneter!«

»Flagge?«

»Keine Flagge! Seeräuber!« Der Wachoffizier schrie es.

Der Riesenrumpf der »Abraham Lincoln« glitt kaum noch durch die Dünung, stand fast still. Die Sonne tauchte hinter dem Isthmus unter, den Tag mit sich hinabziehend.

»Fallreep herunter!« brüllte es von dem Boot.

Das Fallreep sank.

»›Abraham Lincoln‹? Kapitän Frederik White?« Eine schneidige, scharfe Stimme schrie es zur Brücke hinauf.

Der Kapitän war starr. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?« stammelte er.

»›Abraham Lincoln‹ von Valparaiso nach New York? Kapitän Frederik White?«

Der bejahte.

»Der Kapitän ist mein Gefangener! Schiffsliste! Tresorschlüssel!

Passagiere und Mannschaft unter Deck!«

Kaum kam das Wort von seinen Lippen, waren die Decks wie reingefegt.

»Maschinengewehre an ihre Posten!«

In Minuten waren alle wichtigen Punkte des Schiffes besetzt. »Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Kapitän!«

Der Piratenführer setzte sich auf einen Deckstuhl, zog einen anderen heran, den Kapitän einladend. Der folgte der Aufforderung. Kaum daß seine zitternden Knie ihn noch aufrecht hielten.

»Unmöglich! Unmöglich!«

Immer wieder kam das von seinen Lippen. Er konnte und wollte nicht begreifen, was geschah. Verstand auch nicht, was der Mann mit ihm sprach, ihn fragte. Der Unterführer kam melden. In der einen Hand ein Schriftstück über die Depositen, mit der anderen auf einen Sack deutend, den zwei Leute seiner Mannschaft heranschleppten.

»Zwei Millionen Dollar … etwas darüber noch!«

»Gut! Sehr gut! Doch das andere? Wie ist’s damit?«

»Schon besorgt!«

»Schon besorgt?«

»Jawohl! Im Boot!«

»Ah! Das ging schnell!«

Der Piratenoffizier erhob sich, wandte sich an den Kapitän.

»Ich bedaure sehr, Sie inkommodiert zu haben. Die Störung, Sie werden es selbst zugeben, war nur geringfügig. Freie Fahrt, Herr Kapitän!«

Mit ein paar Sprüngen war er am Fallreep und von Bord.

»Freie Fahrt voraus!« schrie er aus dem Boot.

»Freie Fahrt voraus!« echote es zögernd von der Kommandobrücke der »Abraham Lincoln«.

Die Schrauben liefen an. Der Riesenrumpf kam in Fahrt. Von unten her kamen sie an Deck … Mannschaften … Passagiere.

»Kurs Nord zu Nordost!« gab der Wachoffizier das Kommando.

Der Bug drehte auf den alten Kurs.

»Gerettet! Gerettet … Seeräuber an Bord? Was? Was ist geschehen?

Wo sind sie?«

Ein unbeschreibliches Gewirr von Fragen, Rufen in allen Sprachen der Welt. Der Lärm drang bis zur Brücke, hinauf zum Kapitän. Der stand immer noch verwirrt, fuhr sich mit der Hand an den Kopf. Fast hätte er geschrieen: »Unmöglich!« Doch ein Blick … Hart Steuerbord … da!

Eben noch das Periskop der Seeräuber … tauchend … verschwindend.

Da! Die blassen, verstörten Gesichter der Mannschaften, der Passagiere.

Tausend Hände auf den fliehenden Feind deutend.

Die Stimme des Ersten Offiziers riß ihn aus seiner Verwirrung.

»Die Tresore sind beraubt! Die Passagierlisten … wären sie nicht nachzuprüfen?« Der Kapitän nickte.

»Nachprüfen? Jawohl! Prüfen Sie nach!«

»Der Sender ist in Ordnung gebracht!« meldete ihm der Zweite Offizier.

»Funken Sie … funken Sie!« Der Kapitän kam ins Stocken. »Sie wissen’s ja! Sie haben’s ja erlebt! … Funken Sie!«

Der Offizier gab die Nachricht … Antworten kamen von hier und von da. Die wichtigste: Amerikanische U-Boote auf der Fahrt von Kingston aus zur Verfolgung des Räubers angesetzt.

Meldung vom Ersten Offizier.

»Alle Mannschaften und Passagiere wohlbehalten an Bord. Passagier Christie Harlessen, kommend von Valparaiso, zur Zeit nicht auffindbar.«

Der Kapitän hörte es, las und nickte. Gott sei Dank – kein Menschenleben in Gefahr, wie es schien. Christie Harlessen, Kontoristin aus New York, Raub nicht anzunehmen … völlig ausgeschlossen!

Eine Milliardärstochter, das wäre was anderes. Eine Kontoristin?

Ausgeschlossen! Wer weiß, wo die sich in ihrer Angst verkrochen hat … im tiefsten Raum des Schiffes … Die wird sich schon wieder einfinden.

Mit einem erleichterten Aufatmen ging der Kapitän von der Brücke.

Die Nacht war da. Kein Abendkonzert, kein Bai pare. Die Gesellschaftsräume öde und leer. Kaum daß ein paar Gruppen, in den Gängen beisammenstehend, das Ereignis besprachen. Am anderen Morgen waren die Promenadendecks überfüllt … Fragen in allen Sprachen schwirrend … Erregung über das Ereignis in Worten und Gesten … ein aufgeregter Bienenschwarm …

Nur wenige waren es, deren Eigentum geraubt war … Die Frechheit der Räuber! Hier … auf offener See … die Piraten! Der Ruf nach der Seepolizei! Von allen Seiten wurde er hörbar.

Doch kein Menschenraub … die Passagierliste aufgerufen … alle waren da gewesen, bis auf eine Miss Harlessen aus New York, eine kleine Kontoristin … sie sollte fehlen … nun, wer weiß, wo sie sich versteckt hatte in der Angst. Die Lautsprecher hatten mehrmals vergeblich ihren Namen ausgerufen.

Die Melodien der Musikkapelle klangen vom Oberdeck. Mit jedem Ton verschwanden Angst und Sorge mehr. Die, deren Depots geraubt waren? Die Versicherungsgesellschaften mußten es tragen. Wie lautete denn der neue Passus in den Policen? Auch gegen Seeraub … man hatte gelacht, als man zuerst die Worte las … und doch, wie hatte die Wirklichkeit die Lachenden eines Besseren belehrt.

Die Schiffszeitung brachte am nächsten Morgen Nachrichten aus aller Welt, Nachrichten von Bord … da zum Schluß: Passagier Christie Harlessen ab Hafen Valparaiso an Bord der »Abraham Lincoln«, vermißt seit der Stunde des Überfalls.

Der Prozeß James Smith war zu Ende! Der Angeklagte freigesprochen! Eine Sensation ohnegleichen! Tagelang war Washington überfüllt. Schon allein das Riesenheer der Reporter, die aus allen Teilen der Welt hierher geeilt waren, brachte Tausende nach Washington. Bis in die entlegensten Winkel der Welt drangen ihre Berichte.

Sensationsprozeß?

Und doch! Die Gerichtsverhandlung … Wie wenig waren die meisten auf ihre Kosten gekommen! Die Sensation lag im Geschehnis, das den Grund zum Prozeß gab; in den fürchterlichen Auswirkungen hatte sie gelegen. Die Gerichtsverhandlungen selbst?

Die einzige Sensation war der Angeklagte. Als die Hünengestalt des Chefingenieurs in den Saal trat, ging ein Ruck durch die Tribünenbesucher.

Das war der Mann, der Mann, an dessen Name sich alles knüpfte, fortspann über Jahrhunderte, Jahrtausende. Absichtlich? Unabsichtlich?

Eine Tat war geschehen durch ihn, die alle Ordnung der Welt über den Haufen warf. Der ganze Riesensaal … aller Blicke, vom Vorsitzenden des Gerichtshofes bis auf den letzten der Zuhörer, waren minutenlang wie gebannt auf den Angeklagten gerichtet.

Das war der Mann! Sein Bild? Die Presse der Welt hatte es längst gebracht. Ein Bild aus früheren Tagen, aus Tagen vor dem, an dem es geschah. Wie würde er jetzt aussehen?

Seine Gestalt, sein Gesicht, bis in die kleinsten Züge verfolgte es die Versammlung. Jeden! Zitternd in dem Versuch, darin zu lesen … irgend etwas.

Das Gesicht … nach dem, was geschehen, es konnte … es mußte sich verändert haben. Irgendwie … das ungeheure Unglück drüben! Wenn er auch schuldlos war, irgendwie mußte das doch die Züge geändert haben.

Wäre er gebeugt, mit allen Zeichen des seelischen Gebrochenseins, geführt von helfenden Armen, in den Saal gekommen, die wenigsten hätten sich darüber gewundert.

Aber er war hereingekommen, die Riesengestalt hoch aufgerichtet, den markanten Kopf zurückgeworfen, die Augen auf den Richtertisch geheftet. Hatte kurz davor halt gemacht, die Richter mit leichtem Neigen begrüßt und sich niedergesetzt. Die Anklageschrift war verlesen worden.

Der Angeklagte hatte sie angehört. Kein Zug in seinem Gesicht veränderte sich. Kein Augenzucken, keine Bewegung des Körpers!

Das war auch so geblieben bis zum Schluß der Verhandlung. Seine Antworten an den Vorsitzenden, an die Sachverständigen, den Staatsanwalt … mit immer der gleichen, ruhigen, selbstbewußten Stimme gesprochen. Die Plädoyers! Auch der Staatsanwalt hatte Freispruch beantragt.

Der Spruch des Vorsitzenden, der die Freisprechung verkündete!

Nichts hatte das Gesicht des Angeklagten auch nur im kleinsten sich ändern lassen. Die eiserne, fast gleichgültige Ruhe war immer dieselbe geblieben. Er war aufgestanden, von der Anklagebank hinausgeschritten durch die Masse der Zuhörer, die ihm Beifall zuriefen.

Des Mannes Gesicht … wäre es aus Stein gehauen … nicht starrer hätte es blicken können.

Der Kraftwagen brachte ihn zum Hotel. Er trat in sein Zimmer, schloß es ab. Das Schnappen des Schlosses … das Schnappen des Schlosses an seiner Kerkertür! Wie hatte ihn das bei jedem Hinausgehen des Schließers gepeinigt, ihm zugeschrieen: Gefangen! Verbrecher …

Verbrecher an der Menschheit, wie ihn die Weltgeschichte noch nicht gekannt hatte.

Jetzt hatte seine Hand, die Hand des Freien, die Hand des Freigesprochenen, das Schloß einschnappen lassen. Es hatte ihm dasselbe zugeschrieen wie das Schloß an seiner Kerkertür.

Frei? Freigesprochen?

Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse. Ein gräßliches Lachen brach aus seinem Mund.

Frei? Freigesprochen?

Er warf sich auf ein Ruhebett und vergrub das Gesicht in die Kissen.

Wie anders würden jetzt die Zeitungsüberschriften lauten! Und doch, für ihn blieben es die alten, die ihn im Gefängnis täglich gepeinigt hatten. Mit aller Kraft seiner Seele kämpfte er gegen die Qualen, das Bild Juanitas vor seine Augen zwingend, sich an sie klammernd, in deren Hände er seine Seele gegeben hatte. Er warf sich zur Seite. Seine Brust atmete freier; das Gesicht nur zeigte noch die Spuren des Kampfes. Juanita! Er sprang auf, durchmaß mit starken Schritten das Zimmer, blieb dann mit einem Ruck stehen. Er! … Rouse!

Würde er sie ihm kampflos überlassen? Die Riesengestalt reckte sich.

Die Hände ballten sich zu Fäusten, hoben sich, als stände der andere vor ihm … Er! Er soll sich hüten! Und wenn ich ihn mit diesen Fäusten …

In seinem Arbeitszimmer im Astoria-Hotel in Timbuktu saß Guy Rouse. Sein Arbeitszimmer war überall da, wo er war. Die Fäden, die, sich von ihm aus spinnend, über den Erdball gingen, sie rissen nie ab, sie folgten seiner Person, wo immer er weilte. Ein paar Sekretäre, die seine Befehle vermittelten, weiter brauchte er nichts. Keine Bücher … keine Unterlagen … in seinem Kopf standen die Zahlenreihen klar und deutlich wie in den Hauptbüchern der Zentralen. Wo er war, war seine Residenz, von der er sein Reich leitete bis in die kleinsten Kontore.

Er ging langsam im Zimmer auf und ab, diktierte seinen beiden Privatsekretären gleichzeitig Orders über Orders …

Das Rohr der Hauspost warf ein Bündel Briefe aus. Weiter diktierend überlief sein Auge flüchtig die neue Post. Ein langes, chiffriertes Telegramm. Rouse kniff die Augenlider leicht zusammen, in Gedanken sich umstellend auf die Chiffrezeichen. Er brauchte den Schlüssel nicht.

Ein leichtes Räuspern eines der Sekretäre. Er diktierte weiter. Die waren es nicht anders gewöhnt, als daß er die Post las und weiter mit ihnen sprach. Und er sprach auch jetzt weiter, zu dem einen … zu dem anderen, halb abgewandt, die chiffrierte Depesche vor Augen.

Er las sie. Seine Augen, wie ganz anders konnten die kühlen grauen Augen blicken, wenn sie niemand sah … auch die beiden Sekretäre nicht hinter ihm. Die Augen, brennend hingen sie an jedem Wort des Telegramms. James Smith war freigesprochen. In derselben Sekunde, in der der Vorsitzende den Freispruch verkündete, hatten die Radiowellen es ihm zugetragen.

Hier war der Bericht über die ganze Verhandlung, in kurze Schlagworte zusammengedrängt, sorgfältigste Arbeit war es … brachte der Bericht den Gang der Verhandlung. Das Räuspern der Sekretäre wiederholte sich häufiger denn je. Die Fragen des Vorsitzenden und der Beisitzer. Guy Rouse kannte sie, wie er seine Feinde besser kannte als seine Freunde. Klippen gefährlichster Art, diese Fragen für den Angeklagten …

Er sah sie da in Gedanken vor sich, die Blicke auf den Angeklagten geheftet, suchend nach irgendeinem versteckten Zug der Schuld, der Schwäche.

Und dann immer wieder die Worte von James Smith. Rouses Augen lasen nur die geschriebenen Worte. Aber seine Ohren glaubten auch den Ton zu hören, mit dem sie gesprochen.

Aber es war ihm, als wäre es nicht allein die tiefe starke Stimme des Chefingenieurs … der helle leichte Plauderton Juanitas klang dazwischen. Sie war die Resonanz, aus der die Töne des Mannes klangen.

Juanita … der Tag, an dem er sie zuletzt gesehen, sie verlassen hatte, in Rouse Castle … krank … zum Sterben krank. Immer mehr war es ihm zu Bewußtsein gekommen.

Sollte er sie verlieren? Sie, die ihm ganz unentbehrlich war? Der Prozeß und die Aussagen des Angeklagten hatten den stärksten Beweis dafür geliefert. Juanita! Seine Gedanken gingen zurück zu dem alten Kanal, wo er sie zum ersten Mal gesehen, von wo er sie mit sich genommen hatte. Eine Blume, gepflückt wie so viele andere …

Schon hatte er sie zur Seite werfen wollen. Gut, daß er es nicht tat.

Wie hatte er sich so irren können. Ein Spielzeug hatte er zu haben geglaubt. Nein! Sie war es nicht. Sein Werkzeug war sie, ihm unentbehrlich und immer unentbehrlicher werdend, je länger er sie besaß.

Und sie wußte viel von ihm. Viel, was er ihr anvertraut, viel was ihr scharfer Verstand erraten hatte. Und sie war jung und schön. Wie viele neideten ihm ihren Besitz! Sie entbehren? Verlieren? Unmöglich! Sie wußte zuviel, wußte auch von dieser Christie Harlessen. Sie war so ganz sein, daß er auf jeder Seite ihres Herzens auch der verborgensten, lesen konnte.

Der Zwischenfall im Zirkus in Kapstadt … aus den Berichten seiner Agenten war ihm alles klargeworden. Eifersucht? Auf Christie Harlessen? Die! Was wollte er von ihr? Was trieb ihn zu ihr hin? Gab es nicht unzählige schönere, die ihm widerstandslos gefolgt wären? Was war es, was ihn nicht loskommen ließ von diesem Geschöpf? Die versteckten Regungen in seiner Seele … immer wieder hatte er darüber hinwegsehen wollen, hatte sich lustig gemacht … was war es, das sein Herz so bewegte? Dunkel, unergründlich, unerklärlich … ein Zug zum Reinen, zum Guten?

Er schloß die Augen, stand minutenlang wie im Kampf gegen etwas Unbegreifliches, Unfaßbares, das in tiefster Brust rang. Christies Bild stand vor ihm. Er sah die reinen, klaren Züge, die ihre Seele widerspiegelten. Sie, die Seine! Entsühnen mußte sie alles, alles von ihm nehmen, was auf ihm lastete.

Jetzt war sie in seiner Gewalt! Der Gedanke daran! Er hatte gejubelt, die Tat verwünscht … verwünscht … Tor, der er war? Was hatte er von einer Gefangenen? Ewig konnte er sie nicht halten. Frei? Würde sie bei ihm bleiben?

Er schöpfte tief Atem, ging zum Fenster, lehnte sich hinaus und sog kühle Abendluft ein.

Sie würde es. Sie würde es!

Wo war das Weib, das sich ihm auf immer versagt hätte? Dieses kleine, unbedeutende Geschöpf! Die erste wäre es!

Nein! Nein, er ließ sie nicht. Sie mußte die Seine werden. Was hatte er nicht schon getan, ganz abgesehen von dieser neuen Gewalttat: Menschenraub …

Tejada! Tejada!

Das Wort … hatte er es laut gesprochen? Mit einem Ruck drehte er sich nach dem Zimmer um. Sah die beiden Sekretäre sitzen.

»Hinaus!« brüllte seine Stimme.

Die beiden fuhren erschreckt hoch, starrten ihn wie fassungslos an.

Dieser Ton von Guy Rouse? Es war gut, daß sie sein Gesicht, dem Licht abgewandt, nicht sehen konnten. Ihr Bild von Guy Rouse wäre über den Haufen geworfen … Da hatte er sich wieder in der Gewalt.

»Gehen Sie jetzt. Ich werde etwas ruhen und Sie dann rufen lassen.«

Sie waren zur Tür geschritten.

»Nein, bleiben Sie!«

Sein feines Ohr hatte ein fernes Düsengedröhn vernommen.

Juanita! Er erwartete sie stündlich. Das Dröhnen kam näher.

»Bleiben Sie! Machen Sie die Briefe fertig, soweit sie diktiert sind. Ich mache einen kleinen Spaziergang.«

Und dann stand er am Flugplatz, reichte Juanita die Hand, um ihr beim Aussteigen zu helfen.

»Juanita!« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Ich freue mich, daß es dir gut geht. Du siehst so wohl aus. Du bist wieder gesund.«

Das soeben Durchlebte …

Vergeblich hatte er auf dem Wege zum Flughafen seinen Kopf davon frei zu machen versucht. Jetzt wich es, wich, als er Juanitas kleine Hand in seiner fühlte. Ja! Sie war sein, sein mit allen Fasern ihres Lebens.

Unverlierbarer Besitz!

Das Wort flog durch sein Hirn. Er klammerte sich daran, drückte ihre Hand fester. Führte sie zum Wagen. Und als wolle er sich ganz frei machen von den letzten Spuren der Erinnerung, beugte er sich zu ihr und sprach liebe, linde Worte. Sprach wie zu jenen Zeiten, da er sie an sich zog.

Sie hörte es. Eine leichte Röte kam auf ihre blassen Wangen. Wer in der Welt konnte so zu ihrem Herzen sprechen wie er, wie die Stimme dieses Mannes, dieses Zauberers? Wie waren ihre Gedanken auf der Fahrt? Los! Los von ihm! Und jetzt? Vergessen all das Fürchterliche, was sie in den letzten Wochen, Tagen erlebt, vergessen auch das Allerschrecklichste, das Schwerste von allem: die Begegnung im Gefängnis.

Wie hätte sie Rouse gegenüberstehen wollen? Abwälzen die ungeheure Schuld, die sie drückte, abwälzen auf ihn, dessen Werkzeug sie doch nur gewesen. Ihr Herz hatte, je näher der Flughafen kam, immer stürmischer geschlagen, zum Zerspringen, als sie landete. Da hatte er ihre Hand genommen, zu ihr gesprochen, und alles war weggewischt.

Sie saßen sich in seinem Salon gegenüber. Er hatte den Bericht über die Gerichtsverhandlung in seiner Hand, las, fragte.

Und sie antwortete, plauderte wie über etwas Gleichgültiges, als ob nichts ihre Seele bedrückte …

»Was wird er beginnen, James Smith? Wird er bei uns, bei der Gesellschaft bleiben? Wäre es möglich?«

Sie hatte kurz die Achseln gezuckt.

»Warum nicht?« sprach ihr lächelnder Mund.

Das Rasseln der Schichtglocke hallte über Mineapolis. Hallte in den Riesenwerkstätten, in denen Heere von Arbeitern in Tag- und Nachtschichten, immer verstärkt durch Neugeworbene aus allen Teilen des Reiches, Schwarze, Mischlinge, Weiße – alle Teile der Welt lieferten das Material – tätig waren. Rasselte auch durch den Riesenschlund des Augustus-Schachtes. Die Förderschalen von Sohle zu Sohle sausten auf und nieder, die alte nach oben, die neue Schicht nach unten bringend.

Über Tage! Anderthalb Dutzend Förderschalen spieen die Untertagarbeiter stoßweise aus. Förderschale sieben! Der neue Maschinist trat in den Schaltraum.

»All right!«

»All right! Die letzte Personenfahrt oben! Gibt heute viel zu tun da drüben!«

Der alte Maschinist deutete auf einen Riesenstapel Kisten.

»Die Sprengstoffmagazine unten werden frisch aufgefüllt.«

»Weiß! Komme von unten!«

»Von unten?« fragte der.

»Von unten! War vor Ort! Bin schon eine Woche hier und benutzte die doppelte Feierschicht, mal runterzufahren und mir die Arbeiten anzusehen.«

»Was ist da zu sehen? Bin schon seit Monaten hier und war noch nicht unten. Was die von unten mir erzählten, genügt mir längst. Dreck, Staub, Hitze, der ekelhafte Karbidgestank … trotz aller Bewetterung.

Danke! Sagtest du nicht, du kämst aus den südafrikanischen Minen?

Mußt es doch kennen, wie’s unten aussieht.«

Der andere nickte. »Dort gingen wir auf Zinn, hier auf Karbid. Es ist doch was anderes.«

»Was anderes? Zinn ist besser. War auch da unten. War da vor Ort, bis mir ein Brocken den Fuß brach. Weshalb kommst du hierher?«

Der andere machte mit den Fingern die Bewegung des Geldzählens.

»Mehr Lohn! Außerdem hab’ ich genug von den verdammten Weißhäuten. Fehlt nur noch die Peitsche, dann war’s da wie früher.

Schwarze Hunde. Leute wie wir beide … Mischlinge … nicht viel mehr!«

Der nickte.

»Verflucht die weiße Bande! Der zerschlagene Fuß allein war’s auch nicht bei mir. Dieser Hochmut, dieser Gottverfluchte, der alle Andersfarbigen als Vieh behandelt. Mein Herr Vater war auch ein Weißer …«

Er lachte bellend.

»Meine Mutter schwarz, ihm ehelich angetraut. Jefferson heiß’ ich … schwarz auf weiß steht’s in meinen Papieren. Und doch: Die Farbe tat’s.

Meiner Mutter Blut war wohl besser gewesen. Sie stempelte mich zum Vieh. Aber!«

Er hob drohend seine Rechte. »Der Kaiser! Unser Kaiser … er wird sie lehren, er wird’s ihnen beibringen, ob sie wollen oder nicht!«

Er beugte sich nach dem anderen hin.

»Krieg!« zischte es durch seine Lippen. »Krieg! Täglich warte ich darauf, daß es losgeht. Ha! Wäre der Fuß gesund, wie gerne ginge ich da mit. Du … du wirst mitgehen, du bist gesund. Ha, ich beneide dich darum. Warst du Soldat?«

Der andere nickte.

»Wohl gar bei denen da unten?«

Der andere nickte wieder.

»Um so besser! Freust du dich nicht auch?«

»Was fragst du? Ich werde dabei sein. Wär’s nur erst soweit, daß ich zeigen kann, was …«

»Förderschale sieben!«

Das Telefon schrie durch den engen Raum.

»Geh ran! Du wirst Arbeit kriegen. Die ganze Schicht wird kaum reichen, um die Lasten nach unten zu bringen.«

»Förderschale sieben!« schrie der andere ins Telefon.

»Sprengstoffahrt! Schale für alle anderen Lasten gesperrt!«

Der Maschinist wiederholte den Befehl, gab ihn weiter nach unten.

Er drehte sich um. Die alte Schicht war hinausgegangen. Er setzte sich auf den Schemel neben dem Schalthebel, zog eine kurze Pfeife aus der Tasche und setzte sie in Brand. Die Pfeife! Vor Wochen auf dem Alsterdamm … War’s da nicht dasselbe alte verräucherte Stück gewesen, das Klaus Tredrup sich in der Tür des Hamburgischen Kuriers zwischen die Zähne gesteckt hatte? Wieder einmal eine Etappe deines Lebens vorbei, hätte er jetzt sagen können, wenn er sich der Worte von damals erinnert hätte.

Klaus Tredrup … William Field jetzt, Minenarbeiter aus Südwestafrika, Maschinist, Lageraufseher, Bohrmeister. Alle Beschäftigungen, die der Bergbau umfaßt, er hatte sie vorgebracht, als er sich bei dem Agenten Grimmauds meldete, der mehr als woanders in Südafrika nach neuen Arbeitern suchte. Hier natürlich nicht nach Weißen, sondern nach Mischlingen. Die beste Empfehlung war es, Mischling aus Südafrika zu sein. Der Hass gegen die Weißen, bei denen war er selbstverständlich, war es mehr als bei den Schwarzen. Mehr als diese haßten die Mischlinge die Weißen.

Früher war dies anders gewesen. Bis die Weißen anfingen, immer schärfer gegen die Vermischung der Rassen zu arbeiten, bis schließlich die Produkte dieser Mischung schlechter angesehen wurden als die reinen Schwarzen.

Er zog einen kleinen Taschenspiegel hervor und besah sein Bild.

Lachte … »Gut gemacht, Herr Doktor im Laboratorium! Keine Theaterschminke!«

Schöne gute Säure hatte der Chemiker auf Tredrups Fell gepinselt.

»Dauerhaft, nicht abwaschbar, nur chemische Reinigung, Herr Tredrup, wird Ihren alten Adam wieder erstehen lassen«, hatte er grinsend gesagt, als er den letzten Pinselstrich tat.

»Gebe Garantie, Sie können unbesorgt sein.«

Seit acht Tagen war Tredrup hier. Die weite Reise von Norden hierher war noch weiter geworden durch den Umweg, den er über Swakopmund hatte nehmen müssen. In den Uhlenkortschen Minen mußte – das war nicht ganz leicht – der passende Mann gefunden werden, der bereit war, seine Papiere abzugeben. Das Signalement mußte genau stimmen. Die geheime Polizei des Kaisers hatte ihre Fühler über den ganzen Kontinent ausgestreckt. Schachtarbeiter zu werden: nur zehnmal Gesiebten gelang es.

Tredrup saß, die Rechte mechanisch um den Schalterhebel geklammert, mit der Linken den Hörer am Ohr. Jede Minute konnte die Arbeit beginnen. Er kannte die umständlichen Vorsichtsmaßregeln, mit denen die Sprengstofftransporte nach unten gingen. Er wartete. Sein Ohr hörte das Rollen der Loren, die Kisten um Kisten des Sprengstoffs heranbrachten, abluden, weiterfuhren. In der einen Schicht wird es kaum zu schaffen sein, hatte der andere gesagt. Im Geist überschlug er die Zahl und das Gewicht der Kisten. Ungeheuerlich, was da nach unten ging. Und die Zahlen türmten sich vor ihm auf, immer größer, größer werdend, zu einem Turm. Vor drei Tagen war er im Ingenieurbüro gewesen. Er hatte warten müssen. Eine Tafel an der Wand hatte seine Neugierde erregt. Ein geologisches Profil des Schachtes in großem Maßstabe. Sein Blick ging zu den Stellen am Fuß des Schachtes. Zur Sprengkammer.

Er überlegte lange, zuckte die Achseln. Zu oft hatte er schon daran gedacht. Sein Auge lief die Profilkarte empor. Sein Hirn aufs äußerste gespannt … Da! Achthundert Meter unter Tage die Riesenwasserader!

Es war vor seiner Zeit, als man sie beim Schachtbau anbohrte, nach langen Kämpfen überwand. Wie magnetisiert hafteten seine Augen an der Stelle. An ihr vorüber lief eine Förderung … Förderung Nummer sieben. Wie ein Blitz durchzuckte es ihn. Fast wäre er zurückgetaumelt.

Hier war die Stelle, wo der Riesenbau am leichtesten verwundbar war.

Seine Gedanken waren weitergegangen, setzten Glied an Glied, bis die Kette fertig war. Achtzehn Förderschalen im Ring des Schachtes. Schale sieben, die den Transport besorgte. Sieben die Zahl … Glückszahl. Auf der Fahrt von Spitzbergen anfangend bis hier zum Schacht hatte er alle Möglichkeiten, wie er es tun könnte, tausendfach erwogen, die unmöglichsten Pläne gewälzt.

Was hatte er damals instinktiv gerufen: Unmöglich! Unmöglich! In immer größerer Deutlichkeit war es ihm zu Bewußtsein gekommen.

Und doch! Er hatte sein Wort verpfändet. Ich tu’s! Die Tat Klaus Tredrups! Unlösbar würden die Worte miteinander verbunden bleiben.

Herostrat? Ein Name, aus dunkelster Jugenderinnerung aufgestiegen.

Nein, weg damit!

Das, was ihm Uhlenkort sagte vom Kampf der Rassen, war in seiner Seele haften geblieben, sich entzündend zu einem Feuer, das weiter und weiter wuchs.

Das Telefon rasselte. »Förderschale auf! Transport beginnt!«

Kiste auf Kiste lagerte in der Schale. Hinunter, herauf. Stundenlang das gleiche Spiel.

Die Maschine arbeitete unaufhörlich wie das Hirn Tredrups.

Heute!

Der Gedanke beherrschte ihn, verließ ihn nicht. Heute mußte es geschehen. Sein Geist arbeitete fieberhaft, überschlug die Menge der Ladung, das Fassungsvermögen der Schalen, die Zahl der Kisten. Gab es keine Verzögerung, mußte er gegen Ende der Schicht fertig sein. Die letzte Ladung! Dann oder nie!

Er arbeitete am Hebel, vermied den geringsten Zeitverlust … geizte mit der Sekunde. Die Schale flog nach oben und nach unten. Er sah nach der Uhr. Die Schicht war wie im Fluge vergangen. Zwanzig Minuten noch, dann kam die Ablösung. Das Telefon schrillte:

»Letzte Fahrt!«

Das Schrillen riß an seinen Nerven.

Jetzt oder nie galt’s … mit zitternden Händen griff er in seinen Handwerkskasten. Nahm da und da und da Einzelteile heraus, fügte sie aneinander, verband sie und hüllte das Ganze in einen dunklen Lederbeutel, den er sorgfältig unter seinem Rock verbarg.

Die Mittags-Sonne spiegelte sich in den klaren Fluten der Südsee. Bis in die Unendlichkeit streckte sich das leise atmende, tiefblaue Meer.

Weite Wasserwüste, so weit das Auge reichte.

Da und dort verstreut Gruppen von Koralleninseln, kleinere und größere, und auf ihnen hier und da die schlanken Stämme von Kokospalmen, deren Samen die See auf das jungfräuliche Land geworfen.

Eine dieser Inseln war ganz eigenartig gestaltet! Die zackigen Riffe gleich einer Mauer von Zyklopenhänden errichtet. Hoch über alles emporragend in weitem Kreise zog sich ihr Kranz um eine Lagune, auf dem inneren Rand ein Gewirr von Kokospalmen, die höchsten Spitzen der Riffe überragend. Ein leiser Rauch kräuselte durch die breiten Fächerkronen der Palmen.

Menschen … Menschen? Hier auf weltentlegenem Atoll, fern von jedem Verkehr, von jeder menschlichen Siedlung? Wer konnte hier wohnen? Insulaner? Eingeborene?

Die Insel bot kaum Lebensmöglichkeiten trotz ihrer Größe. Tausend Meter im Durchmesser mochte sie haben. Es war die Stunde des höchsten Sonnenstandes. Die sengenden Strahlen brachten die eingeschlossene Luft in den Wänden des Atolls zum Glühen. Kein menschliches Wesen war zu sehen.

Da! Aus der dunklen Höhlung im inneren Felsenriff trat eine weibliche Gestalt. Sie schritt einer Hängematte zu, die zwischen den Stämmen zweier Palmen ausgespannt war. Ihre Rechte griff nach der Schnur, mit der die Matte an dem einen Palmenstamm befestigt war, als wolle sie den Knoten prüfen.

Nur wer direkt daneben gestanden, hätte den haarfeinen blanken Draht bemerken können, der dabei mit scharfem Stift in den saftstrotzenden Palmenstamm gedrückt wurde, zu der Gestalt weiterlief, in den Falten ihres Gewandes verschwand. Das Taschentuch entglitt ihrer Hand, fiel zwischen zwei Wurzelrippen des Baumes zu Boden. Sie bückte sich, es aufzuheben. Ein winziger Kontakt in der Höhlung zwischen den Wurzeln.

Unter dem Taschentuch griffen ihre Finger danach. Ein kurzer Druck, dann richtete sie sich auf. Und dann legte sie sich in die Matte, streckte sich lang aus. Ihre Hände bargen sich in den Falten ihres Gewandes, sie ruhte. Eine Stunde mochte vergangen sein. Sie warf einen Blick auf die kleine Armbanduhr.

»Mittagsstunde … Mitternacht in Hamburg …«, murmelten ihre Lippen. Die Welle frei in dieser Zeit. Und als hätten die Worte ein leises Hüsteln aus ihrer Brust gelöst, fuhr ihre Rechte mit dem Taschentuch zum Munde. »Walter! Hier Christie! Uhlenkort-Harlessen!«

Die Worte … Ihre Lippen flüsterten sie in das Mikrofon im Taschentuch. Immer wieder! Das leichte Gewand über ihrem Busen hob sich unter den Stößen der wogenden Brust. Immer wieder die gleichen Worte, gesendet auf der Uhlenkort-Welle in den Äther.

Dann … wie müde sank die Hand mit dem Taschentuch zurück. In der ganzen Welt verstreut die Uhlenkortschen Kontore … einmal müßte es glücken! Tagelang schon ging das Spiel, das gewagte Spiel … und dann!

Wieder ging das Taschentuch zum Mund, wieder sprach sie in das Mikrofon. Vielleicht, daß heute einer den Ruf vernahm …

»Koralleninsel … Südsee … gefangen … sechstägige Fahrt vom Kanal … West zu Südwest.«

Wieder, immer wieder die Worte. Die Hand mit dem Taschentuch glitt zurück, ruhte auf der Brust, ging wieder zum Munde.

Wieder der Notruf! Wieder, immer wieder! Die Sonne neigte sich nach Westen. Eine leichte Brise bewegte die breiten Palmenwipfel. Die glühende Hitze in dem Trichter über der Lagune wich langsam der Abendkühle. Sie richtete sich auf, ließ den Blick in die Runde gleiten.

Da drüben auf der anderen Seite der Lagune waren Menschen, Männer …

Sie sprang aus der Hängematte. Wieder glitt ihre Hand zu den Knoten, die die Matte am Stamme der Palme hielten. Wieder entglitt ihr das Tuch, wieder beugte sie sich, es aufzuheben. Der Kontakt war frei. Ihre Hände strichen über die Stirn, ordneten das verwirrte Haar. Die erregte Brust sog in tiefen Zügen die Kühle des Abends in die Lungen.

In der Höhlung am Riff, aus der sie gekommen, erschien ein altes Negerweib, rief zu ihr herunter. Sie nickte, schritt zu ihr empor. Am Eingang blieb sie stehen, wandte sich um. Am Rande der Lagune sammelten sich Männer. Einer, der Führer, schrie ungeduldig zu den Klippen hinauf. Da, dort, aus den Spalten und Höhlen kamen immer mehr herbeigeeilt. Stiegen zu der Lagune hinunter, sammelten sich um den Führer.

Eine stattliche Schar war es. Männer! Matrosen, alte, junge, gebräunt von der tropischen Sonne, dem Seewind. Das Auge des Führers glitt zählend über sie hin.

»Vierundsechzig! All right!«

Er drehte sich zur Lagune um. Einer in seinem Rücken, ein junger, frischer Kerl, winkte gerade zu Christie hinauf. Ein Faustschlag des Führers ließ ihn ins Wasser taumeln.

»Kühle dich ab, du Satan! Die …«, er wandte sich mit drohendem Blick zu den übrigen, »… die ist tabu für jeden. Hütet euch! Ihr kennt die Order! Daß keiner ihr zu nahe tritt! Der Strick wäre ihm sicher!«

Sein Blick ging zu der Höhle, wo Christies Gestalt eben verschwand.

»Reserviert, das Schätzchen! Nichts für euch!« lachte er.

Er hob die Hand in die Höhe, winkte. Der graue Leib eines U-Bootes schob sich aus der stillen See, kam hoch und höher. Rauschend glitten die Wasser an seinen Aufbauten hinunter. Ein stattliches Ding, fünftausend Tonnen mochte es haben.

Eine aufgezogene Brücke vom Uferrand senkte sich zum Deck hinüber. Der Führer ging darüber hinweg, kam an Bord, sprach mit dem Offizier dort ein paar Worte. Dieser rief durchs Sprachrohr nach unten.

Wohl ein Dutzend Leute kam aus dem Innern des Bootes aufs Deck, trat an.

»Ihr bleibt hier!« rief der Führer. »Als Wache. Ihr anderen da hinüber, an Bord!«

Der Befehl wurde ausgeführt.

»Große Fahrt! Weit rauf zum anderen Wendekreis; wir werden lange wegbleiben. Zwei, drei Monate wird’s dauern. Vielleicht noch länger.

Laßt euch hier die Zeit nicht lang werden!«

»Zum Atlantik?« fragte der Offizier.

»Atlantik«, gab der mürrisch zur Antwort. »Müssen durch den Kanal.

Verfluchte Fahrt! Das Stückchen mit der ›Abraham Lincoln‹ – dem Frauenzimmer da oben galt’s, nichts anderem! Es hat gewirkt wie ein Tritt in einen Ameisenhaufen. Wimmelt da oben von Polizeibooten.

Doppelte Fangprämien für den Atlantik ausgesetzt. Der Deubel hole die Fahrt! Riet ab, solange es ging. Mußte schließlich doch nachgeben.

Einzige Hoffnung die Schlupfwinkel an der afrikanischen Küste. Wenn nicht …«, er flüsterte die Worte leise in das Ohr des Offiziers, »wenn wir nicht gar bald schon unter Flagge fahren. Der rote Löwe im schwarzen Feld! Ich möchte den Rest meines Seelenheils verwetten!«

Der Offizier trat erstaunt zurück.

»Für den schwarzen Kaiser?«

Der Führer nickte. »Für ihn! Der Deubel will’s.« Er lachte aus vollem Halse. »… daß wir mit einigen guten Freunden von der US-Marine zusammen auf Fahrt gehen. Hab’ so was läuten hören, vom Kapitän.

Der stößt erst bei den Antillen zu uns, kommt mit dem Flugzeug von New York. Frau ist krank.« Ein häßliches Lachen begleitete die Worte.

»Taugt nicht zu unserem schönen Beruf, Frau und Kinder zu haben.

Der Kaiser Augustus läßt alle Minen springen, nachdem ihm die große am Tschadsee aufgeflogen ist. Ein Teufelskerl, der das Stück fertig brachte.«

Einer von den Leuten kam auf ihn zugeschritten, machte Meldung:

»Alles fertig!«

Der Führer nickte, drückte dem Offizier die Hand.

»Gute Wacht! Paßt auf die Frau auf!« Er deutete mit dem Arm in die Richtung der Höhlenmündung. »Passiert ihr was oder entkäme sie gar, wir würden es büßen.«

Er verschwand unter Deck. Die Luken schlossen sich hermetisch. Ein Ruck ging durch den grauen Leib des U-Boots, dann sank es … wohin?

Es war ein freundlich ausgestatteter Raum. Die Felswände mit Teppichen verhängt. Der rauhe, zackige Boden geebnet, mit Matten überdeckt, halb vom Tageslicht, halb von der großen elektrischen Lampe erhellt … der Aufenthaltsort Christies.

Zwölf Tage schon weilte sie hier, achtzehn Tage, seitdem sie die Piraten von Bord der »Abraham Lincoln« gerissen hatten.

Auf dem Ruhebett ihrer Schiffskabine ausgestreckt, im leichten Halbschlaf, hatte ihr Ohr den Donner der Schüsse kaum vernommen.

Die Kabinentür wurde plötzlich aufgerissen … drei bewaffnete Matrosen und ein Offizier standen vor ihr.

»Miss Harlessen?«

Noch benommen vom Schlaf hatte sie genickt.

»Aufstehen! Mitkommen!«

Die Matrosen hatten im Nu ihre Sachen zusammengerafft, in die Koffer geworfen. Sie hatte sich gesträubt. Der Offizier hatte sie aufgehoben, einen weiten Mantel über sie geworfen, der sie fast ersticken ließ, sie nach oben getragen und über das Fallreep ins U-Boot gebracht. Dort war sie ohnmächtig zusammengesunken. Nach ein paar Stunden war der Piratenführer zu ihr gekommen, hatte ihr in seiner Art ein paar beruhigende Worte gesagt. Ein Matrose hatte Speise und Trank vor sie hingesetzt. Und dann waren sie gefahren …

Sechs Tage, sechs Nächte waren sie gefahren, bis sie, an Deck gerufen, das Boot in der Lagune einer Koralleninsel sah.

Man hatte ihr die Felsenhöhle als Aufenthalt zugewiesen. Eine alte Negerin, die wohl hier gehalten wurde, um für die Matrosen zu sorgen, war ihr als Dienerin beigegeben worden.

Die harte Schule des Lebens, die Christie durchgemacht, hatte sie gestählt. Ihr klarer, energischer Wille ließ sich nicht so leicht unterkriegen.

Ihre erste Frage: Warum wurdest du geraubt? Auf wessen Befehl?

Menschenraub? Doch nur, um ein Lösegeld zu erpressen. Lösegeld von ihr? Wer konnte von der Angestellten der Simmons Brothers ein Lösegeld erwarten? Unter den Damen der Gesellschaft auf dem Schiff waren Millionärinnen; die Seeräuber hatten sich nicht um sie gekümmert.

Diese Antwort schied aus. Was aber war die richtige Antwort?

Stundenlang zermarterte sie ihr Hirn. Wer konnte ein Interesse daran haben, sie zu rauben?

Der betrügerische Vertreter in Valparaiso … Rache? Möglich, aber kaum wahrscheinlich.

Und dann immer, wenn sie vergeblich nach der Antwort gesucht, rang sich der Name Rouse von ihren Lippen. Er, der Gewaltmensch, der jeden Widerstand brach, der sich ihm entgegensetzte, ihm allein war es zuzutrauen.

Doch auch die Antwort … immer wieder hatte sie sie doch verworfen.

Warum tat er das? Konnte er glauben, sie mit Gewalt an sich zu fesseln?

Er, der kluge, schlaue Menschenkenner? Konnte er das denken? Nein!

Nein! Töricht! Solche Torheit konnte sie ihm nicht zutrauen. Die ganze Fahrt über hatten sie diese Gedanken beschäftigt … verfolgt.

Als sie den Fuß auf das Atoll setzte, hatte sie sich mit energischer Willensanstrengung von all den Gedanken frei gemacht. Sie halfen nichts.

Flucht! Weg von hier! Der einzige fruchtbare Gedanke. Ihre ganze Selbstbeherrschung raffte sie zusammen. Zeigte dem Piratenführer, der sich häufig nach ihrem Befinden erkundigte, stets ein ruhiges, gelassenes Wesen. Gab sich den Anschein, als hätte sie sich mit den Geschehnissen so gut wie möglich abgefunden. Keine Klage kam über ihre Lippen. Die wenigen Wünsche, die sie vorbrachte, wurden soweit wie möglich schnell erfüllt.

Doch auch ohne das … der Piratenführer konnte wohl beruhigt sein.

Flucht von hier, dem weltentlegenen Atoll? Unmöglich!

Ausgeschlossen!

Ausgeschlossen auch eine Befreiung von außen her. Wer sollte diesen Schlupfwinkel ausfindig machen? Wissen, daß sie hier war? Jede Verbindung mit der Außenwelt von hier war abgeschlossen.

Die einzige Funkstation auf der Insel war reserviert für Fälle allerdringendster Not. Sie kam nie in Tätigkeit, damit nicht vielleicht ein schnüffelndes Polizeiboot die Station, die Insel anpeilte. Und gerade das war es, was ihr zur Rettung werden mußte.

Von Tejeda aus kannte Christie die Einrichtung einer Sendestation genau. Als sie sich von Uhlenkort zur Fahrt nach Valparaiso verabschiedete, hatte der ihr einen kleinen Sender mitgegeben, ihr die Wellenlänge der Uhlenkort-Firma anvertraut und die Welle fest eingestellt. Auf der Fahrt nach Valparaiso, im Hotel, hatte sie den Apparat ein paar Mal benutzt. Nichts daran war gestört. Sie kannte die Bedienung in allen Einzelheiten.

Hier auf dem Atoll hatte sie sich eine Hängematte erbeten, diese zwischen zwei Palmen befestigt. Der saftstrotzende Palmenbaum mußte ihr als Antenne dienen. In den Mittagsstunden, wo alles sich in die kühleren Felsenhöhlen zurückzog, hatte sie eine Leitung von der kleinen Maschine, die die Insel mit Strom für alle Zwecke versorgte, bis zu jenem Palmenstamm, gut im Sand verborgen, hingeführt. In den Mittagsstunden, in denen die Lagune menschenleer war, lag sie dort stundenlang in der Matte, und stundenlang ging ihr Hilferuf auf der Uhlenkort-Welle durch den Äther.

Wie von ungefähr trat Tredrup aus dem Maschinenraum und ging zu der Förderschale. Die ersten mit Sprengstoffkisten voll beladenen Grubenwagen waren eingeschoben. Die nächsten, die letzten, eben ankommend, waren hoch beladen … Sein Herz lachte. Das war ja mehr als die normale Ladung.

Er stellte sich so, daß er die Schale im Rücken hatte, sein Gesicht den ankommenden Wagen zugewandt. Mit einem kurzen Ruck der Rechten schleuderte er den Lederbeutel in den Hintergrund der Schale zwischen die dort stehenden beladenen Wagen. Die letzten Wagen kamen heran, wurden in die Schale gerollt.

»All right! Schluß?« rief er, schon auf dem Wege zum Maschinenraum.

»Schluß! Ab!« scholl es hinter ihm her. Seine Hand fuhr zum Hebel, riß ihn herum. Die Schale ging in die Tiefe. Tredrups Blick folgte dem Tiefenzeiger. Zu schnell!!! Sein Auge vermochte nicht sicher zu folgen.

Er rückte am Hebel. Langsamer ging die Fahrt. Jetzt sechshundert … siebenhundert … siebenhundertachtzig … Der Hebel fuhr herum. Die Förderschale hielt … achthundert Meter genau, las Tredrup am Teufenzeiger. Er trat zurück, stand sekundenlang. Das Riesenwerk … Er selbst jahrelang dabei tätig – Herostrat?

Das sterbende Europa! Die Millionen, die neue Heimat suchten … die Bilder von den Hafenstädten! Mit einem Sprung war er an der Werkbank. Faßte einen Tastknopf … Morsezeichen … den Sprengimpuls … Jene Reihe von Morsezeichen, auf die der Empfänger in der Ledertasche in der Förderschale da unten in achthundert Meter Tiefe sicher ansprechen mußte.

Sechs Sekunden nach dem letzten Morsezeichen würde sich im Empfänger ein winziger Hebel umlegen. Der würde den Strom einer kleinen Batterie schließen. Der wieder würde einen feinen Draht, in ein wenig Knallquecksilber eingebettet, zum Glühen bringen. Das war die Initialzündung! Explodierendes Quecksilber … eine explodierende Sprengstoffpatrone … Die Explosion einer Riesenladung Sprengstoff an der Schachtwand, die den unterirdischen Wasserstrom bannte.

Zehn Meter Eisenbeton … die Schranke, die dem Wasser den Weg verschloß. Die Kraft der Explosion … die Stärke des Mauerwerks … wer würde siegen?

Ein belferndes Krachen im Schacht! Ein fürchterliches Dröhnen, tausendfach an den Wänden widerhallend, sich brechend, fuhr aus dem Schacht. Tredrup stand, die bebenden Arme an den Werktisch geklammert. Sein Ohr lauschte nach unten, das Rauschen des Wassers zu suchen. War es frei, waren seine Bande gesprengt? Noch nichts zu hören.

Die Schallwellen der Explosion füllten noch immer den Schacht. Nach unten zur Sohle stürzend, nach oben wieder zurückgeworfen.

Eine Pause … hörte er jetzt das Rauschen? Ja … Nein! Eine Sinnestäuschung? Wieder ein Schwall gebrochener Schallwellen. Die Spannung drohte ihn zu übermannen. Da! Wieder eine Pause. Und jetzt … Das donnernde Rauschen eines mächtigen Katarakts drang deutlich an sein Ohr.

Seine Hände ließen los. Eine zweite Lederhülle, genau wie die erste, hatte er in seinen Händen. Er stürzte zur Tür hinaus. Stürmte in großem Umweg um die hohe Mauer, die den Schachtrand umkrönte.

An der südlichen Peripherie, wo die Umgebung des Schachtes einsamer war, stieß er zur Schachtmauer zurück. Ein kräftiges Stemmeisen fuhr in das Mauerwerk. Ein paar Steine bröckelten heraus.

Tredrup schob die Lederhülle in die Lücke, setzte ein paar Steinbrocken davor, warf den Rest der Steine über die Mauer in den Schacht. Ein Blick um sich herum. Es war höchste Zeit … In das Toben und Schreien der Massen, die die Förderschalen in rasender Fahrt aus der Schachttiefe herausholten, in das Jammern der Menge, die von allen Seiten strömend an die Förderungen drängte, in das Heulen der Alarmsirenen, die über Mineapolis hin schrieen, mischte sich bereits der dröhnende Laufschritt der Truppen.

Gellende Kommandorufe verteilten diese um den Schachtmund.

Tredrup stürzte zurück nach ein paar Baumgruppen, die halb im Dunkel verborgen lagen. Einen Augenblick hielt er keuchend an. Schon jagten motorisierte Patrouillen um die Stelle, wo er eben noch an der Schachtmauer gearbeitet.

Mit größter Vorsicht, wo das Dunkel ihn schützte laufend, umkreiste er den Schacht zurück nach Norden, wo Mineapolis lag. Er trat in seine Wohnung, kramte aus Schränken und Kästen allerhand hervor, band es mit ein paar Stricken zusammen. Einen kleinen Sack mit Lebensmitteln warf er über die Schulter. Dann ging er. Die Straßen waren voller Menschen, die in der Richtung zum Schacht strömten.

Mit Mühe bahnte er sich einen Weg hindurch. Von der Turmuhr des Stadthauses schlug es die zweite Nachtstunde. Er blieb stehen, verglich seine Uhr.

»Noch fünf Minuten!« murmelte er und ging weiter. Noch fünf Minuten, dann mußte er draußen sein, wo die Baumwollfelder anfingen.

Jetzt hatte er sie erreicht. Nochmals sah er auf die Uhr, nickte.

Im Geiste ging sein Auge in die Schachttiefe. Er sah die Fluten des Katarakts in die Karbidstollen hineinbrechen. Sah die Stoffe zusammentreffen, in der Verbindung unendliche Mengen Azetylen erzeugen. Sah den Riesentrichter des Schachtes sich mit Gas füllen … sah die Belegschaft auf der Flucht. Sah die Fördermaschinen in rasender Fahrt auf und nieder sie zu Tage bringen. Wenige wohl nur, die, durch das Gas erstickt, den Tod gefunden hatten. Er sah das Gas steigen, immer höher. Jetzt hatte es wohl die Mauerkrone erreicht, überflutete sie. Jetzt war’s Zeit.

Aus dem Beutel mit Lebensmitteln zog er einen winzigen Sender, klemmte ihn zwischen die Knie, probierte … dann gab er den Sprengimpuls, der, ebenso wie der erste den Empfänger im Schacht, jetzt den Empfänger in der Schachtkrone betätigen mußte.

Morsezeichen … von den Ätherwellen getragen, glitten sie zu jener Lücke der Schachtkrone. Eine Sekunde … Er lag ausgestreckt auf der Erde, seine Augen starrten nach Süden.

Und dann war’s, als ob der Sonnenball aus der Erde emporstieg. Ein feuriger Bogen über dem Schacht, immer höher, höher werdend.

Feuerwogen, sich drängend, überstürzend in allen Tönen vom tiefsten Blutrot zum hellschimmernden Orange. Dazwischen breite schwarze Ruß-Schwaden, sich türmend, in tollen Wirbeln dahinjagend. Aus dem feurigen Glutmeer herausstoßend … Schwärme fliegenden Feuers!

Ein Schauer rüttelte die Glieder des Liegenden. Er wollte die bebenden Hände vor die Augen schlagen … da traf der Schall von dort sein Ohr …

Weltuntergang … die Schallwellen sich überstürzend in allen Tönen, dann zusammenklingend zu grauenerregendem Brausen. Er drückte den Kopf zur Erde, die Hände an die Ohren. Nichts sehen! Nichts hören! So lag er minutenlang.

Und dann! Durch die geschlossenen Lider drang’s, das Licht des Riesenbrandes, Tageshelle um ihn, über ihm. Er hob den Kopf, zwang die Augen hinüberzuschauen. Eine Riesenfackel, aus dem Boden wachsend bis zum Himmel, bis zum Zenit sich streckend, die Landschaft bis zum Horizont taghell bestrahlend.

In Fieberglut bebte die Gestalt des Liegenden, alles vergessend …

Gefahr … Flucht … Leben … Rettung. Da! Ein kühler Wind strich über den glühenden Kopf, wurde stärker und stärker, kühlte die Fiebergluten.

Die Büsche auf den Feldern begannen zu rauschen. Stark, stärker, und dann wie ein Sturmwind fuhr es über ihn, über die Landschaft, über Stadt und Land, wachsend zum Orkan. Geburt des Flammenungeheuers, das sich selbst den Brandwind schuf.

Und weiter schritt das Unheil. Die Glut breitete sich auf der Erde aus, alles Brennbare auf Kilometerentfernung verzehrend.

Die Stadt selbst … vom Süden her ergriff sie der Brand, sich weiter ausdehnend, weiterspringend von Häuserblock zu Häuserblock.

Die Riesenkraftanlagen, ebenfalls mit erfaßt, waren ein Flammenmeer.

Tredrup lag … lag. Der kalte, brausende Luftstrom, je länger er über ihn glitt, an ihm riß und rüttelte, gab ihm die Besinnung zurück. Er stemmte die Hände auf den Boden, richtete sich auf, stand taumelnd da, noch waren die Glieder nicht frei.

Er wandte sich um, das Gesicht dem Sturm entgegen, und sog mit gierigen Atemzügen die eisige Luft ein. Er tat ein paar Schritte. Die Glieder gehorchten. Seine Arme reckten sich, sein Blick bohrte sich in die Ferne nach Norden hin, als suche er die Heimat, die Freunde.

»Ich hab’s getan!« stieß es aus seinem Munde. »Gott sei mir gnädig!

Weg! Weg von hier! Zu ihnen!«

Er beugte sich zur Erde. Das, was er mit sich getragen, warf er über die Schulter, brach sich einen Stecken von einem Strauch und wanderte nach Norden durch die Nacht … Tageshelle um ihn.

Hochsaison in Irwinga!

Kaiser Augustus hatte schon in den ersten Jahren seiner Regierung durch Geologen und Ärzte in allen Teilen seines Reiches Untersuchungen anstellen lassen, wo die Natur Schätze, Heilkräfte barg.

Heilquellen aller Art waren erbohrt, gefaßt worden, Kurorte entstanden.

In den höher gelegenen Gegenden mit gemäßigterem Klima waren Heil-und Erholungsstätten errichtet worden. Der Kilimandscharo! Es grenzte ans Wunderbare, was hier in wenigen Jahren Menschenhand geschaffen.

Kurorte, Sanatorien von den einfachsten bis zu den vornehmsten lagen an seinen Hängen. Jede Vegetation war vertreten, von üppigen Palmenwäldern bis zu den kümmerlichen Latschenkiefern an der Schneegrenze, auf den Schneehängen jeder Wintersport möglich.

Magnetisch zog der Berg die Menschenmassen zu sich heran. Von Jahr zu Jahr mehr. Aus allen Teilen der Welt traf man hier zusammen.

Der Kaiser selbst kam. Sooft er es möglich machen konnte, kam er zu seinem Lustschloß Ivango am Südosthang des Berges. Irwinga, nicht weit davon entfernt, war die Perle des Kilimandscharos. Auf der Terrasse des Kurhotels ließ eine amerikanische Kapelle die neuesten Weisen ertönen. Alle Plätze der Terrasse waren dicht gefüllt, weiter unten auf den Golf- und Tennisplätzen herrschte reges Leben.

»Ist es hier nicht wunderbar, Juanita? Kann man sich ein schöneres Stück Natur vorstellen? Dazu dieses interessante gesellschaftliche Leben. Welcher Kurort der Alten Welt kann sich hiermit messen?«

Juanita nickte. Ihr Auge war nach den Spielplätzen gerichtet.

»Bald wirst auch du an dem Spiel wieder teilnehmen können, Juanita.

Wie freute ich mich, als ich heute morgen ankam, dich so wohl zu finden! Sechs Tage bist du erst hier, und doch! Wie ein Wunder scheint es, was die Natur in der kurzen Zeit an dir vollbrachte.«

»Du hast recht, Guy! Es ist schön hier … ja, es ist schön hier. Ich danke dir, daß du mich hierher gebracht hast. Die köstliche Ruhe, die wunderbare Natur, sie werden mir mehr helfen als alle Ärzte. Nur den einen Wunsch habe ich, hier zu bleiben, lange, lange zu ruhen, zu vergessen …« Sie lehnte sich in ihren Liegestuhl zurück und schloß die Augen.

Guy Rouse stand auf und zog sorgsam eine Decke über ihre Gestalt.

»Bist du müde, Juanita? Willst du schlafen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nur ruhen! Ruhen!« Rouse trat an die Brüstung der Terrasse. Wäre es möglich! Ein Wunder wäre es. Und doch! Sie sieht so blühend aus!

Blühender, schöner denn je. Die leichte Röte auf ihren Wangen. War es Genesung … waren es die Rosen der …

Am Tag nach ihrer Ankunft in Timbuktu hatte er sie vergeblich morgens am Teetisch erwartet. Die Dame wäre krank, hatte die Zofe gemeldet. Er hatte den Leibarzt des Kaisers holen lassen. Ein kluger, tüchtiger Mann. Seine Studien hatte er in den USA vollendet. Seine Bedeutung als Arzt hatte ihm trotz seiner Jugend den hohen Posten eines Leibarztes beim Kaiser verschafft.

Der Leibarzt war gekommen, hatte Juanita in seinem Beisein untersucht, ein paar beruhigende Worte gesagt. Rouse war mit ihm hinausgegangen, hatte ihn gefragt, von Mann zu Mann, wie es stünde.

Und dann! Was er längst im Innersten gefürchtet, sich immer zu verhehlen gesucht hatte, mit wenigen dürren Worten sagte der Arzt es ihm Heilung schwer! Die Krankheit, zu schwer hatte sie den Körper angegriffen, zu weit schon war sie fortgeschritten. Sie zum Stillstand bringen? Beste Pflege, völlige Ruhe.

Er riet zu Irwinga am Kilimandscharo. Irwinga am Kilimandscharo.

Der leitende Arzt des Sanatoriums war ihm bekannt. Er empfahl ihn aufs beste. Noch am selben Abend war Guy Rouse mit ihr im Flugzeug auf dem Wege dorthin. Juanita war begeistert, entzückt beim ersten Anblick. Hatte freudig zugestimmt, hier zu bleiben.

Am nächsten Tag war er nach Timbuktu zurückgeflogen. Seine Geschäfte ließen ihm nicht Zeit. Er hatte versprochen, sobald wie möglich wiederzukommen.

Und jetzt, fünf Tage später, war er wieder hier. Nur schwer hatte er sich für die Reise frei machen können. Er hatte schon auf dem Sprunge gestanden, nach den USA, wo jetzt seine Anwesenheit immer dringender erforderlich wurde, zurückzukehren.

Die Luft dort war klar. Ein dunkler Punkt nur, James Smith …

Vergeblich hatten leitende Personen der New Canal Company … in seinem Auftrag mit James Smith verhandelt, ihn zum Verbleiben in seiner Stellung zu bewegen versucht. Dieser hatte jedoch brüsk abgelehnt, war neuen Verhandlungen ausgewichen, indem er ohne Angabe eines Reiseziels verschwand. Rouses Agenten waren ihm auf dem Fuße gefolgt, hatten ihrem Herrn von jedem Schritt, den er tat, berichtet.

Nur zu bald war Guy Rouse klargeworden, was das Ziel seines Chefingenieurs war: Juanita! Ihren Spuren ging er nach.

Das Spiel Juanitas … allzu gefährliches Spiel war es diesmal gewesen … Er hätte es wissen müssen. Und doch! Ohne sie wäre es nicht gelungen. Die fünf Millionen Dollar allein? Gewiß hatten sie für Sekunden den Chefingenieur geblendet. Aber er hätte sie nicht genommen ohne das Dazwischentreten Juanitas. Und jetzt? Er verlangte seinen Lohn, verlangte sie, das Ziel seines Lebens. Guy Rouse kannte seinen Mann nur zu gut. Die ungeheure gesammelte Energie in ihm war jetzt frei von allen Hemmungen, nur auf das eine Ziel – Juanita – gerichtet. Ein Kampf auf Leben und Tod mußte es werden. Lange hatte Rouse überlegt, wie dem zu begegnen sei. Ein kleiner Wink … irgendwo in den Staaten eine Seele, die in seiner Hand war … machte ihn frei vom Feind. Den Gedanken hatte er mehrfach verworfen. Letzte Lösung blieb es.

»James Smith im Linienflugzeug nach Timbuktu.«

Letzte Nachricht seiner Agenten war es. Wieder war jener Gedanke aufgetaucht, wieder hatte er ihn verworfen. Mit dem nächsten Flugzeug nach Irwinga. Juanita mußte fort von hier, wo James Smith sie bald finden würde. Doch wohin? Die Auswahl war nicht groß, wurde durch den Zustand Juanitas sehr beschränkt.

Auf der Fahrt hatte er einen Reiseführer durch die Riviera studiert.

Santa Barbara, ein kleiner, wenig bekannter und doch schön gelegener Ort der italienischen Riviera, sollte der neue Aufenthaltsort Juanitas werden. Ihre Spur zu finden, würde James Smith lange Zeit benötigen.

Seit heute morgen war Rouse hier. Immer wieder hatte er mit Juanita von ihrer notwendigen Abreise sprechen wollen, immer wieder hatte er es nicht über sich gebracht. Ein Hotelboy überreichte ihm ein Telegramm: »James Smith in Timbuktu. Soeben angekommen.«

Keine Zeit mehr zu verlieren!

Er trat zu Juanita, bat sie, mit ihm zu einem kleinen Spaziergang zu kommen. Sie schritten zusammen durch die gepflegten Parkwege.

Rouse legte seinen Arm in ihren und sprach zu ihr. Und seine faszinierende Macht, die unerklärliche, wenn sie je Menschenherzen nach seinem Willen gelenkt … hier galt es, sie anzuwenden bis zu ihren letzten Möglichkeiten. Mit größter gesammelter Willensanstrengung sprach er zu ihr von dem, was war, was sein mußte. Sein Herz bebte bei jedem Wort, das er sprach. Und es gelang.

Ein paar schnellere Pulsschläge in ihrer Hand, die seine umklammerte, das war die einzige Reaktion. Noch ein paar Schritte weiter, dann sprach Juanita ruhig, als hätte sie das nicht berührt.

»Du hast recht, Guy! Es ist besser, wenn ich von hier fortgehe … und bald gehe.«

»Und du wirst also wirklich nach Santa Barbara reisen und immer daran denken, weshalb du dort hingefahren bist?«

»Ich werde immer daran denken, Guy! Es wird auch dort schön sein.

Und Ruhe werde ich haben … dort vielleicht mehr als hier.«

»Du wirst ein bequemes Privatflugzeug nehmen. Ich habe alles vorgesehen, dir die Reise so angenehm wie möglich zu machen. Der Pilot wird instruiert sein, alle Spuren der Reise zu verwischen.«

Noch am Abend war Juanita abgeflogen und Rouse mit dem Linienflugzeug auf der Fahrt nach Timbuktu. Flugzeugwechsel in Mineapolis.

Noch während des Fluges kam die Nachricht vom Schachtunglück.

Rouse kannte ihn wohl, den Schacht. Der Einbruch der unterirdischen Gewässer … nur Verbrecherhand konnte den Weg frei gemacht haben.

Warum? Wozu? Im Geiste überschlug er alle Möglichkeiten, alle Gründe, die dazu geführt haben könnten.

Das Werk des Kaisers, in jahrelanger Arbeit mit ungeheuren Kosten vollendet, war zerstört. Karbid und Wasser! Azetylengas in undenkbaren Mengen! Feuer daran? Der Gedanke ließ ihn erschauern.

Ein Meer von Flammen … von Zahlen wogte vor seinem Geist.

Der ungeheure wirtschaftliche Schlag für den Kaiser … letzten Endes berührte er auch ihn. Eine Riesenanleihe des afrikanischen Reiches … wer würde sie geben? Er! Drei Erdteile: Amerika, Europa, Afrika in seiner Hand!

Er ging zur Leitung des Flughafens, legitimierte sich, verlangte einen Kraftwagen.

Zur Stadt! Zum Schacht!

Auf dem kleinen Platz hinter dem Stadthaus hielt sein Kraftwagen an.

Aus allen Seitengassen strömten die Massen heran über den Platz, drängten zur engen Hauptstraße, die nach Süden zum Schacht führte.

»Unmöglich weiterzufahren, Herr!«

Der Chauffeur deutete auf die Massen. Rouse erkannte die Richtigkeit der Worte. Er verließ den Wagen und versuchte mit dem Strom vorwärts zu kommen. Das war nicht leicht. Nur langsam, am Rande vorwärtsgeschoben, ging es der Hauptstraße zu.

Da! Wenige Schritte von ihm, gerade im Schein einer Laterne, ein Mann, der anscheinend nicht mitwollte. Er stand da, sah auf die Uhr.

Wandte sich um und nahm an den Häusern entlang den Weg nach Norden. Als er sich umdrehte, konnte Guy Rouse dessen Züge deutlich erkennen.

Ein Mischling war’s! Und doch! Er mußte ihn kennen, den Mann.

Alles an ihm, seine Züge, seine Gestalt, wo hatte er sie gesehen? Wo war er ihm begegnet? In seinem Innern schrie es auf: Montegna!

Ah! Da war es! Und der Mann ging jetzt nach Norden zu, wo alles nach Süden drängte? Gepäck auf der Schulter … Er floh? Warum? Und dann wußte er’s.

War es ein Verbrechen, dann war dieser der Täter! Einen Augenblick überlegte er, ob er ihm nacheilen, Hilfe herbeirufen solle, ihn festzuhalten … Nein! Nein! Der konnte nicht entkommen, der wohlorganisierten Polizei des Kaisers nicht entgehen. Er würde ihr den Weg weisen.

Und dann stand Rouse vor dem Polizeichef von Mineapolis, nannte den Täter und gab dessen Spur. Der Mann konnte nicht entkommen!

Tredrup schritt vorwärts, Weiler, Dörfer, die am Wege lagen, im Bogen umgehend. Der Umweg war kürzer als der gerade Weg. Durch das erste Dorf war er hindurchgegangen. Sie hatten ihn angehalten, festgehalten, mit Fragen bestürmt. Er kam aus dem Süden, vom Schacht her, vom Feuer her. Mit Gewalt hatte er sich frei machen müssen. Eine kleine Anhöhe zur Seite. Er schritt vom Wege ab darauf zu.

Langsam stieg er den sandigen Abhang hoch. Der Sturm, der zum Feuer flog, hatte an Stärke abgenommen, je weiter er kam. Hier unter dem Schutz des Hügels war es fast windstill.

Er blickte auf die Uhr. Noch immer reichte das Licht des Schachtbrandes aus, die Ziffern zu erkennen. Drei Stunden war er unterwegs, er war rüstig vorwärtsgeschritten. Aber die Umwege, die er machte, hatten sein Vorwärtskommen um ein Drittel vermindert. Zwölf Kilometer! Größer war die Entfernung nicht. Er schob sich nahe an den Rand des Abhanges heran, prüfte mit hochgehobener Hand die Stärke und Richtung des Windes.

Unmöglich! Noch ging es nicht. Noch konnte er es nicht wagen. Er warf das Bündel wieder über die Schulter und hob den Fuß zur Hügelkante.

Dann stutzte er, sprang zurück und legte sich hart an die Böschung und schaute nach Süden. Die Helle, die über der Landschaft lag, ließ die Straße bis weit nach Süden erkennen.

Motorradfahrer … ein geschlossener Trupp … ab und zu ein Blitzen …

Militär? … Polizei? …

Da! Sie wichen zur Seite! Aus einer Staubwolke hinter ihnen schoß ein Kraftwagen an ihnen vorbei, hielt kurz. Ein einzelner Motorradfahrer brauste heran, sprach mit denen im Wagen. Der Wagen fuhr weiter, der Motorradfahrer in schärfstem Tempo hinterher.

Verfolger? Tredrups Augen flogen vom Wagen zu den nachfolgenden Motorrädern.

Verfolger? Wen verfolgen die? Verfolgen sie dich? Bist du’s?

Unmöglich! Unmöglich! Ausgeschlossen! Wer hätte ihn gesehen bei seinem Werk? … Möglich war es, daß ihn jemand gesehen hatte. Aber was konnte der sich denken? Was? Wie konnte der vermuten, wie alles geschehen konnte … vermuten, daß durch ihn alles geschah?

Die ungeheure Verwirrung am Schacht, in der Stadt, wo jeder suchte, sein Leben zu retten, wo alle Ordnung dahin war … Wer kümmerte sich da um den Täter, wenn das Ganze ein zufälliges Unglück war. Und hätte jemand Verdacht auf ihn, wie konnte der wissen, wohin er sich wandte?

Flohen nicht die Schachtarbeiter nach allen Richtungen der Windrose auseinander?

»Klaus! Du siehst Gespenster am hellen Tage! Dein überreiztes Hirn bringt dich auf solche törichten Ideen.«

Da! Das Auto! Er war ihm mit den Augen immer gefolgt. Es hielt, vier Männer stiegen aus. Gingen ein paar Schritte auf dem Seitenweg, auf dem er von der Straße abgebogen war, um die Höhe zu gewinnen.

Der eine ging zum Wagen zurück, öffnete. Zwei Hunde sprangen heraus …

»Sie suchen dich!« Der Instinkt schrie es ihm zu. »Sie sind auf deiner Spur!« Wie war das möglich! Weg mit dem Gedanken, er half nichts.

Weiterfliehen? Zu Fuß? Ausgeschlossen! Die Hunde würden ihn bald eingeholt haben. Er konnte sie abschießen … vielleicht, aber die anderen blieben auf seinen Fersen. Noch während er dachte, hatten seine Finger die Hülle des Gepäcks gelöst.

»Ruhig Blut! Ruhig Blut, alter Klaus! Fixe, gute Arbeit muß es sein, sonst bist du verloren!«

Er griff in den Inhalt des Beutels. Kurze Stäbe, auseinander gezogen, dann zusammengefügt. Ein Gestänge entstand im Nu. Wie Zauberwerk ging’s. Schon fügte sich seidiger feiner Stoff um das Gerüst. Seine Hände flogen von Schraube zu Schraube, zogen zur gleichen Zeit an beiden Flächen die Verbindungen fest. Er wandte den Kopf zurück. Auf dem Wege zum Hügel kamen die Hunde mit tief gesenkten Nasen herangestürmt. Hinter ihnen, Schritt mit ihnen haltend, der Kraftwagen.

Er schwang das schimmernde Gerüst über sich, verschwand zwischen ragenden Schwingen. Da stand einer im Wagen auf, zeigte mit dem Arm nach ihm. Das glitzernde Flimmern des seidigen Gewebes hatte ihn verraten. Ihre Hände griffen nach den Waffen, legten auf ihn an. Er schwang das Flimmernde über sich. Schüsse krachten. Er hörte das Pfeifen der Kugeln um sich. Da war der Schwingenflieger fertig. Hinein in den Wind! In den Geschoßhagel! Seine Arme schlugen das Gestänge nach unten. Mit einem Riesensatz war er an der Hügelkante … noch einen Schritt weiter, er hob den Fuß, da hatte ihn schon der Sturm gefaßt.

Die Kugeln! Aus vier Maschinenpistolen pfiffen sie um ihn herum.

»Nur keine Stange! Keinen Arm!« murmelte er. Da war er schon über ihren Köpfen. In rasender Fahrt riß ihn der Wind in die Höhe, nach Süden zu. Sie folgten ihm mit ihren Waffen, schossen wild …

Da war er schon außer Schußweite. Tief unten, kaum noch erkennbar, die Landschaft.

»Jetzt wird’s Zeit«, murmelte Tredrup. Mit immer größerer Geschwindigkeit riß ihn der Sturm dem Brande zu. Von Sekunde zu Sekunde wuchs die Gefahr, die Gefahr, in den Sturmwirbel des Flammenmeeres hineingerissen zu werden.

Gewiß! Die Höhenkurve wurde immer steiler, sein Flug ging immer höher … Aber auch immer näher trieb es ihn an die sengende Glut, die in unendliche Höhen hinaufwallte.

Er warf den Schwingenflieger zur Seite. Fast brach ihm der Sturm Gestänge und Arme. Er biß die Zähne aufeinander, trat mit dem Fuß das Tiefensteuer … würde es gehorchen? Würde der Apparat ihm folgen?

Ja! Es schien zu gelingen … langsam neigte sich der Kopf des Schwingenfliegers, zuckte, ruckte, neigte sich tiefer und immer tiefer.

»Gott sei Dank!« stießen seine Lippen heraus. Fixe, gute Arbeit … und jetzt, den guten, treuen Apparat unter sich, nahm er den Kampf mit Sturm und Feuer auf. Kein treibendes Blatt mehr, das, hilflos gaukelnd, im Sturm dahin gerissen wurde … eine lebendige Maschine, von Menschengeist, von Menschenarmen geführt, nach Menschenwillen gelenkt …

Der Kampf begann. Wie ein Schiff im Taifun mit allen Kräften allmählich aus den Wirbeln, die todbringend zum Zentrum ziehen, zu kommen sucht, so drückte er den Schwingenflieger mit übermenschlicher Kraft auf seitlichen Kurs, daß er kreisend um das höllische Flammenmeer herumfuhr. Immer wieder ging sein Blick zur Erde. Da war er an der südlichen Peripherie des Brandmeeres. Weiter ein rasendes Kreisen in wilden Spiralen. Der Kampf mit der anziehenden Kraft der Wirbel trieb ihn im Kreise … aber auch immer höher! Seine Brust atmete schwer. War es die Riesenanstrengung, mit der seine Arme die Steuerflächen bedienten, war es die dünner werdende Luft in dieser Höhe?

Wie hoch hatten ihn die Strudel gerissen? Acht Kilometer, die Höchst-Grenze menschlichen Lebens … er fühlte, wie das Blut seine Adern zu sprengen drohte. Dazu die strahlende Glut! Die Gestänge in seinen Händen wurden heißer und heißer. Die Zunge klebte ihm am Gaumen.

Auf seinem Rücken bewahrte er eine Flasche Wasser. Tantalusqualen!

Er konnte es nicht wagen, danach zu greifen … die Steuerung loszulassen. Seine Kräfte wurden matter. Er schloß die Augen, als wolle er das Unvermeidliche über sich ergehen lassen, den Kampf aufgeben.

»Die Strafe des Schicksals folgt der Tat«, murmelten seine trockenen Lippen …

Ein riesiges, glühendes Wellblechdach, das in tollen Wirbeln sich überschlagend seine Bahn kreuzte, riß ihn aus seiner Betäubung. Das hatte den Weg gefunden aus dem glühenden Zentrum in die Abdrift des Orkans. Mit einer letzten, übermenschlichen Anstrengung drehte er das Tiefensteuer immer weiter herum, riß er das Seitensteuer. Der letzte Versuch …

Da vor ihm flatternd das wirbelnde Blech. Ihm nach! Er starrte hinüber. Da verschwand es aus seiner Sicht. Nein! Nein! Da war es wieder!

Deutlicher, immer deutlicher sah er es jetzt. Er näherte sich ihm … schneller, immer schneller. Er ließ das Tiefensteuer noch einmal hoch und drückte mit scharfem Ruck nach unten. Der Kopf des Fliegers senkte sich, das Gestänge zum Zerspringen gespannt.

Und dann … der Widerstand ließ nach. In sausendem Gleitflug schoß er unter dem Blech hindurch, weg vom Wirbel, weg von den Flammen.

Gerettet! wollte er rufen.

Da, eine Bö hob ihn, warf ihn zurück. Noch einmal das Tiefensteuer!

Der Apparat ächzte, aber er gehorchte. In gleitendem, rasendem Flug schoß er aus dem Zyklon in ruhigeren Äther … schoß weiter, weiter, die Tageshelle hinter sich lassend, in die kühle, rettende Nacht. Eine unendlich wohltuende Müdigkeit überfiel Tredrup. Der Widerstand der Luft wurde so schwach, daß seine ermüdeten Arme sich nur wenig anzustrengen brauchten, um den Albatrosflug des Schwingenfliegers durchzuhalten.

Jetzt endlich konnte er einen Arm frei machen, die Wasserflasche ergreifen, sie an die Lippen führen. Das Wasser war warm! Und doch, wie labte es den vertrockneten Gaumen! In gierigen Zügen sog er die Flasche aus bis zum letzten Tropfen.

Er wandte den Kopf nach Süden. Wohl sah er sie noch, die Riesenfackel, die von der Erde zum Himmel reichte. Aber ihr Licht war schwächer geworden. Die Tageshelle da unten war hier dunkler Nacht gewichen. Er blickte hinauf zum Himmel. Das Meer der Sterne grüßte ihn. Im Augenblick hatte er sich orientiert.

Nach Norden hin! Nach Norden zu den Freunden, zur Heimat!

Wibehafen … das neue Bild! Wie anders war’s noch vor Wochen!

Gewiß! Auch jetzt drängte sich Schiff an Schiff an den Kais. Sie kamen an wie früher, mit Lebensmitteln, mit Ballast. Kehrten zurück mit dem, was die Gruben lieferten. Kohle früher! Jetzt Menschen!

Leer die Riesenschächte! Leer die gewaltigen Fabrikgebäude! Stumm die Maschinen! Alles Lebende auf der Flucht nach Süden. Nichts von den kostspieligen Anlagen, von den Riesenwerften durfte abmontiert, durfte weggeschafft werden.

Menschenleben retten! Die letzten Transporte waren zu machen. Ein paar tausend … Die letzten von den Hunderttausenden, die bis vor kurzem hier gelebt hatten. Die Stadt mit ihren schönen breiten Straßen, den großen, wohlgebauten Häusern bot ein trauriges Bild in ihrer Öde und Verlassenheit.

Das Flugzeug, das, von Süden her kommend, auf dem Flugplatz landete, fand keine Helfer. Die Riesenhalle leer, verlassen.

Uhlenkort sprang hinaus und nahm den Weg zum alten Leuchtturm.

Die Augen geradeaus gerichtet … nicht links, nicht rechts schauend, als könne er den trostlosen Anblick nicht ertragen, ging er seinen Weg. Und wieder war es ihm wie so oft. Als er nun am Fuße des Turmes stand und die Hand an die kalten grauen Quadern legte, ging ein Strom von Zuversicht, von Hoffnung durch sein Herz, verscheuchte alles, was es bedrückte.

Und dann stand er dem Freunde gegenüber, oben in der Laterne des Turmes. Der begrüßte ihn kurz, wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

War es die Nähe des Mannes, war es die Ruhe im Gemach? Uhlenkort ließ sich in einen Sessel nieder. Seine Hand strich über die Stirn, verscheuchte alle Sorgen und Qualen der Tage und Nächte. Er zog eine amerikanische Zeitung aus seiner Tasche und begann zu lesen. Hier ein ausführlicher authentischer Bericht über das Unglück am Augustus-Schacht in Mineapolis. Tredrup … sein Werk! Wo war er jetzt? Hatte er sich gerettet? Die Zeitung schilderte die Vorgänge der Katastrophe in den grellsten Farben. Uhlenkort las, zuckte die Achseln.

Wie verblaßte das alles gegenüber dem, was über Europa gekommen war. Noch einmal überlegte er im Geiste die Tat Tredrups, ihre Notwendigkeit. Ein Herostrat … das Wort stand in den Spalten der Zeitung immer wieder. War es das? War das richtig? Nein! Nein! Schrie es in ihm auf. Es mußte geschehen in berechtigter Notwehr. Und als wollte er sich frei machen von alledem, schlug er die Seite um, las weiter. Flüchtig gingen seine Augen über die gesperrt gedruckten Überschriften. Da!

»Ein freches Piratenstück im Golf von Mexiko!«

Er las …

Der Überfall war anscheinend schon vor Tagen passiert. Der Bericht der Augenzeugen war es. Der letzte Satz: »Ein Passagier, Miss Christie Harlessen, Kontoristin aus New York, wird seit der Stunde des Überfalls vermißt. Man vermutet, daß sie von den Piraten mitgeschleppt wurde, wobei allerdings auffällt, daß niemand die gewaltsame Entführung gesehen hat.«

Uhlenkort las … immer wieder lasen seine Augen diese Worte. Der Atem stockte ihm, seine Hände umkrampften das Blatt.

Christie geraubt! Unmöglich! Von wem? Warum? Lösegeld?

Von einer kleinen Kontoristin … und doch! Doch konnte es sein … ihr Name: Harlessen … vielleicht war er den Piraten aufgefallen. Sie hatten erfahren, daß sie mit dem Präsidenten der Europäischen Union nah verwandt sei. Im Geiste versetzte er sich auf das Schiff, sah, wie Christie, von rauhen Fäusten aus ihrer Kabine gerissen, in das Räuberschiff gebracht wurde.

Jäh sprang er auf, eilte zu dem Arbeitstisch. Johannes mußte helfen …

Er konnte es! Was konnte der Freund nicht?

Er rüttelte an dessen Schultern, sprach zu ihm. Dieser schien nichts zu fühlen, nichts zu hören. Seine Hände arbeiteten an einem mechanischen Werk, seine Augen waren darüber geneigt, jede Bewegung verfolgend, prüfend. Uhlenkort trat zurück. Er durfte ihn nicht stören. Er stellte sich zur Seite, wartete in fieberhafter Ungeduld. Die Sekunden wurden ihm zu Minuten, die zu Stunden … unerträglich …

Da, endlich! Der andere richtete sich auf, wandte sich zu ihm.

»Was ist? Was wolltest du?«

Uhlenkort wies ihm die Zeitungsnotiz. Mit fliegendem Atem stammelte er ein paar erläuternde Worte.

»Hilf mir, Johannes! Hilf mir! Du kannst es! Ich weiß es.«

Der schüttelte den Kopf.

»Nein! Du irrst. Ich kann dir nicht helfen, ich kann dir nichts sagen, ich darf es nicht …«

Die letzten Worte, in leisem Flüsterton gesprochen, Uhlenkort hatte sie doch vernommen.

»Du darfst es nicht?« schrie er. »Du kannst es und willst es nicht?«

Der Freund wandte sich ab zu dem breiten Südfenster, starrte lange hinaus.

»Ich könnte es … vielleicht …«, murmelten seine Lippen.

»Nein!« Mit dem Wort hatte er sich umgewandt, trat auf Uhlenkort zu.

»Nein! Ein Mißbrauch war’s! Ich will nicht! Du, der du tiefer in mein Innerstes geschaut hast als irgendein anderer Sterblicher … du, der du weißt, was das Schicksal mir auferlegte, weißt, daß meine schwachen Schultern die Bürde kaum zu ertragen vermögen … weißt, daß ich alles, was ich tue … tue … weil das Schicksal es will, der du weißt, daß die Macht, die in meine Hände gelegt ist, von ihm kommt … Das Walten des Geschickes … rätselhaft … unbegreiflich, dir … mir, dem Diener, den er sich auserkoren … Mißbrauch, Frevel wäre es! Ich kann es nicht! Ich will es nicht!«

Uhlenkort starrte in das Gesicht des Freundes. Von Jugend an kannten sie sich. Nie hatte er es so gesehen. Die tiefe Blässe, die stets darauf geruht, war verschwunden, einer leichten Röte gewichen. Die blauen Augen – ein leichter Schleier hatte stets darüber gelegen – leuchteten, wie wenn ein heiliges Feuer sie entzündete. Statt der sanft geschwungenen Lippen des zarten Mundes ein messerscharfer roter Strich an ihrer Stelle. Die schmächtige, leicht vorn übergeneigte Gestalt stand hoch aufgerichtet da. Uhlenkort war zurückgetreten, sah zu ihm hinüber. War das Johannes Harte? War das der Freund seiner Jugend?

»Du wirst sie wiedersehen, die Verlorene, sei’s dir ein Trost! Doch vergiß es nicht, daß auch dir das Schicksal zu tragen gegeben hat, schwer, schwerer als vielen anderen Sterblichen. Daß auch du sein Diener bist, bestimmt zu Großem, bestimmt, vielen Tausenden zu helfen, ihre Not zu lindern … Sie …«, der starre Ausdruck seines Gesichts milderte sich, »… sie ist in Not, einer Not, klein gegenüber der der Tausende. Du tust dein Werk, wie das Schicksal es will. Ich will das meine tun. Als du kamst, tat ich den ersten Schritt …«

Und dann war es wieder der alte Freund, der Johannes Harte, wie er ihn von Jugend auf kannte.

»Wir wollen einen Gang über die Insel machen. Komm mit mir.«

Sie standen an einer vorspringenden Klippe. Unter ihnen die brausende, rauschende Flut. Zur Seite der Hafen. Ein ankommendes Schiff. Die Landungsbrücke war herunten, ein Strom von Menschen eilte über sie hinweg, auf das Schiff.

Uhlenkort sah es. Gleichgültig glitt sein Auge über das Bild. Nichts in ihm regte sich dabei. Sein Herz, es schlug im Widerhall der Worte, die sein Freund gesprochen:

»Ich habe den ersten Schritt getan.«

Von Süden her näherte sich ein Flugzeug. Schon konnte man die Formen unterscheiden. Ein schnelles Privatflugzeug mußte es sein. Wer konnte das sein?

Tredrup! schoß es Uhlenkort durch den Kopf. Eine jähe Freude stieg in ihm auf, ihn wiederzusehen! Lebend! Hier!

Auch er war ein Diener des Schicksals. Mit ihm zusammengestellt, manche Wege gemeinsam zu gehen, Freund dem Freunde, jetzt und auch weiterhin. Christie … Tredrup … der offene, klare Charakter … ein Kind konnte in seinen Zügen lesen. Und doch, was hatte ihm die Natur noch gegeben, mehr als anderen … den schlauen, findigen Geist, allen Lebenslagen gewachsen, überall einen Ausweg sehend.

»Gehen wir zum Flugplatz!«

Er sprach’s und ging mit schnellen Schritten darauf zu, achtete nicht, daß der andere ihm nur langsam folgte. Ja, es war Klaus Tredrup, der ihm am Tor des Hafens entgegentrat. Sie gingen der Stadt zu. Tredrup erzählte, kaum konnte ihn Uhlenkort mit einer Frage unterbrechen. Die Hauptsache kannte er ja aus den Zeitungsberichten, aber die Flucht, die abenteuerliche Flucht, bis er wieder europäischen Boden unter sich hatte. Und damit hatte Tredrup seinen Bericht beendet.

»Nun bin ich hier! Wieder bei Ihnen. Und nur die eine Frage ist’s, die mir auf dem Herzen liegt, sich darauf gelegt hat, vom ersten Schritt, den ich tat … die, von der ich mich nicht frei machen konnte, bis zu diesem Augenblick: War’s recht, was ich tat?«

Uhlenkort hatte seine Hand ergriffen, sie gedrückt, dann an sich gezogen.

»Ja! Und tausendmal ja, es war recht!«

Sie standen am Leuchtturm. Der Turmbewohner … die Erinnerung hatte auf Tredrup gelastet seit dem Morgen nach der nächtlichen Fahrt.

Sein beweglicher Geist hatte am hellen Tage die Gespenster der Erinnerung zu verscheuchen gewußt. Aber die Nächte …

Sie standen am Fuße des Turms. Tredrup ging voran. Fast nahm sein Fuß zwei Stufen auf einmal. Und dann stand er vor dem Rätselhaften, ergriff dessen Hand, drückte sie. Der hielt sie fest. Reichte die andere Uhlenkort, bis sie standen Hand in Hand … Diener des Schicksals! Sie saßen gemeinsam am Tisch. Tredrup erzählte den Freunden, wie er es getan. Und wieder hatte Uhlenkort, als er endete, das Wort wiederholt:

»Recht war’s!«

Tredrup sah zu dem anderen hinüber. Dieser nickte, und leise kam es von seinen Lippen: »Das Schicksal wollte es!« Uhlenkort nahm die Zeitung. »Christie Harlessen von Seeräubern geraubt …«

Tredrup fuhr zusammen. Seine Augen blickten zu dem anderen, schienen es nicht zu fassen.

»Wir müssen sie retten«, entfuhr es ihm. »Retten so schnell wie möglich. Christie Harlessen geraubt.«

Immer wieder murmelte er es vor sich hin. »Unmöglich! Unmöglich!«

Er wiederholte die gleichen Worte, die Uhlenkort gesprochen.

»Warum? Weshalb? Lösegeld? Kontoristin aus New York?

Schulreiterin?«

Die Augen weit geöffnet, sprang er auf.

»Kapstadt! Juanita! Guy Rouse!«

Die drei Worte gellten durch den Raum.

»Juanita! Du! Ah! Jetzt weiß ich’s … Jetzt verstehe ich es … Du belogst mich doch!«

Er sank auf den Stuhl zurück und schlug die Hände vor das Gesicht.

»Du belogst mich doch!«

Immer wieder stieß er es aus. Die anderen sahen auf ihn. Diese Kraftnatur, geschüttelt in schwerstem Seelenkampf. Was war das? Da sprang er auf.

»Guy Rouse!« zischte er. »Kein anderer! Juanita! Warum?«

Er drückte die Fäuste vor die Stirn. »Ich weiß es nicht. Nur das eine weiß ich, er steht hinter all diesem.«

»Guy Rouse?« Auch Uhlenkort sprang auf. »Wie kommst du zu diesem Namen? Was hat er mit Christie zu tun?«

Er trat auf Tredrup zu und schüttelte ihn. »Was ist mit Guy Rouse und Christie? Sag’s! Was weißt du?«

Und wie sie noch standen, war der dritte zu ihnen getreten, hatte zu ihnen gesprochen, daß sie voneinander ließen, sich setzten, daß Tredrup sagte, was er dachte. Lange, lange sprachen sie, Tredrup und Uhlenkort.

Immer wieder ging ihr Blick zu dem anderen hinüber. Der saß, das Gesicht nach Süden gerichtet, regungslos. Kein Zug … kein Zucken in seinem Gesicht. Keine Antwort auf ihr stummes Fragen.

Tausend Pläne wurden erwogen, verworfen. Kein Ausweg. Bis sie erschöpft schwiegen. Ratlos, hilflos. Da wandte sich der andere um.

»Schicksal! Wißt ihr’s noch nicht? Es geht seinen Gang. Es wird geschehen, es wird erfüllt werden, wenn die Zeit gekommen ist. Ihr habt zu warten, zu tun, was euch das Schicksal gebietet.«

Das Linienflugzeug Mineapolis-Timbuktu landete. Rouse ging über den Flugplatz, winkte seinem Chauffeur.

»Zum Hotel. Schnellste Fahrt!«

Er warf sich in den Wagen, blickte auf die Uhr. Eine knappe Stunde, dann hatte er Audienz beim Kaiser, Abschiedsaudienz. Am nächsten Morgen wollte er zurück nach den USA. Noch einmal hatte er das Bild der Riesenfeuersbrunst in sich aufgenommen.

Der brennende Augustus-Schacht war die Weltsensation, das Weltgespräch, der unerschöpfliche Stoff für die Weltpresse. Wie Heuschreckenschwärme kamen die Flugzeuge von den größten Passagierflugzeugen bis hinab zur kleineren Privatmaschine. Zehn Meilen vom Schacht begann die Gefahrenzone. Ein Schwarm von Patrouillenflugzeugen, Tag und Nacht kreisend, hielt die allzu Neugierigen zurück.

Der Zyklon, geboren aus der Riesenbrunst des Feuers, drohte jeden, der näher kam, in den Flammentod zu ziehen. In den ersten Tagen des Brandes, ehe man den Patrouillendienst einrichtete, war es manchem Flugzeug ergangen wie der Motte, die um das Licht kreist und stirbt.

Der Schacht brannte. Die Riesenfackel, heute wie am ersten Tage, spottete aller Versuche, ihrer Herr zu werden. Alle Geister der Welt brachten Vorschläge … einer so unmöglich wie der andere. Den Wasserzufluß dämmen! Wäre es möglich, der einzige Weg wäre es. Ein Heer von Geologen, Bohringenieuren, Technikern war zusammengeholt worden, Untersuchungen anzustellen. Von allen Ecken kamen Rutengänger, um zu helfen.

Alles vergeblich! Keine Rettung. Der unterirdische Strom, der den Schacht bedrohte, wies keinen geschlossenen Lauf auf. Ein Netz von Quelladern, das sich erst kurz vor dem Schacht vereinigte, wo die ungeheure strahlende Hitze des Riesenbrandes jede Arbeit unmöglich machte. Wäre es anders gewesen, so hätte vielleicht die Möglichkeit bestanden, Gefrierrohre bis in den unterirdischen Strom zu schlagen, die Wasser durch Frost zu bannen. So blieb es – vorausgesetzt, daß die geologischen Angaben selbst stimmten – eine Riesenarbeit mit zweifelhaftem Erfolg, ganz abgesehen von den ungeheuren Kosten – die Quelladern gingen teilweise in größte Tiefen hinab –, Kosten, die aufzubringen selbst dem Kaiser Augustus schwer werden mußte.

Es war nicht allein der brennende Schacht, die verlorene Energie. Fast ganz Mineapolis war zerstört, die Riesenindustrieanlagen, mit ungeheuren Kosten erbaut, jetzt ein wüstes Ruinenfeld. Gruben, Hüttenanlagen, teilweise weit im Landesinnern, eingestellt auf die Energie vom Tschadseeschacht, waren jetzt zum Stilliegen verurteilt.

Das feste Gefüge des Großafrikanischen Reiches zitterte, wankte unter den Wirkungen der Katastrophe.

»Glück oder Unglück?«

Guy Rouse hatte die Worte gemurmelt, als er mit einem letzten Blick auf die riesige Feuersäule, die von der Erde bis zum Himmel reichte, zum Flugzeug schritt.

»Ein Trümmerhaufen die Hoffnungen des Kaisers! Die meinen? Der Schacht mußte brennen … weiter … weiter … Jahre … Jahrzehnte …

Jahrhunderte vielleicht. Unangreifbar, unlöschbar die Feuergluten für Menschenhand – bis vielleicht die Natur aus sich selbst heraus vollbrachte, was Menschengeist, menschenarm unmöglich war. Meine Forderungen an Seine Majestät werden in der nächsten Zeit schwer realisierbar sein. Er wird gar bald mit neuen Wünschen an mich herantreten. Wahrscheinlich heute schon, wenn ich mich verabschiede.

Er wird mich bitten … bitten! Er, der Kaiser Augustus Salvator.« Er schloß sekundenlang die Augen. Ein Zug der Genugtuung, Befriedigung lag um seinen Mund, als koste er schon den Genuß der Szene. Das Flugzeug hatte sich vom Boden gehoben, umkreiste nach Süden hin die Stadt, den brennenden Schacht. Die Augen Rouses hafteten daran, bis das Flugzeug unter die Kimm tauchte, bis nur noch der Feuerschein am Himmel zeigte, wo der Sitz des Feuers lag. Er wandte sich um. Sein Fuß stampfte heftig den Boden.

»Und das alles durch die Hand dieses Schurken! … Tredrup! Der Mensch muß verschwinden vom Erdboden. So! oder so! Die Rache des Kaisers … Wie ich den kenne, wär’s möglich, daß er sie verschmähte.

Nationale Tat es wäre nicht ausgeschlossen, daß er so dächte. Mag er!

Wo bliebe ich, nähme er seine Rache vorweg. Hat doch nur jeder Mensch ein Leben. Ich will meine Rache haben an dem Burschen. Sein Konto ist abgeschlossen. Ich werde hinter ihm her sein wie der Jäger hinter dem Wild, und ginge es bis ans Ende der Welt! Meine Hunde – eine stattliche Meute ist’s –, die würden ihn hetzen, bis ich ihn habe.

Der … und der andere! Die Würfel sind gefallen. Tredrup und Smith!«

Er blickte durch das Fenster der Kabine. Vor ihm tauchten, die Türme von Timbuktu auf.

»Smith ist wieder hier, wie mir der Agent vor ein paar Stunden meldete. Seine Nachforschungen in Irwinga waren erfolglos.«

Rouses Hand griff mechanisch in die Rocktasche, fühlte das kurze, kalte Metall.

»Du wirst’s wohl sein, das den Knoten zerhaut. Er ist zu schade für die Meute!«

Juanita … der Name drängte sich ihm auf. War es nicht ihre Schuld, daß er diese beiden Männer zu gefährlichen Feinden hatte? Sie war in Santa Barbara glücklich angekommen, würde vielleicht dort sterben.

Der Arzt in Irwinga hatte wenig Hoffnungen gemacht. Sterben! Das junge, schöne Geschöpf …

Rouses Gedanken flogen zurück, zum Kanal … Montegna … das erste Glied der Kette, an die sich die anderen schlossen … welches würde das letzte sein?

Rouse stand vor dem Kaiser. Die Audienz war sehr kurz gewesen.

Nichts von dem, was er erwartete, war geschehen. Keine Bitte, kein Wort des Bedauerns über seine Abreise. Gleichmütig, kühl hatte ihn der Kaiser empfangen. Ein paar belanglose Worte gesprochen. Ihm gezeigt, daß die Audienz zu Ende sei. Er stand, konnte es nicht fassen. Eine Niederlage, schwer … unvermutet.

Der Adjutant, der eintrat, ihn hinausgeleitete, brachte es ihm erst voll zu Bewußtsein, daß er entlassen war. Er stieg in den Wagen, der ihn zum Flugplatz bringen sollte. Alles andere war vergessen. Der Kaiser … der Kaiser …

Was war nur mit ihm? Er schloß die Augen … saß … und sann.

Der Wagen hielt mit kurzem Ruck. Der Chauffeur riß die Tür auf.

Rouse saß noch in Gedanken versunken. So mag’s sein …

Er stieg aus dem Wagen, ging zum Flugzeug.

»Der Kaiser ist klüger, als ich dachte. Das Spiel wurde ihm zu hoch.

Kein Krieg! Er resigniert, wartet auf bessere Zeiten. Klug! … Du Kaiser.

Kein Freund könnte dir einen besseren Rat geben. Krieg! Vabanque wär’s! Er ist kein Hasardeur. Er sieht die Grenzen und hütet sich, darüber hinauszugehen. Die Südafrikanische Union wird jubeln. Ihr diplomatischer Sieg ist sicher … so sicher, wie ihre Niederlage gewesen wäre, wenn nicht Tredrup … er allein ist schuld, daß alles so anders kam, als ich gehofft hatte. Der Steinwurf im Schacht … Diese Ungeschickten! Hätte ich einen von meinen Leuten hier gehabt, der hätte es besser gemacht. Doch gedulde dich, nicht lange sollst du den Ruhm genießen, Nationalheld zu sein!«

Er saß in seiner Kabine. Der Funk gab den New Yorker Börsenbericht durch. Er hörte. Da kam es … Die Aktien der New Canal Company … um zehn Punkte gestiegen. Der dritte Tag war es, daß sie sprunghaft in die Höhe gingen. Vor drei Tagen hatte es die amerikanische Presse ihren Lesern mitgeteilt, daß Mr. Rouse, von seiner Krankheit völlig genesen, nach den Staaten zurückkehrte und die Leitung der New Canal Company wieder in die eigene Hand nehmen würde.

Er lachte. Zehn Punkte! Gut! Noch weiter drei Tage so! Dann würde er die Gegenminen springen lassen.

Dann wieder, durch seine Agenten, verstreut in den Großstädten der Welt, kaufen lassen …

Die Enge der Kabine bedrückte ihn. Seine Hände umklammerten die Armlehnen. Die hohe, magere Gestalt zitterte wie im Fieberschauer.

Geld! Macht! Die einzige Leidenschaft, die er kannte – mit furchtbarer Gewalt hatte sie ihn ergriffen, jede Faser seines Leibes sich Untertan gemacht. Der Körper des Mannes bebte unter dieser Leidenschaft wie der Sklave unter der Peitsche des Herrn.

Im Scheinwerferraum des Leuchtturms saßen die beiden Freunde.

Uhlenkort, reisefertig, stand auf.

»So wäre alles für deine Fahrt geordnet. Wäre meine Anwesenheit nicht dringend erforderlich, würde ich dir mein Flugzeug hier lassen. So jedoch geht es nicht. Ich werde es aber sofort nach meiner Ankunft wieder hier herschicken. Du kennst ja die Maschine. Du wirst alle Bequemlichkeiten während der Fahrt haben. Meine einzige Sorge, Johannes, ich spreche sie immer wieder aus, ist, daß der schroffe Klimawechsel deiner Gesundheit schaden könnte. Von Nordpolbreite in Äquatornähe. Ich fürchte für dich. Die einzige Beruhigung ist, daß Tredrup, der Treue, mit dir fahren wird. Er wird für dich sorgen, er wird über dich wachen. Wo er nur bleibt? Er weiß doch, daß ich fahren muß.

Das Flugzeug steht schon auf der Klippe startbereit.«

Er blickte auf die Uhr.

»Ich muß gehen. Zuviel ist für mich zu tun. Die Last ist aber leichter geworden.«

Er reckte seine Gestalt hoch auf.

»Nun, ich sehe, daß der Tag nicht fern ist, der die Schicksalswende bringt. Die Organisation der europäischen Staaten … wie stehe ich jetzt ihr gegenüber? Schicksalswende … auch für Christie Harlessen, für mich.«

Die letzten Worte, unhörbar waren sie gesprochen. Einen Augenblick blickte er ernst zu Boden. Harlessen – Uhlenkort! Im Geist wiederholte er die Worte. Und dann, als schüttle er alle trüben Gedanken ab, wandte er sich dem Freunde zu, drückte ihm die Hand.

»Leb wohl, ich gehe mit geringerer Sorge, weil du auch da mir Trost gegeben.«

Die Tür zum Raum wurde von außen hastig aufgerissen. Schwer atmend, wie erschöpft vom schnellen Lauf, stand Tredrup vor ihnen.

»Uhlenkort! Du bist noch hier … Gott sei Dank!«

»Was ist, Tredrup? Was ist?«

Statt einer Antwort zog Tredrup einen kleinen Zettel aus der Tasche.

»Hier! Hier!« Er schrie es fast. »Christie!«

»Was? Was ist mit Christie?«

Uhlenkort umklammerte dessen Hand, entriß ihm den Zettel. Sein Gesicht war tief erblaßt.

Ein paar Mal schöpfte Tredrup nach Atem. Dann kam es heraugesprudelt, das Unverhoffte, Wunderbare, was ein glücklicher Zufall ihm durch des Äthers Wellen zugetragen hatte.

»Zufall! Glücklicher Zufall, Uhlenkort!«

Er lachte. Eine gewisse Verlegenheit mischte sich darein.

»Du weißt«, es kam etwas stotternd, »ich fuhr mit meiner Belegschaft nach Stettin, wollte sie eigentlich weiter zum Ural bringen. Trennte mich schwer von den Leuten. Ihr Schicksal lag mir sehr am Herzen. Ich wollte wissen, wie ihre Reise verlaufen, wie sie sich an der neuen Arbeitsstelle zurechtfinden würden. Und … hm! Da tat ich etwas … Es war vielleicht, nein, sicherlich nicht ganz richtig … ich gab ihnen die Uhlenkort-Welle. Heute sollten sie mir Nachricht geben. So war’s verabredet. Ein einmaliger Mißbrauch, Uhlenkort! Du wirst verzeihen!

Und …« – er schlug klatschend die Hände zusammen – »es war gut so!

Tredrup und Tredrups Nase, das Glück wollte ihnen wohl. Ich sitze in der Stadt in meinem alten Quartier. Den Empfänger eingeschaltet, höre, was die vom Ural mir erzählen. Nichts sonderlich Gutes.

Das veränderte Klima, sie kamen gerade in die heiße Jahreszeit hinein, das Heimweh. Ich war nicht sonderlich erbaut von dem Gehörten, saß und saß, dachte nach. Die Zeit verging. ›Uhlenkort … Harlessen!‹

klang’s ein paar Mal im Hörer. Ich wollte ihn eben abnehmen. Es betraf mich ja nicht. Da! ›Walter … Christie … !‹

Ganz leise klang’s im Hörer. Ich preßte die Muschel fest ans Ohr. Was war das? Christie? … Harlessen … Uhlenkort. Ich schloß die Augen, schärfte mein Gehör zum Äußersten. Ein Hilferuf? Christie Harlessen?

Nichts anderes konnte es sein. Ich saß, verschlang die Worte, horchte, was weiter kommen würde. Saß, wartete … nichts zu hören, nichts weiter. Ich sagte mir: Das kann nicht sein. Sie muß, sie wird weitersprechen. Und dann klang’s wieder an mein Ohr. Leise, unendlich leise: › … Insel … ‹ das einzige, was ich verstand. Doch sie hatte die ersten Worte wiederholt, sie würde auch die wiederholen. Ich horchte weiter. Andere, neue Worte drangen zu mir: ›Kanal … südwärts … ‹

Dann blieb es unverständlich. Ich riß den Zettel aus meiner Tasche, schrieb mit, wie ich’s verstand … wartete weiter, vielleicht würden die Laute deutlicher. Plötzlich war alles verstummt. Das hier«, er deutete auf den Zettel in Uhlenkorts Hand, »ist, was ich hörte … wie ich es der Reihe nach zusammenstellte: Walter … Hier Christie … Uhlenkort – Harlessen … Insel … Kanal … West zu Südwest …«

Er wandte die Augen zu dem Jugendfreund. Dieser stand abgewandt am Tisch. Uhlenkorts Blicke hafteten an dessen Gestalt, als erwarte er, daß der sich umdrehen und … Nein … der konnte nicht … wollte nicht …

»Vielleicht hätte man es in Hamburg oder in anderen deiner Kontore besser verstanden!« brach Tredrup das Schweigen.

Uhlenkort schaute auf, schlug sich mit der Hand an die Stirn.

»Gewiß! Natürlich! Wie konnte ich das außer acht lassen. Werde sofort anfragen und Befehl geben, daß die Stationen Tag und Nacht besetzt bleiben. Und wenn man den Ruf auch dort nicht besser versteht … sie wird ihn wiederholen … morgen … in den nächsten Tagen.

Einmal wird es, muß es gelingen, ihn unverstümmelt zu hören.«

Er reichte Tredrup die Hand.

»Klaus, ich danke dir.«

»Dank’s Tredrups neugieriger Nase!« erwiderte der lachend. »Ja, ja!

Tredrups neugieriger Nase. Du bist nicht der erste und einzige in der Welt, der diese Eigenschaft konstatiert. Aber …«

Er zuckte die Achseln. »Wieder einmal ist der Beweis erbracht, daß manchmal dabei etwas herauskommt.«

Er schielte leicht zu der Gestalt des anderen.

»… manchmal freilich auch nicht.« Er schüttelte sich wie ein Hund, der im Wasser war.

»Glück auf, Walter Uhlenkort!«

Er ging mit ihm zur Tür, reichte ihm zum Abschied die Hand.

»Tredrups Nase«, er warf einen scheuen Blick zu dem Raum zurück, flüsternd kamen die Worte aus seinem Mund. »Tredrups Nase verspürt guten Wind, Uhlenkort. Mir träumte gestern, es wäre nicht das letzte Mal, daß ich hier oben in Spitzbergen war.«

»Klaus Tredrup, hast du die nächtliche Fahrt ganz vergessen, jene Fahrt nach Süden? Sei gewarnt!«

Uhlenkort sagte es, halb war es Scherz, halb Ernst.

»Und wenn ich hundert Jahre alt würde, ich werde sie nie vergessen.

Werde auch immer daran denken, wenn ich mit ihm zu den Antillen fahre … Uhlenkort-Welle, Glückauf!«

»Danke dir, Klaus, auf Wiedersehen! Wäre möglich, daß wir uns bald wiedersehen.«

Tredrup wollte fragen, da schritt Uhlenkort schon die Stufen hinunter.

Noch brannte die Sonne auf das Atoll. Ein Pfiff gellte über die Lagune, rief die Besatzung zur Mahlzeit. In dem Höhleneingang erschien die Gestalt Christies.

Ihr Notruf, in den Tagen stets um die Mittagszeit gerufen, blieb erfolglos. Andere Stunden, bei Tag, bei Nacht, soweit es anging, hatte sie benutzt, erfolglos. Die Sendeenergie zu schwach? Nicht anders konnte sie es sich erklären. Die vierte Nachmittagsstunde. Ein letzter Versuch. Sie blickte auf die Armbanduhr. Halb vier. Zu früh! Sie wandte sich zu dem schmalen Pfad, der zum Rand der Klippen führte, schritt ihn empor.

Ihr Blick flog über die weite wüste Wasserfläche. Kein Schiff, so weit ihr Auge schaute. Hier, abseits von allem Verkehr … nur ein Schiff, das der Sturm verschlagen, konnte hier vorüberkommen. Und wenn es käme? Und wenn es glückte, sich ihm durch Winken bemerkbar zu machen? Es bestand keine Möglichkeit, die Insel zu betreten. Nach allen Seiten reckten sich die Korallenriffe steil, unbesteigbar in die Höhe.

Aber die Seeräuber? Wie kamen die an Land, in die Lagune? Mit eigenen Augen hatte sie das U-Boot der Räuber mitten aus der Lagune auftauchen sehen, wieder Niedertauchen zu neuer Fahrt. Irgendwo in dem Korallenkranz des Atolls mußte eine unterseeische Durchfahrt sein.

Aber wo?

Wo war diese? Wie oft hatte sie zur Nachtzeit in der Lagune gebadet, war als geübte Taucherin unter Wasser an den Wänden entlanggeglitten.

Nie hatte sie den unterirdischen Paß gefunden. Und hätte sie ihn erfunden, was hätte es ihr geholfen? Draußen um den Kranz eine wilde Brandung, dahinter die unermeßliche Ode des Ozeans. Sie schritt zurück, mutlos, niedergedrückt. Kaum noch ertrugen ihre Nerven dieses qualvolle Warten. Einmal mußte sie hier wegkommen, weggeführt werden von dem, der sie raubte. Woandershin, wo die Gelegenheit zur Flucht vielleicht günstiger wäre.

Sie kam zur Hängematte, legte sich hinein, das kleine Mikrofon im Taschentuch. Sprach mutlos, hoffnungslos den ewigen Notruf. Und dann! Ihr Körper schnellte empor.

»Hier Uhlenkort«, die Antwort. Atemlos sank sie zurück, suchte nach Worten. Eine fremde Stimme rief ihr Antwort. Die Laute klangen verwirrt. Kaum, daß sie den Sinn verstand. »Weitersprechen! Peilen.

Gut Freund hier.«

Sie preßte die Hand aufs Herz. Der unverhoffte Erfolg verwirrte, betäubte sie.

»Weitersprechen!« Immer wieder klang die Weisung an ihr Ohr.

»Weitersprechen, damit ich peilen kann.« Sie raffte sich zusammen.

Alles, was sie in langer Beobachtung festgestellt, sprachen ihre Lippen in das Mikrofon. Sie sprach, sprach weiter, immer wieder ermutigt durch die Antwort von da drüben: »Gut! Gut! Weitersprechen.« Sie merkte es nicht, daß ihre Stimme lauter und lauter wurde, daß sie, in der Erregung alles vergessend, die Worte, die sie sprechen wollte, schrie.

Merkte es nicht, daß der Offizier der Besatzung am anderen Ufer der Lagune aufmerksam wurde durch den Schall, der sich dort an den Wänden brach … Daß er um das Wasser herum schritt … auf sie zu. Der weiche Sand dämpfte seine Schritte. Die Hand, die Taschentuch und Mikrofon hielt, plötzlich wurde sie ihr vom Mund gerissen.

»Was tun Sie, Miss Harlessen? Ah! Ein Mikrofon? Sie sprechen?! Ein Funksender in Ihrer Hand!«

Zwei Hände umklammerten ihre Arme, rissen sie aus der Matte.

»Zurück zur Höhle! Sofort!«

Mit bebenden Gliedern stand sie vor ihm. Eine Waffe! Hätte sie nur eine Waffe! Der Offizier deutete zur Höhle.

»Gehen Sie sofort nach oben!«

Einen Augenblick stand Christie, schaute ihn an. Seit dem Tage, an dem das U-Boot mit seiner Besatzung abgefahren war, hatte dieser Mann sie verfolgt, mit Blicken, mit Worten. Sie hatte darüber gelacht.

Jetzt? Sollte sie die Gelegenheit ergreifen? Sich ihm gefügig zeigen, ihn auf ihre Seite bringen?

Sie sah ihn an, wie seine lüsternen Blicke über sie glitten, sah die Wünsche in seinen Augen. Sie wandte sich ab und ging nach oben, blickte vom Eingang der Höhle noch einmal zurück. Sah, wie jener am Fuß der Palme suchte, den Kontakt fand, zu ihr hinaufwinkte, drohte.

Sie warf sich auf ihr Bett, suchte vergeblich ihre Erregung zu meistern.

Nach drei Tagen Ungewißheit vernahm sie Schritte auf dem steinigen Pfad zur Höhle. Der Offizier! Ihr Wächter! Sie sprang auf.

»Fein ausgeklügelt, mein Fräulein. Bewundere Ihren Scharfsinn, Ihre Klugheit. Nehme an, daß es nicht zum ersten Mal war. Die Siesta in der Mittagsglut in der Hängematte, schon längst hatte ich Verdacht. Jetzt weiß ich’s. Das Spiel trieben Sie schon seit vielen Tagen. Trieben es vergeblich, mein teures Fräulein. Keiner hörte Sie. Kein Retter wird kommen, Sie befreien …«

Seine Augen weideten sich an Christies Bestürzung. Röte und Blässe wechselten auf ihren Zügen.

»Miss Harlessen!« Er trat auf sie zu, ganz nahe. Seine Stimme sank zum Flüstern herab. »Nur der eine Weg, Miss Harlessen, der Weg an meiner Seite im Flugzeug führt in die Freiheit. Zum letzten Male heute sag’ ich es Ihnen. Seien Sie mein … folgen Sie mir! In einem unserer Reserveflugzeuge bringe ich Sie fort von hier. Zu einem Ort, wo niemand Sie … uns findet. Auch er nicht, der hinter allem steckt, der Sie hierher bringen ließ. Wollen Sie?«

Er war dicht an sie herangetreten. Sein heißer Atem streifte ihr Gesicht. Er hielt ihr die Hand entgegen.

»Schlagen Sie ein. Noch heute Nacht verlassen wir die Insel.«

Christie verstand. Ein Weg? Ein Weg zur Freiheit? Vielleicht, daß sie ihm später entging. Er mochte ihr Zaudern anders ausgelegt haben. Sie fühlte sich plötzlich von seinen Armen umschlungen. Er riß sie an sich.

Jähes Entsetzen befiel sie. Mit voller Gewalt schlug sie die geballten Fäuste in sein Gesicht, daß er zurücktaumelte.

Ehe er sich wiedergefunden, war sie an ihm vorbeigeeilt, den steilen Hang zur Klippe empor, hinter sich den keuchenden Atem des Verfolgers. Auf der äußersten Spitze der Klippe machte sie halt, halb über den Abgrund geneigt.

»Keinen Schritt weiter! Oder …«

Der Offizier blieb stehen. Sah sie bereit, sich in die Tiefe hinabzustürzen, die sie zerschmettern mußte. Er taumelte zurück.

Wehe dem, der ihr zu nahe tritt! Die Warnung des Kommandanten vor der Abfahrt. Einen Augenblick stand er stumm. Dann wandte er sich ab.

Christie hörte die Schritte verklingen. Noch zauderte sie. Warum nicht den Sturz in die Tiefe? Die einzige Rettung blieb es. Der Offizier würde Alarm geben. Man würde sie von hier nach einem anderen Versteck schleppen, wo alle Rettung unmöglich war. Die Rechte, die sich an die Felsenkante klammerte, ließ los. Die Sinne schwanden ihr.

Da! Eine Stimme rief ihr zu: »Halt, Christie Harlessen! Halt, Rettung ist nahe!«

Sie riß sich empor, starrte um sich. Wo kam sie her, die Stimme? War es Sinnestäuschung? Der Ruf, ganz deutlich war er an ihr Ohr geklungen.

Ihre Hand griff fest um die Felsenkante. Sie zog sich vom Abgrund zurück, stand wieder auf festem Boden.

»Walter Uhlenkort!« Sie schlug die Hände vor das Gesicht und sank in die Knie. »Walter Uhlenkort!«

Guy Rouse trat durch das Vestibül seines Palastes. Es war gefüllt von Menschen, die ihn begrüßen – beglückwünschen wollten, vom Minister bis zum kleinen Abgeordneten. Das Auge Rouses flog über sie hinweg.

Er mußte sich beherrschen, um nicht laut herauszulachen. Zu jedem trat er heran, drückte ihm die Hand, dankte ihm, sprach ein paar kurze Worte. Mit Mühe machte er sich frei, ging nach oben.

»Shake hands, Miller! Auch hier? Ah, Mr. Struck!«

Die beiden Riesenarme Teddingtons streckten sich den Freunden entgegen, schüttelten deren Hände, rissen sie zu sich heran.

»Wo wart ihr, ich sah euch nicht? Kam allerdings erst im letzten Augenblick. Eine Minute bevor Seine Majestät … ah, wollte sagen, Mr.

Rouse, eintrat. War unterwegs, als der Brief, derselbe, den auch ihr bekamt, aus dem Hauptquartier hier mich traf. Eben daß ich noch das Reisegeld zusammenraffte. Wette, daß euch das ebenso schwer wurde.

Er drückte mir die Hand wie euch. Alles vergessen! Gute Freunde wie immer! Unser Weizen blüht.«

Miller schaute ihn fragend an, im grämlichen Gesicht einen Zug von Misstrauen.

»Glauben Sie?« fragte er.

»Glaube es bestimmt!« erwiderte Teddington. »Der Weizen blüht.

Bald wird er reif sein.«

Er machte mit seinen mächtigen Armen eine ausholende Bewegung, als hielte er eine Sense.

»Wir werden mähen … ernten!«

Die beiden anderen lachten.

Doch war es ihre Freude, war es leichtes Mißbehagen, was in ihm aufstieg, seine Stirn zog sich in tiefe Falten. Er beugte sich zu ihren Köpfen hinunter, flüsterte:

»Die Ernte unter Dach bringen vor dem Regen!«

Die beiden sahen ihn eine Zeitlang stumm an. Dann – sie hatten verstanden – bestürmten sie ihn mit Fragen.

»Vor dem Regen?«

Teddington zuckte die Achseln, legte den Finger auf den Mund.

»Nach Sonnenschein kommt Regen, mehr weiß ich nicht!«

Die Vertreter der Presse … der große Raum im Oberstock konnte ihre Zahl kaum fassen. Eifrig, Wort für Wort, schrieben sie mit, was Rouse sprach. Es war eine große, wohl angelegte Rede. Die Ereignisse bei der Kanalsprengung … die Schuldlosigkeit aller Beteiligten … das furchtbare Unglück für den Isthmus … für Europa …

Die Möglichkeiten, das alles wieder gutzumachen. Die großen Verbesserungen des amerikanischen, des Weltverkehrs. Daraus sich entwickelnd ungeheure wirtschaftliche Fortschritte. Die glänzende Lage der Vereinigten Staaten gegenüber der ganzen Welt als Schlußwort.

Noch ein paar kurze Worte, die Richtlinien für die Leitartikel gaben.

Die Versammelten gingen auseinander … Offiziere, denen der Generalstabschef die Züge eines großen strategischen Planes entwickelt hatte.

Guy Rouse … die New Canal Company … die Presse aller Richtungen füllte ihre Spalten damit. An der Börse: Solange Rouse sprach, hatten die Geschäfte fast völlig geruht. Alles folgte an den Lautsprechern seinen Worten.

Aktien der New Canal Company. Wie alle Rouse-Werte wurden nicht gehandelt … nein, gestrichen trotz stürmischer Nachfrage, da kein Angebot auf dem Markt. Nur die ausländischen Börsen gaben ein ungefähres Bild des Riesenbooms in diesen Werten.

Die Morgensonne hob sich über dem Isthmus. Ein kleines U-Boot schoß in schnellster Überwasserfahrt durch die Fluten auf den Kanal zu.

»Azuero!«

Der Mann im Ausguck schrie es zur Kommandobrücke.

»’runter! Fertig zum Tauchen!« kam der Befehl von der Brücke.

Azuero in Sicht. »Befehl zum Tauchen!« schrie der Lautsprecher in der Kabine des Kommandanten. Dieser lag ausgestreckt auf seiner Koje.

Mit einem Satz sprang er heraus, ging zur Tür. Ein Offizier stand vor ihm.

»Azuero schon in Sicht?«

»Jawohl, Herr Kapitän! Nehme an, daß wir wieder versuchen wollen, ohne Zoll durchzukommen.«

»Selbstverständlich«, knurrte der Kapitän. »Wissen ja, daß es nicht der Zoll allein ist. Der Teufel hole die New Canal Company und ihren Leiter.«

Der Offizier lachte.

»Diesen Ausspruch, Kapitän Tredrup, hörte ich schon öfter von Ihren Lippen.«

Tredrup zog ein schiefes Gesicht.

»Bande, die! Möchte sie alle an Bord haben. Würde sie mit Vergnügen durch die Torpedorohre ausspucken. Die Gesellschaft um den Zoll zu betrügen, das allein wäre mir schon ein Vergnügen. Aber Sie wissen, wir haben noch außerdem Gründe, uns im Kanal nicht allzu häufig sehen zu lassen.«

Der Offizier nickte.

»Gewiß! Aber rätselhaft bleibt mir’s. Bei jeder Fahrt von den vielen, die wir durch den Kanal machten, staunte ich. Die Kette der Zollkutter der New Canal Company quer über den Kanal, so gut organisiert! Läßt doch sonst nicht die kleinste Barke ohne Abgabe den Kanal passieren.

Selbst für U-Boote gibt’s sonst für unmöglich, unangehalten durchzukommen. Die paar, die es versuchten, brachten die Wasserbomben schnell zur Räson.«

Tredrup strich sich mit dem Zeigefinger über die Nase. Der Offizier hatte recht; er sprach aus, was er im stillen oft dachte. Wie kam es, daß er mit seinem Boot immer ungesehen durchschlüpfen konnte? Ja, früher war der geheimnisvolle J. H. mitgefahren, der vom Leuchtturm in Wibehafen. Da hatte ihn das nicht weiter gewundert. Aber auch jetzt, wo er allein von Saltadera aus durch den Kanal in den Stillen Ozean fuhr auf der Suche nach Christie Harlessen … auch da! Immer war er ungesehen, unbemerkt durch den Kanal gekommen.

Er stand da und sann. Die Erklärung dafür? Wie hatte er sich vom ersten Male an den Kopf zerbrochen, sie zu finden. Er hatte sie nicht gefunden. Der Mann vom Leuchtturm? Irgendwie mußte es mit ihm zusammenhängen. Anders war es nicht möglich.

Der Lautsprecher rief: »Kanal erreicht. Bootstiefe hundert Meter.«

»Hundert Meter«, murmelten seine Lippen. Ein plötzlicher Gedanke schoß durch sein Hirn.

»Setzen Sie Kurs genau auf Kanalmitte!«

Der Offizier ging. Tredrup stand, wartete.

»Kurs liegt auf Mitte«, kam die Rückmeldung des Offiziers.

Kanalmitte. Elfhundert Meter tief an dieser Stelle der Seekarte, wenn das Schiffahrtsamt richtig gemessen hat. Tredrup trat an den Tisch. Ein Knopf. Darüber ein kleines Meßinstrument. Tiefenlot, Echo-Behm, stand in die Platte eingraviert.

Seine Hand ging zum Knopf, zuckte zurück. Er drehte sich um, als suche sein Auge einen, der die Bewegung gesehen. Sein Blick ging über die Wände der engen Kabine. Wer könnte hier hineinsehen? Nur Gott!

Kein Mensch, kein Sterblicher kann es!

Seine Brust hob sich in tiefen Atemzügen. Wieder ging seine Hand zu dem Knopf.

»Keiner kann es sehen! Auch er nicht!«

Da hatten seine Finger den Knopf berührt. Sein Blick flog um Zeiger.

Achthundertzwanzig Meter!

Als habe sein Auge ein Menetekel geschaut … Er wich unwillkürlich von dem Apparat zurück. Achthundertzwanzig? Elfhundert sollte es sein! Seine Lippen bebten. Differenz beinahe zweihundert Meter, unter Berücksichtigung der Bootstiefe. Ein Irrtum des Schiffahrtsamtes?

Unmöglich! Doch vielleicht ein Riff auf der Kanalsohle. Sein Auge ging zum Fahrtmesser. Zweitausend Meter war das Boot inzwischen weitergeglitten.

Er stürzte zum Tisch. Wieder ein Druck auf den Knopf. Der Zeiger des Echolots spielte … stand. Achthundertzwanzig Meter Tiefe. Tredrup starrte wie hypnotisiert auf den Zeiger. Kein Irrtum … das Instrument war unbedingt zuverlässig. Die Sohle des Kanalbetts lag neunhundertzwanzig Meter unter dem Wasserspiegel. Heute, in dieser Minute, wo vor einem halben Monat elfhundert waren, amtlich gemessen.

Und dann, als ging ein jäher Schreck durch seine Glieder … Er starrte um sich her, als wäre da einer, der ihn sähe. Mit einem Sprung war er zur Tür, stieß sie auf.

»Wo sind wir?« schrie er den Ersten Offizier an, der ihm entgegentrat.

Der sah ihn einen Augenblick erstaunt an. Der Kommandant? Seine eiserne Ruhe? Sprichwörtlich war sie in der kurzen Zeit geworden, seit er den Befehl führte. Was war mit ihm!

»Die erste Kette der Zollboote hinter uns, wollte ich eben melden.«

Tredrup nickte wie geistesabwesend. »Sei gewarnt!« hatte Uhlenkort gesagt, als sie Abschied nahmen.

Saltadera, eine der kleinsten Antilleninseln, weit nach Westen vorgeschoben, war dem Isthmus am nächsten. Wie ein einziger ungeheurer Block hob sich ihr Felsmassiv aus den Fluten des Atlantiks.

Ein paar Fischereisiedlungen gab es an der Ostküste. Nach Westen zu lag ein steiler Hang, unpassierbar für Menschen, der zu einem schmalen Streifen sandigen Vorlandes abfiel.

Ein kleines Holzhaus stand da unten. Der große Raum zu ebener Erde, fast ganz ausgefüllt mit Apparaten und Instrumenten, war jetzt durch die hinabgelassenen Jalousien fast völlig verdunkelt.

Über den Arbeitstisch gebeugt saß J. H. der Rätselhafte vom Leuchtturm. Die schmalen, feinen Hände sanken von dem Instrument, an dem sie seit Stunden arbeiteten. Wie erschöpft lehnte er sich in den Stuhl zurück. Strich sich mit einer müden Bewegung über das Gesicht, dessen krankhafte Blässe die Strahlen der tropischen Sonne nicht verändert hatten. Die Augen, tief in den Höhlen liegend, hingen an dem leuchtenden Bild vor ihm an der Wand. Das Bild des Kanals war es, das der energetische Fernseher dorthin gezaubert hatte. Es war nicht das optische Bild, wie es ja schon längst die Kamera aufnahm und drahtlos durch den Äther weitergab. Jeder Besitzer eines Fernsehgerätes empfing diese Bilder.

Hier war es anders. Es war ein energetisch aufgenommenes Bild, welches alle Einzelheiten unabhängig von den optischen Eigenschaften des Bildgegenstandes zeigte. Wo dem Auge, der Optik, eine Schranke gesetzt war, griffen die energetischen Strahlen weiter … schalteten aus, was nicht gesehen werden sollte … hoben heraus, was sein sollte.

Das Kanalbett. Der letzte Abschnitt an der Stätte, wo einst Colon stand. Wasserleer schien der fünfzehnhundert Meter tiefe Einschnitt.

Eine kurze Bewegung zum Apparat. Das Bild an der Wand wanderte über die leuchtende Fläche nach oben. Immer neue Teile, immer tiefere Partien der Erdrinde wurden sichtbar. Die Sialscheibe, wie sie sich in einer hundert Kilometer starken Schicht unter der Sedimentärhülle über den Erdball zieht. Feingesprengte Magmamassen darin. Weiter dem Erdinnern zu die Simamassen. Das energetische Bild zauberte die Vorgänge aus nie gesehenen Tiefen an die Wand.

Die Massen der Tiefe waren in Bewegung. Die energetischen Strahlen, von seiner Hand gelenkt, rissen sie aus dem Urzustand. Ungeheure Kräfte, durch die Strahlung dort unten frei werdend, ließen sie beben, zittern, in furchtbaren Gluten brodeln. Die Bewegungen drangen nach oben, Ausweg suchend, die Schollen sich lockernd, die Massen leichter werdend, sich lösend von dem Links und Rechts. Die deckenden Schichten, emporgehoben, klafften schon in tausend Rissen. Wie lange noch würden sie dem Druck standhalten?

»Einmal noch!« murmelten seine Lippen. Das letzte Stück, das schwerste. Wohl abzuwägen jede Bewegung. Nicht zuviel, nicht zuwenig. Bis die Wunde verharscht, der Leib der Erde heilte.

Weltordnung …

In der Tür des Raumes erschien Tredrup. Bei dessen Eintritt sah Johannes Harte auf, nickte ihm zu.

»Gute Fahrt gehabt, Tredrup?«

Eine leichte Bewegung seiner Linken zu einem Schalterknopf. Das Bild an der Wand neben der Tür verschwand. Tredrup sah es nicht mehr.

»Ich kam durch den Kanal hin und zurück durch die Kette der Zollboote. Keins sah mich, keins hielt mich an. Fuhr, wie ich mit Ihnen fuhr.«

»Sonst nichts?«

»Nichts! Kein Zeichen von Christie Harlessen. Unsere Empfangsstation war ständig besetzt, wir hörten kein Wort.«

»Sonst nichts?« fragte der weiter und hob dabei leicht den Kopf.

»Nichts«, erwiderte Tredrup. »Nichts Besonderes.«

Seine Stimme schwankte. Fast stotternd brachte er die Worte hervor.

Lauerte etwas hinter dessen Frage … die Lotung? Tredrup fühlte, wie sein Herz stärker zu schlagen begann. Hatte der andere sie gesehen?

»Loteten Sie nicht im Kanal, Tredrup?«

Tredrups Hand umklammerte den Türpfosten. Fast wäre er zurückgetaumelt. Da war die Frage! Der hatte es doch gesehen. Nein!

wollten seine Lippen schreien, und dann sprach er leise: »Wir loteten. Die Messungen des Schiffahrtsamtes sind vielleicht unzuverlässig. Wir loteten in der Mitte des Kanals.«

»Und fanden die Lotungen des Schiffahrtsamts nicht bestätigt?«

»Nein! Differenz zweihundert Meter.«

Der nickte. »Zweihundert Meter … die Differenz ist groß. Walter Uhlenkort aus Hamburg würde es interessieren. Vielleicht teilen Sie es ihm mit?«

»Walter Uhlenkort. Jawohl, gewiß, Herr Harte.«

Der Sender! Er stürzte auf den kleinen Apparat im Hintergrund zu.

»Sofort werde ich es tun.« Stülpte die Hörer über, ergriff das Mikrofon.

»Ah, ich vergaß, das ist ja unsere Welle, muß sie auf Uhlenkort-Welle umstellen.«

Seine Hand bewegte die Skalenscheibe. Endlich hatten seine Finger die Station bestimmt. In seinem Innern rang es so heftig, daß er kaum die Worte fand, wie er es sagen wollte. Seine Lippen öffneten sich … da fuhr er mit einem Ruck zurück. Seine Augen starrten in das Weite, das Mikrofon entsank seiner Hand. In höchster Anspannung lauschte er dem, was die Uhlenkort-Welle ihm aus weiter Ferne ins Ohr rief.

Vergessen war alles, was er an Uhlenkort melden wollte. Er saß und lauschte. Da war er wieder, der alte Notruf: Hier Christie … Harlessen-Uhlenkort …

Mit den Augen winkte er den anderen heran, kritzelte auf ein Stück Papier: Christie Harlessen … Johannes Harte nickte, lächelte. Im Hörer war es stumm.

»Hier Uhlenkort!« schrie Tredrup zur Antwort. Wandte sich zu dem neben ihm. »Was soll ich sagen?«

»Sagen Sie, daß sie weitersprechen soll, immer dasselbe.«

Tredrup starrte ihn fragend an. Die Stimme Christies rief wieder.

»Wo … Wer ist da? Wo ist Walter Uhlenkort?«

»Sagen Sie ihr, sie soll weitersprechen, damit Sie peilen können.«

Tredrups Augen leuchteten auf. Ah, peilen! Daß der ihm das sagen mußte. Selbstverständlich peilen! Tredrup sprach, bis der Sinn seiner Worte dort verstanden wurde. Bis sie weiterrief. Mit fiebriger Hand bewegte er den Peilrahmen. Was sprach sie jetzt noch?

»Atoll … Abgelegen … Südsee … Von hohen Korallenklippen umgeben … Etwa fünfzehn Meter hoch … Zwölf Palmenwipfel über den Rand ragend … Niedriges, langgestrecktes Riff an der Ostseite … Keine Insel in der Nähe mit dem Auge zu erkennen … Durchmesser der Insel etwa tausend Meter … Schwache Besatzung … U-Boot der Seeräuber auf Fahrt … Unterwassereinfahrt durch das Riff in die Lagune …«

Tredrup hatte die Peilung längst scharf eingestellt. Seine Hand schrieb in rasender Hast die Worte mit.

Da nochmals die Frage: »Wer dort? Wo ist Walter Uhlenkort?«

Schon wollte Tredrup Antwort geben. Da, im Hörer ein Aufschrei der Stimme. Die gebrochenen Laute einer männlichen Stimme dazwischen.

Er saß … lauschte. Kein Laut mehr. Was war das?

Sein Geist flog zu der Stätte, von der Christies Notruf erklungen. Die Männerstimme? Christie war überrascht worden, hatte in der Erregung über die gelungene Verbindung alle Vorsicht vergessen. Was würde da weiter geschehen? Strafe … Mißhandlung?

Sein Blick suchte den anderen, suchte Johannes Harte. Er sah ihn nicht. Die Tür war offen. Der war hinausgegangen.

Zurück zum Sender, Uhlenkort-Welle … Hamburg. Da war sie, die Stimme des Freundes begrüßte ihn.

»Christie Harlessen!« schrie Tredrup.

Und dann, seine Worte stammelnd, jubelnd sprudelten heraus, was sein übervolles Herz hergab. Uhlenkort antwortete wieder, bestürmte ihn mit Fragen, wollte mit den Worten schließen.

»Komme noch heute mit Flugzeug zu euch«, da schrie Tredrup als letztes ins Mikrofon:

»Die Sohle des Kanals ist neunhundertzwanzig Meter tief …«

Kein Laut von da drüben.

»Hörst du, Walter Uhlenkort? Die Sohle des Kanals ist neunhundertzwanzig Meter tief. Hörst du?«

»Ich höre, Tredrup … hörte es beim ersten Male. Konnte es nicht gleich fassen. Die Messungen lauten auf elfhundert.«

»Elfhundert« schrie Tredrup zur Antwort, »waren’s. Neunhundert sind’s jetzt!«

Und vergessend der Worte: sei gewarnt! rief er: »Die Kanalsohle ist gestiegen! Um zweihundert Meter gestiegen. Ich hab’s gemessen. Er hieß mich’s dir melden, Walter Uhlenkort.«

Die Worte, Schreien … Lachen war es.

Das U-Boot Tredrups hatte den Kanal hinter sich, fuhr mit äußerster Kraft Kurs Süd zu Südwest. Uhlenkort stand neben Tredrup im Kartenhaus. Der wies ihm die Peillinie, die er in Saltadera aufgenommen und in die Karte eingetragen hatte.

»Hier!« Er deutete auf eine kleine Insel, die von der Peillinie geschnitten wurde. »Vielleicht ist dies die Insel. Bin dessen aber nicht sicher, denn so kleine Atolle sind wohl kaum auf dieser Karte verzeichnet. Jedenfalls wird es morgen abend werden, ehe wir in die Gegend kommen, die uns interessiert. Wir haben die schönste Zeit, uns unter das Sonnensegel zu setzen und ein Garn zu spinnen.«

»Hamburg, das alte Nest. Wie sieht’s da jetzt aus?«

»Nicht anders, wie du es zuletzt sahst«, gab Uhlenkort zur Antwort.

»Öde Fabriken, tote Häuserzeilen. Die Menschen stumm, freudlos, in der Sorge um Zukunft und Leben. Nicht anders, als ginge der Schwarze Tod in der Stadt um. Der Hafen. Auf den ersten Blick kaum verändert.

Schiff an Schiff. Aber doch so ganz anders als früher. Kaum noch, daß tote Fracht ankommt oder abgeht. Menschen … Menschen … voll beladene Schiffe bringen sie ein, voll beladene Schiffe bringen sie weiter. Die Bilder der Auswanderer: Entsetzen, Mitleid erregend. Der Norden Skandinaviens sollte geräumt sein. Geräumt. Aber nein, gerade hier, wo der Tod am nächsten war, ergab sich das Sonderbare, daß viele dieser Nordländer sich weigerten, Haus und Hof zu verlassen. Der ewige Kampf mit Schnee und Eis und Tod hat sie abgestumpft gegen die drohende, viel größere Gefahr. Je weiter nach Süden, desto größer die Angst. Bis nach Mitteldeutschland wirkt die Furcht vor dem kommenden Unheil. Eine neue Völkerwanderung von Norden her, wie sie die Geschichte schon einmal kannte, wälzt sich zum Süden, mit Gewalt an dessen Tore pochend.«

»Gewalt?« unterbrach ihn Tredrup. Uhlenkort nickte mit finsterer Miene.

»Wie nicht anders möglich, versagte die Organisation an vielen Stellen. Die Fliehenden, gejagt von Not und Elend, verschafften sich eigenmächtig, was sie brauchten. Das südliche Europa, ohnmächtig, allen zu helfen, alle aufzunehmen, wehrte sich. Man wandte sich an das Rumpfparlament. Nur wenige der Deputierten waren gekommen. Man machte Vorschläge, beriet, ging wieder auseinander. Hoffnungslos war alles, eine Farce die ganze Tagung. Es waren schwere Stunden für mich, die schwersten, die ich je durchgemacht in meinem Leben. Schlimmer als die auf die Nachricht vom Durchbruch des Golfstroms. Meine Augen sahen alles, meine Ohren hörten alles. Immer wieder wurde auch meine Stimme zu Rate gezogen. Und ich konnte und durfte den Mund nicht öffnen, um den Trost zu geben, der aller Leiden mit einem Schlage beendet hätte. Das Schicksal!

Stunden gab’s, wo ich an seinem gerechten Walten verzweifelte, wo sich meine Zunge zu lösen drohte. Ich fuhr mit meinem Oheim, dem Staatspräsidenten, nach Hamburg zurück. Da traf mich deine Nachricht.

Ich bestieg das Flugzeug, kam nach Saltadera … sah meinen alten Freund … sprach mit ihm, und nun sind wir auf der Fahrt zu ihr, zu Christie Harlessen.«

»Chefingenieur Grimmaud!« meldete der Flügeladjutant des Kaisers.

»Grimmaud? Er kommt von selbst? Nachdem er wochenlang Timbuktu und den Hof mied?«

Wohl hatte ihn der Kaiser zu trösten versucht, ihn von aller Verantwortung für das Unglück losgesprochen. Doch Grimmaud war allen Trostgründen unzugänglich geblieben. Er sann nur Tag und Nacht, wie der Schaden gutzumachen, das Unglück zu beheben sei. Vergeblich blieben all seine Bemühungen. Jetzt stand er vor dem Kaiser. Die gebeugte Gestalt aufgerichtet, das Auge wie von Zuversicht belebt.

»Grimmaud! Was bringen Sie? Was Gutes muß es sein, ich sehe es Ihnen an.«

»Gut, Majestät? Ja und nein. Vorläufig nichts Gutes … Aber ich hoffe, daß daraus Gutes entstehen wird für den Schacht.«

Der Kaiser trat einen Schritt näher an ihn heran.

»Grimmaud, was sagen Sie? Ich weiß, daß jedes Wort aus Ihrem Munde wohlbedacht ist. Was können Sie Gutes hoffen, wo die Gelehrten der Welt einstimmig den ewigen Brand des Schachtes prophezeiten?«

Grimmaud schöpfte tief Atem.

»Ich weiß nicht, ob Euer Majestät von den kleinen Explosionen in den letzten Tagen, die in der Schachttiefe stattfanden, Bericht erhielt?«

Der Kaiser schüttelte den Kopf.

»Ich weiß von nichts. Der Schacht, die Erinnerung – an alles, was passiert ist – meine Umgebung vermeidet es, in meiner Gegenwart den Namen auszusprechen.«

»Es ist so, Majestät. Kleinere Explosionen fanden in den letzten Tagen statt. Wohl niemand außer mir achtete ihrer. Für mich bedeuteten sie das Licht in dem undurchdringlichen Dunkel. Und ich hatte sie erwartet, wenn auch noch nicht jetzt, so später, viel später.«

»Und die Explosionen? Wie entstehen sie, was bedeuten sie?«

War es der Widerglanz von Grimmaud’s Zuversicht, der auf seinem Gesicht sich spiegelte? Auch an dem stahlharten Körper des Kaisers war die Katastrophe nicht spurlos vorübergegangen. Zu stark war der Schlag, wirtschaftlich, politisch, der so viele Hoffnungen, Entwürfe zu Fall brachte. Die Differenzen mit der Südafrikanischen Union waren geregelt … Durch das Nachgeben des Kaisers.

»Kommen Sie! Hier ist das Profil des Schachtes.«

Er zog aus einem Schrank die Schachtkarte.

»Zeigen Sie! Erzählen Sie!«

Grimmaud’s Finger glitt über die Karte.

»Euer Majestät sehen hier unseren Karbidabbau. Wir hatten, als die Katastrophe kam, bereits drei Sohlen angelegt, die Strecken nach allen Richtungen fast zweitausend Meter vor getrieben, Querschläge gesetzt.

In diese Hohlräume ist das Wasser eingebrochen. Es entwickelte mit dem Karbid zusammen unendliche Mengen Azetylengas, die seit jenem Tage zum Schachtmund hinausbrennen. Zurück bleibt dort unten eine gewaltige Kalkmasse, deren Volumen größer ist als das des Karbids, aus dem sie entstand. Die Kalkmassen haben alle Strecken und Querschläge gefüllt, sind, Ausweg suchend, auch in den Schacht getreten, sammelten sich, versperrten dem abströmenden Gas den Weg. Das wurde von innen gepreßt, bis seine explosive Natur sich mit Gewalt freie Bahn schuf.

Jene Explosionen, von denen ich Euer Majestät bereits erzählte, waren für mich das sichere Zeichen, daß die Entwicklung dort unten zu diesem Punkte gediehen ist.«

Augustus Salvator war dem Vortrag seines Chefingenieurs mit wachsendem Interesse gefolgt.

»Und was weiter?« drängte es von seinen Lippen.

»Die Explosionen sind, wie ich bestimmt erwarte, die Vorläufer einer großen, ganz großen Bewegung, einer neuen Katastrophe, wenn man so sagen will, aus deren Auswirkungen vielleicht die Heilung entspringt.«

»Heilung? Durch eine neue Katastrophe? Ich verstehe Sie nicht, Grimmaud. Und doch. Jedes Wort von Ihnen ist Trost, Hoffnung.«

Grimmaud hatte mit schneller Hand in die Schachtkarte ein paar Linien eingezeichnet.

»Der Druck der riesigen, sich fortwährend neu bildenden Kalkmassen wird diese nur bis zu einer gewissen Grenze in den Schacht treiben. Ihr Druck wird auch direkt auf das Hangende wirken, stärker und stärker werdend, bis es ihm weicht. Bis die Schichten darüber erdbebenartig durcheinander geschüttelt und gehoben werden.«

»Wie kann daraus für den Schacht Rettung entstehen? Wird er bei Erschütterungen nicht zusammenstürzen?«

Grimmaud machte eine zweifelnde Gebärde.

»Die Frage, Euer Majestät, ist wohl berechtigt. Der Schacht wird sicherlich darunter leiden. Wahrscheinlich schwer leiden. Aber ich habe die Hoffnung – nichts kann sie trüben –, daß der entstehende Schaden an der Schachtmauerung nicht so groß sein wird, daß er nicht zu reparieren wäre.«

»Aber das Feuer, Grimmaud? Der Riesenbrand? Wird er dadurch ausgelöscht? Unmöglich!«

»Nicht direkt, Euer Majestät. Aber das feindliche Element, das Wasser, wird, wie ich hoffe, dabei abgesperrt werden. Die unterirdischen Schichten, in denen es fließt, werden in erster Linie starke Verwerfungen erfahren, so starke, daß dem Wasser der Weg in den Schacht verlegt wird.«

»Grimmaud! Was sagen Sie? Wären Sie gesund, keinen Augenblick würde ich zweifeln. Aber Sie sind krank. Das Unglück hat Ihren Geist verwirrt. Hirngespinste!«

Grimmaud schüttelte den Kopf. Ein leichtes Lächeln lief über sein Gesicht.

»Ich war krank, Majestät. Die Explosionen gaben mir die Kraft wieder. Was ich sage, ist kein Hirngespinst, sondern wohldurchdacht.«

Der Kaiser stand vor ihm. Seine Augen bohrten sich prüfend in das Gesicht des Chefingenieurs.

»Wahrheit?«

Und als gäbe die Natur selbst die Antwort: einen Augenblick schien es, als wankten die Mauern des Palastes. Einige Bilder lösten sich von der Wand. Die große Lampe an der Decke schwankte in wilden Bewegungen. Die beiden sahen sich an, jeder tief erregt.

»Ein Erdbeben!« flüsterte der Kaiser. Grimmaud sprang auf.

»Der Schacht!« schrie er. »Die Massen regen sich unter dem Druck.

Gestatten, Euer Majestät, daß ich mich entferne. Ich muß hin, sehen, dabei sein.«

Der Kaiser winkte ab, ging zu einer Schalttafel, sprach ein paar Worte in ein Mikrofon. Es war die Verbindung mit der Fernsehstation Mineapolis. An der dem Fenster abgewandten Seite des Gemachs erschien das Bild des Schachtes, wie es, von der Fernsehkamera der Station aufgenommen, auf den Bildschirm an der Wand geworfen wurde. Ein wogendes Flammenmeer, zum Himmel brodelnd. Das alte Bild … aber jetzt!

Die Umgebung! Die Reste der vom Brand verschont gebliebenen Gebäude waren zu wüsten Trümmerhaufen zusammengestürzt.

Menschen, angstvoll auf der Flucht nach allen Seiten hin.

Der Adjutant trat ein, wollte melden. Der Kaiser winkte ihm zu schweigen, wies auf den Bildschirm an der Wand. Da, ein neuer Erdstoß. Ihre Hände suchten unwillkürlich nach einem Halt. Taumelnd starrten sie auf das Bild. Der neue Stoß hatte den Schachtmund und seine Umgebung gehoben, als drücke ein Riesenpilz durch die Erdkruste nach oben.

Noch hatten ihre Augen das Bild nicht ganz erfaßt … ein neuer Stoß!

Der Adjutant mahnte, den Raum zu verlassen, Sicherheit im Freien zu suchen. Der Palast könnte einstürzen. Der Kaiser achtete nicht auf die Warnung. Nur fester klammerten sich seine Hände an Grimmaud, der mit gespreizten Beinen dastand, sieghaften Glanz in den Augen.

Das Bild des Schachtes! Der Boden seiner Umgebung hatte sich um ein weiteres Stück gehoben. Das früher gleichmäßig strömende Feuer loderte flackernd, bald kleiner, bald größer werdend. Und dann! War das noch der brennende Schacht? War es der Kratermund eines Vulkans? Durch die wabernde Lohe des brennenden Gases schossen in Eruptionen Massen empor geschleuderten Kalks. Noch einmal eine Rieseneruption, die Feuerfontäne schien sengend den Himmel zu fassen.

Dann sank sie zusammen, wurde kleiner und kleiner … zuckte noch ein paar Mal kurz auf.

Dann war sie verschwunden … noch eine Zeitlang ein feuriger Glast über dem Schachtmund, der verblaßte, langsam verschwand.

»Gerettet?« schrie Grimmaud. Vergaß, daß es die Person des Kaisers war, dessen Hand er ergriff, schüttelte.

»Gerettet unser Werk!«

Die zweite Nacht hatten sie das Atoll umfahren. Am Abend des dritten Tages hatten sie es gefunden. Die Beschreibung Christies traf in allen Punkten zu. Die Felsen waren nach allen Seiten hin unbesteiglich. Der Eingang zur Lagune durch das Felsenriff? … Die Seeräuber hatten ihn einst gefunden, also mußten sie ihn auch finden. Doch alles Suchen war vergeblich. Immer wieder hatten sie das Atoll kreisend umfahren, stets bestrebt, sich nicht einem Wächter der Besatzung zu verraten.

Ein Zufall mußte es gewesen sein, der irgendwann bei starker Ebbe den Piraten den unterseeischen Weg zeigte. Ein starker Sturm vielleicht könnte den Eingang freilegen. Aber die See war ruhig, spiegelglatt.

Uhlenkorts Erregung hatte sich von Tag zu Tag gesteigert. Der Gedanke, Christie hier in unmittelbarer Nähe zu wissen … mehrmals hatten sie auf dem Rande der Klippen eine weibliche Gestalt zu sehen geglaubt, die wohl Christie sein konnte.

Immer wieder hatte er sich an Tredrup gewandt, an ihn, den Findigen, Listenreichen. Der wußte keinen Ausweg, starrte mit zusammengebissenen Zähnen zu den Klippen hinüber, die wie Burgzinnen unersteiglich vor ihnen lagen. Die Welle nach Saltadera!

Uhlenkorts Blicke gingen immer wieder zu dem Sender. Den Freund dort zu fragen, zu bitten …

Die Nacht verging. Tredrup gab den Befehl zu tauchen. Die Fahrt ging unter Wasser weiter. Nur das Periskop, auf die Insel eingestellt, zeigte ihr Bild. Uhlenkort starrte darauf hin. Die Mauern der Klippen glitten vorüber, lückenlos. Fast jeder Stein in hellem Sonnenlicht deutlich erkennbar. Er trat zurück.

»Vergeblich, unmöglich, Tredrup. Das schärfste Auge vermag nichts zu sehen. Wir nähern uns jetzt der Korallenbank im Osten, wir müssen ausweichen. Wär’s nicht doch möglich, daß eine andere Insel, dieser ähnlich, die gesuchte wäre, wo Christie verborgen ist?«

Tredrup schüttelte den Kopf. »Meine Nase, und auf die schwöre ich, sagt mir, diese Insel ist’s und keine andere.« Er trat zum Periskop.

Das Boot hatte seinen Kurs geändert. Er stellte das Periskop neu ein.

Dann bohrte sich sein Auge in das Bild der Insel. Uhlenkort war im Begriff, den Raum zu verlassen. Ein Schrei aus Tredrups Mund hielt ihn zurück. Er stürzte zu ihm hin.

»Ich sehe den Eingang … ich sehe ihn … dort liegt er.«

Er wollte weitersprechen, da hatte ihn Uhlenkort weggerissen, schaute selbst hindurch.

»Der Eingang! Dort liegt er!« murmelten seine Lippen noch. »Groß und breit das dunkle Tor in dem hell erleuchteten Gestein!«

Er wandte sich zu Tredrup um.

»Tredrup! Du, was ist das? Die Öffnung! Wohl über einen Meter hoch liegt sie frei da. Wie ist das möglich, daß wir sie nicht früher sahen?

Mehr als ein Dutzend Mal kamen wir schon an dieser Stelle vorbei und sahen nichts.« Tredrup starrte auf den Boden. Eine leichte Blässe lag auf seinem Gesicht. Dann, als hätte er einen Entschluß gefaßt, ging er zu seinem Periskop. Stopp! schrie er ins Mikrofon. Das Boot bewegte sich ein kurzes Stück noch, dann stand es.

Tredrup maß die Entfernung zur Küste. An dieser Stelle des Meeres hatten sie am Tag zuvor ebenfalls haltgemacht.

Sein Blick ging über die Kronen der Klippen. Die beiden Palmenwipfel, die er gestern noch eben über der Felsenkante sah, waren jetzt nicht mehr zu sehen.

»Saltadera!« murmelten seine Lippen. »Wibehafen! … Der vom Leuchtturm … Vineta … Black Island … eine Kette!«

Er wandte sich zu Uhlenkort.

»Du willst es wissen, wie das geschehen konnte, daß wir heute sehen, was gestern unsichtbar war? Frage ihn in Saltadera!«

Uhlenkort trat einen Schritt zurück, sah Tredrup an, als verstände er ihn nicht.

»Was sagst du? Er?«

»… Er hob in dieser Nacht den Meeresboden hier und die Insel darauf!

Sein Werk!«

Uhlenkort legte die Hände über die Augen.

»Sein Werk, Tredrup! Auch das ist sein Werk. Die Macht in seinen Händen. Mir graut. Zuviel, zuviel für schwache Menschenhand. Zuviel, was das Schicksal einem gab, der von irdischer Mutter geboren ward.

Seine Hand umspannt den Erdball. Menschen, Meer und Land sind ihm untertan.«

Ein knirschender Ton vom Kiel des U-Bootes riß sie aus ihren Gedanken. Im Schaukeln der Flut hatte das Boot leicht ein unterseeisches Riff gestreift.

»Hallo!« rief Tredrup. »Sanfte Warnung! Gut, daß ich stoppen ließ.

Das Boot in Fahrt … es hätte ein böses Leck geben können.«

Schon stand er am Maschinentelegrafen. »Achtung! Rückwärts halbe Kraft!«

Langsam schob sich das Boot rückwärts von der Untiefe ab. Neue Kommandos. Die Ballasttanks füllten sich, das Periskop wurde eingezogen. Das Boot sank, bis es in fünfzig Meter Tiefe ein sicheres Lager auf sandigem Grund fand.

Die Sonne war untergegangen, als das Boot wieder auftauchte. Sie hatten lange beraten, ob sie ebenso wie die Piraten mit dem U-Boot durch den Tunnel fahren sollten. Der Plan war zurückgestellt worden.

Erst sollte der Versuch gemacht werden, im Boot durch den Durchlaß zu schlüpfen. Die schwache Besatzung rechtfertigte ein solches Unternehmen.

Eine breite, ziehende Wolkenbank verbarg die Mondscheibe, als das Beiboot mit Uhlenkort, Tredrup und einem Dutzend bewaffneter Matrosen abstieß. Mit leisen Ruderschlägen näherte es sich den Korallenfelsen. Nach kurzem Suchen fanden sie den Durchlaß.

Es galt äußerste Vorsicht. Konnte man doch nicht wissen, ob die Tunnelhöhe gleichmäßig durch den zweihundert Meter breiten Korallenkranz lief. Vielleicht kam gar das Wasser im weiteren Verlauf wieder bis an die Tunneldecke heran.

Im ersten Teil der Durchfahrt schoben sie das Boot vorwärts, indem sie die Hände gegen die Decke stemmten. Nach etwa hundert Meter wurde der Tunnel niedriger. Fast streiften ihre Köpfe die Felszacken der Decke. Nahm die Höhe so weiter ab, mußte die Ausfahrt zur Lagune versperrt sein.

Da glitzerte es vor ihnen hell auf. Die Strahlen des Mondes brachen sich in dem Wasserspiegel der Lagune. Ein paar kurze Stöße noch, und sie waren in der Lagune. Ein Kranz sandigen Strandes darum. An der Ostseite ein Bootssteg.

Darauf zu!

So gute Dienste das Mondlicht ihnen beim Suchen leisten mußte, so groß war die Gefahr jetzt, daß man sie sehen, auf sie schießen könnte.

»Mir nach in den Klippenschatten!« kommandierte Tredrup. »Sind wir im Dunkel, sind die Waffen gleich.«

In wenigen Augenblicken war das Boot leer, alles um Tredrup versammelt.

Wo ist Christie? Wo sind die Seeräuber? Das war die Frage. Rings um sie herum das Gewirr der Korallenklippen. Überall Möglichkeiten zum Unterschlupf, zum Versteck.

»Erst Christie!« flüsterte Uhlenkort Tredrup leise zu. Er sah nicht, wie Tredrup bei diesen Worten sein Gesicht zu einer Grimasse verzog.

Erst Christie! Ja, hätte man gewußt, wo sie war. Tredrup nahm das Nachtglas vor die Augen, ging damit die Felsen in der Runde ab. Ein heller, schmaler Strich an der nördlichen Felswand, wie ein Pfad kam es ihm vor. Irgendwohin mußte er führen.

Christie oder die Seeräuber, oder alle beide! Darauf los! Die Hälfte der Mannschaft zurücklassend, schritt er, von Uhlenkort und den übrigen gefolgt, der Stelle zu.

»Ein Pfad!« flüsterte er Uhlenkort zu. »Ein Pfad, der nach oben führt.

Kein unnützes Geräusch! Alles Schußfertig!« Der Pfad ging mit einer scharfen Biegung rechts ab. Tredrup winkte allen zurückzubleiben, schlich um den Felsvorsprung und ging allein weiter. Wieder bog der Pfad zur Seite, mündete vor einem dunklen Höhleneingang. Ein paar ausgehauene Stufen. Im Licht des Mondes sah er, daß hier Menschenhand gearbeitet hatte. Vorsichtig trat er in die Höhle. Völliges Dunkel umgab ihn. Er wagte es nicht, die Handlampe aufleuchten zu lassen. Leise schritt er weiter, Schritt für Schritt über den Boden tastend.

Da traf an sein gespanntes Ohr das tiefe Atmen schlafender Männer.

Die Seeräuber! Was tun? Mit derselben Vorsicht, mit der er gekommen, ging er zurück, winkte seinen Leuten, ihm zu folgen. Vor dem breiten Höhleneingang fanden sie Platz, sich aufzustellen.

»Alles fertig?«

»Fertig!« kam die Antwort. Er zog aus seiner Tasche eine starke Leuchtpatrone, zündete sie an und warf sie mit weitem Schwung in die Höhle.

»Drauf!« gellte sein Ruf. »Drauf!« brach sich der Widerhall im Kreis der Felswände.

Ein paar Schüsse knallten … Geschrei Getroffener. Fünf Minuten später lag die Besatzung gut gefesselt am Eingang zur Höhle. Ein Toter.

Der Offizier, der Kommandant des Atolls. Er hatte sich bis zum letzten Augenblick gewehrt, dann, als er sah, daß Widerstand aussichtslos war, sich mit seiner eigenen Waffe getötet.

»Wo ist eure Gefangene?« schrie es den Gefesselten von allen Seiten zu. Ein Verwundeter, der nicht gebunden war, deutete mit dem Arm zur anderen Wand der Felsen.

»Da drüben, wo das Licht glänzt.«

Im Nu flogen alle Köpfe herum. Schon stürmte Uhlenkort den Pfad hinunter, kaum, daß ihm Tredrup folgen konnte. Dann standen sie keuchend am anderen Rand der Lagune, suchten nach dem Aufgang zum Licht, fanden ihn nicht. Ungeduldig lief Uhlenkort an den zackigen Wänden der Felsen entlang.

Da kam das Licht von oben herunter. Verschwand hinter einem Felsvorsprung, tauchte wieder auf … verschwand wieder … war unten am Strand der Lagune.

»Christie Harlessen! Christie!« schrie Uhlenkort. »Bist du’s?«

»Ich bin’s, Walter!«

Das Licht fiel zur Erde … verlosch …

Guy Rouse saß in seinem Arbeitszimmer. Er war allein. Eben hatten ihn drei befreundete Abgeordnete verlassen. Sie waren gekommen, wie um einen Freundschaftsbesuch zu machen, wie um ihre unwandelbare Ergebenheit, Anhänglichkeit wieder zu beteuern. Doch Rouse hatte sie durchschaut.

Der eine, der Wortführer Teddington, hatte vergeblich versucht, in der Unterhaltung wie beiläufig Fragen einzuflechten, die mit der Börse, den Kanalaktien, zusammenhingen. Er hatte sie entlassen, hatte durchblicken lassen, daß der hohe Stand der Kanalaktien noch keineswegs der höchste sei. Die Männer waren gegangen, Miller und Struck den Kopf voller Gedanken, wo Geld hernehmen, wo borgen, um noch mehr Aktien zu kaufen, Teddington ebenso fest entschlossen, noch heute zu verkaufen.

In der letzten Woche hatte der Aktienkurs eine schwindelnde Höhe erreicht. Rouse überflog die Börsenberichte Amerikas, verglich sie mit den Kursen der übrigen Welt. Die amerikanischen hatten immer einen kleinen Vorsprung. Dieser war heute größer denn je.

»Es ist höchste Zeit«, murmelte er vor sich hin. »Man scheint andernorts mißtrauisch zu werden. Auch ohne diese überraschende Nachricht meines Agenten, daß die Kanalsohle nach zuverlässigen Messungen an verschiedenen Stellen sich um beinahe dreihundert Meter gehoben hat. Ein glücklicher Zufall, daß es nicht irgendeinem Kapitän einmal einfiel, die Messungen des Schiffahrtsamts nachzuprüfen.«

Rouse saß am Tisch und schrieb. Ein chiffriertes Telegramm an seine Vertreter an den Hauptbörsen der Welt. Er schrieb es zwanzigmal in zwanzig verschiedenen Chiffren, übergab die Schriftstücke einem Sekretär zur Besorgung.

Der Auftrag: Den Restbestand der Aktien morgen noch bestens zu verkaufen. Es waren viele Aktien, die Guy Rouse besaß, die er durch diese Aufträge auf die Börsenmärkte warf. Der Kurs der Aktien mußte durch diese Transaktion erschüttert werden. Die Aktien mußten daraufhin zweifellos nachgeben. Aber was bedeutete das gegenüber dem Sturz, der kommen mußte, wenn er das Steigen des Kanalbetts der Öffentlichkeit in geschickter Weise bekannt gab.

Am Tage nach diesen Pressenotizen mußte an allen Börsen eine Deroute in Kanalaktien ausbrechen. Dann würden seine Börsenvertreter in der ganzen Welt unter der Hand riesenhafte Rückkäufe machen.

Schon am Abend dieser Rückkäufe, die weit über sein Barvermögen hinausgehen sollten, würden neue Pressenotizen, gestützt auf wissenschaftliche Gutachten, die Veränderung der Kanalsohle unbedenklich, als letzten Beruhigungsvorgang des gequälten Erdbodens hinstellen. Der Kurs würde sich wieder heben, zumal er, der Präsident der Gesellschaft selbst, dann offen, wenn auch nur mit bescheidenen Summen, als Käufer auf den Markt treten würde. Durch weitere Pressemeldungen und Gutachten würde dafür gesorgt werden, daß der Aktienkurs sich wieder vollständig erholte.

Das Steigen der Kanalsohle – im ersten Augenblick hatte die Nachricht wie ein Donnerschlag auf ihn gewirkt. Unablässig hatte er über den rätselhaften Vorgang nachgedacht, nach einer Erklärung gesucht. Hatte dem Agenten Order zugehen lassen, durch fortgesetzte Lotungen die Bewegungen des Kanalbettes zu verfolgen. Die letzte Nachricht des Agenten, vor einer Stunde war sie eingegangen: kein weiteres Steigen.

Ausgleichserscheinungen mußten es gewesen sein, die jetzt zum Stillstand gekommen waren. Gut für seine Pläne. Das Ende der Riesentransaktion … wie schon so oft würde es einen Riesengewinn für ihn bedeuten.

Die Sterne am Himmel verblaßten. Ein leichter Schimmer im Osten kündete den neuen Tag. Der einsame Mann in Saltadera ließ sich am Arbeitstisch nieder. Das energetische Bild des Kanals erschien am Schirm.

Die in der Sialscholle eingesprengten Magmamassen … größere, kleinere. Ihre glutflüssigen Massen mit Wasser in Berührung!

Eruptionen, große, kleine … Tod, Vernichtung bringend! Wie es vermeiden?

Tage und Nächte hatte er gesonnen. Es war nicht möglich Menschenleben vernichten bei seinem Werk, konnte das Schicksal das auch wollen?

Seine Finger bewegten einen kleinen silbernen Tokschor. Die Blätter der Trommel glitten langsam an seinem Auge vorbei. Er schüttelte den Kopf.

Nichts! Nichts! Das Schicksal geht seinen Weg unbeirrt, rücksichtslos.

Menschenleben auf seinem Weg … das Rad geht darüber hinweg. Ihr Schicksal!

Er prüfte die große Apparatur im Hintergrund des Raumes.

Prüfte Teil für Teil ihres komplizierten Baues. Es war alles in Ordnung.

Der kleine Apparat … klein im Verhältnis zu den Riesenenergien, die er lösen und steuern konnte. Er war sein Meister, der ihn gebaut hatte nach dem Geheimnis des Tokschors, der ihm von der Mutter übergeben war. Schicksalswendung! Er, der Erbe des Geheimnisses, das einmal das Schicksal drei Männern anvertraute, als es galt, Millionen Menschen vor Not und Tod zu bewahren. Drei Männer … drei Ringe. Jeder trug einen von gleicher Arbeit. Zwei davon zusammen gefügt an seiner Hand. Sein Auge ging zum Finger der Rechten. Wie die Windungen einer Schlange ein doppelter Ring goldener Spiralen. Zu schwer für den schmalen, bleichen Finger. Die Hand, wie wenn sie das Gewicht des Ringes nach unten zog, war vom Tisch gesunken. Zu schwer die Last, die das Schicksal, einst auf drei verteilt, auf meine Schultern legte … der dritte Ring?

Sein Leben, was war es von den Tagen an, bis zu denen die Erinnerung zurückging? Die Mutterarme … die einzige glückliche Erinnerung … kurz, zu kurz! Auch sie war von ihm gegangen.

An dem Tage, an dem sie starb, war ein Fremder gekommen, ein alter, greiser Mann, hatte ihn mitgenommen, weit fort von der Heimat.

Dorthin, wo die ewige Wiege der Menschheit stand. Und dort, kaum noch, daß er denken konnte, hatte sein Schicksal begonnen, die Schule des Schicksals, hart, unerbittlich hart.

Nichts von den Freuden der Jugend, des Lebens. Die Jahre waren verstrichen, bis der Tag kam, an dem der Alte die Bürde auf seine Schultern legte, die Schultern so schwach, so gebrechlich. Er hatte sich gesträubt, sich gewehrt. Der Alte hatte seine Hand ergriffen, zwei Ringe über den Finger gestülpt. Zu groß, viel zu groß. Der Greis hatte leise darüber gestrichen, und dann saßen sie fest an seinem Finger, als wären sie angeschmiedet. Fest geschmiedet wie die Ringe an den Füßen der Galeerensträflinge.

Wie hatte er geseufzt und gestöhnt unter ihrem Druck. Das Blut der Jugend bäumte sich auf. Da, als er, verzweifelnd an sich, an seiner Kraft, das Leben von sich werfen wollte, hatte der alte Lehrer ihm erzählt von jenen dreien. Erzählt von dem einen, der sein Vater war, erzählt von dem anderen, der, der Stärkste unter ihnen, doch zu schwach gewesen, die Last zu tragen, dessen Geist der Versuchung erlag, der starb im Kampf … im Kampf mit dem Schicksal selbst, ein Abtrünniger, Verlorener.

Der Alte hatte ihn eines Tages von sich geschickt, zurück nach den Stätten der Geburt, der Heimat. Er war in das fremde Leben getreten, war darin gewandelt, ein Fremder unter Fremden. Einer! Das Schicksal ging seine Wege, unbegreiflich für Menschenherzen. Einer hatte ihn, den Träger, den Boten des Schicksals, vom Tode gerettet. Dieser war sein Freund geworden, war es geblieben. Würde es bleiben bis zur letzten Stunde.

Freundschaftsdienst war es, den er jenem erwies, als er die Schicksalsmacht benutzte, um ihm zu helfen, als der die Frau suchte, nach der sein Herz schrie. Er hob das Atoll. Ein kleines Spiel war das für ihn. Aber hatte er die Macht nicht mißbraucht?

Sein Auge ging zu dem leuchtenden Bild an der Wand. Das verschwand. Die Fläche des Kanals erschien, wie sie das optische Bild gab. Da fuhr er, der Freund! Mit der Geretteten. Ein glücklicher Mensch, glückselig im Besitz dessen, was sein Herz wünschte. Würde er seiner jetzt noch so gedenken wie früher? Würde er nun ganz allein stehen auf der Erde? Ohne Liebe, ohne Freundschaft? Das Schicksal, wollte es auch das?

Das U-Boot hatte den Kanal hinter sich. Ans Werk! Eine Stimme im Innern rief es ihm zu.

»Mein Werk!« Er deckte beide Augen mit den Händen, saß, sammelte sich zur Tat. Er trat zum Tisch. Vor ihm gleißte der silberne Glanz des Tokschors. Er ergriff ihn, drückte ihn an seine Brust. Dann berührten seine Finger den Apparat. Die Augen glitten von ihm zu dem Bild an der Wand und wieder zurück. Die Tiefen der Erde taten sich vor ihm auf.

Ein letzter Hebelgriff am Apparat. Dessen Kräfte, frei werdend, begannen zu spielen. Hunderte Kilometer tief unter der Sohle des Kanals arbeiteten sie. Die trägen Simamassen gerieten in Bewegung. Sie pflanzten sich fort nach allen Seiten. Die Massen dehnten sich aus, wurden leichter in der Ausdehnung, strebten, Ausweg suchend, nach oben, hoben die Decke, sprengten sie. Sie barst. Die Sialmassen zerrissen, wichen dem Druck. Die Erdrinde kochte. Die eingesprengten Magmamassen, dem Druck folgend, öffneten ihre Arme dem einströmenden Wasser. Wasser und Feuer, sich verbindend zu unheilschwangerer Ehe. Hoch auf flog der dampfende Gischt. Die Erschütterungen der Explosion, kreisend, zitternd nach allen Seiten, stürzend das, was noch von früher her stand auf den Zungen des Isthmus.

Der Isthmus, mitgetroffen, mitgerissen von den unterirdischen Kräften, strebte zitternd, bebend zur Höhe. Berge taumelten, in sich zusammenstürzend. Das Bild des Isthmus, schon einmal durch die Eruption bei der Kanalsprengung verändert, zerstört, zeigte jetzt erneut ein Chaos.

Menschenleben – das Rad des Schicksals rollte darüber hinweg.

Menschenleben. Der, dessen Hand den Strahler lenkte, sah sie untergehen. Sah es, und die schmale Gestalt sank zusammen unter der Last des Unheils, des Schicksals. Die Hände ließen ab. Er sank auf einen Stuhl, barg sein Gesicht in den Händen. In seiner Seele schrie es:

»Zuviel! Du Schicksal!«

Und dann war es ihm, als stünde er neben ihm, der Alte. Er legte die Hände über seine Stirn, strich darüber. Dessen Mund flüsterte Worte in sein Ohr. Die Worte von einst, tausendmal hatte er sie gehört dort drüben. Er richtete sich auf und starrte um sich. Der Tokschor! Er war in seiner Hand, seine Finger hatten ihn umklammert.

Schicksal! Die Hände glitten wieder zum Strahler, bewegten seine Kräfte.

Der Kanal! Der Isthmus! Hoch … höher als je! Die Sohle des Kanals wasserlos! Ein steiniger Pfad von Norden nach Süden.

Er schreckte zusammen. Die Hände umklammerten den Strahler, die Augen bohrten sich in das energetische Bild. Zuviel?

Fieberhaft arbeiteten die schmalen Finger. Die Bewegungen in den unterirdischen Massen ließen nach. Der gehobene Isthmus sank, ein Ruck … er stand. Das Bett des Kanals, da lag es wieder, ein blaues Band, die Ozeane vereinend. Kleiner, schmaler, so wie es Menschengeist sich geträumt. Verbindungsweg für Osten und Westen, ungehinderter Pfad für die Weltwirtschaft. Die Wunden der Erde, von verbrecherischer Hand geschlagen, geheilt.

Das Bild glitt zurück. Einen Augenblick zitterte seine Hand. Der Freund! Der Golfstrom?

Ein wütendes Anprallen an der neuen Schranke. Die Wasser des Stromes tobten, wühlten an der Sperre. Die stillen Fluten der Karibischen See waren nun ein aufgewühltes, stürmisches Meer.

Neuer Tod, neue Vernichtung für das, was sich da befand. Der Freund … in Überwasserfahrt?

Wie im Fieber ging die Hand zum energetischen Fernseher. Die Oberfläche des kochenden, schäumenden Meeres. Darunter die Wogen des Golfstroms bis in ihre tiefsten Tiefen aufgewühlt. Ein Unterseeboot darin. Bald hoch, bald tief rissen es die Strudel. Mit starren Augen verfolgte er jede Bewegung des Bootes. Jetzt fast an der Oberfläche, jetzt hinab gerissen in Tiefen, deren Druck die Wände des Bootes unmöglich lange standhalten konnten. Seine Hand ging zum Strahler.

Dessen Kräfte wirkten in den Tiefen der aufgewühlten See, endigten die Wirbel, zähmten die Strudel.

Kurs Nord zu Nordost hätte er ihnen zuschreien mögen. Da glitt das Boot Nord zu Nordost heraus aus den Strudeln des Stromes, während diese, sich im wütenden Schwall an der Barre brechend, nach Norden umbiegend, den alten Weg nahmen … Weltwende!

Das Werk vollendet! Der Strom im alten Bett! Das Boot in glücklicher Fahrt auf ihn zu nach Saltadera. Kaum noch konnten seine Finger den Strahler und Fernseher zur Ruhe setzen. Mit Mühe schritt er ins Freie.

Am Stamme einer Pinie sank er um, fiel zu Boden.

Das Geschäft war geglückt. Zur Hälfte des Parikurses hatte Guy Rouse ein nominales Aktienkapital von zwei Milliarden Dollar unter schärfster Anspannung seines Kredits an sich gebracht. Die zweite Pressenotiz, verbunden mit seinem persönlichen Auftreten als Käufer, hatte Wunder gewirkt. Er überflog die Börsenberichte. Der Kurs mehr als sechzig.

Schon jetzt ein Gewinn, der, realisiert, zweihundert Millionen Dollar bedeutete. Ein unbestimmtes Gefühl riet ihm zum Verkauf. Er fühlte instinktiv etwas Drohendes, das ihm stärkstes Unbehagen verursachte.

Der Stift in seiner Hand fühlte immer wieder nach dem Papier, die Verkaufsaktion einzuleiten. Zweihundert Millionen Dollar … ein schöner Gewinn, sein Vermögen verdoppelt! Vierhundert Millionen Dollar! Zu wenig! Wie viele gab es in den Staaten, die mehr besaßen.

Heute Abend noch eine neue Bearbeitung der Presse. Vielleicht stand morgen der Kurs schon siebzig. Achthundert Millionen Dollar betrug dann sein Vermögen. Achthundert Millionen! Die Zahl tanzte vor seinen Blicken. Er wischte mit der Hand über die Augen, als wollte er sie verscheuchen.

Achthundert Millionen Dollar. Die Zahl lachte ihn an. Die Riesensumme als Grundstock zu neuer Arbeit. Andere, größere Zahlen tauchten auf, wurden größer, immer größer … ein wirrer Reigen.

Mit einem energischen Ruck machte er sich frei von dem Phantom, nahm ein beruhigendes Pulver. Er trat zum Fenster, riß es auf.

Der Sonnenball brach hinter einer dunklen Wolke hervor. Er nahm es als glückliches Zeichen.

»Morgen! Morgen!« murmelte er immer wieder. »Morgen, morgen beginne ich mit dem Verkauf. Achthundert Millionen Dollar!«

Der nächste Tag. Die Uhr von der Trinity Church schlug die erste Mittagsstunde. Beginn der Börse! Im schwarzen Schwall stürzten die Börsenbesucher in die weiten Säle. Die lange, hagere Gestalt des Präsidenten der New Canal Company ragte weit über die anderen hinaus. Er wollte, durch kleine Geschäfte da und dort, den Markt in Kanalaktien beleben.

Die Minuten vergingen. Die Märkte für die bevorzugten Aktien bildeten sich. Die Aktien der New Canal Company zogen an …

Achtundsechzig Prozent … Achtundsechzigeinhalb Prozent …

Achtundsechzigdreiviertel Prozent … Guy Rouse buchte jedes Prozent mit dem Betrage von zehn Millionen Dollar zu seinen Gunsten. Auf siebzig mußten sie kommen … auf siebzig! Dann realisieren … realisieren. Achthundert Millionen Dollar!

Da! Ein Schrei, der über das Summen der tausend Stimmen hinweggellte: »Riesenexplosion im Kanalbett! Stärkste Erdbebenstöße quer über den Isthmus … Kanalufer türmen sich in die Höhe!«

Ein unbeschreiblicher Tumult entstand. Man suchte den, der die Worte gerufen hatte. Es war ein amtlicher Funkfernschreiber.

Hunderte drängten sich um die hohe Gestalt von Guy Rouse. Nur mit Mühe bewahrte er das kühle, gleichmäßige Gesicht. Nur mit äußerster Willensanstrengung konnte er die Wirkung der Nachricht, die ihn wie ein Blitzstrahl traf, verbergen.

Gestern … hätte ich verkauft! Die Stimme im Innern sprach recht. Jetzt ist alles verloren … Ich fühle es.

Und dann sprach er laut: »Tatarennachricht! Börsenmanöver!«

Kalt und schneidend klang seine Stimme über die Köpfe der Umstehenden. »Meine Nachrichten von der Kanalverwaltung … Nichts deutete darauf hin …«

Noch ehe er den Satz vollendet, schrie es aus dem Nebensaal.

»Die Explosionen gehen weiter. Alle Aufnahmestationen für den Fernseher zerstört.«

Einen Augenblick Totenstille.

Die Aufnahmestationen standen auf den Uferhöhen. Das war gewiß.

Ohne sich noch um Rouse zu kümmern, stürmte man die Maklerbänke.

Kanalaktien abzugeben! Zu jedem Preis! Die Deroute brach los.

Rouse schritt dem Ausgang zu. Er mußte sich den Weg bahnen, wo man ihm früher achtungsvoll, fast ehrfürchtig ausgewichen war.

Einige scheue Blicke streiften ihn. Da und dort reckten ein paar Fäuste sich ihm drohend entgegen. Noch ehe er den Ausgang erreicht hatte, hörte er die Maklerstimmen Rousesche Kanalaktien anbieten.

Exekution! Wie ein Peitschenhieb traf ihn die Erkenntnis. Alles verloren! Die Schuldenlast erreichte das Vierfache seines Vermögens.

Das U-Boot im rasenden Golfstrom. Todesfahrt! Das winzige Boot ein Spielball des tobenden Elements. Da plötzlich, als hätte eine fremde Hand es mit gewaltiger Kraft gepackt, wurde der Steven nach Nordost gezwungen, herausgerissen aus den wirbelnden Strudeln in ruhige See.

Sie waren aufgetaucht. Gerettet! Was keiner von allen noch zu hoffen gewagt hatte, war doch noch geschehen. Sie alle hatten mit dem Leben abgeschlossen, als das Steuerruder zerbrach. Die furchtbaren Wirbel hatten das Boot zeitweise in gewaltige Tiefen hinabgerissen. Jeden Augenblick hatten sie erwartet, daß der ungeheure Wasserdruck die knisternden Wände des Bootes zerquetschte. Bei den Bemühungen, den todbringenden Wirbeln zu entgehen, war, ein letztes, schlimmstes Unheil, das Steuerruder zerbrochen.

Wieder über den Fluten. In langer, mühseliger Arbeit hatten sie das gebrochene Ruder wieder instand gesetzt, hatten neuen Kurs auf Saltadera genommen, vorbei an den Trümmern treibender Wracks, vom kleinsten Fischerboot bis zu den größten Ozeanriesen, im Kampf des Golfstroms gegen die feste Barre.

Während sie das Steuer flickten, war Uhlenkort in der Turmluke. Mit dem scharfen Glas spähten seine Augen über das Wasser. Den Isthmus selber konnte er nicht sehen. Er sah nur die vorspringende Spitze von Florida im Nordwesten.

Das Meer zwischen ihm und ihr schien eine graue, ruhige Fläche. Da!

Von Süden her nahte eine niedrige Wand, schneller und immer schneller bewegte sie sich auf die Halbinsel zu, bog um sie herum. Blaues Wasser! Das blaue Wasser des Golfstroms. Die blaue Wand rollte weiter nach Norden, weißes, kräuselndes Kielwasser zu ihren Seiten. Er riß die Mütze vom Kopf, schwenkte sie jubelnd in der Luft.

»Christie! Christie! Tredrup! Schaut hinüber. Der Golfstrom, er fließt wieder im alten Bett!«

Er stieg hinab.

»Fertig das Steuer!« rief ihm Tredrup entgegen. Und während das Steuer Süd zu Südwest gelegt und das Boot in Fahrt gebracht wurde, saß Uhlenkort an Christies Seite unter dem Sonnensegel. Mit überströmendem Herzen sprach er zu ihr. Sie lehnte sich an seine Brust, und ihr Ohr trank sich satt an dem Schönen, Guten, was er ihr zu erzählen wußte nach all dem Leid der letzten Wochen. Zuviel war das, nicht so leicht zu vergessen. Zuletzt noch das U-Boot im Sturm. Sie zitterte um das Leben des Geliebten. Er merkte es nicht, wie ihr Körper schwerer und schwerer wurde, sich an seine Brust drängte. Er beugte sich darüber. Mit blassem Gesicht lag sie ohnmächtig in seinen Armen.

Sie trugen sie unter das Sonnensegel, betteten sie im Kühlen. Saßen an ihrer Seite, bis sie aus der Ohnmacht erwachte … dann in tiefen Schlummer sank.

An der Boje von Saltadera machten sie fest, setzten im Boot zur Hütte über. Tredrup ging vor ihnen her, stieß die Tür zum Laboratorium auf.

Einen Augenblick standen sie, die Augen noch vom Sonnenlicht geblendet, konnten im Dunkel des Gemachs nichts erkennen. Dann, als die Augen sich gewöhnt … Johannes Harte schien nicht darin zu sein.

Tredrup drehte das Licht an. Der Raum war leer. Schon wollte Uhlenkort nach oben eilen, wo sich die Wohnräume befanden, da hielt ihn ein erstaunter Ruf Tredrups zurück.

»Hier, der Apparat, der hier stand … er ist weg! Auch der kleine von dem Tisch ist fort. Er hat sie mitgenommen!«

Uhlenkort stand stumm. Er kannte die Einrichtung des kleinen Laboratoriums. Die Apparate waren verschwunden zusammen mit ihrem Herrn. Verschwunden? Warum gerade jetzt, da das Werk, das große Werk gelungen war? Wohin? Sollte er nach Spitzbergen zurückgegangen sein? Und wie, wie? Hatte er sich von einem vorbeifahrenden Schiff mitnehmen lassen?

Da kam Tredrup hereingestürzt. »Dem Flugzeug ist fort, die Halle ist leer!«

Sie standen sich gegenüber, sahen sich fragend an. Keiner wußte Antwort, was hier geschehen, weshalb Johannes fort war.

Kein zurückgelassenes Zeichen, keine Spur …

Die Exekution an der Börse. Einen Augenblick nur, daß die hohe Gestalt schwankte, sich beugte unter dem Schlag. Rouse war durch die Tür des Börsensaales ins Freie geschritten. Das Treiben und Brausen der Weltstadt hatte ihn umfangen. Eine Baustätte zu seiner Seite, ein hoher Wolkenkratzer wurde abgerissen, Platz zu machen einem neuen, größeren, schöneren.

Er stand in der Vollkraft seiner Jahre. Warum verzweifeln? Seine Arbeitskraft, seine Energie schienen ungebrochen durch den Schlag, den menschliche Erkenntnis nicht voraussehen konnte. Schon fing sein Geist von frischem zu arbeiten, neue Pläne, neue Ideen zu schmieden zum Wiederaufbau des neuen Hauses an Stelle des gestürzten.

Er war in sein Haus gekommen. Der Weg in der frischen Luft hatte ihm die volle Spannkraft wiedergegeben. Neue Pläne, eben aufgetaucht, sah er schon in Entwicklung. Guy Rouse, der Name sollte nicht verschwinden mit dem Kanal, den der Teufel geholt hatte!

Die beiden Sekretäre konnten kaum dem folgen, was sein Geist, übersprudelnd von neuen Plänen, neuen Ideen, ihnen sagte. Mit jedem Wort wuchs seine Zuversicht. Die sollten sich irren, die da glaubten, ihn begraben zu wissen.

Ein kleines rotes Lämpchen an seinem Schreibtisch war aufgeglüht. Er ging darauf zu. Der Fernschreiber arbeitete. Es war die Chiffre, die nur er allein kannte. Er hob den schmalen Papierstreifen zum Gesicht, las.

Und wie wenn seine Hände eine Stromleitung erfaßt hätten, klebten sie an dem Streifen.

»Christie Harlessen durch U-Boot unbekannter Herkunft befreit.

Besatzung des Atolls gefangen weggeführt.«

Seine geballten Hände hoben sich über seinen Kopf, als wollten sie den zerschmettern, der das getan; fielen dann in furchtbarem Schlag auf den kleinen Fernschreibapparat, der klirrend in Trümmer ging.

»Christie Harlessen!« Er schrie es wie zu Tode verwundet. Und dann war ihm gewesen wie dem Riesen, dem das Schwert eines Schwachen die Sehnen durchschlagen. Er war zusammengebrochen. Vergessen die Pläne zur Rettung, zum neuen Aufstieg. Er übergab alles einem Sachwalter, hinterließ Vollmacht für alles. Aus den USA flog er mit einer Düsenmaschine nach Europa, zur Riviera, wo der letzte Anker lag, der ihn noch an die Erde band … Juanita.

Der Wipfel der Pinie, an deren Stamm Johannes Harte hingesunken war, bog sich unter den wütenden Stößen des Sturmes, der vom Isthmus her über die See brauste. Grelle Blitze, die aus der dunklen Wolkenwand im Westen aufzuckten, kündeten den nahen Orkan.

Schwere Regentropfen fielen, trafen auch den, der dort unter dem Baum lag. Er rührte sich nicht. Wie ein Toter lag er da. Da war es wie schwerer Flügelschlag durch den brausenden Sturm.

Ein Schwingenflieger? Ein großer Vogel? Kein lebendiges Wesen, das sich in diesem Sturm in der Luft halten, ihm entgegen den Weg finden könnte.

Über die Hütte hinweg glitt es zu Boden neben den, der da am Boden lag. Sekundenlang traf das Mondlicht durch die jagenden Wolken hindurch die Erde.

Ein riesiger Vogel? Ein Adler? Die Schwingen weit ausgereckt. Ein gewaltiger Geier, der auf den letzten Atemzug seiner Beute wartete?

Der Liegende schien von Minute zu Minute schwächer zu atmen.

Kaum noch hob sich die Brust. Das Dunkle, Graue war an seiner Seite, wie wartend auf den letzten Atemzug. Das durchbrechende Mondlicht traf sekundenlang das bleiche Gesicht eines Toten … Kein Atemzug. Die Lippen weit geöffnet, der letzte Hauch ihnen entströmt. Das Dunkle, Graue senkte sich tiefer über den Liegenden hinab, schien ihn ganz zu umgeben.

Ein schwerer Blitz, ein Flammenmeer schien die ganze Atmosphäre.

Ein rasender Donner, rollend zu den Kontinenten … über die Erde. Dann plötzlich Ruhe, als hätte eine übermächtige Gewalt in das Rasen der Elemente eingegriffen. Die jagenden Wolken, fast still standen sie am Firmament. Der Sturm war wie durch Zaubermacht gebändigt … ein leises Wehen.

Ein heller Schimmer am Osthimmel kündigte den Anbruch des neuen Tages an. Der Kampf der Gestirne, die der Nacht wichen. In grauem Zwielicht Luft, Meer und Erde.

Der Schatten am Boden war klein, wie in sich zusammengebrochen … kleiner werdend … ein Schimmer nur noch und verschwindend im Morgendämmer.

Wende! Neugeburt!

Ein Zittern ging durch die Gestalt des am Boden Liegenden. Die Lippen bebten, sogen die Morgenluft ein. Wie aus Todesschlaf erwachend, hob sich seine Brust. Die Hände griffen nach hinten, streckten sich zu Boden, der Körper, dem Druck folgend, hob sich. Er stand auf, schaute sich um.

Da brach über die Kimm der See der rote Feuerball der Sonne, die finsteren Gewalten der dunklen Nacht vor sich hin in die Flucht treibend.

Der Mann stand, die Arme weit ausgebreitet, als wolle er die Siegerin empfangen. Er stand, harrte, bis sie leuchtete in strahlender Größe, die Sonne, Licht des Tages, das Licht der Tat. Und sich beugend vor der Majestät, schlug er die Hände vor die Augen, neigte sich vor ihr. Die Tat! Vom Schicksal geboten. Er, der Diener. Die neue, noch größere Tat.

Seine Schultern, wie hatten sie gebebt unter der Bürde der letzten … kleineren.

Jetzt! Die Gestalt stand hoch aufgerichtet, wie gewachsen im Sonnenlicht. Das große, das ganz große Werk lag noch vor ihm, dem Vollbringer des größten. Seine Arme strafften sich. Er blickte auf seine rechte Hand. Drei Ringe … wo gestern zwei waren! Sein Auge starrte nach allen Seiten, als könnte er’s nicht fassen …

Wo kam der dritte Ring her, aus dem die neue Kraft zu dem neuen, größeren Werk erwuchs?

Atlantis! Da war’s. Das Wort, das der Alte in Pankong zu ihm gesprochen hatte. Das letzte große Ziel seines Lebens, bevor er einging ins letzte Paradies.

Atlantis! Einst die Königin, die Herrscherin der Welt. Untergegangen durch Schicksalsspruch. Neu erstanden, erweckt zu neuem Leben für die Menschheit … durch dich!

»Atlantis!« Seine Lippen murmelten die Worte vor sich hin.

»Schlafend im Dunkel des Meeresgrundes, gehoben durch dich zum Licht des Tages, neue Stätten der Menschheit bereitend!«

Er schritt zur Hütte. War er es, der gestern noch schwäche taumelnd aus der Hütte wankte? Ein anderer! Ein Größerer, ein Stärkerer … ein neuer Mensch! Die Inkarnation eines Starken!

Werkzeug des Schicksals? Fast Meister des Schicksals jetzt.

Das Flugzeug aus der Halle! Die Apparate hinein. Die starken Schultern spürten kaum die Last der Instrumente. Von Norden her eilte in schneller Fahrt ein U-Boot. Die Freunde!

Das Flugzeug sprang an, gehoben von der energetischen Gewalt des Strahlers. In sausendem Flug stieg es auf, die Bahn der Sonne überholend, verschwand in Mittagshöhe.

Kurs Nordost steuerte das U-Boot durch den Atlantik der Heimat, Europa, Hamburg zu. Seit dem Tage ihrer Abfahrt von Saltadera hatten sie kaum Schlaf gefunden. Was die Wellen des Äthers ihnen aus der Welt, aus Europa zutrugen, war zuviel des Guten, Schönen für ihr Ohr.

Sie kamen nicht los von den Bildern, die der Fernseher zeigte. Wie durch Zauber war das Los der Millionen von Nordeuropa geändert.

Schiffe auf der See, beladen mit Flüchtlingen, auf das große Geschehnis hin hatten sie gewendet, Kurs zur Heimat genommen. In den Hafenstädten in den südlichen Teilen Europas! Die Geflohenen drängten zu jeder Fahrgelegenheit, zurückzukommen zur verlassenen Heimat. In den Hafenstädten der Nordküste herrschte ein einziger Freudentaumel.

Menschen, weinend, lachend, umarmten sich. Der Golfstrom im alten Bett bewegt sich nach Norden … Wärmespender … Lebensspender!

Die Riesenorganisation, mit einem Ruck zum Stocken gebracht, versagte dem plötzlichen Ereignis gegenüber. Jetzt! Keiner der Flüchtlinge schien es erwarten zu können, daß er wieder dorthin zurückkehrte, wo das leere Haus, die verlassene Arbeitsstätte war. Mit Gewalt suchte man sich jeder Fahrgelegenheit zu bemächtigen. Mit Gewalt mußte wieder eingeschritten werden, um ein Chaos zu verhindern. Die großen Tageszeitungen der Welt hatten Reporterflugzeuge entsandt, die dem Golfstrom zur Seite folgten. Die blaue Wellenwand, wie sie sich langsam nach Norden zu bewegte, zeigten die Funkbilder der Fernsehgeräte. Andere Zeitungen hatten ihre Agenten in schnellen Flugzeugen nach Norden gesandt. Die zeigten im Funkbild, wie die Bewohner eines Dorfes zurückkehrten, sich freudig in das alte Nest drängten, zeigten, wie neues Leben sich überall zu regen begann, wie auch in den Landschaften, die noch nicht geräumt, aber zur Räumung verurteilt waren, wie mit Zauberschlag Jammer, Trauer gewichen, wie Aufatmen durch alles ging; die Hände sich mit doppeltem Fleiß zu rühren begannen in gewohnter Arbeit an alter Stätte.

Freude und Jubel überall! Das sterbende Europa war zu neuem Leben aufgewacht, erweckt durch die große Tat …

Wer wußte von der Tat? Wer kümmerte sich um den, der das Werk getan? Die Natur hatte sich selbst für das gerächt, was frevle Hand ihr angetan. Keine andere Meinung herrschte in Europa, in der Welt. Dann wurden langsam andere Stimmen laut. Man achtete ihrer kaum. Sie sagten: Unmöglich, daß die Natur aus sich selbst heraus das gestörte Gleichgewicht der Kräfte hergestellt hatte. Die Sialscholle, einmal zerrissen, abgedrängt von den aufstrebenden Simamassen, konnten niemals wieder dahin zurückkehren, wo sie gelagert hatten. Gewiß, daß ihre Masse, wuchtend auf den im Erdboden begrabenen Sedimentärschichten und anderen Sialmassen, diese nach unten drückte, bis sie, unter die benachbarten Massen gedrängt, Ausgleich suchend, sich hoben.

Nicht die Natur selbst, eine andere Macht mußte hier am Werk gewesen sein. Die gleiche Macht, die auch die anderen Wunder vollbracht: Vineta, Black Island gehoben.

Menschenmacht?

An der Frage scheiterte jeder.

Telenergetische Konzentration?

Das Wort, schon vor längerer Zeit aufgetaucht, beschäftigte unablässig alle führenden Geister der physikalischen Wissenschaft, theoretisch längst erkannt! Doch nie war es gelungen, die Nullpunktenergie auszulösen. Die Wissenschaft, so weit vorgeschritten, stand doch erfolglos vor diesem letzten Hindernis.

Schon war die Mehrzahl der Gelehrten der Meinung, daß dieses Welträtsel dem menschlichen Geist ewig verschlossen bliebe. Denn diese Erkenntnis, weitergeführt bis zur Konstruktion des technischen Mittels, des wirkenden Instruments, müßte der Allgemeinheit in die Hände gegeben, zur Katastrophe, zum Chaos führen.

Jeder einzelne der Beherrscher der übrigen. Kein Diener mehr, nur Herren im Kampf um die alleinige Macht. Tod, Vernichtung für alles Lebende, Umwälzung der Natur. Keine Grenzen mehr für menschlichen Geist, für menschliche Kraft … für menschliche Schwäche.

Das Ende der Menschheit.

Nie konnte Schicksalsmacht solche Waffen in schwache Menschenhand legen. Das Schicksal … Gott, der Lenker aller Dinge?

Sein Werk? Die einzige Erklärung. Da brachten die Zeitungen vom Osten eine neue Wendung.

Reisende, die durch Gebiete gekommen, wo einst die Wiege der Menschheit gestanden, hatten dort mit den Weisen, Alten, den Bewahrern jahrtausendealter Kultur und Wissenschaft gesprochen, bei ihnen Erkenntnis, Lösung des Rätsels gesucht.

Da war die Antwort gekommen.

»Warum sucht ihr nicht bei dem, das euch am nächsten liegen müßte?«

Und wieder ging es durch die Welt wie damals, als die Prophezeiung des Unglücks bekannt wurde, anknüpfte an die mysteriösen Buchstaben J. H. Sein Werk, Menschenwerk? Gab es noch Wesen, die zwischen Gott und den Menschen standen, er müßte es sein. Wo war er? Wer kannte ihn?

Auf ihrer Fahrt durch den Atlantik vernahm Uhlenkort alles, hörte alles.

Wo war der Freund jetzt? Seine Gedanken wanderten zurück bis zu dem Tage, an dem sie sich als Jünglinge zum ersten Mal sahen. Eine Fahrt auf dem Rhein. Hilferufe vom Ufer. Ein Ertrinkender. Er war in den reißenden Strom gesprungen, hatte den Ertrinkenden unter Aufbietung aller Kräfte gerettet. Das Band zwischen ihnen, durch die Tat geknüpft, war fester geworden von Jahr zu Jahr. J. H. war sein Freund seit diesem Tage.

Schicksal, rätselhaftes! Ließ den, der zum Höchsten bestimmt war, in Todesnot geraten, damit er ihn rettete, sein Freund würde. Dieser hatte ihm das, was er getan, tausendfach wieder vergolten. Christie! Dessen Hand hatte sie ihm wiedergegeben.

Er war in Saltadera auf den Strand gesprungen, um ihn zu umarmen, ihm zu danken. Der Freund war fort. Wie ein Schlag hatte ihn die Erkenntnis getroffen. Der Freund war fort. Mit dem Flugzeug entwichen.

Wohin? Zu neuer Tat, zu der das Schicksal ihn rief? Nicht anders konnte es sein!

In der gestrigen Nacht hatte Uhlenkort auf Deck gestanden, das Nachtglas vor den Augen. Hatte nach Westen hinübergeschaut, wo die blaue Welle des Golfstroms sich den Weg nach Norden bahnte. War dann in leichten Schlaf versunken. Die Geschehnisse der letzten Tage und Wochen – zu stark hatte alles an seinen Nerven gezerrt. Der Schlaf, der ihn so lange mied, kam wieder. Leichte, wohlige Träume hatten ihn umfangen. Hamburg … Christie. Da, plötzlich war er aufgewacht. Ein sausender, kühler Luftstrom war über seinen Kopf hinweg gestrichen.

Er war aufgesprungen, hatte sich umgeschaut. Die See war ruhig.

Nur leise kräuselten sich die Wellen des Ozeans vor dem Rumpf des Schiffes.

Da, im Süden hinter ihnen … ein Dunkles … ein Vogel … ein Flieger.

Der Freund, der ihn begrüßte? Jetzt? Schon längst hatte die Sonne den höchsten Stand überschritten. Sein Glas war zum Himmel gerichtet. Er konnte sein Auge nicht losmachen. Ein kleiner dunkler Punkt kreiste in unendlicher Höhe dort oben.

Ein Flieger? Der Freund? Was tat er da? War es neue Tat? Was konnte das sein?

Das Heck des Bootes hob sich plötzlich stark in die Höhe. Das Schiff geriet in wildes Schwanken.

»Hallo!« Tredrups Stimme traf sein Ohr. »Hallo! Sie wollen mit, die warmen Wasser der Drift, Diener des Stromes, des Lebensspenders für die Alte Welt. Du, Uhlenkort, suchst wohl noch immer den Freund da oben?«

Er lachte.

»Sinnestäuschung, Uhlenkort! Meine Augen, schärfer als deine, sehen den dunklen Punkt nicht, der da oben kreist, wie du meinst.«

Uhlenkort schaute ihn an. Was war mit ihm geschehen? Das Geheimnis des Freundes! Kein Sterblicher außer ihm, der J. H. näher gekommen als Tredrup seit jenen Tagen, wo sie in Saltadera gelandet waren. Wie weggewischt alles, was dessen scharfer, kluger Geist gedacht, geahnt … Verstellung? Uhlenkort hatte zuerst gedacht, hatte dann die Meinung geändert. Tredrup verstellte sich nicht. Harmlos, wie ohne Ahnung von alledem, was vorher geschah. Ein Teil seines Gedächtnisses schien ausgelöscht von Schicksals Hand. Nicht anders konnte er sich’s erklären … keinen Wissenden außer ihm selbst gab es.

Tredrup setzte sich zu ihm. Sein Auge, schärfer als das des Liebenden, hatte den Zustand Christies tiefer durchschaut.

»Zuviel, Uhlenkort, für ein junges Mädchen! Hamburg, die Verwandten, das Wiedersehen in der Heimat. Zuviel Freude auf einmal!

Sie muß das Überstandene langsam überwinden. Auch zu große Freude kann schaden. Wir fahren an den Säulen des Herkules vorbei zur Riviera, lassen sie dort oder bleiben bei ihr und kehren dann erst nach Hamburg in die Heimat zurück, wenn sie wieder ist, wie sie war!«

Die weiten Gesellschaftsräume des Kasinos in Monte Carlo erstrahlten in blendender Lichtfülle. Der große Maskenball war glänzender Abschluß der Saison. Von allen Teilen der Riviera traf man sich zum letzten Mal in zwangloser Freiheit, bevor die Gesellschaft sich in alle Winde zerstreute. In einer Loge saßen Christie, Uhlenkort und Tredrup.

Mit blitzendem Auge verfolgte Christie das frohe Leben und Treiben unten im Saal.

»Du hattest recht, Klaus«, wandte sich Uhlenkort an Tredrup. »Dein Vorschlag, an der Riviera Station zu machen, war gut. Christie bedarf mehr der Zerstreuung als der Ruhe. Ihre Erlebnisse in den letzten Wochen waren zuviel für ihr schwaches Frauenherz. Tante Harlessen wird morgen kommen, bei ihr bleiben, bis sie sich erholt, bis sie zurückkommen kann in das Vaterhaus nach Hamburg.«

Er wandte sich wieder zu Christie.

»Ermüdet es dich nicht, Christie, dem bunten Treiben da unten so lange zuzusehen?«

»Nein, Walter, nicht im geringsten. Ich fühle mich so wohl, so wohl wie selten. Immer Neues, immer Interessanteres bietet das frohe Bild da unten. Sieh da! Eine Mexikanerin tritt durch die Tür.«

Sie klatschte leicht in die Hände.

»Wie schön! Wie schön ist das Bild, das so viele Erinnerungen in mir lebendig macht. Dein Glas, Walter!«

Sie sah eine Weile hindurch, gab es ihm zurück.

»Sieh, Walter, das wunderbare Kostüm. Es ist echt bis in die kleinste Einzelheit. Ich verstehe mich nur zu gut darauf, trug ich es doch in meiner Jugend so häufig in Tejada.«

Uhlenkort nickte.

»Bin zwar nicht ganz Sachverständiger, aber abgesehen von dem Kostüm sagt mir die Gestalt seiner Trägerin, daß in dem echten Kostüm eine echte Mexikanerin stecken muß. Was meinst du, Tredrup? Warst doch lange genug da unten. Hab’ ich nicht recht?«

Tredrup gab keine Antwort. Als das Wort »Mexikanerin« von Christies Lippen kam, hatte er das Glas vor die Augen genommen, hinuntergeschaut, sie verfolgt, den Blick nicht zur Seite gewandt, als wäre nur die eine dort unten, die Mexikanerin.

»Ah! Jetzt tanzt sie!« rief Christie dazwischen. »Sieh nur, Walter, wie eine Feder schwebt sie am Arm ihres Partners. Und das feurige Temperament, das aus jeder Bewegung spricht! Du hast recht, sie ist eine Mexikanerin. So kann nur eine tanzen, die in Mexiko geboren ist.«

Beide beugten sich über den Logenrand. Das tanzende Paar hielt an, stand zu ihren Füßen.

»Wer mag sie sein?« fragte Christie. »Ein junges Mädchen, wie es scheint.«

Uhlenkort zuckte die Achseln. »Riviera … Monte Carlo … aus den entlegensten Teilen der Welt trifft hier die Menschheit zusammen …«

Er wollte weitersprechen, da nahm ihm Christie mit hastiger Bewegung das Glas aus der Hand, richtete es auf die Tänzerin, starrte sie an, als könnten sich ihre Augen nicht losreißen. Ihre Rechte fuhr zum Halsausschnitt, riß die kleine Goldmünze, die am dünnen Kettchen hing, aus dem Kleid.

Tredrups Hand mit dem Glas war herabgesunken, er starrte zu Christie hinüber wie einer, der Unheil erwartet. Da unten im Saal trat die Tänzerin von neuem zum Tanz an, drehte sich langsam um den Partner.

»Elf!« schrie Christie. »Elf Hidalgos, die goldene Kette an ihrem Hals!«

Das Glas aus Tredrups Hand fiel polternd zu Boden. Uhlenkort wandte sich nach links und rechts. »Was? Was ist euch? Was ist’s mit elf?«

Tredrup war aufgesprungen und stand mit bebenden Lippen.

»Elf Hidalgos!« rief Christie. »Zwölf waren es! Der zwölfte, hier!«

In höchster Erregung beugte sich Uhlenkort über Christie, ergriff ihre Hände, drückte sie an sein Herz.

»Christie! Was ist dir? Was willst du sagen? Elf Hidalgos?«

Die Logentür fiel hinter Tredrup ins Schloß. Uhlenkort merkte es nicht. Christie war schwer atmend in den Sessel zurückgesunken.

»Laß uns gehen, Christie! Ich weiß nicht, was dich so erregte. Doch wo ist Tredrup? Was habt ihr gesehen? Die Tänzerin? Kennt ihr sie?«

Christie schüttelte den Kopf.

»Ich kenne sie nicht, kenne nur den Schmuck, den sie trägt. Den Schmuck, den der stahl, der meinen Vater ermordete. Elf Hidalgos! Der zwölfte blieb in des Vaters Hand. Als Amulett trug ich ihn seit jenem Tag bis heute.«

Mit müder Bewegung erhob sie sich, legte ihren Arm in den Uhlenkorts. »Laß uns gehen!«

Im selben Augenblick, als sie aus der Loge traten, fiel auch auf der anderen Seite eine Logentür ins Schloß. Eine hoch gewachsene Männergestalt, eine leichte Seidenhalbmaske vor dem Gesicht, trat aus der Loge in den Umgang, ging die Treppe hinab zum Saal. Mit Mühe bahnte er sich einen Weg durch das Gedränge in den Raum, wo die Paare sich bewegten. Sein Auge suchte die Mexikanerin. Da tanzte sie am anderen Ende des Saales eben im Arm eines neuen Partners, eines einfachen Dominos. Er drängte sich in die vordersten Reihen, wo das Paar an ihm vorbeikommen mußte.

Da sah er die Tänzerin zusammenzucken, das Paar stehen bleiben, im Gewühl der Zuschauer verschwinden. Rücksichtslos bahnte er sich ungeachtet der empörten Zurufe links und rechts einen Weg durch die Menge. Das Paar schien verschwunden zu sein. Er stürzte durch eine der Pforten, die in die Nebensäle führten. Da sah er das Paar am anderen Ende im Ausgang verschwinden. Jagend, fast stürzend, eilte er hinter ihm her. Immer wieder sperrten ihm die Massen den Weg. Die Tür zum Park war der letzte Ausgang des Raumes. Er stürzte hinaus. Vor ihm schritt das Paar, der Domino, die Mexikanerin. Mit ein paar Sprüngen war er neben ihnen.

»Juanita!«

Die beiden standen still, wandten sich um. Der Domino riß die Maske vom Gesicht.

»Wer ruft?«

Da erkannte er in der hohen, schlanken Gestalt seinen Feind. Sein furchtbarer Faustschlag traf den anderen ins Gesicht. Der Getroffene taumelte zurück, seine Maske flog hinunter.

Die Mexikanerin schrie laut auf: »Klaus, was tust du?«

Klaus Tredrup stand mit geballten Fäusten wie in Erwartung, daß der andere sich zur Wehr setzte.

»Schuft, du! Guy Rouse, komm her!« Er schüttelte den Frauenarm von sich ab. »Heute gibt’s Abrechnung zwischen uns beiden! Schuft du, Schurke!«

Die hagere Gestalt vor ihm drehte sich leicht zur Seite. Die Hand fuhr zur Tasche.

»Guy!« Juanita wollte sich zwischen die beiden stürzen. »Erst mich!

Dann ihn!«

Da klang die schneidende Stimme Tredrups: »Wo ist der zwölfte Hidalgo, du Mörder?«

Rouse taumelte zurück. Es klirrte etwas am Boden, seine Hand fuhr zum Gesicht. Einen Augenblick stand er, die lange, hagere Gestalt zusammengekrümmt, das Gesicht abgewendet, als sähe er eine Vision.

Dann plötzlich waren sie allein, Tredrup und Juanita.

»Juanita! Er ist fort, geflohen, der Feigling. Du!«

Er riß sie an sich. Sein starker Arm preßte sich um die schlanken Schultern, als wollte er sie zerbrechen.

»Du bist frei von ihm …«

War es ein Wahnsinniger, der Verfolger hinter sich, durch die menschenleeren, dunklen Wege des Parks um das Kasino stürzte? Eine lange, hagere Gestalt im Abendanzug, wie ein gehetztes Wild durch die Anlagen stürmend. Stundenlang ging die sinnlose Flucht. Die Mondscheibe, durch die dunkle Wolkenbank brechend, verscheuchte das Dunkel. Fast taghell war plötzlich der Park. Mit jähem Ruck hielt er an. Stand im breit flutenden Licht des Nachtgestirns, schaute wirr um sich.

Die Brust keuchte unter rasenden Atemstößen. Eine Bank tauchte vor ihm auf. Er sank erschöpft darauf nieder. Seine Hand entnahm der Brusttasche ein Schächtelchen Beruhigungstabletten. Zwei Tabletten höchstens, hatte ihm der Arzt gesagt. Er nahm die doppelte Anzahl. Die Arme griffen nach hinten zu der Rückenlehne, umklammerten sie. Den Kopf weit zurückgebeugt, sog er die kühle Abendluft ein. Seine Züge entspannten sich allmählich, ein fast ruhiger Glanz trat in die Augen.

Die klare Vernunft schien zurückzukehren. Eine leichte Falte bildete sich zwischen den Augen. Er zwang sich zu logischem Denken. Monte Carlo?

Wie kam er hierher? Von Santa Barbara, von Juanita. Zu ihr war er gestern gekommen. Froh hatte sie ihn begrüßt. Kaum noch Spuren der Krankheit. Er hatte sie in die Arme geschlossen, sie an sich gedrückt.

Den letzten Anker. Vergessen wollte er an ihrer Seite alles, was er hinter sich gelassen hatte.

Sie waren spazieren gegangen. Das frohe, lustige Geplauder Juanitas, noch klang’s in seinem Ohr.

»Morgen Abend ist Maskenball im Kasino. Willst du nicht mit mir dorthin gehen?«

Schmeichelnd hatte sie ihn gefragt. Er wollte die Bitte nicht abschlagen. Die erwachte Lebenslust Juanitas, ein günstiges Zeichen schien’s.

Kostümieren! Tanzen! Juanita hatte weiter gebeten, er hatte gern zugestimmt.

Als es Zeit zum Aufbruch war, war er in Juanitas Zimmer getreten. Im mexikanischen Kostüm stand sie vor ihm. Die lachende, frohe Gestalt sich wiegend in den verführerischen Schritten des Fandangos.

Wie ein bunter Schmetterling hatte sie sich, leise die Melodie des Tanzes summend, vor ihm gewiegt.

Seine Augen hatten das Bild verschlungen. In plötzlicher Eingebung war er aufgesprungen und hatte um Juanitas Nacken ein goldenes Halsband geschlungen. Sie war vor den Spiegel getreten, hatte in die Hände geklatscht.

»So bin ich schön! Ein Halsband fehlte mir!«

Sie waren in den Wagen gestiegen, waren zum Kasino hinübergefahren. Von seiner Loge aus hatte er den Tanzenden zugeschaut. Seine Augen konnten sich nicht losreißen von ihrer Gestalt, weideten sich an dem Aufsehen, das die schöne junge Mexikanerin im ganzen Saal erregte. Vergessen war alles, was er an Bord des Flugzeuges dachte. Juanita, du mein einziger, mein bester, mein letzter Besitz. Du an meiner Seite, noch einmal will ich’s wagen, das Spiel um Reichtum und Macht!

Und dann! Seine Gedanken stockten. Was war dann geschehen? Er drückte die Hand vor die Augen, fand nicht den Faden, der weiterführte bis hierher. Wieder ein paar Tabletten! Er hielt das Schächtelchen vor die Augen. Das Wort »Gift« stand darauf.

Er lachte. »Und wenn’s den Tod gilt, ich muß es wissen, was dann geschah!«

Wieder lehnte er sich zurück. Das beruhigende Gift tat seine Wirkung.

Jetzt hatte er wieder den Faden. Ein Domino an Juanitas Seite. Die beiden gingen hinaus in den Park. Er war ihnen gefolgt, hatte sie erreicht.

»Juanita!« hatte sein Mund geschrieen.

Da, er griff sich mit der Hand ans Herz, als könne er das rasende Pochen unterdrücken. Ein Schlag ins Gesicht von dem Mann an Juanitas Seite. Die Hand! Nicht das erste Mal war es, daß sie es wagte, in sein Leben einzugreifen. Die Hand! Er fuhr mit dem Taschentuch über die schweißbedeckte Stirn. Ins Gesicht hatte er ihn geschlagen vor den Augen Juanitas. Und er, er hatte den Schlag hingenommen. Hatte ihn ungesühnt gelassen. Wie war das möglich?

Er ein Schwächling? Ein Feigling? Er, Guy Rouse. Nein! Er war es nicht, war es nie gewesen. Die Pistole hielt er schon in seiner Hand, den anderen niederzuschießen. Da hatte dieser geschrieen:

»Wo ist der zwölfte Hidalgo, du Mörder?«

Die Worte, das tiefste Geheimnis seines Lebens berührten sie. Er war zusammengezuckt, hatte hinübergestarrt. Da, er war zurückgetaumelt, ein anderer stand an dessen Stelle. Ein alter Mann mit dem bleichen Antlitz eines Toten, eine tiefe, blutige Wunde an der Schläfe. Von Entsetzen gepackt, war er davon gestürmt …

Er blickte auf die Uhr. Mitternacht. Stundenlang mußte er im Park umhergeirrt sein. Er stand auf. Die Knie zitterten unter ihm, fast wäre er zurückgetaumelt. Vorbei! Vorbei! Der letzte Anker gerissen. Ziellos, steuerlos trieb sein Schiff auf dem Weg vor ihm. Der Weg, kein anderer als der, den hier schon mancher ging, dem im Spielsaal das Geld geraubt.

Seine Hand fuhr unwillkürlich zur Brieftasche. Sie barg große Summen, gewaltige Werte. Alles, was er an Barem hatte zusammenraffen können. Er zog sie heraus, überflog die Summe.

Mitnehmen auf den Weg? Nein! Er brauchte sie nicht. Zur Henkersmahlzeit sollte sie dienen. Er lachte laut auf. Henkersmahlzeit am Spieltisch.

Gold war die Speise. Hier, wo Millionen rollten, wollte sein Auge sich noch einmal satt sehen an dem gleißenden Glanz des Goldes.

Der Spielsaal von Monte Carlo. Um die großen Roulettetische drängten sich die Spieler. Da war einer, der mit unerhörten Einsätzen pointierte. Das Spiel des Mannes va banque in jedem Zug!

Rouge et noir! Bald türmten sich Banknoten und Goldmünzen vor seinem Platz. Bald war der Turm verschwunden. Der Griff in die Brieftasche. Die Dollarnoten flatterten über den Tisch. Faites votre jeux!

Das Spiel ging weiter. Von den Nebentischen her kamen die Spieler.

Man umringte den einen.

Die Brieftasche war schmäler und schmäler geworden. Der Spieler am Ende! Mit grausamem Behagen warteten alle darauf.

Da! Eine neue Serie. Schlag auf Schlag. Das Glück schien ihm günstig. Die Scheine vor ihm häuften sich wieder zu Bergen.

Va banque! Der Spieler schob den Turm dem Croupier zu. Zählt sie!

»Faites votre jeux!« Der stereotype Ruf. Die Kugel rollte im Roulette.

Jetzt stand sie. Gewonnen! Die Bank gesprengt!

Eine neue Bank. Dasselbe unerhörte Pointieren des Spielers … Die Bank wieder gesprengt … und wieder … wieder, bis der Spielsaal geschlossen werden sollte.

Ah, da standen sie alle, stierten auf den, der die Riesensumme ruhig entgegennahm. Der Glückliche, der König der Spieler.

Seit Menschengedenken war solcher Gewinn eines Spielers gegen die allmächtige Bank in deren Geschichte nicht vorgekommen. Millionen, viele Millionen! Alle Augen hingen an dem Sieger. Milliardär?

Der erhob sich, ein kühles Lächeln auf dem blassen Gesicht, eine leichte Handbewegung wie dankend für den Beifall der Zuschauer. Er stand auf, drehte sich zum Gehen.

Eine Riesengestalt vertrat ihm den Weg, eine Faust klammerte sich an seine Brust.

»Wo ist Juanita?«

Der Schrei gellte durch den Raum. Der Spieler stand wie erstarrt.

Seine Augen bohrten sich in das Gesicht des Gegners.

»Juanita? Was geht sie dich an?« Ein heiseres Lachen begleitete seine Worte. »Such sie bei dem anderen!«

Sein Gegenüber verstand nicht!

»Wo ist Juanita? Gib sie raus, du Schuft! Mein ist sie, der Preis, um den ich alles tat.«

Die Gesellschaft stand stumm, schaute auf die Szene. Ein paar Saaldiener eilten herbei, wollten sich dazwischenwerfen.

Da, ein kurzer Knall! Der Spieler sank um, die lange, hagere Gestalt schlug zu Boden. Die Kugel von James Smith hatte dem Leben von Guy Rouse ein Ende gesetzt.

Presse und Fernsehen der Welt hatten unerschöpflichen Stoff, den die Geschehnisse des einen Sommers lieferten. Der Erdball schien aus seinen Fugen gerissen, seine Bewohner Spielzeug für die geheimnisvolle Macht. Die Macht bestand.

Nur wenige Zweifler gab es in der gelehrten Welt. Nach dem ersten wirren Meinungsaustausch waren die angesehensten Fachgelehrten auf den Plan getreten.

Telenergetische Konzentration! Theoretisch bis zu den letzten Auswirkungen längst erkannt. Die Übertragung in die Praxis war noch immer nicht gelungen, gescheitert am Widerstand der letzten Hindernisse.

Allerorts in den Hörsälen, in der Presse und auf dem Bildschirm gaben sie ihre Meinung kund. Das letzte Geheimnis, von weiser Natur den Menschen für immer verschleiert, dem einen offenbart! In streng logischen Deduktionen bewiesen sie, daß hier durch höhere Fügung einem Menschen gegeben worden war, was aller Fleiß, aller Scharfsinn der Gelehrten der Welt nicht zu erzwingen vermochten. Ihre Worte verbreiteten sich mit der Schnelligkeit der Ätherwellen über alle Weltteile hin. Millionen ergriff die bange Angst. Die Taten der Macht: Menschenleben waren dabei zugrunde gegangen.

Der geheimnisvolle Meister, schritt er zu neuer Tat? Wurden wiederum Tausende sein Opfer? Das ganze Erdenrund sein Feld? Wo würde er zur neuen Tat schreiten! Wo würde das Schlachtfeld sein?

Jeder Erdbebenstoß wurde mit Angst und Sorge empfunden. War das sein Werk?

Die Bilder aus Europa, die eitel Jubel und Freude brachten, wurden kaum noch beachtet. Wohl gab es da und dort Stimmen, daß nur Gutes für die Menschheit aus den Taten der Macht entsprungen. Die Furcht blieb, die Furcht vor der Macht.

Es war der letzte Septembertag des Jahres, als die Nachricht über die Welt ging: Erdbebenstöße auf den Azoren. Die Bewohner flüchteten auf hohe See.

Beklommen, atemlos erwartete man weitere Nachrichten. War das wirklich nur ein einfaches Erdbeben, eine natürliche Bewegung der Erde, durch die unterirdischen Kräfte hervorgebracht, oder …

Da kam um die Mittagsstunde desselben Tages eine weitere Nachricht: Neue Erdbebenbewegungen im Gebiet der Azoren. Die Inseln Floreo und Miguel um acht Meter gehoben. Letzte Flucht. Ozeandampfer wurden durch Funk dorthin dirigiert, um die Fliehenden aufzunehmen.

Ein Schauer ging durch die Welt. Die Macht war am Werk … welchem Werk galt es? Da war es die Stimme eines deutschen Gelehrten, der in den Streit um die Lösung des Rätsels das Wort warf: Atlantis!

Das Wort zündete, wurde gierig aufgegriffen. Nichts anderes wußten die Zeitungen zu berichten als: Atlantis! Die Sage, wie sie Plato berichtet, der erste Hinweis auf das alte, dort versunkene Land der Glückseligen. Ältester Mythos aus grauester Vorzeit. Eine Sage schon, als die Weltgeschichte anhub.

Wie hatte es ausgesehen, das versunkene Land? Wer hatte es bewohnt? Tausend Fragen. Die Antworten: eine phantastischer als die andere, sich überschlagend. Wie würde es aussehen, wenn … wenn? …

Ja! Was wollte da die geheimnisvolle Macht? Wollte sie das Versunkene heben, bis es dastand, wie es einst gewesen war? Und wie würde es aussehen, was dort auftauchte aus vieltausendjähriger Versunkenheit? Ein neues Pompeji … oder nur ein neues Vineta, wo nur noch wenige Reste, dem Schlick des Meeresgrundes entrissen, davon zeugten, daß die Stätte, wo man es vermutete, die richtige war?

Die andere Frage: Wie war es versunken? Wie war es geschehen, daß eine große Insel, ein Kontinent, wie andere behaupteten, die Brücke zwischen der Alten und der Neuen Welt, vom Meer verschlungen wurde? Ein neuer Streit der Meinungen.

Das eine war sicher. Als vor etwa zwei Millionen Jahren die große Kontinentalscholle auseinander riß und die mächtige Sialscholle des losgerissenen Amerikas auf der plastisch zähen Simamasse unter dem steten Flutdruck ihre Wanderung nach Westen antrat, da blieben abgerissene Schollenfetzen, Grönland im Norden, Atlantis im Süden, als selbständige Inseln, Kontinente, zurück.

Grönland war noch heute auf der Wanderung nach Westen. Atlantis blieb verschwunden. Vielleicht bezeichneten die Azoren, die einst ragende Berggipfel von Atlantis waren, jetzt noch die Stätte des versunkenen Landes. Vielleicht gab die Delphinbank seine Umrisse wieder.

Was war die Ursache der Katastrophe, die nach alter Überlieferung vor dreizehntausend Jahren jäh über das glückliche Land hereingebrochen sein mußte? Schroff standen sich die Meinungen gegenüber wie schon vor hundert Jahren.

Die kippende Kraft der hier im tropischen Gebiet übermächtigen Flutwelle war die Ursache der Katastrophe nach der Meinung der einen.

Der plastische Simauntergrund, vom wegtreibenden Amerikakontinent gezerrt, die Atlantisscholle einsaugend in gigantischem Erdbeben, verschlingend, so lautete die Meinung der anderen. Eine dritte Meinung gab es noch, an die Apokalypse in der Bibel anknüpfend, daß ein Mondgestirn der Erde niederstürzend Atlantis begrub oder ein neu eingefangener Mond, die Erdachse aus ihrer Lage drängend, die Katastrophe durch stürzende Meeresfluten bedingte.

Keine Lösung, die befriedigen, die sichere Antwort geben konnte auf das, was jetzt zu erwarten stand. Ein Heer von Reportern kreiste in Flugzeugen über den Azoren … über der Stätte des alten Atlantis. Die Aufnahmekameras sendeten unaufhörlich Bilder von dort unten in alle Welt.

Stieg das Land weiter aus dem Meer? Ein Fiebertaumel hatte die ganze Welt ergriffen. Unaufhörlich kamen Meldungen und Bilder der Berichterstatter von den Azoren. Ihre Flugzeuge kreisten in immer größer werdendem Schwarm über dem Atlantik. Sie hielten sich niedrig, die Kamera so nahe wie möglich auf das Objekt gerichtet.

Sie sahen nicht das einsame Flugzeug, das hoch, weit über ihnen, an des Äthers Grenze, still in Riesenkreisen dahin zog.

Den dritten Tag schon flog oben der rätselhafte Unbekannte.

Das Flugzeug zog, automatisch gesteuert, seine Bahn Tag und Nacht.

Der Einsame saß darin an seinen Apparaten. Keinen Schlaf, keine Speise, kein Trank. Das Werk mußte in einer Tat vollendet sein.

Er ging zum Fernseher, bewegte den Mechanismus. Dessen Strahlen trafen den Meeresgrund, drangen in ihn ein. Unter Schlick und Sand lagen die Ruinen und Reste von Atlantis, der Hauptstadt des Landes, die Ruinen der Paläste und Tempel.

Sein Geist flog rückwärts durch die Jahrtausende. Die Hauptstadt Atlantis. Das Gewirr der Häuser, von unzähligen Straßen durchzogen.

Buntes Leben und Treiben dann. Die geöffneten Basare, Magazine, Lagerhäuser. Alle Waren der Welt boten ihre Auslagen den Käufern, die das Land, die Welt sandten.

Die Menschen aller Rassen, aller Farben. Im Hafen lagen Tausende von Schiffen, die aus Osten und Westen aus Norden und Süden hier gelandet um Handel zu treiben. Vom Osten her nahend eine große Flotte. Die Menge am Hafen sie begrüßend, Tücher schwenkend jubelnd. Die Königin Kleito erwartend, die vom siegreichen Krieg zurückkehrte. Die phönizische Macht gebrochen, ihre Besitzungen in westlichem Europa und Afrika in der Hand von Atlantis.

Die Tore der siebenfachen Mauer um die Stadt durchbrochen, erweitert für den Einzug der siegreichen Königin. Bei Marsilia die große Schlacht. Ungeheure Beute brachten die Schiffe mit. Der Triumphzug der Sieger zum Sonnentempel … zum siebentorigen Haus der Welt. In der Mitte des Zuges die Königin, getragen von den Fürsten der Besiegten.

Die Stadt, das ganze Land ein Jubel, ein Siegestaumel. Der letzte, der schlimmste Aufstand bezwungen. Ost und West zu Füßen des siegreichen Atlantis. Von Norden und von Süden ankommend die Sendlinge der Mächtigen, die freiwillig Tribut boten. Atlantis die Siegerin, die Herrscherin der Welt. Kern Feind, der ihr widerstand. Ein einziges mächtiges Reich von Peru bis Ägypten. Der Sonnentempel, nie sah er so viel Blut zu Ehren der Gottheit fließen wie an diesem Tage.

Im Festesglanz der tausend Fackeln der Palast der Königin. Auf dem goldenen Thron die Herrscherin geschmückt mit Perlen und Edelsteinen. Das kühne, stolze Antlitz hoch aufgereckt, die Augen in der Runde, zu den Helden, die vor ihr knieten. Wer war der Würdigste, von der Königin gekürt zu werden als Gemahl?

Heute die letzte Frist. Die Gottheit, die Priesterschaft wollte es. Und sie wußten es, die Helden zu ihren Füßen der Sieg über den mächtigen, den letzten Feind, ihr Werk!

Jeder sah im Kampf das Ziel, der Würdigste zu sein, gekürt zu werden, Herrscher von Atlantis, Herrscher der Welt. Die Herrscherin stand, starrte. Die Rechte hob leicht den dichten Schleier, der ihr Gesicht bedeckte. Kein Sterblicher, der ihr Antlitz sehen durfte, als der, der würdig war, sie zu besitzen …

Die Helden zu ihren Füßen, sie kannte sie alle, die da knieten, harrten.

»Amiras! Ich sehe dich nicht! Wo bist du?«

Die Häupter vor ihr hatten sich noch tiefer gebeugt. Im Hintergrund wurde der Vorhang zurückgeschlagen. Von Kriegern getragen ein wunder Mann. Das junge, bleiche Gesicht zum Thron gewandt.

»Hier ist Amiras, Königin!«

Die hatte den Schleier heruntergelassen, die Röte zu verbergen.

»Amiras! Mein Gemahl! Die Götter beschützen ihn!«

Und wie wenn Zauberhand die Wunden geschlossen, geheilt … Amiras war aufgesprungen, zu ihr hinaufgeeilt zum Thron, war niedergekniet.

»Königin du! Königin von Atlantis … Königin deines Sklaven!«

Neun Monde waren vergangen, der Erbe geboren. Stadt und Land Atlantis im Jubel. Aufhorchend die Welt … der neue Herrscher geboren.

Im Saal des Palastes König und Königin. Die Abgesandten der Welt zu ihren Füßen. An der Schwelle des Saales drei Männer, fremd an Gesicht, fremd an Gewand. Aus fernem Osten, wo der Sonne Lauf beginnt. Ihre Hand, Gaben bringend, die niemand in Atlantis kannte …

Da … Weltuntergang! Weltwende! Die Meeresfluten, vom Hafen, von allen Seiten herstürzend über Atlantia, die Stadt, über Atlantis, das Land … begrabend alles in wildem Stürmen und Tosen …

… Weltuntergang? … Eine Wiege in goldenem Glanz, schaukelnd im Toben der Elemente …

Ein riesenhafter Vogel, von Osten kommend, sich zu ihr niedersinkend, sie deckend in dunklen Schatten. Stürzende Wellen … verschwunden die Wiege, der Erbe von Atlantis … Inkarnation …

Über das Toben der Elemente hinaus der schwingende Flug eines Adlers … Erbe der versunkenen Welt … der versunkenen Nacht … aufsteigend in steilem Flug der Sonne zu, der Spenderin neuen Lebens, neuer Macht … weiterlebend in neuer Inkarnation.

Er da oben im Flugzeug die letzte Inkarnation … Nirwana … letztes Paradies … Ruhe … die Schultern befreit von der schweren Last.

Zurück zu denen, die ihm die Kraft gegeben. Zu denen, die einst die drei Ringe trugen. Die Macht zurückgegeben dem Schicksal, dem Allmächtigen, bis daß er sie wieder in die Hände Sterblicher lege … in andere. Er frei! Sein Werk vollendet!

Sein Auge ging in die Tiefe. Da lag es, was Schicksals Macht durch seine Hand schuf. Wo seit Menschengedenken die Fluten des Meeres die Kontinente trennten, lag neues Festland. Ein sechster Kontinent, Atlantis, der uralte, war neugeboren, wiedererstanden, die Brücke zwischen Alter und Neuer Welt.

Die taumelnden Schiffe in taumelnder Flut des Atlantiks sah er nicht.

Sah nicht die strudelnden Wogen, die das auftauchende Land nach allen Richtungen im Kreis der Windrose von sich warf, sah nur das vollendete Werk.

Und zwischen dem neuen Atlantis und der Neuen Welt das breite, blaue Wasser des Golfstroms … de Welt, wie sie einst war, als älteste Sage begann …

Das Steuer des Flugzeugs riß der Einsame dort oben aus seiner Lage.

Nach Osten der Kurs, der Sonne zu der Flug. Das Schiff in wirbelnder Fahrt nach Morgen gerichtet … in blauer Ferne verschwindend auf Pankong Tzo hin, das Ziel der Müden.

Der große Saal faßte kaum die Schar der Gäste, die zusammengekommen waren, das Fest der neuen Vereinigung der Häuser Uhlenkort und Harlessen zu feiern. Glückwunschtelegramme aus allen Teilen der Welt. Das europäische Parlament, die europäische Regierung waren vertreten durch ihre bedeutendsten Führer.

Die Gratulationscour war beendet. Die Neuvermählten schritten an der Spitze des Zuges zur Tafel.

»Kein Glückwunsch, Walter, von deinem Freunde?«

Einen Augenblick wich der freudige Glanz aus Uhlenkorts Augen.

Seine Gedanken wanderten dorthin, wo er den Freund wußte.

Und dann, fast gleichzeitig, verhielten sie unwillkürlich den Schritt, blickten sich um, als stünde einer hinter ihnen, der ihnen glückliches Leben, glückliches Gedeihen ihres Geschlechts wünschte, prophezeite.

Ein Schauer durchrieselte sie. Die fremde Stimme, gleichzeitig hatte ihr Ohr sie vernommen, dieselben Worte. Die Worte, die einer dort drüben im alten Kloster zu dem hundertjährigen Greis sprach, der an seiner Seite saß, ihm, dessen Hände zu schwach, das Bild des Festes vors Auge zauberte.

Der sah den Freund, die Geliebte mit ihm vereint, beide im höchsten Glück. Glück! Er hatte es nie gekannt, menschliches Glück … Diener des Schicksals von Geburt an bis jetzt, da die Seele im Begriff stand, die sterbliche Hülle zu verlassen, dorthin zu wandern, wo ewige Ruhe war.

Die bleichen, schmalen Hände legten sich über der Brust zusammen.

Die drei Ringe am Finger … verschwunden, genommen das Symbol der Macht, jetzt, da das Werk getan.

Weiter ging das frohe Hochzeitsfest in Hamburg. Das Fest der beiden alten Handelshäuser, das Fest gleichzeitig des wiedererstehenden Hamburg.

Ein neues Jahrtausend seiner Geschichte, neuer Blüte. Die letzte Völkerwanderung, die seine Mauern gesehen, war kaum verebbt. Eine neue angebrochen.

Atlantis hieß das Ziel derer, denen der heimische Boden zu eng, zu fremd geworden war.

Atlantis! Der Schrei ging durch die ganze Welt. Neues Land! Neues Leben! Hin zu ihm! Kaum konnten die Schiffe die Massen fassen, die herandrängten zu dem Land, das der Menschheit neu geboren. Neuland für Millionen. Neue Stätten für die Menschheit!

Wer als erster kam, war ihr Besitzer. Herrenloses Land, das da lag, keiner Weltmacht untertänig. Frei … Beute der ersten, die da kamen, die Hand darauf legten, die Flagge hißten.

Die Parlamente der Welt … noch schüttelten sie die weisen Köpfe beratend. Der Hamburger Kaufmann faßte die Gelegenheit beim Schopf.

Das Haus Uhlenkort. Mit einem Sprung in der Organisation Europas für die flutenden Massen. Die Organisation … in der Hand der Staaten ein schwerfälliges Ding … in seiner Hand ein Werkzeug höchster Leistung.

Noch ehe die Welt sich besonnen, waren sie da, die Wikingerschiffe aus dem Norden, sprang die Mannschaft an den Strand des neuen Landes, ergriff Besitz davon. Kein Boden mehr für andere, wo Warägerfuß getreten.

Die Schiffe des Kaisers Augustus Salvator kamen zu spät. Der sechste Erdteil war in weißer Hand, fest in weißer Hand. Neu-Hamburg nannte man die Stätte, wo das Schiff Klaus Tredrups landete, das alte Atlantia unter seinen Füßen. Er war vom hohen Bord des Schiffes an Land gesprungen, hatte, sich nieder neigend, die Hand aufs neue Land gelegt.

»Neu-Hamburg sollst du heißen! Eine Stätte für alle, die in der Alten Welt vergeblich neuen Boden suchen.«

Aus den Quadern der Paläste, die die wogenden Fluten aus dem Schlick spülten, errichtete er sein Haus. Der alte Hafen des versunkenen Königssitzes war wiedererstanden zu seinen Füßen. Schiffe, von allen Teilen der Welt kommend, legten an. Neues Land, neues Leben!

Wann würde sie kommen, die er erweckt hatte zu neuem Leben, jetzt frei von der Hand des Feindes … Juanita, die Neugeborene? Frei von der Kette, vergessen die dunkle Zeit? Ein freier Mensch an seiner Seite?

Juanita war in Hamburg, stand an der Wiege des jüngsten Uhlenkort.

Ihr Blick ging über den schiffberstenden Hafen, ihr Blick ging zu dem neuen Land.

Die Kette war von ihr abgefallen. Ein neuer Mensch, den es drängte zu neuem Leben, zu neuer Liebe … zu ihm. Vom alten Land zum neuen Atlantis!

Gesammelte Werke: Science-Fiction-Romane + Abenteuerromane + Erzählungen

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