Читать книгу Gesammelte Werke: Science-Fiction-Romane + Abenteuerromane + Erzählungen - Dominik Hans - Страница 13

Der Brand der Cheopspyramide

Оглавление

Inhaltsverzeichnis

Von der großen Uhr her drei helle Schläge. Ein Viertel vor elf… die Londoner Börse eröffnet. Die Makler für Kohlenwerte und Kraftwerkshares traten auf ihren gewohnten Plätzen zusammen, fingen an, ihre Orders zu vergleichen und die ersten Kurse festzusetzen.

Nichts Besonderes. Der Markt versprach nicht anders zu werden wie an den vorangegangenen Tagen.

Plötzlich an einer Stelle ein Makler, große Verkaufsaufträge in Kohlen- und Kraftwerten… unmittelbar danach an einer anderen Stelle ein zweiter… dem folgend ein dritter. Und dann mit einem Schlage bei allen Maklern ein riesenhaftes Angebot in diesen Papieren. Eine ungeheure Aufregung im Raum. Tausend Stimmen durcheinander… Ein Börsenmanöver? Baisse!… Ein Coup von nie dagewesenen Ausmaßen?! Baisse? Auf den ersten Blick schien es so… Hausse? Vielleicht die im Hintergrunde? Von wem ging das Manöver aus?…

Rätsel. Alle möglichen Vermutungen wurden laut, keiner, der etwas Bestimmtes zu wissen schien.

Die Kurse der Kraft- und Kohlenwerte fingen an zu sinken… Sanken immer mehr, je stärker die weiteren Verkaufsorders drückten. Die Makler standen in dem Gedränge der Börsenbesucher wie in einem Strudel. Anderthalb Millionen Shares waren schon umgesetzt, die Kurse teils bis zu 40 Prozent gewichen.

Da plötzlich begann bei einem Makler… dann bei einem zweiten… bei einem dritten der Kursstand sich zu halten, zu heben. Im Nu war es in den weiten Börsensälen bekannt.

»Eine Hausse! Nichts anderes steckt dahinter!« Einer hatte es geschrien.

Die Kurse stiegen, stiegen immer weiter. Telegramme jetzt von den anderen Börsenplätzen, von Berlin, Paris, Petersburg. Überall die gleichen Erscheinungen.

Jetzt wurden den Maklern die Verkaufsorders fast aus den Händen gerissen. Sensation! Der alte Kursstand wieder erreicht. Ein Taumel hatte die Börsenbesucher ergriffen. Höher, immer höher gingen die Kurse.

1 Uhr 43 Minuten: »Elias Montgomery gestorben!…« Ein Schrei aus dem Telegrafenzimmer.

Sekundenlange Stille… Die Stille vor dem Sturm. Dann brach das Unwetter los. Wie auf ein gegebenes Zeichen stürmte alles auf die Makler zu. Verkaufen!… Verkaufen!

Eingekeilt in die sich wütend drängenden Massen die Makler… unfähig, sich zu rühren, die Orders entgegenzunehmen. Der weite Raum ein Anblick, als ob diese Tausende plötzlich in Tobsucht verfallen seien. Man schrie auf die Makler ein, zerrte, stieß sie. Jeder wollte der erste sein, der seine Orders an den Mann brachte. Heiser, mit verzweifeltem Angstgeheul brüllte alles durcheinander. Die Hintenstehenden, die nicht zu den Maklern durchdringen konnten, schwangen in wahnsinniger Wut ihre Verkaufszettel in der Luft… eine Katastrophe, wie sie die Londoner Börse seit ihrem Bestehen noch nicht erlebt…

Wieder drei Schläge der großen Uhr. Börsenschluß. Das Schreien und Toben war schwächer geworden. Nur hier und da noch ein Angebot. Fluchtartig hatten die meisten die Börse verlassen. Kaum einer, der nicht Tausende oder alles verloren hatte.

Elias Montgomery gestorben! In den Straßen aller Hauptstädte der Welt schrien die Verkäufer die Extrablätter aus, brüllten die Lautsprecher von den Dächern der Zeitungspaläste und Hotels die Worte wieder und immer wieder in die Ohren der Passantenmassen. Überall bildeten sich Gruppen, die in lebhaftester Unterhaltung das Ereignis besprachen.

Elias Montgomery gestorben! Von Mund zu Mund gingen die drei Worte. Der Name… kaum ein Bewohner der zivilisierten Welt, der ihn nicht kannte. Schon bei seinen Lebzeiten ein Sagenkreis um ihn. Elias Montgomery, der große Erfinder, dem es gelungen, das Problem der Atomenergie zu lösen.

Die Atomenergie, jene riesenhafte, über alle Vorstellungen gewaltige Energiequelle… schon seit Jahrzehnten das höchste Ziel der Erfinder in allen Kulturstaaten der Welt. Elias Montgomery hatte das Problem gelöst, mußte es gelöst haben. Schon seit Jahren waren die Beweise dafür unbestreitbar. Freilich, er selbst hatte niemals das Geringste über seine Erfindung veröffentlicht oder auch nur im Gespräch mit anderen offenbart. Erst als Vorkommnisse geheimnisvollster Art sich häuften, deren Erklärung jeder menschlichen Erkenntnis spotteten, als sich Erscheinungen wiederholten, die nur mit der Atomenergie zu erklären waren, gewann der Verdacht feste Gestalt, daß die Lösung dieser Rätsel in Montgomery-Hall, jenem alten, noch aus der Stuartzeit stammenden Schloß im schottischen Hochmoor, zu suchen sei.

Doch Elias Montgomery blieb mit seiner Erfindung im Dunklen.

Er wünschte weder Störungen noch Besuche. Er umgab sein Haus mit einem System raffiniertester und wirkungsvollster Sicherungen. Elektrische Wechselspannungen zwischen scheinbar harmlosen Pfosten und Bäumen, die auf jeden, der die Lücke passierte, einen tödlichen Blitz warfen. Später noch, als überzudringliche Besucher sich nicht scheuten, von oben her einzudringen… sich aus stillstehenden Hubschraubern in die Höfe des Schlosses niederzulassen versuchten, auch in der Höhe ein hochgeladenes Netz, das tötende Funken auf jedes Fahrzeug warf.

Ein vollkommenes Sicherungssystem, durch welches das Geheimnis unbedingt gewahrt wurde. Und nun war es doch einem gelungen, gegen den Willen des Erfinders einzudringen. Der Knochenmann war gekommen und hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt. Hatte ihn mitten aus der Arbeit an dem kleinen Apparat hinweggerissen, der das Geheimnis barg.

Als sicher galt es, daß er das Geheimnis bis zu seinem letzten Atemzuge für sich bewahrt hatte. Mitten in seiner Arbeit war er verschieden, ganz plötzlich, vom Herzschlag dahingerafft. Am Arbeitstisch, die Hände noch an dem Wunderapparat, hatte man den Toten gefunden. Sonst, man traute es ihm wohl zu, hätte er vielleicht beim Herannahen des Todes noch im letzten Augenblick den Apparat, mit dem er die Wunder vollbrachte, zerstört… die Erfindung mit ins Grab genommen.

Jetzt!… Der Meister tot… Sein Werk unversehrt da… Der Augenblick gekommen, es in den Dienst der Welt zu stellen… die Periode des Kohlenzeitalters vorüber! Alle Energiequellen, die die Menschheit bisher kannte, jämmerlich klein, verschwindend gegen die neue Energiequelle, die der Zertrümmerung der Atome entsprang. Die Reaktion an allen Börsen der Welt gab den anschaulichsten Beweis dafür. Alle Kohlenwerte… die Aktien aller Kraftwerke so gut wie wertlos.

Wieder war es wie damals, als die ersten Gerüchte von Montgomerys Entdeckung in die Welt drangen, als die Politiker und Volkswirtschaftler die Köpfe zusammensteckten… berieten, wie dem Chaos zu begegnen sei, das bei der Umstellung auf die neue Energie entstehen mußte.

Wirtschaftskrisen schwerster Art, Krisen, wie sie die Menschheit bisher kaum je erlebt, waren zu erwarten. Und… bedeutete die Erfindung nicht auch gleichzeitig eine fürchterliche Waffe, die in gewissenloser Hand schrecklichstes Unheil über die Menschheit bringen konnte?

Damals schon, gleich nach dem ersten Bekanntwerden von Montgomerys Entdeckung, waren in den Parlamenten Stimmen lautgeworden, die den Erfinder unter staatliche Aufsicht stellen wollten. Schien doch das Problem, die Erfindung anzuwenden, noch viel schwieriger als das, die Erfindung zu machen.

Jetzt, beim Tode des Erfinders, tauchten alle diese Fragen und Ideen wieder von neuem auf. Und von Tag zu Tag spannte sich die Erwartung. Von Tag zu Tag hoffte man auf die Nachricht aus Montgomery-Hall:

»Die Kräfte des geheimnisvollen Apparates sind erkannt, es ist gelungen, ihn in Tätigkeit zu setzen.« Doch die Tage verrannen, und keiner brachte die Nachricht.

Wohl hörte man, daß es gelungen sei, das Sicherungssystem auszuschalten, in das Gebäude einzudringen und die Arbeitsstätte des Verstorbenen zu versiegeln. Wohl hörte man, daß eine Kommission der hervorragendsten englischen Physiker mit der Hinterlassenschaft des Erfinders beschäftigt sei. Aber die Nachricht, die man mit steigender Ungeduld erwartete, blieb aus.

Es war ein Paradoxon stärkster Art. Da stand der Apparat, und keiner Hand war es gegeben, ihn zu bedienen. Es schien der letzte Trumpf dieses ironischen Spötters und Menschenverächters zu sein, daß er der Welt sein Werk unversehrt hinterließ, und daß es doch ebenso war, als hätte er es vor seinem Tode vernichtet.

Die Presse wurde mit Zuschriften überschüttet, sollte Erklärungen darüber geben, wie das möglich sei. Sie wußte nichts anderes, als ihre Leser zur Geduld zu mahnen.

Und je weiter die Zeit vorschritt, desto geringer wurde die Hoffnung, desto mehr zerrannen die Träume, die sich an das große Problem der Atomenergie knüpften. Eine neue Welt sollte sie bringen… ein Paradies auf Erden, den Beginn eines neuen Zeitalters. Das Ende der Kohlenzeit… neues Leben, neue Lebensmöglichkeiten, den Beginn einer neuen Wirtschaft. Möglichkeiten, die das Auge blendeten, Möglichkeiten, die die kühnste Fantasie übertrafen, bot ja der Besitz dieser Energie. Doch wenn nicht ein Wunder geschah, war die Erfindung Montgomerys der Menschheit verloren.

Unbegreiflich, unverständlich… unsinnig nannten die einen die Handlungsweise des toten Erfinders. Wie konnte er das einmal Erreichte, das durch Glück und Geschick Gefundene wieder in Vergessenheit geraten und der Menschheit verlorengehen lassen?

Er erschrak vor den Folgen seines Werkes, sagten die anderen. Alle Kohlengräber der Welt brotlos! Alle Kohlenzechen, alle Kraftwerke der Welt wertlos. Vielleicht durch die mit der Atomenergie so eng verbundene Umwandlung der Metalle eine allgemeine Goldinflation schlimmster Art?

Fragen und Möglichkeiten, die auch die Optimisten nachdenklich stimmen konnten. Man entsann sich der prophetischen Worte, die Lord Ramsay vor beinahe 100 Jahren gesprochen hatte: Hoffentlich ist die Menschheit weise genug, wenn ihr diese Erfindung einmal gelingt. Man begann die Gründe zu begreifen, wenigstens zu ahnen, die Elias Montgomery zur Geheimhaltung seiner Entdeckung veranlaßt hatten.

Aber der Apparat war einmal da. Man wußte, daß er gearbeitet hatte, und unablässig versuchte man es, ihn in Betrieb zu bringen. Einmalmußte es gelingen. Über den Gebrauch der Erfindung ließ sich immer noch reden, wenn man sie erst wieder hatte.

Am Osterley-Park in London die geschmackvolle Cottage der Jolanthe von Karsküll. Die Teestunde ging ihrem Ende zu, und schon begannen hier und da Teilnehmer der Gesellschaft sich zum Aufbruch zu rüsten. Hier wie überall in ganz London der Zauberkasten Elias Montgomerys Hauptgegenstand des Gespräches.

Ein Bedienter schob die Portiere zurück:

Sir Arthur Permbroke!

Jolanthe von Karsküll erhob sich und ging am Arm der Lady Permbroke dem Eintretenden entgegen, empfing und erwiderte freundschaftlich seine Begrüßung, blickte ihn fragend an, während er seine Gemahlin begrüßte.

»Meine Damen, ich will Sie nicht länger in Ungewißheit lassen. Ich kann Ihnen die angenehme Nachricht bringen, daß es mir gelungen ist, auch für Sie die Erlaubnis zum Besuch von Montgomery-Hall zu erlangen.«

Ein Aufleuchten der Befriedigung lief über die Züge der Baronesse.

»Oh, Sie haben die Erlaubnis, Sir Arthur? Meinen herzlichsten Dank.«

»Ich habe Sie. Es war nicht einfach, sie zu bekommen. Jetzt habe ich sie. Aber sehen Sie, mit welchen Formalitäten.« Er zog ein amtliches siegelgeschmücktes Schreiben aus der Tasche und las mit halblauter Stimme: »Jolanthe von Karsküll, 28 Jahre alt, Tochter des verstorbenen Obersten Alexander Baron von Karsküll und seiner Ehefrau Sinaide, zur Zeit wohnhaft in London, Osterley-Park 12, erhält hiermit die Erlaubnis, Montgomery-Hall in Begleitung von Sir Arthur Permbroke am 15. Juni zu besuchen.

Sie sehen, wie formal man hier vorgeht. Selbst Damen gelten als verdächtig, dürfen den Zauberkasten nur unter Wahrung aller Vorsichtsmaßregeln besichtigen. Auch der Umstand, daß ich die Ehre habe, Sie schon von Moskau her seit meiner Tätigkeit bei der dortigen Botschaft genau zu kennen, wäre allein noch nicht hinreichend für die Erteilung der Erlaubnis gewesen. Mußte ich doch auch für meine Gattin einen solchen Passierschein ausstellen lassen.«

Wiederum griff Lord Permbroke in die Tasche, und Jolanthe von Karsküll überflog ein zweites, dem ihrigen ganz ähnliches Dokument: Lady Ellen Permbroke, Gemahlin des Lord Arthur Permbroke, right honorable usw.

»Ich sehe, Sir Arthur, es ist nicht einfach gewesen, die Erlaubnis zu erhalten. Desto mehr freue ich mich auf diesen Besuch. Außerordentlich gespannt bin ich auf den Erfolg, den Professor Syndham mit seinen neuen Arbeiten haben wird. Ich hörte, daß der Professor schon wieder seit acht Tagen in Montgomery-Hall sitzt. Er soll sich recht hoffnungsvoll ausgesprochen haben. Ich bin geneigt, diese Hoffnung zu teilen. Ist er doch einer unserer fähigsten Gelehrten.«

Lord Permbroke schüttelte den Kopf.

»Ich muß Sie leider enttäuschen. Nach den letzten vertraulichen Nachrichten scheint auch Professor Syndham mit seiner Kunst am Ende zu sein. Es ist schon so weit gekommen, daß man alle diese Versuche geheimhält, um die Öffentlichkeit nicht noch mehr aufzuregen und zu enttäuschen. Mißerfolge, Mißerfolge und immer wieder Mißerfolge… eine einzige lange Reihe von Mißerfolgen sind alle diese Versuche unserer klügsten Köpfe, das Rätsel von Montgomery-Hall zu lösen.«

»Aber wie ist das möglich, Sir Arthur, daß es keinem gelingen will, das Erbe Montgomerys…?«

»Wie es möglich ist… ich weiß es nicht. Fast möchte ich mich der Ansicht einiger Gelehrten zuneigen, die behaupten, dieser hinterlassene Apparat wäre überhaupt nicht der, mit dem Montgomery die erstaunlichen Wirkungen erzielt hat.«

Ein Schatten flog über die Züge der Baronin.

»Sollte das wirklich möglich sein, Sir Arthur?«

Lord Permbroke zuckte die Achseln. »Noch kann ich mich der Ansicht nicht anschließen, daß Elias Montgomery doch noch Zeit fand, seine Erfindung vor seinem Tode zu vernichten, und uns nur einen Vexierapparat zurückließ. Aber schließlich, unsere englischen Physiker haben stets einen guten Ruf in der Welt gehabt. Ich finde keine Erklärung dafür, wenn sie jetzt den Apparat nicht in Betrieb zu setzen vermögen, mit dem schon so lange erfolgreich gearbeitet wurde.«

»Sir Arthur! Das wäre aber doch…«

»Es wäre ein schwerer Schlag für Großbritannien, Baronin. Nach meiner Meinung bleibt uns nur noch die ultima ratio, andere europäische Gelehrte zur Lösung des Rätsels heranzuziehen. Ich denke in erster Linie an die Physiker der Riggers-Werke, die seit Jahren auf dem gleichen Gebiete arbeiten. Wäre es auch nur zu dem Zweck, um festzustellen, ob wir den wirklichen Apparat Montgomerys vor uns haben oder nur ein Vexierstück, das dieser… dieser Sonderling uns hinterlassen hat.«

»Ich kann mir denken, Sir Arthur, daß unsere Regierung sich zu einem solchen Schritt nur sehr ungern entschließen würde. Bedeutet er doch zum mindesten für unsere Physiker das Eingeständnis einer Schlappe. Ganz abgesehen von anderen Gründen, die gegen einen solchen Weg sprächen.«

Lady Permbroke, die der Unterredung bisher schweigend gefolgt war, mischte sich jetzt ins Gespräch.

»Und ich kann nicht einsehen, weshalb man diesen Weg nicht schon längst beschriften hat. Bei der ungeheuren Wichtigkeit, die der Besitz der Erfindung für Europa, ich betone: nicht nur für ganz Europa, sondern für die ganze Welt hat, dürfte es doch ganz einerlei sein, wer das Geheimnis löst.

Aber da haben wir wieder einmal das jämmerliche Schauspiel der europäischen Uneinigkeit, der Eifersüchteleien kleinlicher Köpfe. Der Gedanke, daß es sich heut bei den politischen Weltkonstellationen nicht mehr um England oder Deutschland oder irgendeinen anderen Teil des europäischen Staatenbundes dreht, sondern nur noch um Europa auf der einen, die anderen Weltteile auf der anderen Seite… der Gedanke ist leider immer noch so vielen fremd geblieben. Selbst die Besetzung Spaniens bis zu den Pyrenäen durch das mauretanische Reich hat es nicht vermocht, die europäischen Staatsmänner zu europäischem Denken zu erziehen.«

Lord Permbroke lächelte, aber es war ein bitteres Lächeln.

»Du bist wieder bei deinem beliebten Thema, Ellen. Aber so recht du auch hast, eher wird die Themse aufwärts fließen, ehe die Mitglieder des europäischen Staatenbundes europäisch denken lernen, ehe sie ihre Interessen auf das eine gemeinsame Interesse der Erhaltung und Festigung Europas vereinigen.«

Die Worte Lord Permbrokes waren nicht geeignet, den Eifer der Lady zu dämpfen. Noch lebhafter fuhr sie fort:

»Es ist ein Jammer, Arthur. Hier das uneinige, in sich zerrissene Europa und dort als unmittelbare Nachbarn in Afrika und Asien die drei mächtigen islamitischen Reiche. Mit welcher Freude hat man seinerzeit die ersten Schritte zur Einigung Europas begrüßt! Welche Hoffnungen setzte man auf die Gründung des europäischen Zollverbandes, der alle Industrien Europas zu einem einzigen mächtigen Block verschmelzen sollte! Was erwartete man alles von einem europäischen Staatenbund!

Und jetzt…? Seit fünf Jahren ist Spanien in maurischer Hand. Seit beinahe fünf Jahren sitzen die Diplomaten Europas und Mauretaniens in Rom zusammen. Sitzen und verhandeln… doch nur, um eine Phrase, eine Formel zu finden, die den bestehenden Zustand sanktioniert, ohne der Ehre Europas allzuviel zu vergeben.

Das Schicksal bot uns eine Chance. Die Erfindung Montgomerys umfaßt auch die Mittel, Spanien von mauretanischem Joch zu erlösen. Anstatt alle Kräfte Europas heranzuziehen, anstatt mit allen nur erdenklichen Mitteln das Geheimnis des Toten schnellstens zu lösen, verschließen wir seinen Apparat hinter Panzermauern. Wachen eifersüchtig darüber, daß nur ja niemand ihn sieht, der ihn vielleicht in Betrieb setzen könnte…

Und darüber verstreichen Wochen und Monate… und die Welt lacht über das schwache Europa.«

Jolanthe von Karsküll war den temperamentvollen Ausführungen der Freundin schweigend gefolgt. Nur ein leichtes Nicken des blonden Hauptes drückte bisweilen ihre Zustimmung aus. Jetzt sprach sie.

»Sie haben recht, Lady Ellen. Nur allzu recht. Europa, das alte morsche Europa spielt dem afrikanischen Kalifenreich gegenüber keine gute Rolle. Bisweilen überkommen mich Zweifel an seiner Zukunft. Dann muß ich mich fragen, ob seine Rolle als führender Weltteil nach einer dreitausendjährigen Geschichte nicht vielleicht ihrem Ende entgegengeht, ob nicht andere, jüngere, kräftigere Reiche an seine Stelle treten sollen.«

Lady Ellen fuhr auf.

»Nein, Jolanthe, nein und nochmals nein. Noch liegt die Führung der Welt bei den Europäern. Als eine Gabe des Schicksals betrachte ich diese Erfindung des Toten. Aber wehe uns, wenn wir die Gabe nicht zu nutzen wissen.«

Lord Permbroke näherte sich seiner Gattin.

»Es wird spät, Ellen. Wir müssen gehen. Diese Fragen, die dich… die uns alle bewegen, werden wir heute abend nicht mehr beantworten können.«

Er wandte sich an Jolanthe. »Gnädigste, wir treffen uns am kommenden Mittwoch morgen auf dem Flugplatz in Wembley.«

Die letzten der Gesellschaft waren gegangen. Jolanthe von Karsküll stand am Fenster und beobachtete die Abfahrt ihrer Gäste. Sie sah den Kraftwagen mit Lord und Lady Permbroke fortfahren. Ihre Blicke folgten, bis das Gefährt entschwand. Dann trat sie in den Raum zurück. Ein tiefer Atemzug… wie eine Befreiung.

»Der erste Schritt!«

Ein rasender Nordoststurm jagte über die niedersächsische Heide, riß an den Zweigen der Bäume und rüttelte an den Mauern und Dächern der zerstreuten Gehöfte. In tiefem Dunkel das alte Heidedorf, nur in dem einsamen Haus dort neben dem Erlenkamp noch Licht. Weithin fiel sein warmer Schein durch die klappernden Läden in die Dunkelheit.

Ein Wanderer, der dem Dorfe zuschritt, warf einen scheuen Blick dorthin, schien froh, als er daran vorbei war. In Verruf war das Haus gekommen, seit der darin hauste. Ein blühender Hof einst, der Ellernhof, ein reiches Anwesen mit weiten Feldern und Wiesen. Bis auf die Frankenzeit führten die Eisenecker vom Ellernhof ihren Ursprung zurück. Als Meier des Großen Karl sollten sie einst hierher in die Heide gekommen sein. Viele Jahrhunderte hindurch hatte das Geschlecht auf dem Ellernhof geblüht, hatte Kriegsstürme und schlimme Zeiten glücklich überstanden.

Doch als der vorletzte Besitzer starb, weilte sein Sohn in der Ferne, in Ländern, die man hier in der Heide kaum dem Namen nach kannte. Fremde Hände verwalteten den Hof… verwalteten ihn schlecht, bis eines Tages der Sohn zurückkam. Aber auch dann wurde es nicht besser. Der Letzte aus dem Geschlechte der Eisenecker war kein Heidebauer mehr. Ein geheimnisvolles… unheimliches Werk schien der da zu betreiben. Ein Werk, bei dem der Ellernhof zugrundeging. Einen Acker nach dem anderen, eine Wiese nach der anderen verkaufte er, bis ihm schließlich nur noch der Hof blieb. Leer die Ställe, verrottet das Inventar, verfallen das Haus. Unheimlich das Ganze. Jahre waren darüber verstrichen.

An einem mit Retorten bedeckten Tisch saß in dem einzigen erleuchteten Raum ein Mann. Die hohe Gestalt weit vorgebeugt über einen rohgearbeiteten hölzernen Kasten, zu dem zahlreiche Drähte führten. Ein ungepflegter Bart wucherte um das Kinn des Einsamen. Seit vielen Monaten schien keine Schere an sein Haupthaar gekommen zu sein. Mit zitternden Händen löste er die Schrauben des Deckelverschlusses. Weit geöffnet strahlten seine Augen in übernatürlichem Glanz, starrten auf den Kasten, harrten, was der geöffnete Kasten enthüllen würde. Jetzt schoben seine Finger den Deckel zurück. Frei lag der Inhalt vor seinen Blicken, und ein Schrei entfuhr seinen Lippen. Die hagere, hohe Gestalt taumelte empor, wankte zurück.

»Gold! Gold!« Er schrie es. Noch einmal mit einem Sprung war er wieder am Tisch, griff nach dem gleißenden Stück, hob es empor und sah, wie die Strahlen der Lampe sich darin in gelbem Schimmer brachen und spiegelten. Und dann, als ob die Last des Goldes ihn erdrückte, stürzte er zusammen, den schimmernden Klumpen krampfhaft an die Brust gepreßt.

So lag er, bis das Licht der Morgensonne in den Raum drang, bis die Sonnenstrahlen, glänzend und schimmernd von dem Metall zurückgeworfen, ihn zwangen, die Augen zu öffnen. Schwerfällig richtete er sich empor. Sah den Metallklumpen. Wollte ihn mit einer gleichgültigen Fußbewegung zur Seite stoßen. Der rückte nicht. Er beugte sich, hob den schweren Brocken auf und warf ihn in eine Ecke zu allerhand zerbrochenem Gerät und Gerümpel. Schritt dann zum Arbeitstisch. Seine Hände umfaßten den schmucklosen Kasten, hoben ihn hoch, drückten ihn an sich mit einer Inbrunst, die unbegreiflich.

Wiegend, als hätte er das köstlichste Kleinod im Arm, trug er ihn durch den Raum.

Triumph jeder Schritt, jeder Blick, jede Geste!

So ging er in den Nebenraum. Hier standen noch die Speisen vom gestrigen Abend. Heißhungrig stürzte er sich darauf. Erst jetzt kam es ihm zum Bewußtsein, daß er seit vielen Stunden keinen Bissen genossen hatte. Gierig aß er das schlecht zubereitete Mahl. Dann sprang er auf. Vor einem gesprungenen, erblindeten Spiegel betrachtete er sich selbst. Schäbig… verwildert… abgemagert!

Er lachte auf: »Ohne Kunst aufs beste verkleidet!«

Aus einem Album zog er eine Fotografie, hielt sie gegen das Licht, betrachtete die Züge, die sie darstellte.

Wie alt war das Bild?… Vier Jahre… wie hatten die vier Jahre ihn verändert… vier Jahre, in denen er Tag und Nacht nur auf ein einziges Ziel hingearbeitet.

Gold?… Das Gold dort in der Ecke?…

Nein! Einem höheren… einem unendlich viel höheren Ziel strebte er nach. Einem Ziele, welches das Gold wertlos machen, der Menschheit anderen, viel reicheren Segen bringen mußte. Einem Ziele, das ihm wie eine reife Frucht in den Schoß fallen mußte, nachdem das Gold nun da war.

Ein Zeitungsblatt lag neben der kärglichen Mahlzeit auf dem rohen Eichentisch. Der Anzeiger der nächsten Kreisstadt.

Seine Augen überflogen die Zeilen. Nachrichten aus London… Elias Montgomery gestorben. Alle Versuche der englischen Gelehrten, den hinterlassenen Apparat in Betrieb zu setzen, bisher ergebnislos… wahrscheinlich für immer hoffnungslos.

Seine Augen hingen an den Worten. Immer wieder überflog er die wenigen Zeilen. Dann lachte er laut.

War’s möglich? Montgomerys Erbe, keiner, der es zu heben vermag! Er drehte das Blatt um, sah nach dem Datum. Es war schon über eine Woche alt.

Die Welt! Europa! Was hatten die dazu gesagt… die Riggers-Werke… Harder, der Generaldirektor der Werke. Er?…

In heftiger Erregung durchmaß er das Zimmer.

Montgomery! Elias Montgomery! Der Mann, der das Problem der Atomenergie gelöst. Der die Energie beherrschte… und sie der Welt verbarg… vorenthielt.

Weil der nicht die Kraft besaß, die Aufgabe zu lösen… die schwerere… die größere, das Errungene der Welt zu geben, ohne die Wirtschaft aus den Fugen zu reißen… Statt des Paradieses ein Chaos zu stiften.

Das allein der Grund. Deshalb Elias Montgomery der Sonderling! Er verstand ihn wohl. Er…! Seine Blicke gingen zu der kleinen hölzernen Truhe. Er schritt darauf zu. Verschränkte die Arme, starrte lange darauf. Segen und Fluch…

Die Arme fielen nieder. Der Körper sank in sich zusammen, die Schultern krümmten sich.

Segen allein? Last ungeheure! Der trug sie nicht!… Ich?… Beim Klang der Worte ging es wie ein Ruck durch die Gestalt. Der Körper reckte sich… den Kopf zurückgeworfen, das Auge wie in weite Fernen gerichtet, die Lippen zusammengepreßt, Energie, Kraft in jedem Muskel…

»Ich will’s versuchen!«

Die alte Wirtschafterin trat ein. Hielt ihm ein amtliches Schriftstück hin. Er las… und lachte… lachte aus vollem Halse.

Da stand geschrieben, daß der Ellernhof am nächsten Mittwoch zur Versteigerung kommen würde.

Er schrie das alte, halb taube Weib an: »Ich muß verreisen!«… Bedeutete ihr, einen Koffer vom Boden zu holen, irgendwo sonst zu suchen, riß selbst die Tür eines wackligen Schrankes auf, der seine karge Garderobe enthielt.

Da hing eine Hose… ein prüfender Blick darauf… Nein!… Unmöglich, weg damit! Die war ja noch schlechter als die, die er jetzt trug… Ein heller Rock… ein weißer Rock, mit dem er früher… lange war es her… zum Tennisspiel gegangen war… da eine schwarze Hose, die er früher einmal beim Examen getragen… schwarze Hose… weißer Rock… nein! unmöglich! Aber der Schrank war leer… halt!… Da noch eine grüne Joppe… noch vom Vater her… sie war ihm reichlich weit, aber das mußte gehen.

Er packte ein paar Habseligkeiten in den Rucksack. Prüfend wog er den Goldbarren… zehn Kilo… genug, um die Schuld zu bezahlen… und genug blieb noch für die nächste Zeit darüber hinaus übrig.

So verließ Friedrich Eisenecker zum erstenmal nach vier Jahren sein Haus. Am nächsten Tage war er zurückgekehrt. So verändert, daß ihn die alte Wirtschafterin kaum wiedererkannte. Bart und Haar gestutzt, mit einem guten neuen Anzug bekleidet. Er nickte der Alten ein Willkommen zu, drückt ihr einen Zettel in die Hand… die Versteigerung des Ellernhofes aufgehoben… die Schuld bezahlt…

Während die Alte noch auf den Zettel starrte, saß er schon längst wieder oben bei seinen Retorten und Apparaten. War auch seine Aufgabe in der Hauptsache gelöst, galt’s doch noch, die letzte Hand an seine Erfindung zu legen, das Werk zu vollenden. Nicht viel war’s und keine schwere Arbeit mehr. Wenige Wochen nur.

Und dann war auch das getan. An Stelle des rohen ungefügen Kastens stand eine zierliche kleine Kassette auf dem Arbeitstisch. Bequem und leicht mitzuführen.

Jetzt fort! Morgen schon wollte er hinaus… hinaus in die Welt.

Die Nacht… Feuerlärm durch das stille Heidedorf. Noch bevor die freiwilligen Helfer sich sammelten, bevor sie die lecke Feuerspritze in Tätigkeit setzen konnten, brannte der ganze Ellernhof in hellen Flammen…

Sein Besitzer stand dabei… ruhig, unbewegt und sah mit unveränderter Miene, wie das alte väterliche Heim in Asche sank.

Mit Staunen… mit Mißtrauen blickten die Dörfler auf ihn. Schon lange war er ihnen unheimlich, jetzt wurde er ihnen rätselhaft. Sie wußten, daß er nicht versichert war… nicht mehr die Mittel gehabt hatte, die Versicherung zu bezahlen. Sollte ihn die Not so abgestumpft haben, daß er das Unglück nicht mehr empfand? Das Unglück, das hier mit wabernder Lohe seine letzte Habe verzehrte…

Als ihre Gäste sie verlassen, trat Jolanthe von Karsküll in ihr Boudoir, drückte auf einen Klingelknopf und klingelte in bestimmten Intervallen. Ihre alte Dienerin erschien. Europäisch oder nicht europäisch? Etwas Fremdländisches lag in ihren Zügen, aber nur ein sehr genauer Kenner der asiatischen Rassen hätte wohl den Typus der Georgierin darin zu entdecken vermocht.

»Zobeide, ich wünsche ungestört zu sein, bis ich dich wieder rufen lasse.«

Die Alte verneigte sich stumm und verschwand. Jolanthe von Karsküll schloß die Tür hinter ihr und schob den Riegel vor.

Das villenartige Wohnhaus stand auf drei Seiten frei in einem ziemlich geräumigen Garten. Nur mit der einen Seite lehnte es sich an das Nachbargebäude. Jolanthe von Karsküll nahm den Hörer von einem Tischapparat, sprach ein paar Worte hinein und legte ihn wieder auf. Dann trat sie an einen großen in die Wand eingebauten Spiegelschrank und öffnete die Tür. Der Schrank war dicht mit Kleidungsstücken gefüllt. Doch auf einen Knopfdruck schwangen die Messingstangen mit den Kleidern zur Seite, und die Hinterwand lag frei. Ein Druck auf einen anderen, kaum sichtbaren Knopf, und die hintere Schrankwand rollte sich jalousieartig auf.

Die Wand dahinter war hohl. Eine zweite Holzwand wurde dort sichtbar. Auch diese Holzwand teilte sich.

Eine Hand streckte sich ihr entgegen und geleitete sie in den Raum. Es war das Privatkabinett des maurischen Botschafters Midhat Pascha.

»Zu Ihren Diensten, Gnädigste. Ich bin entzückt, Sie hier zu sehen.«

Der Botschafter beugte sich über ihre Hand und führte sie zu einem Sessel.

»Ihr Besuch… ich lese in Ihren Mienen…«

»Ja, Exzellenz, ich freue mich, Ihnen einen weiteren Erfolg melden zu können. Am Mittwoch früh fahre ich mit dem Ablösungsschiff nach Montgomery-Hall.«

»Prächtig, meine Gnädigste!« Midhat Pascha war aufgesprungen und schüttelte die Hand der Jolanthe von Karsküll.

»Ich brenne darauf, die Nachricht nach Fez melden zu können.

Unser Herr, der Kalif, drängt in einer Weise, die mir schlaflose Nächte macht. Meine Stellung hier… ich gestehe es offen… hängt vom Gelingen unseres Planes ab. Deshalb auch meinen herzlichsten persönlichen Dank, gnädigste Baronin. Nun, da unser erster Schritt so gut glückte, habe ich die feste Zuversicht, daß uns auch das Ganze gelingen wird.«

»So ganz vermag ich die Hoffnung Euer Exzellenz nicht zu teilen. Ich weiß nicht, ob meine geringen physikalischen Kenntnisse genügen werden, die raffinierte Art des Sicherungssystems zu begreifen, so daß ich unseren Mann instruieren kann. Ich habe mich zwar in der letzten Woche Tag und Nacht mit dieser mir ziemlich fremden Materie beschäftigt, aber…«

»Keine Zweifel, Gnädigste! Die bewundernswerten Proben Ihrer Intelligenz während der letzten…«

»Keine Schmeicheleien, Exzellenz. Sie wissen, ich hasse das. Bin ich ein Weib wie…«

Der Botschafter fiel ihr in die Rede.

»Es waren die Worte, die unser Herr, der Kalif, selber gebrauchte, als er mir in seinem letzten Brief befahl, die Angelegenheit zu beschleunigen.«

Eine leichte Röte huschte über das Antlitz der Jolanthe von Karsküll. Der feste Zug um ihren Mund wurde weich, ein Schimmern der Freude blitzte in ihren Augen.

»Sie haben recht. Es muß gelingen. Halil Rifaat alias Macolm muß mein physikalisches Kauderwelsch verstehen! Er ist ein fähiger Kopf, der sicherlich auch in jeder anderen Position Großes leisten würde.«

»Halil Rifaat ist ein treuer Diener seiner scherifischen Majestät… wie Sie und ich. Die Zeit wird kommen, wo unser Herr belohnen wird… ihn… und auch Sie. Kein anderer, keine andere im Reiche Abdurrhamans, die sich mit solcher Huld erfreuten wie Sie…«

Abwehrend hob sie die Hände.

»Lassen Sie, Exzellenz! Kommen wir zu etwas anderem. Die Börsenengagements Edhem Paschas, unseres Finanzministers, dürften allmählich gelöst sein. Ein Coup von solchem Umfange ist wohl in der Geschichte der Londoner Börse noch nicht dagewesen. Der Gewinn für den maurischen Staatsschatz…«

»Die Kassen Edhem Paschas schwimmen im Golde. Unser Staatsschatz hat sich innerhalb einer Stunde vervielfältigt. Ein Erfolg, den selbst der größte Optimist kaum erwarten durfte. Die Börse ist und bleibt unberechenbar. Der Schrei dieses Narren: ›Es steckt eine Hausse dahinter!‹ brachte das Unerwartete, selbst in kühnen Träumen nicht zu Erhoffende, daß die Kurse trotz unseres riesenhaften Angebotes stiegen, bis über den ersten Stand hinaus stiegen. Dadurch erst wurde die Deroute hinterher so ungeheuer.«

»Und man ahnt immer noch nicht, von wem das Manöver ausging?«

»Nein! Die Engagements waren trotz der kurzen Zeit so geschickt untergebracht, daß niemand den geringsten Verdacht schöpfen konnte, auch kaum jemals schöpfen wird.«

»Hat der Tod Saids nicht Anlaß zu weiteren Nachforschungen gegeben?«

»Nein! Seine Leiche ist bis zur völligen Unkenntlichkeit verbrannt. Schade, sehr schade um den Mann.«

»Haben Sie sich jetzt ein klares Bild über die Vorgänge jener letzten bedeutungsvollen Tage machen können?«

»Ich denke: ja! Sie wissen, es war uns verhältnismäßig leicht gelungen, Said unter dem Namen Sniders als technischen Hilfsarbeiter letzten Grades in Montgomery-Hall unterzubringen. Monatelang warteten wir vergeblich auf Nachricht von ihm. Auf die Nachricht, daß es ihm gelungen wäre, Elias Montgomery seine Erfindung abzusehen, den Apparat selbst nachzukonstruieren.

Jetzt, da sich die besten englischen Physiker in wochenlangen Versuchen vergeblich bemüht haben, das Geheimnis Montgomerys zu ergründen, kommt mir unser eigener Plan naiv vor. Said war wohl ein guter Techniker, aber seine physikalischen Kenntnisse lassen sich mit denen der englischen Gelehrten nicht vergleichen. War es ein Fehler, so ist er jedenfalls zu entschuldigen. Die Auswahl bei uns ist naturgemäß nicht groß. Die weiteren Ereignisse müssen sich folgendermaßen abgespielt haben.

Durch einen Zufall kam Said an jenem Tage zuerst in das Laboratorium Montgomerys. Er sah den Erfinder tot neben dem Apparat liegen. Nun bewies er einen hohen Grad von Umsicht. Ohne den Bewohnern des Schlosses Nachricht von dem Tode des Erfinders zu geben, telegrafierte er mir sofort in unserem Geheimcode das Ereignis. Ich gab es schnellstens in die Heimat weiter und wies darauf hin, daß Said bestimmt hoffte, den Tod des Erfinders bis in die Börsenstunden hinein geheimhalten zu können. Edhem Pascha faßte den Wink richtig auf und entrierte jenes berühmte, selbst für die Londoner Börse außergewöhnliche Manöver.«

»So ging der Gedanke dazu von Ihnen aus, Exzellenz? Ich gratuliere. Die Idee war glänzend.«

Der Botschafter zuckte die Achseln.

»Mag sein. Diese Vermehrung des Staatsschatzes ist ein bedeutendes Aktivum für den Kalifen. Seine nächste Depesche erkannte das auch an, wies aber gleichzeitig darauf hin, daß der Besitz des Apparates selbst nicht durch hundert solcher Börsentransaktionen aufgewogen werden könne.«

»Darüber besteht wohl kein Zweifel, Exzellenz. Aber wie erklären Sie sich weiter den Tod Saids?«

»Es gibt nur eine Erklärung. Bei der allgemeinen Verwirrung, die nach dem Bekanntwerden von Montgomerys Tod im Schlosse ausbrach, hatte Said unzweifelhaft die Absicht, den Apparat kurzerhand fortzunehmen… damit aus Montgomery-Hall zu fliehen. Dazu mußte er zuerst die Sicherungsanlagen wirkungslos machen. Den Versuch, dies zu tun, hat er mit seinem Leben bezahlt.«

»Ihre Worte machen mich besorgt, Exzellenz. Was Said nicht gelang, der monatelang in Montgomery-Hall gelebt hat, wie sollte es mir und Halil Rifaat gelingen?«

»Es wird gelingen, Baronin! Schon einfach deshalb, weil Sie dabei sind. Nein, nein, es ist so! Das ist keine Schmeichelei. Ich stelle zum Beweis für meine Worte die Frage: Ist uns schon jemals ein Unternehmen fehlgeschlagen, bei dem Ihre kleine Hand im Spiele war?… Sie schweigen, Baronin… und doch sagt mir die Sprache Ihrer Augen, daß sie mir recht geben.«

»Und der Kalif… ist der Kalif Abdurrhaman derselben Meinung?«

Der Botschafter machte eine bejahende Verbeugung. Jolanthe von Karsküll hatte sich erhoben. Einen Augenblick stand sie, die junonische Gestalt hochaufgereckt, stumm. Das Auge wie verloren in weite Fernen gerichtet. Dann, als habe sie Mühe, sich in die Wirklichkeit zurückzufinden, sprach sie. Langsam… stockend… mit Unterbrechungen.

»Wenn es gelingt, Exzellenz… wenn uns der letzte große Wurf gelingt… wäre es möglich… ginge es, daß… ich selbst den Preis dieses Kampfes… die Beute dieses Unternehmens unserem Herrn…?«

»Unmöglich!« Der Botschafter hob beschwörend die Hände empor. »Unmöglich, Baronin. Ihr Verschwinden nach solch einem Ereignis… es wäre möglich, daß der Schimmer eines Verdachtes… nein!… Das darf nicht sein. Auf keinen Fall. Es tut mir sehr leid, Ihnen diese Bitte abschlagen zu müssen, wenn ich auch…«

»Sie haben recht, Exzellenz. Mein Wunsch war töricht. Ich begreife selbst nicht… auf Wiedersehen denn.«

Der Botschafter drückte seine Lippen auf ihre Rechte und geleitete sie zu der offenen Wand. Noch einmal eine tiefe Verneigung des Mauren. Das Knacken einer Feder, das Rauschen eines Verschlusses. Jolanthe von Karsküll stand wieder allein in ihrem Boudoir.

Eine Sitzung in den Riggers-Werken zu Berlin. Der Generaldirektor Harder hatte alle Herren telegrafisch hierherbestellt, die auf der kleinen Nordseeinsel Warnum dort draußen am großen Problem der Atomenergie arbeiteten. Da saßen sie um den großen Konferenztisch herum, die geschicktesten Physiker, die klügsten Köpfe der RiggersWerke, die sich seit einem Jahrzehnt mit dem weltbewegenden Problem der Atomenergie herumschlugen. Gesichter, in die unablässiges Forschen und Spüren… in die durchsonnene Tage und durchwachte Nächte, in die so viele Enttäuschungen ihre unverlöschlichen Runen eingegraben hatten.

Schon damals, als die Nachrichten von den ersten Erfolgen Montgomerys nach Deutschland drangen, waren die Sitzungen der Riggers-Werke in recht erregten Formen verlaufen. Da gab’s oft mutlose Stimmen in der Versammlung, die fragten, wozu überhaupt noch einen Draht schalten, eine Klemme festschrauben, wenn ein anderer das Problem schon gelöst hat. Bedurfte es doch einer ganz besonderen Hingabe, auf dem einmal beschrittenen Wege weiterzugehen, weiterzuarbeiten und ein Ziel zu erstreben, das jener schon erreicht hatte. Die Kunde vom Tode Montgomerys, die Nachricht, daß seine Erben die Erbschaft nicht zu heben vermochten, war hier mit einem Gefühl der Erleichterung aufgenommen worden. Jetzt hatten die Riggers-Werke auf dem Gebiete der Atomenergie wieder die Spitze. Jetzt konnten sie vielleicht als die ersten das Ziel erreichen, das der übrigen Welt unerreichbar war.

Schon seit einer Stunde waren sie versammelt und erwarteten mit immer noch steigender Spannung das Erscheinen ihres Generaldirektors. Jetzt riß der Diener die Tür auf. Harder trat ein. Mit einem kurzen Nicken begrüßte er die Versammelten und nahm am Konferenztisch Platz.

»Meine Herren, in Erwartung einer wichtigen Nachricht habe ich mich verspätet. Bitte, entschuldigen Sie das. Meine Zeit ist jetzt so stark in Anspruch genommen, daß ich nicht selbst nach Warnum kommen konnte, sondern Sie hierher bitten mußte.

Es handelt sich in diesen Tagen in erster Linie um unsere Stellung zu der englischen Erfindung und… zu der englischen Regierung…«

Gespannt blickten die hier Versammelten auf ihren Chef. Da war es ja wieder. Jenes Thema, das sich in dem einen Namen Montgomery zusammenfassen ließ, und das ihnen allen schon so viele Tage voller Aufregungen, so viele Stunden inneren Zweifels gebracht hatte. Der Generaldirektor sprach weiter.

»Sie wissen, daß die Presse es der englischen Regierung seit dem Tode Montgomerys sehr nahegelegt hat, Physiker der Riggers-Werke zum Studium und zur Inbetriebsetzung des Apparates heranzuziehen. Ich kann Ihnen weiter sagen, daß auch unsere Regierung mit einem derartigen Schritt an die englische Regierung herangetreten ist. Heute morgen kam die Antwort: Nein!

Meine Herren, die Gründe dafür sind durchsichtig genug. England steht auf dem Standpunkt daß der Apparat Montgomerys nur durch englische Physiker in Betrieb gesetzt werden darf. Es betrachtet jede fremde Mitarbeit als eine Schmälerung ihres Erfinderruhmes. Nach dem bisher Erlebten bin ich überzeugt, daß die europäische Presse, wenigstens die des Festlandes, diesen Standpunkt auf das schärfste bekämpfen wird. Die Antwort der englischen Regierung wird im Laufe des heutigen Tages bekanntgegeben, und wir werden danach mit einer Hochflut von Pressestimmen gegen die Eigenbrötelei der Einzelstaaten des europäischen Staatenbundes zu rechnen haben.

Natürlich, meine Herren, in meiner Eigenschaft als Leiter der Riggers-Werke bedauere ich diese Entscheidung durchaus nicht…«

Fragende Blicke aus der Versammlung richteten sich auf den Generaldirektor. Der fuhr fort.

»Ich halte es für durchaus möglich… ja für wahrscheinlich, daß es uns gelingen könnte, den Apparat Montgomerys in Tätigkeit zu setzen. Was hätten wir damit erreicht?…«

Die Faust Harders fiel schwer auf den Tisch.

»Wir hätten das Werk unseres gefährlichsten Konkurrenten zu glücklichem Ende gebracht. Wir hätten die Früchte unserer eigenen jahrelangen Arbeiten vernichtet. Die Lösung des Problems bliebe dann für immer ein Erfolg der britischen Naturwissenschaft.«

Zustimmung sprach aus den Mienen und Blicken der Versammelten.

Harder fuhr fort.

»Meine Herren, das Schicksal schenkt uns noch einmal eine Frist. Aber wir wissen nicht, wie lang sie sein wird… was morgen oder übermorgen schon geschehen kann. Wir müssen unsere Arbeiten so forcieren, besonders die magnetischen Felder so verstärken, daß wir die von der Theorie verlangte Größe schnellstens erreichen…«

Er sah, wie der eine oder andere aus der Versammlung den Kopf schüttelte.

»…dieser Gang der Versuche mag manchem von Ihnen gewagt erscheinen. Aber es muß gewagt werden. In spätestens vier Wochen müssen wir unser Ziel erreichen, falls uns… nicht schon früher der Erfolg beschieden sein sollte…«

Erstaunte Blicke richteten sich auf den Sprecher. Was meinte er mit diesen rätselhaften Worten?

»Jawohl, meine Herren, falls uns der Erfolg nicht schon früher in den Schoß fällt. Ich hege ernstliche Zweifel, ob Montgomery die von der Theorie verlangte magnetische Feldstärke überhaupt erreicht hat. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß wir die Atomenergie schon durch eine ganz geringe Verstärkung unserer jetzigen Versuchsanordnungen freimachen können.

Darum nochmals, meine Herren, jetzt rücksichtslos und mit allen Mitteln an das Problem heran. Es handelt sich darum, daß wir es schnellstens lösen. In vier Wochen muß es gelöst sein…«

Der Generaldirektor Harder schloß. »Ich fahre auf einige Tage nach Biarritz, werde aber in vier Wochen wieder zurück sein. Während meiner Abwesenheit vertritt mich Herr Direktor Larsen für die Arbeiten auf Warnum. Wenden Sie sich in allen Zweifelsfällen an ihn.«

Ein kurzes Kopfnicken. Der Diener schloß die Tür hinter dem Generaldirektor.

Mette Harder war im Garten bei den Blumen beschäftigt. Langsam schritt sie durch das Rosenparterre, das sich wie ein einziger üppiger Flor um die Villa am Bismarckdamm legte. Hier und dort blieb sie stehen, trennte mit geschicktem Schnitt eine erblühte Rose vom Strauch und legte die Blume zu den anderen in ein Körbchen. In ihre Beschäftigung vertieft, hatte sie das Anschlagen der Hausglocke überhört. Jetzt ließ ein Stimmengewirr sie aufhorchen.

Der Gärtner sprach mit einem Fremden, der an der Pforte stand.

»Der Herr Generaldirektor sind nicht hier. Sie müssen später wiederkommen.«

»Ausgeschlossen, lieber Mann. Meine Sache hat Eile. Ich muß den Herrn Generaldirektor schnellstens sprechen. Wann wird er denn kommen?«

Die energische Weise des Besuchers schüchterte den Gärtner ein. Verlegen kraulte er sich hinter dem linken Ohr.

»Der Herr Generaldirektor werden… ich weiß nicht, wann er hier sein wird.«

»Ich muß ihn aber sprechen. Es ist sehr wichtig. Er hat mich hierherbestellt. Ich werde also hier warten.«

Mette Harder horchte auf und näherte sich dem Gartentor. Als der Fremde sie erblickte, trat er auf sie zu. Er war mit nachlässiger Eleganz gekleidet, die schlanke sehnige Gestalt, das gebräunte Gesicht verrieten den Sportsmann.

»Ich habe das Vergnügen, Fräulein Mette Harder begrüßen zu dürfen?… Mein Name ist Iversen… Malte von Iversen. Beachten Sie den Vornamen Malte, bitte! Gewesener Leutnant, gewesener Kaufmann, jetziger Hauptberuf Sportsmann.«

Mette starrte den Fremden halb unwillig, halb besorgt an. Was wollte der Mensch?

»Ich habe die Ehre, durch ein Dutzend Nadelöhre mit Ihnen, gnädigstes Fräulein Mette, verwandt zu sein. Onkel, Vetter, Neffe, wie man will. In ähnlichen Fällen schwer definierbar verwandtschaftlicher Beziehungen wähle ich den Titel nach dem vermutlichen Datum der betreffenden Taufscheine. Wenn ich Sie jetzt, Fräulein Mette, gegen alle Gesetze der Galanterie als Base begrüße, so nur deshalb, weil es mir zu schwer fällt, mich in die Onkelwürde einzufühlen.«

Mette reichte dem Besucher mit einem kühlen Lächeln die Hand. Die saloppe Art seines Wesens mißfiel ihr. Sie war nicht gewöhnt, daß ihr die Herren der Gesellschaft anders als mit der ausgesuchtesten Hochachtung begegneten.

»Ich begrüße Sie, Herr von Iversen. Sie wollen meinen Vater sprechen. Der Diener wird Sie nach oben führen. Mein Vater muß gleich zurückkommen.«

»Bitte tausendmal um Verzeihung, meine gnädigste Base, wenn ich es vorziehe, hier in der Gesellschaft der schönsten Rosen den Herrn Onkel zu erwarten.«

Er machte eine überkorrekte Verbeugung vor Mette, um über den Sinn seiner Worte keinen Zweifel aufkommen zu lassen.

»Stubenluft ist nur im Notfall für mich akzeptabel.«

Unbekümmert, ob es Mette genehm oder nicht, ging er an ihrer Seite durch die Anlagen. Und je länger er neben ihr ging, desto mehr schwand bei ihr das Gefühl des Mißbehagens. Die unbekümmerte Selbstverständlichkeit, mit der er unaufhörlich Fragen stellte und Mette zwang, an der Unterhaltung teilzunehmen, sein Hebenswürdiges Plaudertalent, ließen ihre Zurückhaltung mehr und mehr schwinden. Sie überhörte völlig das Herankommen des Wagens, der ihren Vater zurückbrachte.

Als Harder, vom Diener gewiesen, sie im Garten aufsuchte, erstaunte er, das helle Lachen Mettes durch die Büsche klingen zu hören. Seit jenen Tagen von Warnum glaubte er Mette niemals so lachen gehört zu haben. Als er näherkommend den Besucher erkannte, wich der frohe Ausdruck seiner Mienen. Es war ihm offensichtlich nicht angenehm, Mette in Gesellschaft Iversens zu sehen.

»Ah, mein teuerster Onkel! Ich begrüße Sie, Herr Generaldirektor! Es war mir ein ausgezeichnetes Vergnügen, in Gesellschaft von Base Mette die Schönheit Ihres Gartens bewundern zu dürfen.«

Harder reichte Iversen die Hand.

»So nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich Sie warten ließ?«

»Im Gegenteil. Ich muß es fast bedauern…«

»…daß ich nicht länger auf mich warten ließ, Herr von Iversen?«

»So ungefähr«, lachte Iversen. »Ich vergaß Zeit und Raum, sogar des Auftrages…«

Ein deutlicher Augenwink Harders ließ ihn verstummen.

»Verzeih, Mette! Eine dringende geschäftliche Angelegenheit zwingt mich, Herrn von Iversen deiner Gesellschaft zu entziehen. Vielleicht, daß später…«

»Auf Wiedersehen, Herr Vetter Malte. Es war mir ein Vergnügen, die verwandtschaftlichen Beziehungen mit Ihnen aufzunehmen.«

Während die Herren sich in das Haus begaben, ordnete Mette die Rosen, die sie gesammelt hatte, zu einem Strauß. Ging dann auch ins Haus zur Bibliothek, sie in eine Vase zu stellen.

Da hörte sie die Tür zum Nebenzimmer aufgehen und den Vater mit dem Besucher eintreten.

Sie wollte die Bibliothek wieder verlassen, als sie plötzlich wie angewurzelt stehen blieb.

Der Name!… den ihr Vater soeben gerufen… nein, geschrien hatte. Eisenecker! Der Klang ließ sie erbeben. Es zuckte in ihren Mienen. Wie von einem inneren Zwange getrieben, näherte sie sich der Portiere, die das Nebenzimmer von der Bibliothek trennte.

Ihr Vater schritt erregt auf und ab. Immer wieder murmelten seine Lippen den Namen.

»So hat meine Vermutung nicht getrogen! Eisenecker ist es, er hat den Barren verkauft… kein anderer konnte es sein.«

»Und es war für mich sehr angenehm, daß Sie mir diese Spur gaben, Herr Harder. Sonst wäre es mir schwer gefallen, oder es hätte jedenfalls länger gedauert, den Herrn als den Verkäufer des Goldbarrens festzustellen.«

»Warum, Herr von Iversen?«

»Der Mann, der den Goldklumpen verkaufte, war äußerlich ein ganz anderer als der, dessen Fotografie Sie mir gaben.«

»Wieso? Hatte er sich verkleidet?«

»Keineswegs. Er kam nach Hannover, so, wie er war.«

»Ich verstehe Sie nicht, Herr von Iversen.«

»Oh, sehr einfach, Herr Harder. Der Eisenecker vor vier Jahren hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem von heute oder vielmehr mit dem von gestern.«

»Was soll das heißen?«

»Nun, Eisenecker hat die letzten Jahre unter dürftigsten Verhältnissen gelebt und dabei Tag und Nacht gearbeitet. Sie selbst würden ihn nicht wiedererkannt haben.«

»So, so. Haben Sie sonst noch irgend etwas von Bedeutung ermittelt?«

»Jawohl, Herr Generaldirektor. Es dürfte Sie zweifellos interessieren, daß Herr Eisenecker im Begriff steht, Europa zu verlassen. Er hat auf dem übermorgen abgehenden Flugschiff nach Amerika einen Platz belegt. Ich bin deshalb sofort hierhergekommen. Wollen Sie ihn weiter im Auge behalten, so muß sofort telegrafisch ein zweiter Platz auf dem Schiff belegt werden.«

»Selbstverständlich, Herr von Iversen. Natürlich müssen Sie ihn dauernd überwachen. Wir dürfen den Mann nicht aus den Augen lassen. Das Interesse der Riggers-Werke erfordert es.«

Malte von Iversen tat nachdenklich ein paar Züge aus seiner Zigarre. Erstaunt betrachtete er den Generaldirektor. Die Erregung, die aus dessen ganzem Wesen sprach, war ihm nicht verständlich.

»Ihr ganzer Auftrag ginge also dahin, Herr Harder, daß ich Eisenecker auf den Fersen bleibe, wohin er sich auch wendet, und Ihnen von seinem Tun und Treiben Bericht gebe.«

»Jawohl, Herr von Iversen.«

»Hm…«

»Sie meinen, Herr von Iversen?«

»Hm… ich meine, daß ich dazu keine Lust habe.«

»Keine Lust?… Jede von Ihnen unterzeichnete Kostenrechnung wird an unserer Kasse honoriert.«

Iversen machte eine abwehrende Handbewegung. In seiner Stimme lag eine leichte Schärfe, als er dem Generaldirektor antwortete.

»Geld? Herr Harder! Ich weiß nicht… ich glaubte, Sie würden mich besser kennen. Glauben Sie wirklich, ich hätte Lust, zur Abwechslung Privatdetektiv gegen Honorarzahlung zu werden?

Ich habe die Nachforschungen nach der Herkunft des Goldbarrens und nach Eisenecker angestellt, weil ich sah, daß Sie an der Sache großes Interesse hatten… kurz gesagt, um Ihnen einen Gefallen zu tun. Die Sache ist erledigt. Sollten Sie jedoch die Absicht haben, diesen Herrn Eisenecker weiterhin auf Schritt und Tritt verfolgen zu lassen, so wäre es doch gegeben, Sie nähmen einen Berufenen dazu, einen Privatdetektiv. Eventuell die Polizei, wenn etwa Herr Eisenecker sich gegen das Strafgesetzbuch vergangen hat.

Mein Interesse an der Angelegenheit… verzeihen Sie, Herr Generaldirketor… ist nicht groß genug, um mich der Unbequemlichkeit einer solchen Aufgabe zu unterziehen.«

Der Generaldirektor war aufgesprungen und ging auf und ab.

Iversen betrachtete ihn verstohlen.

Hm! Es fällt ihm anscheinend schwer, seine Karten aufzudecken… scheint da ein kleiner Haken dahinterzustecken… bei dem interessanten Fall… na, geben wir ihm eine kleine Aufmunterung!

»Wirklich, Herr Generaldirektor! Es tut mir leid, daß ich Ihnen meine Hilfe abschlagen muß. Es hat zu wenig Interesse. Hätte Eisenecker etwa einen Harderschen Familienschmuck geraubt… dann vielleicht…«

»Interesse!« Der Generaldirektor blieb mit einem Ruck vor Iversen stehen.

»Der Fall kein Interesse, Herr von Iversen, der Fall Eisenecker interessiert Sie nicht? Ich wüßte bei Gott keinen interessanteren. Wenn Sie wüßten, welche unendliche Wichtigkeit der Fall Eisenecker für mich… für die Riggers-Werke hat, so würden Sie…«

»Ich zweifle nicht, möchte aber doch nochmals anheimstellen, einen Privatdetektiv mit der Aufgabe zu betrauen.«

Harder wandte sich ab. »Gewiß, Herr von Iversen! Sie mögen von Ihrem Standpunkt gesehen recht haben. Aber ich habe ein Interesse daran, daß gerade Sie die Aufgabe übernehmen.«

Er blieb vor Iversen stehen und sah ihn an. Der zuckte abweisend die Achseln.

»Gut, Herr von Iversen, ich sehe, es muß sein. Es ist vielleicht das beste, wenn ich Ihnen volle Aufklärung gebe. Wenn Sie alles wissen… Hören Sie also! Der bewußte Barren ist chemisch reines Gold.«

»Was wollen Sie damit sagen, Herr Harder?«

»Ich will damit sagen, daß dieses an sich vollwertige Gold nicht in der Natur gefunden wurde, sondern ein Laboratoriumsprodukt des Herrn Eisenecker ist.«

»Donnerwetter!« Iversen war aufgesprungen und sah den Generaldirektor mit offenem Munde an. Es war ihm unmöglich, seine gewöhnliche Selbstbeherrschung zu bewahren.

»Alle Wetter! Eisenecker ist also in der Lage, Gold zu machen? Gold, soviel er will?…«

Harder nickte.

»Alle Wetter… alle Wetter!« Iversen schlug sich mit der Rechten auf den Schenkel. »Der Fall fangt an, mich zu interessieren. Der jahrhundertealte Traum der Alchimisten wäre also in Erfüllung gegangen?«

»Gewiß, Herr von Iversen. Allerdings auf einem Wege, an den keiner von denen auch nur im entferntesten gedacht hat. Aber das ist nebensächlich…«

»Was? Nebensächlich? Das soll nebensächlich sein, Herr Harder? Eisenecker wäre also theoretisch der reichste Mann der Welt? Unausdenkbar die Folgen, wenn Eisenecker…«

»Eisenecker denkt nicht daran, sich zum reichsten Mann der Welt zu machen und sich etwa ein massivgoldenes Haus zu bauen.«

»Ja aber, Herr Generaldirektor…«, stotterte Iversen.

»Gewiß, Eisenecker wird sich für seine persönlichen Bedürfnisse den nötigen Vorrat Gold herstellen. Aber nur, um geldlich unabhängig zu sein. Sein Ziel ist ein ganz anderes.«

Harder machte eine Pause. Unruhig schritt er im Zimmer hin und her. Dann plötzlich mit einem Ruck blieb er vor Iversen stehen.

»Das Problem der Atomenergie ist Ihnen, Herr von Iversen, wohl als das aktuellste Problem der Gegenwart genügend bekannt.«

Iversen nickte.

»Hören Sie weiter. Montgomery hatte es gelöst. Darüber ist kein Zweifel möglich. Wir arbeiten in Warnum seit Jahren daran – alles, was ich Ihnen sage, alles unter strengster Diskretion! – und sind nicht mehr allzuweit vom Ziel entfernt. Noch an manchen anderen Stellen in der Welt wird daran gearbeitet, doch dürften alle Versuche noch in den Kinderschuhen stecken.«

»Aber…« Harder stockte, als würge er an den Worten. »Doch gibt es einen zweiten Menschen, außer Montgomery, der das Problem gelöst hat… und das ist Eisenecker.«

»Ah!…« Iversen war in den Sessel zurückgesunken. »Dieser, beinahe hätte ich gesagt, Hungerleider im Besitze von Erfindungen, die ihn zum Herrn… zum Beherrscher der Welt machten? Unmöglich!«

»Es ist so! Ich will mich nicht auf lange wissenschaftliche Erklärungen einlassen. Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß es so ist.

Doch weiter! Friedrich Eisenecker war jahrelang Mitarbeiter der Riggers-Werke. Vor vier Jahren schied er aus persönlichen Gründen aus. Seitdem hatte ich ihn aus den Augen verloren. Hätte vielleicht nie wieder an ihn gedacht, wenn sich nicht folgendes ereignet hätte.

Wir brauchen für unser hiesiges chemisches Laboratorium dauernd Gold, da es bestimmte Arbeiten auf dem Gebiete der organischen Goldsalzverbindungen durchführt. Vor zehn Tagen wurde dieser Barren hier wie stets von der Diskontobank bezogen und dem Laboratorium übergeben. Die erste Untersuchung ergab, daß der Barren aus chemisch reinem Golde bestand. Schon das machte unsere Chemiker stutzig. Meistens pflegt das Barrengold mit einem geringen Prozentsatz Kupfer oder Silber legiert zu sein.

Noch größer aber wurde das Staunen, als das Atomgewicht dieses Goldes von demjenigen des üblichen Handelsgoldes eine sehr merkliche Abweichung zeigte. Ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, daß das für den Wert und die Echtheit des Goldes keinerlei Bedeutung hat, daß es aber gerade die Wissenschaftler, die sich mit der Atomtheorie und der Zerlegung der Atome beschäftigen, auf das äußerste frappieren muß.

Der Vorfall wurde mir sofort gemeldet. Die Versuche wurden wiederholt und bestätigten die erste Feststellung. Mein nächster Weg ging zu der Bank, von der wir den Goldbarren bezogen hatten. Goldbarren sind keine allzu häufige Handelsware, und sehr schnell konnte festgestellt werden, daß der Barren vor 46 Tagen bei der Diskontobank in Hannover verkauft worden war. Ich betraute Sie mit der Ermittlung des Verkäufers.

Nun, Herr von Iversen, wir haben viele Jahre hindurch Millionen in die Aufgabe gesteckt, das Problem der Atomenergie zu ergründen. Eisenecker hat lange bei den Versuchen mitgearbeitet. Ich nehme es als sicher an, daß er sich die bei uns gesammelten Erfahrungen bei seinen eigenen Arbeiten in weitestgehendem Maße zu Nutze gemacht hat… daß er seine vertraglichen Abmachungen uns gegenüber verletzt hat. Er hat zwar, das habe ich nebenher feststellen können, bisher kein Patent angemeldet, aber es ist doch zu erwarten, daß er dies tun wird. Da heißt es eben für mich, die Interessen der Riggers-Werke unbedingt zu wahren. Daher mein Auftrag für Sie, alle Schritte Eiseneckers aufs schärfste zu überwachen. Sind Sie jetzt nach meinen Mitteilungen dazu bereit?«

Iversen blies nachdenklich den Rauch seiner Zigarre in die Luft.

»Noch eine Frage. Ich bin zwar absoluter Laie auf diesem Gebiet. Aber es ist doch nie die Rede davon gewesen, daß Elias Montgomery in der Lage war, Gold zu machen. Sollte Eisenecker nicht vielleicht doch einen anderen Weg eingeschlagen haben… als Montgomery… und als die Riggers-Werke?«

Iversen sah Harder fragend an. Ein Schatten der Betroffenheit zuckte blitzschnell über das Gesicht des Generaldirektors. Er räusperte sich kurz.

»Es ist kaum möglich, Herr von Iversen, Ihnen – Sie sagen ja selbst, daß Sie Laie sind – eine bündige wissenschaftliche Erklärung zu geben. Es möge Ihnen genügen, daß gerade auf physikalischem Gebiete eine ganze Anzahl bedeutender Erfindungen so nebenher gemacht worden sind, während man ein ganz anderes Ziel im Auge hatte. So ist es hier auch mit Eisenecker gewesen.«

»Gut, jetzt bin ich bereit, Ihren Auftrag anzunehmen.«

In der Begleitung des Generaldirektors verließ Malte von Iversen den Raum.

Mit klopfendem Herzen hatte Mette der Unterredung gelauscht. Jetzt ging sie mit müden Schritten zu einer Ruhebank und vergrub ihr Gesicht in die Kissen. Die Wunde, im Laufe der Jahre verharscht, blutete von neuem. Als fühle sie körperlichen Schmerz, preßte sie die Hand auf das pochende Herz. Wirre Erinnerungen durchkreuzten ihre Sinne… war’s nicht doch Feigheit gewesen… die letzte dumpfe Regung der Alltagsseele, die vor dem Äußersten zurückschreckt?

Ihre Gedanken flogen zurück, eine lange Zeitspanne bis zu jenem Sommer vor fünf Jahren. Der einzige Sommer des Glücks in ihrem Leben.

Vor fünf Jahren war es, auf Warnum, dem Eiland da draußen in der Nordsee. Die neuen Anlagen der Riggers-Werke dort gingen der Vollendung entgegen. Ihr Vater, dem es zu langsam ging, blieb fast den ganzen Sommer auf der Insel, um den Bau zu beschleunigen und die Erfolge der ersten Versuche zu sehen. Sie wohnte mit ihm in dem einfachen Direktionsgebäude.

Hier lockte die See. Schwimmen, Segeln ihre Leidenschaft von jeher. Schrankenlos gab sie sich ihr hin. Ein starker Sturm. Mit Mühe und Not hatte sie den rettenden Strand erreicht. Da verbot ihr der Vater, allein nur mit dem kleinen Fischerjungen auszufahren. Ein junger Physiker des Laboratoriums, in allen Segelkünsten erfahren, sollte sie auf größeren Fahrten stets begleiten.

»Erst sehen!« hatte sie lachend dem Vater geantwortet.

Am nächsten Morgen war ihr Eisenecker vorgestellt worden. Die hohe, kräftige Gestalt in elegantem Segeldreß. Unter der blauen Seemannsmütze der schmale Kopf. Das scharfgeschnittene Gesicht. Die klaren stahlblauen Augen.

Dieser Kraftmensch mit den eleganten Umgangsformen des Weltmannes… das war einer von den Laboratoriumswürmern, wie sie die dort beschäftigten Herren scherzend nannte? Weit eher hätte sie ihn für einen Seeoffizier gehalten, für den Nachkommen irgendeines berühmten mittelalterlichen Seehelden.

Sekundenlang hatte sie die Augen zur Seite gewandt, kaum fähig, ihre Überraschung zu verbergen. Fast befangen war sie neben ihm her zur Anlegestelle geschritten. Und dann waren sie gefahren… der Wind war schwach geworden. Das Steuer festgemacht, hatten sie sich von der leichten Brise treiben lassen. Er hatte ihr von seinen Reisen und Arbeiten in fremden Erdteilen erzählt. In lebhafter Unterhaltung waren die Morgenstunden wie im Nu vergangen…

Und der Sommer war verstrichen.

Die letzte Fahrt. Schon beim Absegeln hatte der Himmel ein drohendes Gesicht gezeigt. Doch keiner dachte an Umkehren. Noch ehe sie die Insel ganz aus dem Gesicht verloren, war das Unwetter losgebrochen. Der Sturm kam vom Lande her. Unmöglich, dabei gegen Warnum hin anzukreuzen. Einzige Zuflucht Barsum, das in der Windrichtung lag. In wilder Sturmfahrt waren sie auf den Strand zugeschossen. Mit eherner Ruhe hatte Eisenecker das kleine Fahrzeug durch die Brandung gebracht, es auf dem Rücken einer großen Woge auf den Strand gesetzt. Ehe die nächste kam, hatte er Mette aus dem Boot gerissen und in schnellem Lauf ein Stück landeinwärts getragen.

Da stand er keuchend. Sie wollte sich aus seinen Armen lösen. Er hielt sie fest, riß sie an sich. Sie hatte sich seinem herrischen Ansturm willenlos hingegeben, hatte sich in seiner Umklammerung zurückgebogen, als er sie küßte, und alles um sich herum vergessen…

Sie waren zur nächsten Fischerhütte gegangen, hatten sich am Feuer trocknen lassen.

Als das Wetter nachließ, waren sie ins Freie getreten. Als sie allein waren, als er sie wieder an sich ziehen wollte, hatte sie ihn sanft abgedrängt. Und dann hatte Mette mit leiser Stimme, fast ohne Aufregung gesprochen.

Von dem anderen da unten im Süden, der ihr Wort hatte… Jugendfreund… Herzenswunsch der beiderseitigen Eltern… am Sterbebett der Mutter hatte sie dem zum Verlöbnis die Hand gereicht… seit Monaten war er im Süden, reiste von einem Sanatorium zum anderen, Heilung zu suchen.

Eisenecker war stehengeblieben, hatte sie angestarrt, als müsse er sich überzeugen, daß sie es wirklich war, die diese Worte sprach. Einen kurzen Augenblick hatte er die blitzartige und stechende Empfindung, daß er fliehen… daß er, ohne einen weiteren Blick auf Mette zu tun, davonstürzen müsse. Dann hatte er sich zu ihr umgewandt, ein unbändiges Feuer loderte aus seinen Augen. Die geballten Fäuste gegen sie erhoben, als wolle er sie niederschlagen.

»Ein Spielzeug war ich dir!… Ein Spielzeug deiner Laune, das man wegwirft, wenn es nicht mehr paßt! Das, das war ich dir?«

Mette hatte sich an ihn geklammert und den Kopf an seine Schulter gelegt, ihm ihre Seelenpein verraten, ihn hineinschauen lassen in ihr zuckendes, sich abringendes Herz.

Da kam er wieder zur Besinnung. Qual und Wut wichen aus seinen Mienen. Fest drückte er die Zitternde an sich. Liebkosend glitt seine Hand über ihr feuchtes Haar.

»Mette, warum sollen wir uns opfern? Für wen? Du liebst den anderen nicht… kannst ihn nicht lieben. Und doch willst du…«

»Er liebt mich mit der eigensinnigen Leidenschaft des Schwerkranken. Nähme ich mein Wort zurück, er würde sterben…«

Stumm, mit fahlem Gesicht, war er von ihr zurückgewichen.

»Wenn ich gehe, ist alles aus.«

»Friedrich!«

»Feige, grausam bist du!«

»Friedrich, bist du bei Sinnen? Ich habe dich lieber als jeden anderen Menschen in der Welt! Schon seit jenem ersten Tage, wo wir zusammen fuhren…«

»Geh, ich glaube dir nicht!«

Da schrie sie in ihrer Seelennot laut auf, warf die Arme um ihn, preßte ihn mit aller Gewalt fest an sich.

»Ich habe dich lieb bis in den Tod, du… du… doch an ihn muß ich denken, an ihn, der mir vertraut. Kann das Bild des Kranken nicht aus meiner Seele bannen. Seinen Tod auf dem Gewissen, keine frohe Stunde würde ich an deiner Seite verleben.«

Nach Warnum zurück. Mette erkrankte schwer. Ein schlimmes Fieber warf sie nieder. In wirren Träumen rang sich immer wieder der Name Eisenecker von ihren blutleeren Lippen.

Harder, in heftigster Erregung, stellte Eisenecker zur Rede. Der verschwieg ihm nichts. Offenbarte ihm rückhaltlos alles.

Harder verfiel in eine maßlose Aufregung. Halb sinnlos vor Schmerz und Wut zieh er Eisenecker in brutalem Tone der stärksten Undankbarkeit, verbot ihm sein Haus, versagte ihm jeden Verkehr mit Mette, kündigte ihm sofort die Stellung bei den Riggers-Werken.

Der war gegangen. Nie wieder war Kunde von ihm zu ihr gedrungen…

Jener einzige Sommer des Glücks in ihrem Leben.

Sie stöhnte leise. Für sie gab es keine Brücke mehr zum Glück. Und das vertiefte noch ihr Leid, daß sie zweifeln mußte, ob er sie je so geliebt wie sie ihn.

Hatte er sie so wenig verstehen können? Immer, wenn sie an ihn dachte, stand jene letzte Fahrt vor ihrer Seele. Immer noch hörte sie die furchtbaren Worte der Wut, die er damals gesprochen.

Ihr Herz zuckte, ihre Hand machte wirre Bewegungen, als könnte sie das alles fortstoßen… Und dann begannen wieder die Erinnerungen an die seligen, frohen Stunden auf dem Meere alles Trübe zu verscheuchen.

Ruhiger wurden ihre Gedanken. Kehrten von den Erinnerungen einer glücklichen Vergangenheit zur Gegenwart zurück.

Was hatte sie eben gehört! Ihr Vater gegen Eisenecker. Was hatte er getan, wollte er tun? Des Vaters schwerer Verdacht gegen ihn… wo war hier Recht und Unrecht…?

Ein glühendheißer Junitag hatte sich geneigt. Die volle Mondscheibe stieg von Osten her über die Bogentürme der Alhambra, stieg höher und höher, bis ihre Strahlen voll in die Höfe des alten maurischen Königsschlosses fielen.

Die Nacht des 17. Juni zog herauf. Zum fünften Male jährte sich die Eroberung der iberischen Halbinsel durch die maurischen Waffen.

Am Brunnen im Löwenhof im Glänze der elektrischen Lampen eine festliche Tafel. Da saßen sie, die Großen des maurischen Reiches. In dem bunten Gewimmel der vielfarbigen Uniformen hier und da der schwarze Rock des Staatsmannes, des Gelehrten. Fast alle Rassen des maurischen Völkergemisches waren vertreten. In der Mehrzahl die hohen, schlanken Gestalten der Berboaraber. Neben Negertypen auch helle, ganz europäisch anmutende Gesichter.

Den Vorsitz an der Tafel führte Prinz Ahmed Fuad, der Bruder des Kalifen, dessen Statthalter in Spanien. Ihm zur Seite Fürst Iraklis, der Gouverneur von Madrid, vor fünf Jahren Führer der maurischen Vorhut. An der Spitze seiner Truppen war er damals in einem einzigen beispiellos kühnen Vorsturm bis zu den Pyrenäen durchgedrungen. Hatte sofort die wichtigsten Pässe besetzt und in zähem erbitterten Kampfe die von Norden her anrückenden Hilfstruppen zurückgeworfen.

Der ganze maurisch-spanische Krieg eine lange Kette kühner Taten. Ceuta, der letzte europäische Besitz in Nordafrika! Durch die weittragenden Geschütze der spanischen Küste geschützt, hatte es immer wieder den maurischen Angriffen getrotzt. Bis der Tag kam, an dem die Gegner ähnliche Geschütze besaßen, an dem nach furchtbaren Land- und Luftkämpfen die weiße Flagge auf den Werken Ceutas wehte.

Das Gespräch kreiste und brachte die Erinnerung vergangener Taten. Der Fürst ließ die Bilder jener Tage wieder aufleben.

»Heute vor fünf Jahren… die Sonne war im Atlantik versunken. Zu beiden Seiten der Straße von Gibraltar flammten die riesigen Scheinwerfer auf, erhellten glänzend die nächtliche See, ließen in ihren Lichtkegeln die fürchterlichen Bilder wieder erscheinen, die der verzweifelte dreitägige Kampf um die Meerenge auf afrikanischer und europäischer Seite gezeugt hatte.

Bis zum letzten hatten sich die im Norden gewehrt. Erst um die Mittagsstunde des dritten Tages waren sie von der Übermacht des Südens zurückgeworfen worden. Bis weit ins spanische Hinterland hinein tobte der Kampf. Jetzt in der Nacht des 17. begann sich die mächtige Luftflotte des Maurischen Reiches in Bewegung zu setzen. Wie von Zauberhand geleitet fuhren sie rüber und hinüber, und kein feindliches Flugschiff, das ihrer Fahrt Abbruch tat. Als der Morgen des 18. kam, da standen die maurischen Krieger zu Hunderttausenden auf dem ersehnten Boden Spaniens. Vorwärts… vorwärts, immer vorwärts. Kein Feind, der sie aufhielt.

Und wieder eine Woche später. Hier im Löwenhof der Alhambra war’s…«

Während er lebhaft und immer lebhafter sprach, hatte der Fürst sich erhoben, deutete mit der Rechten auf den Mondschatten, den die Säulenhalle dort auf den steingetäfelten Boden warf…

»Dort stand unser Herr. Dort stand der Kalif, als meine Boten ihm die Nachricht brachten: ›Die Pyrenäenpässe fest in unserer Hand. Keine feindliche Armee mehr auf spanischem Boden, die unseren Tapferen noch standhielte. Spanien liegt zu deinen Füßen.‹«

Das Surren eines Propellers unterbrach die Erinnerungen des Generals. Ein Hubschrauber senkte sich aus mondlichter Höhe in einen der Höfe der Alhambra.

»Dort stand Abdurrhaman, unser Kalif, unser Herr, als meine Boten ihm den Sieg meldeten«, fuhr der Fürst in seiner Erzählung fort, als das Wort ihm stockte.

Aus dem Schattendunkel des Säulenganges trat eine hagere, hohe Gestalt. Über dem schmalen gebräunten Gesicht hob sich eine auffallend helle Stirn. Das rötlich-blonde Haar war kurz geschnitten. War er 50… war er erst 30 Jahre alt? Auch ein aufmerksamer Beobachter hätte es kaum sagen können. Das war Abdurrhaman, der Kalif des neuen großen Maurenreiches. In schnellem Fluge hatte ihn der Hubschrauber aus seinem afrikanischen Reich über das mondschimmernde Meer hierhergebracht.

Der Herrscher wollte nicht fehlen beim Erinnerungsfest… beim Siegesfest seiner Getreuen, die ihn jetzt jubelnd umringten. Ein Wink von seiner Hand, und die elektrischen Lampen erloschen. Nur noch im hellen Lichte des Mondes lag der alte Hof, lag die schimmernde Tafel.

»Das Gestirn Allahs… gepriesen sei sein Name… es soll uns allein leuchten.« Ein zweiter Wink, und die Teilnehmer der Tafelrunde kehrten zu ihren Plätzen zurück.

Der Kalif hatte sich am Ende der Tafel niedergelassen. Während die Gäste weiterplauderten, winkte er Abd ul Hafis, den Professor von der Universität Kordova, an seine Seite, ließ sich mitten im Trubel der Tafel einen Vortrag von ihm halten. Einen Vortrag über die Frage, die jetzt alle Gelehrten der Welt bewegte, die Frage der Atomenergie. Unterbrach den Vortrag:

»Warum, Abd ul Hafis, warum sind wir nicht ebensoweit auf diesem Gebiete gekommen wie die Europäer?«

Abd ul Hafis verbeugte sich.

»Herr, wir sind erst seit fünf Jahren hier in Spanien. Lange Kämpfe, ein schwerer Krieg liegt hinter uns. Es waren nicht Geld und Zeit für diese Dinge übrig. Die in Europa arbeiten schon seit Jahrzehnten an dem Problem und haben ihr Geheimnis so sorgfältig gehütet, daß kein Spion es zu entschleiern vermochte.

Überdies, Herr, Spione, wie sie gewöhnlich verwendet werden, versagen in diesem Falle. Es müßten wissenschaftlich gebildete… hochgebildete Männer sein, die diese Spionage erfolgreich betreiben könnten. Solche aber werden nur schwer, werden vielleicht niemals Eintritt in die europäischen Werke finden.« Der Kalif fragte:

»Wäre überhaupt einer unserer Gelehrten imstande, das Arbeiten der Apparate und die Lösung des Problems voll zu verstehen, wenn er in eins der europäischen Werke käme?«

»Ganz gewiß, Herr. Unsere Gelehrten sind klug genug, das Verfahren zu begreifen und die Versuche zu verstehen, wenn sie ihnen nur beiwohnen könnten.«

»Aber«, warf der Kalif ein, »wie kommt es dann, daß die englischen Gelehrten das Erbe von Elias Montgomery nicht verstehen, daß sie sein Geheimnis nicht ergründen, seinen Apparat nicht in Tätigkeit zu setzen vermögen?«

Abd ul Hafis schien nachzudenken. Er zögerte, bevor er die Antwort fand.

»Vielleicht, Herr, vielleicht hat es seine Gründe darin, daß die englischen Gelehrten sich mehr und mehr von dem Problem zurückzogen, als die plötzlichen und überraschenden Erfolge Montgomerys bekannt wurden. Die Engländer sind praktische Leute. Sie hielten es vielleicht für überflüssig, noch einem Ziele nachzustreben, das ein anderer schon erreichte.«

Der Kalif nickte zustimmend. »So könnte es wohl sein, Abd ul Hafis. Es könnte wohl sein, daß es an der Beschaffenheit dieser Gelehrten läge.«

»Das ist meine Meinung, Herr, das wollte ich damit sagen. Ich möchte annehmen, daß andere, die sich schon lange mit dem Problem beschäftigen, den Apparat Montgomerys früher oder später in Betrieb setzen würden, wenn ihnen nur Gelegenheit gegeben wäre, Versuche damit anzustellen.«

Geraume Zeit schwieg der Kalif nachdenklich. Dann sprach er weiter. Leiser, gedämpfter als bisher.

»Glaubst du, Abd ul Hafis, daß der eine oder andere Gelehrte meines Reiches imstande wäre, die Aufgabe zu lösen, wenn er den Apparat von Montgomery in seinem Besitz hätte?«

Einen kurzen Moment zögerte der Gefragte mit der Antwort. Dann sprach er:

»Herr, du verlangst die volle Wahrheit von mir. Ich würde freveln, wollte ich es wagen, sie dir vorzuenthalten. Ich sage sie frei und offen. Im Bereiche deiner scherifischen Macht gibt es wohl niemand, der das vermöchte. Wohl aber in Ägypten. Die Gelehrten an der Universität Kairo… in erster Linie Ibn Ezer… der Große. Seine Leistungen haben das größte Aufsehen in der Welt erregt.«

»Ibn Ezer!…« Der Kalif murmelte den Namen mehrmals vor sich hin… »Ibn Ezer würde es verstehen können… aber… sage mir die reine Wahrheit, Abd ul Hafis… wie lange würde Ibn Ezer brauchen, das Geheimnis zu ergründen?«

»Diese Frage meines Herrn vermag ich nicht zu beantworten. Ich weiß es nicht. Auch Ibn Ezer selbst wird darauf keine Antwort geben können. Es kann Wochen dauern… vielleicht Monate… vielleicht Jahre… wer kann das sagen?«

»Jahre?« Der Kalif schüttelte das Haupt. »Zu groß die Frist… zu groß… Ali Bei!…«

Am anderen Ende der Tafel erhob sich eine hohe Gestalt. Die Uniform ließ erkennen, daß der Gerufene zum engeren Gefolge des Kalifen gehörte. Gleichzeitig mit ihm stand Abdurrhaman auf, trat in den Schatten der Brunnenmauer, sprach lange mit ihm, ging dann mit ihm in die erleuchtete Halle hinein.

Eine Viertelstunde später tönte Propellersausen durch die Luft. Ali Bei war auf dem Fluge nach Ägypten.

Abdurrhaman kehrte in den Kreis seiner Getreuen zurück, das Gedächtnisfest des Sieges mit ihnen zu feiern.

Die ›Sutherland‹, das große Schottlandschiff, lag startbereit in der Halle zu Wembley. Wohl über eine Länge von 200 Meter erstreckte sich der mächtige Rumpf aus schimmerndem Leichtmetall. Lord Permbroke schritt nervös auf dem federnden Gummipflaster neben dem Schiff auf und ab. Zum zehnten Male zog er das Chronometer aus der Tasche, warf einen zerstreuten Blick darauf, um es danach wieder in die Tasche zurückgleiten zu lassen. Jetzt blieb er neben dem Laufsteg zum Schiffe stehen.

»Ich begreife unsere Freundin nicht, Ellen. Noch zehn Minuten bis zum Start. In fünf Minuten werden die Laufstege eingezogen.

Sie wird zu spät kommen, und sie war doch so begierig auf diesen Ausflug.«

Bevor Lady Ellen antworten konnte, kam ein eleganter Kraftwagen durch die große Hallenpforte, fuhr in schnellem Tempo die mittlere Straße entlang und hielt unmittelbar neben dem Laufsteg.

Jolanthe von Karsküll sprang aus dem Wagen, begrüßte Lady Ellen und Sir Arthur, entschuldigte die Verspätung mit einem unvorhergesehenen Aufenthalt auf dem Wege hierher.

»Alle Passagiere an Bord! Alle Fremden von Bord!« dröhnte die Stimme eines Offiziers der ›Sutherland‹ durch die Halle. An der Seite von Lady Ellen ging die Baronin Jolanthe über den Steg. Lord Permbroke folgte. Unmittelbar hinter ihnen wurden die Laufbrücken fortgezogen und die metallenen Pforten hermetisch verschlossen.

Dumpfes Dröhnen aus den Maschinenräumen. Ein Erzittern des ganzen gewaltigen Schiffsrumpfes. Die ›Sutherland‹ war im Fluge und stieg dabei unaufhörlich. Längst hatte das Schiff die dicken über London lagernden Wolkenbänke durchstoßen und schoß im hellen Sonnenglanz nordwärts. Immer noch stieg es dabei bis hinauf in jene Höhen, in denen es keine Stürme und Regengüsse mehr gibt, in denen die dünne und immer unbewegte Luft den Höhenflugschiffen eine ideale Straße bietet.

Jolanthe von Karsküll saß mit Lord und Lady Permbroke im Parlourroom an der Backbordseite der ›Sutherland‹. Zu sehen war für die Passagiere bei solchem Höhenflug kaum etwas. Weit im Westen blitzte hin und wieder ein Schimmer des Atlantik auf. Sonst nur Wolken und immer wieder Wolken. Da blieb während der Stunde der Fahrt wohl Zeit für die Unterhaltung. Bald war das Gespräch in vollem Gange, drehte sich zuerst um Elias Montgomery, den toten Erfinder, und um das Vexierstück, das er ganz England hinterlassen. Dann flogen die Erinnerungen zurück nach Moskau, wo sie sich zuerst kennenlernten, wo zuerst jene Freundschaft zwischen Jolanthe und Lady Amelie, der Schwägerin Lord Permbrokes, entstand, die weiter zur Freundschaft mit den Permbrokes führte.

»Es war auch in Moskau schön, Sir Arthur, aber noch besser gefällt es mir hier in England. Geht alles, wie ich hoffe, dann bringe ich nächsthin auch meine Schwester Modeste nach London mit.«

Lady Ellen griff den Faden auf.

»Ihre jüngere Schwester, Jolanthe… Ihre Stiefschwester, wenn ich nicht irre. Damals war sie noch nicht mündig. Der Vormund hielt sie auf den livländischen Gütern ihres Vaters in sicherer Obhut…«

Jolanthe lachte.

»In sehr sicherer Obhut, Lady Ellen. Unser gemeinsamer Vormund, der alte Baron von Keddern, ist noch ein Mann aus der alten Schule. Er hielt es für seine Pflicht, seine Mündel zu bewachen wie… wie… sagen wir, wie eine Henne ihre Kücken bewacht. Und da ihm das bei mir so glänzend mißlungen war, führte er es bei meiner Schwester mit doppelter Gewissenhaftigkeit durch. Ihre schönsten Jugendjahre mußte sie auf dem einsamen Tirsenhof verbringen. Da hatte ich’s im Hause meines Großvaters, des Fürsten Iraklis, doch angenehmer.«

Lord Permbroke mischte sich dazwischen.

»Aber eigentlich, eigentlich hätte Ihr Vormund doch auch Sie damals zu sich nehmen, nach Livland bringen müssen.«

»Eigentlich, Sir Arthur. Gewiß! Er hatte auch die besten Absichten dazu. Hat es öfter als einmal versucht. Aber meine Großeltern sträubten sich, und ich wollte es noch viel weniger. Bedenken Sie doch, meine rechte Mutter war lange tot. Ich hatte kaum noch eine Erinnerung an sie. Eine ganz flüchtige nur noch an meinen Vater…«

Jolanthe strich mit der Hand über die Stirn, als ob sie trübe Gedanken verjagen wolle.

»…Mein armer Vater. Bald hierhin, bald dorthin trieb ihn die Pflicht durch das weite Rußland. Bis er endlich den Dienst quittierte, sich auf seine Güter zurückzog und zum zweiten Male heiratete. Meine Stiefschwester war eben erst ein Jahr alt, als er sich mit seiner Gattin auf den Weg machte, mich heimzuholen. Und dann kam die Katastrophe, der Sturm auf dem Schwarzen Meer…«

»Es war ein tragisches Schicksal, das Ihnen am gleichen Tage den Vater und die neue Mutter raubte.«

»Schicksal, Sir Arthur? Man hat von der Besatzung und den Passagieren jenes Schiffes niemals wieder etwas gehört. Nur Trümmer wurden an den Strand geworfen.« Wieder fuhr sie mit der Hand über die Stirn.

»Lassen wir das. Es ist vorbei. Das alles liegt hinter uns.« Jolanthe zwang sich zu einem Lächeln.

»Nie werde ich das erstaunte Gesicht des alten Herrn von Keddern vergessen, als ich plötzlich vor ihm stand und mich ihm als ein inzwischen mündig gewordenes Mündel präsentierte… und doch, Sir Arthur, als ich dann auf dem Tirsenhof, dem alten Stammgut unserer Familie, stand, als ich meine junge Schwester zum ersten Male in die Arme schloß, da begannen die Bilder des Kaukasus zu verblassen. Ich spürte es an tausend Dingen, daß ich hier doch in der rechten Heimat war… und bald wurde ich auch heimisch. Zuerst freilich kamen sie mir recht frostig entgegen, die lieben Nachbarn von Jurgensburg und Ogershoff. Aber bald schwand die Zurückhaltung, und schon nach einem Monat war es so, als hätte ich immer auf dem Tirsenhof gelebt.«

Lord Permbroke lächelte.

»Aber der Tirsenhof hat Sie trotzdem nicht lange festhalten können, Baronin.«

»Nein, Sir Arthur, vorläufig noch nicht. Später… vielleicht einmal. Wer weiß? Solange man noch jung ist, nicht zu lange an derselben Stelle.« Bei diesen Worten erhob sie sich von ihrem Sessel.

»Man wird steif und lahm, Sir Arthur, wenn man zu lange an derselben Stelle hockt. Ich merke es hier schon, obwohl die Sessel recht bequem sind.«

In scherzhafter Übertreibung dehnte und reckte sie die Glieder. »Lassen Sie uns die letzte Viertelstunde zu einer Promenade durch das Schiff benutzen.«

Gemächlich schlenderten sie das breite Promenadendeck entlang, das sich rechts und links von dem großen Mittelsaal durch die ganze Länge des Schiffes hinzog. Es war nicht unbelebt. Offiziere der mit der ›Sutherland‹ anfliegenden neuen Wachttruppe, Mitglieder der Regierung und ihre Damen. Lord Permbroke mußte hier und dort stehenbleiben, grüßen, ein paar Worte wechseln.

»Immer noch Wolken, Sir Arthur, kein Blick auf den Erdboden möglich?«

»Wir werden ihn gleich zu sehen bekommen, Baronin. Das Schiff steht vor der Landung.«

Das Klirren der Maschinentelegrafen drang durch den Raum. Der Bug der ›Sutherland‹ neigte sich leicht nach unten, und in schrägem Fluge schoß das Schiff abwärts. Der Sonnenschein verschwand, und die trübe Stimmung eines schottischen Nebeltages breitete sich aus. Schon wurden die altersgrauen Mauern von Montgomery-Hall sichtbar. Jetzt noch klein wie ein Spielzeug, doch nun schnell groß und immer größer werdend. Immer langsamer sank das Schiff. Tief und immer tiefer, bis es auf dem Boden des großen Schloßhofes leicht aufsetzte.

Die Pforten des Schiffs öffneten sich, Treppen wurden herangeschoben, die Passagiere verließen das Schiff.

Dort die Truppen, die hierhergebracht wurden, um die alte Wachmannschaft abzulösen. 30 Mann mit ihren Offizieren. Erlesene Mannschaften. Erst vor 24 Stunden waren sie nach einem geheimen Schlüssel aus verschiedenen Truppenteilen herausgezogen und zu einer neuen Wachtmannschaft zusammengestellt worden. Man wollte durch diese Maßnahme jede Möglichkeit ausschließen, daß etwa von irgendeiner interessierten Stelle her bestimmte Personen in die Wachmannschaft hineingeschoben wurden, wollte dadurch jeden Anschlag, jedes möglicherweise geplante Komplott gegen Montgomery-Hall im Keime ersticken.

Die neue Wachmannschaft formierte sich und marschierte unter der Führung ihrer Offiziere zu dem Teil des Schlosses, in dem sich die Räume für die Wache befanden.

Lord Permbroke war Lady Ellen und Jolanthe von Karsküll beim Verlassen des Schiffes behilflich.

Nun standen sie auf dem Schloßhof, gingen zum Portal und traten in die Räume des alten Normannenbaues ein. Lange gewölbte Korridore. Eine mächtige Halle im Erdgeschoß. Größere Fenster nach dem Hofe zu. Kleinere, mehr an Schießscharten als an Fenster erinnernde Öffnungen nach außen hin.

»Man meint, mehr in einer Festung als in einem Schlosse zu sein«, sagte Lady Ellen.

»In der Tat, Ellen«, pflichtete Lord Permbroke bei, »unser verstorbener Freund wählte ja gerade deshalb diesen abgelegenen Bau für seine Versuche. Hier konnte er sich von aller Welt abschließen, mit einfachen Mitteln gegen jeden Angriff verteidigen. Er übernahm unverändert, was die normannischen Baumeister vor 800 Jahren errichtet hatten, und fügte von sich aus noch etwas hinzu, wodurch die alte Burg auch für moderne Mittel völlig unangreifbar wurde.«

»Sie sprachen von den wunderbaren Sicherungen, Sir Arthur?« sagte Jolanthe.

»Ich gestehe, daß ich darauf fast noch neugieriger bin als auf den Apparat selbst. Man erzählt sich Wunderdinge davon.«

»Ich werde Ihnen die Anlage zeigen, Baronin. Nur… es ist eigentlich nichts daran zu sehen. Sicherlich ist Ihnen gar nichts aufgefallen, als wir durch das große Portal hineinkamen.«

»Nein, Sir Arthur, aber vergessen Sie auch nicht, daß ich von der Technik und der Physik absolut nichts verstehe.«

»Auch ein Physiker hätte kaum etwas Auffallendes bemerkt, Baronin. Ein matter, kaum sichtbarer Metallstreifen an jedem der beiden Türpfosten. Wir konnten unangefochten hindurch, weil die Sicherungen abgestellt sind. Wären sie es nicht, so würde in dem Augenblick, in dem ein Mensch sich zwischen den Pfosten befindet, ein tödlicher Funke zwischen diesen überspringen und den Eindringling niederschlagen.«

Jolanthe blieb stehen und strich mit der Rechten über die matt glänzenden Metallstreifen.

»Das ist interessant, Sir Arthur. Aber ich glaube, nicht ganz ungefährlich. Wenn man nun einmal vergißt, eine dieser Sicherungen abzustellen. Ich hörte, daß solche Sicherungsanlagen sich nur allzu leicht gegen den eigenen Besitzer kehren… und zwar um so leichter, je vollkommener sie zu sein scheinen.«

»Ihr Einwurf ist nicht unbegründet, Baronin. Montgomery sah diese Gefahr voraus und begegnete ihr auf eine meisterhafte Weise. Die Ein- und Ausschaltungen der vielen Sicherungsanlagen des Schlosses… es sind mehrere hundert solcher Hochspannungssicherungen… sind in einem einzigen Hebel zusammengefaßt, der sich im Schlafzimmer des Verstorbenen befindet. Mit einer einzigen Handbewegung konnte Montgomery alle diese Sicherungen aus- oder einschalten. Er vermied dadurch die Gefahr, daß etwa die eine oder andere übersehen wurde. Auch in dieser Anlage offenbart sich das technische Genie des toten Erfinders.«

»Dann, Sir Arthur«, fiel Jolanthe von Karsküll dem Lord in die Rede, »wäre es doch für irgendeinen Bewohner des Schlosses ein leichtes, aus dem Gebäude herauszukommen, indem er heimlich den Universalschalthebel umlegt und dadurch sämtliche Sicherungen ausschaltet.«

Lord Permbroke lächelte. »Nein, Baronin, so einfach ist die Sache nicht. Montgomery wußte sich noch besser zu schützen. Die Tür zu seinem Schlafzimmer ist mit unzähligen Nagelköpfen verziert. In einem dieser Köpfe hatte er eine besondere magnetische Sicherung angebracht. In dem siebenten Türnagel der vierten Reihe. Wir hätten das Geheimnis niemals gefunden. Glücklicherweise hatte Montgomery es bei Lebzeiten seinem alten Kammerdiener anvertraut. Erst wenn man einen Magneten an diesen Kopf bringt, wird eine besondere Sperrung des Türschlosses aufgehoben. Erst dann kann man schließen und in das Schlafzimmer hineingelangen.«

»Das ist interessant, Sir Arthur. Aber wenn man dies Geheimnis nicht wüßte, wenn man – es wäre doch vielleicht nach dem Tode des Erfinders das Nächstliegende gewesen – wenn man diese Tür mit Gewalt aufgebrochen hätte, so wäre man doch auch in das Zimmer gekommen.«

»Nein, Baronin, man wäre schon bei dem Versuch, die Tür zu zerstören, von der Hochspannung erschlagen worden. Erst durch diesen unscheinbaren Nagelkopf wird die Sondersicherung der Schlafzimmertür ausgeschaltet.«

Jolanthe von Karsküll biß sich auf die Lippen.

»Ich sehe, Sir Arthur, Elias Montgomery wußte sich wirklich gegen unerwarteten Besuch zu schützen.«

»Er wußte es in der Tat, Baronin. Selbst dann noch, wenn irgend jemand doch in das Schlafzimmer eindrang, wenn er etwa die fast meterstarken Wände durchbrach, war er immer noch nicht am Ziel. Er hätte den Schalthebel immer noch vergebens gesucht. Oh, Montgomery war ein Genie. Er wußte sich zu schützen.«

Während Lord Permbroke seine Erklärungen gab, waren sie weitergegangen.

Ein hoher Raum jetzt. Eichenbalken von mächtigen Abmessungen trugen die Decke. Durch Butzenscheiben fiel das Licht in allen Farben des Regenbogens in das Innere. Lange Tische, mit Hunderten von Apparaten bedeckt, zeugten hier von der Lebensarbeit des toten Schloßherrn.

In der Mitte des Raumes auf einem besonderen Tisch der Apparat. Da stand er, der Wunderkasten, der jetzt die ganze Welt in Aufruhr versetzte. Ein Kasten, wohl sechs Fuß lang, drei Fuß breit und ebenso hoch. Seine Wände wurden von schimmernden Spiegelscheiben gebildet, die an den Kanten durch starke Bronzeleisten zusammengefügt waren. Das geschliffene Glas reflektierte zum Teil die Bilder der Umgebung. Man mußte nahe herantreten, um den Inhalt des Kastens genau zu erkennen. Ein Gewirr von Spulen und Kondensatoren, Schaltern und Maschinen. Völlig rätselhaft für den Laien, unenträtselbar auch bis jetzt für die Gelehrten.

Als Lord Permbroke dicht an den Apparat herantrat, erhob sich ein Greis, der auf einem Schemel regungslos davor gehockt hatte. Seine Züge drückten tiefste Mutlosigkeit aus. Nur langsam glätteten sich die Falten auf seiner Stirn, während er mit Lord Permbroke einen Händedruck wechselte. Und Sir Arthur unterließ jede Frage. Ein Blick auf dieses entmutigte Antlitz bewies ihm zur Genüge, daß auch Professor Syndham mit diesem verzauberten Kasten nicht zu Ende kam, daß alle seine Versuche fehlgeschlagen waren. Mit müden Schritten verließ Professor Syndham den Raum.

Jolanthe von Karsküll stand vor dem Apparat. »Wie der Sarg Schneewittchens!« kam es von ihren Lippen.

Lord Permbroke ließ ihr geraume Zeit, ehe er zum Weitergehen mahnte. »Was sehen Sie an dem unnützen Kasten, Baronin? Wir wollen das alte Schloß besichtigen. Es wird Sie sicherlich mehr interessieren.«

Noch immer stand Jolanthe wie hypnotisiert vor dem Kasten.

»Das also ist der berühmte Apparat, mit dem Montgomery die Atomenergie beherrschte?… um den sich jetzt alle Welt den Kopf zerbricht?«

»Er ist es, Baronin… wenn er es ist. Wir wissen bis heute noch nicht sicher, ob er es ist oder ob Montgomery einen Vexierapparat hinterließ, um die ganze Welt damit zu narren. Ich würde das letztere glauben, wenn nicht der Tod so ganz unvermutet und so plötzlich über Montgomery gekommen wäre.«

»Sie meinen also, Sir Arthur, es ist doch der richtige Apparat, den wir hier vor uns sehen?«

»Ich muß es meinen, Baronin. Aber warum widersteht er dann allen unseren Bemühungen?«

»Warum?… ja, warum?« flüsterte Jolanthe, und mit ihr taten Tausende, ja Hunderttausende in aller Welt die gleiche Frage.

Aus dem Laboratorium schritten sie durch einen hohen Kreuzgang und stiegen die steinerne Wendeltreppe zu den oberen Stockwerken empor. Auch hier alles in altem normannischem Stil. Große Säle, enge Kammern. Endlich eine schwere Eichentüre. Aus starken Bohlen gefügt, mit gewaltigen Bändern aus geschmiedetem Eisen beschlagen, mit Nagelköpfen verziert. Sie war verschlossen. Lord Permbroke hatte den Schlüssel dazu bei sich. Umständlich schob er dieses Meisterstück frühmittelalterlicher Schmiedekunst in die Schlüsselöffnung hinein.

»Sehen Sie, Baronin, durch keine Macht der Welt ließe sich der Schlüssel jetzt drehen. Man würde eher den Bart abbrechen.«

Er zog einen kleinen Magneten aus der Tasche und setzte ihn auf den siebenten Kopf der vierten Reihe. Gleichzeitig drehte er mit der anderen Hand den Schlüssel leicht herum. Die Tür bewegte sich in ihren Angeln und schlug auf.

»Aber so… so geht es.«

Sie standen im Gemach, dem Schlafgemach des toten Erfinders. Bescheiden, fast dürftig die Ausstattung. Ein einfaches eisernes Feldbett, ein bescheidener Waschtisch. Alte wurmzerfressene Eichenschränke. Ein mächtiger alter Kamin. Auf den groben Hausteinquadern der Wände zahlreiche elektrische Leitungen. Jolanthe blickte sich im Gemach um.

»Interessant! In der Tat interessant, Sir Arthur, aber…«

»Aber Sie vermissen den Schalter, von dem wir sprachen?«

Bei diesen Worten näherte sich Lord Permbroke einem in Form eines Armes an der Wand befindlichen Beleuchtungskörpers. Es war eine alte Kunstschmiedearbeit, ein Rankenwerk mit Tannenzapfen.

»Versuchen Sie es, Baronin, diesen untersten Zapfen zu bewegen.«

Jolanthe trat hinzu und bemühte sich vergeblich. Fest und unverrückbar schien auch dieser Zapfen mit dem Schmiedestück verbunden zu sein.

»Das ist unmöglich, Sir Arthur.«

»Aber es wird möglich, Baronin.«

Wieder trat der kleine Magnet in Tätigkeit. Lord Permbroke brachte ihn an den Zapfenstil, und im gleichen Augenblick gab der Zapfen unter Jolanthes Händen nach. Leicht ließ er sich zur Seite biegen. Im gleichen Augenblick ein leises Knarren in der Quaderwand neben dem Bett. Eine der Quadern sprang wie eine Tür nach außen auf, und da in dem Hohlraum in der Wand wurde ein einziger Schalthebel sichtbar.

»Sehen Sie, Baronin, jetzt sind wir am Ziel. Dort ist der Nerv, der alle Sicherungen betätigt. Jetzt steht der Hebel waagerecht, steht von der Wand ab. Legt man ihn nach oben um, dann sind alle Sicherungen in Tätigkeit. Kein lebendiges Wesen kann dann in das Schloß hinein oder aus ihm heraus.«

Jolanthe von Karsküll ließ ihre Blicke zwischen dem Wandarm und dem Schalter hin und her wandern.

»Ich bin eigentlich etwas enttäuscht, Sir Arthur. Ich glaubte, man müßte ein hervorragender Physiker sein, um die Sicherungen bedienen zu können. Nun ist das alles so einfach… das müßte doch jeder Laie auch können.«

»Gewiß, Baronin! Jeder Laie kann es, wenn er das alles weiß, was wir jetzt wissen. Aber zu Lebzeiten Montgomerys wußte es nur der Schloßherr selbst und sein Diener.«

Mit diesen Worten drückte Lord Permbroke gegen die Quader. Leicht drehte sie sich wieder in ihre frühere Stellung zurück. Ein Schloß schnappte. Verschwunden war der Schalter, nur die glatte Wand ohne jedes Merkmal sichtbar.

Beim Verlassen des Zimmers fast das gleiche. Ohne jede Schwierigkeit ließ die Tür sich jetzt schließen. Kein Magnet brauchte dabei in Tätigkeit zu treten.

Die Besichtigung des Schlosses ging ihrem Ende zu. Sie waren auf den Schloßhof hinausgetreten, wo die ›Sutherland‹ lag, als Jolanthe sich auf etwas zu besinnen schien.

»Meine Tasche… ich habe sie im Parlourroom liegen lassen. Einen Augenblick bitte.«

Noch bevor Lord Permbroke ihr seine Dienste anbieten konnte, war sie über die Treppe in das Schiff geeilt. Der Lord benutzte den unfreiwilligen Aufenthalt, um seiner Gattin die altertümlichen Steinbildereien im Schloßhofe zu zeigen. Uralte Steinmetzarbeiten.

Hochrelief in einer naiven und allen Gesetzen der Perspektive Hohn sprechenden Anordnung. Szenen aus der Geschichte jenes sagenhaften Königs Malcolm, der zuerst normannisches Recht und normannische Art in Schottland einführte. Er war noch beim Erklären, als Jolanthe schon zurückkam, die Tasche am Arm. Lord Permbroke warf einen Blick auf die Uhr.

»Es ist bald Zeit zum Abfahren.« Er sah sich nach dem Flugschiff um, auf dem schon die ersten Vorbereitungen zur Fahrt getroffen wurden. Da! Ein Matrose kam taumelnd die Schiffstreppe herab. Schritt schwankend wie ein Betrunkener über den Hof dem Revier der Schloßwache zu. Glasig sein Blick. Wie fiebergerötet seine Haut.

Der Lord winkte einen Offizier heran.

»Was ist mit dem Mann?«

»Ein Fieberanfall, Eure Lordschaft. Wahrscheinlich Malaria. Der Mann war früher Seemann.«

»Hm.«

Lord Permbroke stand einen Augenblick zweifelnd. Dann, als hätte er einen Entschluß gefaßt.

»Entschuldigen die Damen einen Augenblick? Ich will nach dem Mann sehen. Wäre möglich, daß der hierbleiben muß. Es wären dann einige kleine Formalitäten zu erledigen… immerhin ein überzähliger… ein nicht vorgesehener Insasse von Montgomery-Hall.«

Schon riefen die Sirenen der ›Sutherland‹ die Passagiere wieder an Bord. Schon marschierten die abgelösten Wachmannschaften über die Laufbrücken in den Schiffsrumpf, und auch für Lord Permbroke und seine Damen wurde es Zeit, an Bord zu gehen.

Lady Permbroke und Jolanthe von Karsküll standen wartend auf dem Schloßhof. Sir Arthur blieb lange aus.

Jolanthe von Karsküll stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden.

»Diese Formalitäten!… Wie überflüssig!«

Da kam der Erwartete zurück.

»Leider ist es nicht möglich, den kranken Matrosen auf der ›Sutherland‹ mitzunehmen. Der Arzt hatte des außerordentlich hohen Fiebers wegen zu starke Bedenken.«

Noch wenige Minuten, und die ›Sutherland‹ wurde von ihren Hubschraubern senkrecht in die Höhe genommen. Im dämmernden Abend blieb Montgomery-Hall tief hinter dem enteilenden Schiff liegen.

Die ›Potomac‹, das große Transatlantikschiff, war auf dem Fluge nach Amerika. Es war ein Sonderflug zu den Niagarafällen anläßlich jenes gewaltigen, von William Jefferson vorgeschlagenen Experimentes, das seit mehreren Wochen alle Welt in Atem hielt. Des Nachmittags um drei Uhr hatte die ›Potomac‹ den Hamburger Hafen verlassen. Nach einer Fahrzeit von genau zwölf Stunden sollte sie fahrplanmäßig am folgenden Tage bei den Fällen landen. Die Zeitdifferenz von sieben Stunden zwischen Europa und Mitteleuropa kam ihr bei dem Westflug zugute.

Unabhängig von Land und Wasser, von Wind, Wetter und Eis folgte die ›Potomac‹ dem kürzesten Kurse, der über Nordschottland und Südgrönland geht und die Niagarafälle von Kanada her anschneidet. Das Schiff war überfüllt, jede Kabine, jeder Platz jeder Stuhl besetzt. Während die ›Potomac‹ schon in dreißig Kilometern Höhe über Nordschottland dahinschoß, waren die Stewards immer noch eifrig beschäftigt, neue Sessel und Liegestühle aus den Vorratsräumen herbeizuholen.

So erhielt Malte von Iversen endlich im Speisesaal der ›Potomac‹ eine Sitzgelegenheit, auf der er seine Glieder strecken konnte. Er war gerade noch zurechtgekommen, als man bereits die Laufplanken der ›Potomac‹ einziehen wollte, um mit einem letzten gewaltigen Satz an Bord zu springen.

Jetzt saß er, streckte und verschnaufte sich. Die nächsten zwölf Stunden gehörten ihm. Hier konnte ihm Eisenecker nicht entkommen.

Aber bei dieser Völkerwanderung zu den Niagarafällen, von der dieÜberfüllung der ›Potomac‹ einen kleinen Vorgeschmack gab, würde es ihm nicht leicht sein, seinen Mann in der unübersehbaren Menge an den Fällen selbst im Auge zu behalten.

Indes vier Augen sehen mehr als zwei, und zehn Augen sehen noch mehr. Darauf hatte Iversen seinen Plan gebaut und sich telegrafisch mit amerikanischen Detektiven ins Einvernehmen gesetzt. Ein unmittelbares Verschwinden sollte dem Beschatteten bis zur Unmöglichkeit erschwert werden.

Auch hier im Speisesaal der ›Potomac‹ bildete das bevorstehende Experiment William Jeffersons an allen Tischen den Hauptgegenstand der Unterhaltung. In allen Sprachen Europas wurde darüber debattiert und stellenweise recht absprechend geurteilt. Seit Monaten hatten ja bereits die Zeitungen darüber berichtet und die Möglichkeiten eines Erfolges erörtert. Manche Blätter hatten das Ganze als eine richtige Yankeeidee bezeichnet. Diese groteske Idee, die fünfunddreißig Millionen Pferdestärken der Niagarafälle konzentriert auf ein Becken mit einhundert Kilogramm Quecksilber wirken zu lassen. Einige Gelehrte hatten sogar von einer hemdsärmeligen Physik gesprochen, wie man in früheren Zeiten wohl ähnlich von der Diplomatie zu sprechen pflegte. Die Mehrzahl der Zeitungsstimmen hatte auf das Problematische des ganzen Versuches hingewiesen.

Aber die Wirtschaft und besonders die Börse war nervös geworden, wurde immer nervöser, je näher der Tag des Experimentes heranrückte. Von Tag zu Tag gaben die Kurse der Gold- und Energiewerte nach. Der schwarze Donnerstag, der Todestag Montgomerys, war noch nicht vergessen.

Iversen hatte einen Platz in der einen Ecke des Saales bekommen, von dem aus er den ganzen großen Raum gut übersehen konnte. Während er dort saß, hier und da Gesprächsbrocken über das Thema William Jefferson auffing und einzelne Passagiere musterte, trat Eisenecker ein. An einem Tisch in der Mitte des Saales fand er Platz und ließ sich das Schiffsdiner servieren. Von seinem Winkel aus konnte Iversen das Gesicht des Mannes in aller Ruhe studieren, und er tat es gründlich. Geübt, in den Physiognomien der Menschen zu lesen, verfolgte er jeden Zug dieses Gesichts. Er studierte dieses Antlitz wie ein Buch.

Verbarg sich da nicht etwas, das den äußeren Schein Lügen strafte? Welche geheimen Pläne woben hinter dieser breiten, kantigen Stirn? Welches Ziel hatten diese leuchtenden, willensharten Augen?

Der ganze Mensch ein Rätsel, ihm. Warum nutzte er nicht unverzüglich seine Erfindungen aus?

Die Atomenergie… sollte die Erkenntnis der Macht, die sie ihrem Beherrscher in die Hand gab… sollte diese Erkenntnis solche rätselhaften Wandlungen hervorrufen? Schon die bizarre Weise, in der Elias Montgomery sein Leben umgestellt hatte, nachdem ihm die Entdeckung gelungen, gab der Welt reichlichen Grund zum Kopfzerbrechen. Hier schien sich der Fall, wenn auch in anderer Weise, zu wiederholen. Auch dieser hier schwieg über seine Entdeckung. Zwar vergrub er sich nicht in seinem Haus, schloß sich nicht hermetisch von jedem Verkehr ab, aber im Erfolg war sein Tun das gleiche. Er floh in die Welt.

Flucht… ja Flucht war’s, die Eisenecker in die Ferne trieb! Flucht vor den quälenden Zweifeln, die ihm Herz und Sinn beschwerten. Die Erkenntnis der ungeheuren Tragweite dessen, was ein günstiges Geschick ihm nach mühevoller Arbeit in den Schoß geworfen, wuchtete wie eine ungeheure Last auf seiner Seele. Mit allen Kräften des Geistes und des Körpers rang er dagegen, um nicht niederzubrechen.

Durch ein einfaches Versehen waren damals in seinem Hause Energiemengen von unbeabsichtigter Größe frei geworden, der alte Ellernhof war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. In diesem Augenblick war ihm die gefährliche Größe seiner Entdeckung klar vor die Augen getreten. Gleichgültig, ohne Bedauern hatte er zugesehen, wie das jahrhundertealte Gebäude ein Raub der Flammen wurde.

Ein Wink des Schicksals war ihm diese Feuersbrunst, die ihm das Obdach raubte, die ihn aus enger Einsamkeit hinaus in fremde Welten trieb. Neue Kräfte sammeln im Getriebe der Welt! Neue Kräfte, um das Errungene so auszubauen, so zu verwerten, daß es Segen für die Menschheit wurde. Nicht ein blutiger Sieg, bei dem unzählige Existenzen die Opfer der gewaltigen Umstellung werden mußten.

Eine neue, ganz große Aufgabe. Sie mußte gelöst sein, bevor er Europa, der Welt die neue Energiequelle in die Hand gab.

Wohin sich wenden? Amerika…? Seine Industrie die bestentwickelte, zugleich die am straffsten organisierte der Welt. Hier die neue Energiequelle zur Anwendung gebracht! Hier mußten die Folgen am deutlichsten zu sehen sein. Hier hatten sich auch bereits ernste Köpfe mit dem Problem beschäftigt, wie einem so umwälzenden Ereignis, wie der Entdeckung der Atomenergie am besten zu begegnen sei.

Der Versuch Jeffersons… die Riesenenergie der Niagarafälle auf ein wenig Quecksilber loszulassen… er lächelte bei dem Gedanken daran.

Der Kaffee wurde serviert. Mechanisch folgte Eisenecker dem Beispiel der meisten anderen Gäste und griff nach dem Radiohörer, der neben jedem Sitz hing. Neueste Nachrichten aus der Welt… vier Jahre hatte er einsam auf dem Ellernhof gehaust, in seine Arbeit vertieft, abgeschnitten von jedem Verkehr. Was vier Jahre hindurch in der Welt geschah, war ihm fremd geblieben. Es würde einige Zeit benötigen, die Lücke wieder auszufüllen. Wahllos ließ er den Einstellhebel über die Metallscheibe gleiten.

Kairo: Attentat auf die ägyptische Staatsbank. In der heutigen Sitzung des ägyptischen Parlamentes machte der Innenminister folgende Mitteilung:

Von einer weitverzweigten internationalen Bande ist ein Attentat auf unsere Staatsbank versucht worden. Man hat von einem gegenüberliegenden Gebäude aus unter der Straße hinweg mit der Aushebung eines unterirdischen Ganges begonnen. Die ägyptische Polizei, die schon seit langem unterrichtet war, griff heute mit schnellem Schlag zu und konnte mehrere Mitglieder der Bande verhaften.

Doch nun kommt das Außergewöhnliche, woran unsere Hörer vielleicht zweifeln werden. Es war nicht beabsichtigt, den Bankschatz zu rauben. Man wollte ihn nur vernichten. Es war beabsichtigt, hundert Zentner der brisantesten Sprengstoffe unter die Bankkeller zu bringen, um das ganze Bankgebäude, das ganze Stadtviertel von Grund auf in die Luft zu sprengen. Über die Täter schweigt sich die Polizei vorläufig noch aus.

Der Minister teilte dem Parlament darauf den folgenden, jedenfalls nicht gewöhnlichen Entschluß des Gesamtministeriums mit, den Bankschatz bis auf weiteres in den Totenkammern der Cheopspyramide unterzubringen. Das vollkommen freie und übersichtliche Gelände um die Pyramide herum wird in einem Umkreis von drei Kilometer gesperrt werden. Um die Sicherung durchzuführen, beabsichtigt die Regierung zunächst, einen Militärkordon um die Pyramiden zu legen. Später soll der Schutz noch durch elektrische Sicherungen verstärkt werden. Diese Nachricht wird bei denen, die in diesem Jahre einen Besuch Ägyptens und der Pyramiden vorhaben, sehr gemischte Gefühle auslösen. Viele werden den Besuch sicherlich unterlassen, da die Pyramiden ein Hauptziel für die Touristen sind.

Eisenecker rückte den Hebel weiter: Bern, Sitzung des europäischen Staatsrates. Rede des deutschen Delegierten über die europäischmaurischen Verhandlungen in Rom.

Die Brauen des Hörenden schoben sich halb unwillig, halb drohend zusammen. Noch immer der Feind auf europäischem Boden! Seine Gedanken flogen zu der spanischen Halbinsel, flogen zurück durch die Jahre. Zurück zu der Zeit, als er dort die großen Kraftwerke in Segovia, in Zamora und bei La Roda baute. Ein Name besonders ging ihm durch den Sinn. Gonzales… Pionierhauptmann damals in Segovia…

Er hörte nichts mehr von dem, was aus dem Radiohörer klang. Alle seine Gedanken und Erinnerungen weilten bei dem Hauptmann Antonio Gonzales. Damals in Segovia war er zu ihm gekommen, sich Rat wegen einer technischen Erfindung zu holen. Eisenecker war erstaunt gewesen, in dem einfachen Soldaten einen glänzenden Techniker kennenzulernen. Aus der Bekanntschaft war schnell eine Freundschaft geworden… Wo mochte Gonzales jetzt leben?… Wenn er noch am Leben war. War er vielleicht in den maurischen Kämpfen gefallen?

Ein Schüttern ging durch den Rumpf der ›Potomac‹ und unterbrach seine Gedanken. Das Schiff hatte während der letzten Stunden das Eismeer zwischen Island und Grönland überflogen und mußte sich jetzt etwa in der Höhe von Christianland befinden. Schon seit einiger Zeit schien es Eisenecker, als ob der Lauf der Maschinen unregelmäßiger geworden wäre. Jetzt konnte kein Zweifel mehr sein. Die Maschinen setzten aus. Man hatte es zweifellos mit einer Betriebsstörung zu tun.

Von allen Seiten her klangen jetzt aufgeregte Stimmen durch den Raum. Überall war man auf das Versagen der Maschinen aufmerksam geworden und suchte die Gründe dafür zu erfahren. Widersprechende Nachrichten zuerst… ein Defekt an der Kühlung. Ein Undichtwerden des Gasraumes… heißgelaufene Lager.

Die ›Potomac‹ ging im Gleitflug nach unten. Jetzt standen die Maschinen für die Horizontalpropeller ganz still. Tiefer und tiefer ging es hinab. Die Wolken wurden durchstoßen. Die Erde wurde sichtbar. Die ›Potomac‹ befand sich über dem grönländischen Inlandseis… Fast stoßfrei setzte sie jetzt auf einer glatten Gletscherfläche auf.

Es war eine Notlandung. Schon begann die Schiffsstation zu senden und Hilfe herbeizurufen. Ein Tenderschiff vom nächstgelegenen Stützpunkt in Reykjavik mit Monteuren, Werkzeugen und vor allen Dingen mit neuem Betriebsstoff. Denn das war ja ganz unzweifelhaft die Ursache der Notlandung. Eisenecker erkannte den Grund, als er aus einem der Heckfenster die lange, breite, schwarzschimmernde Spur sah, die das ausfließende Teeröl auf dem Eise hinterlassen hatte. Nur ein Tankdefekt konnte es gewesen sein, der vorzeitig die Betriebsstoffe der ›Potomac‹ erschöpfte und sie hier zum Niedergehen zwang.

Da lag das Schiff in der eisigen Einöde. Hilfe war bereits zugesagt, aber es würden Stunden vergehen, bevor sie da sein konnte. Es wäre nicht schlimm gewesen, wenn man Brennstoff gehabt hätte. So aber fehlte jede Heizung der ›Potomac‹ durch Auspuffgase oder heißes Wasser von den Maschinen her. Schon begann die grönländische Kälte sich auch im Schiffsinnern fühlbar zu machen. Die Reisenden waren nur mit leichter Sommerkleidung versehen. Alle möglichen Decken und Hüllen aus den Beständen der ›Potomac‹ wurden zusammengesucht und mußten zum Schutz gegen die Kälte dienen.

Trotz alledem wäre es immer noch ein lustiger Mummenschanz gewesen, wenn nicht das Unwetter hinzugekommen wäre. Von Minute zu Minute verstärkte sich die Gewalt des eisigen Sturmes, der von Norden her über die Gletscher hinraste. Aus dem Sturm wurde ein Schneesturm. Immer dichter füllte sich die Luft mit feinen Eiskristallen. Schon war die Hügelkette, die kaum einen Kilometer vom Landungsplatz der ›Potomac‹ entfernt den Gletscher im Norden säumte, durch den dichten Schleier der wirbelnden eisigen Schneemassen nicht mehr zu erkennen. Wie aufprallender Hagel fast hörte es sich im Schiffsinnern an, wenn der Sturm in immer neuen wütenden Stößen den Schnee gegen die eisernen Flanken der ›Potomac‹ schleuderte.

Immer schneidender, immer eisiger die Kälte im Schiffsraum. Schon drängten sich Gruppen von Passagieren eng aneinander, verkrochen sich zusammen unter Kissen und Decken, um dem schweren Frost besser Widerstand leisten zu können.

Eine andere schwere Gefahr dabei im Hintergrunde. Es war fraglich, ob das Hilfsschiff bei diesem Unwetter landen konnte, ob es die ›Potomac‹ in diesem Schneesturm überhaupt finden würde.

Etwa zwei Stunden waren seit der Notlandung der ›Potomac‹ verstrichen. Was erst ein verhältnismäßig harmloser Zufall zu seinschien, drohte nun eine Katastrophe zu werden. Zu allem Überfluß brach jetzt auch die kurze nordische Nacht an. Immer dichter legte sich die Dämmerung über das vereiste Land, während der Nordsturm mit ungebrochener Kraft die stiebenden Schneemassen vor sich her jagte.

Mittschiffs hatte man inzwischen eine Luke geöffnet und den Laufsteg ausgelegt. Die Maschinisten waren hinausgegangen, um den Defekt zu untersuchen und womöglich auszubessern. Elektrische Fackeln beleuchteten die Arbeitsstätte. Fantastisch brach sich ihr Licht in den unablässig niederwirbelnden Schneemassen. Das Kreischen von Bohrern und Sägen wurde hörbar. Schwere Hammerschläge ließen den Rumpf der ›Potomac‹ erdröhnen. Die Ausbesserungsarbeiten kamen in Gang. Aber was konnte es helfen, wenn nicht rechtzeitig das rettende Tenderschiff kam und Wärme in diese Eiswüste brachte.

Iversen hatte sich, so gut es gehen wollte, in einen dicken Smyrnateppich eingewickelt. Trotzdem zitterte er vor Frost. Mechanisch schaute er durch das Fenster den Maschinisten bei ihrer Arbeit zu. Sah verwundert schärfer hin. Stand dort nicht ein Passagier bei den Maschinisten? War das nicht die Gestalt Eiseneckers, die dort im Scheine der Fackeln sichtbar wurde?

Da sah er ihn auch schon wieder eintreten, sah ihn zu seinem Gepäck gehen und sich damit beschäftigen.

Malte von Iversen hielt es für geboten, sich möglichst wärmefest in seinem Smyrnateppich zu verkriechen, denn die Kälte wurde schlimmer und schlimmer.

Eisenecker sah, daß die Komödie im Begriff stand, sich zur Tragödie zu wandeln. Verstummt die Scherze über den Mummenschanz. Verklungen das Lachen über die wunderlichen… grotesken Bilder, die einzelne da in den Verkleidungen boten.

Wie lange würde es noch dauern, bis das Hilfsschiff kam? Selbst bei günstigster Fahrt mußte es noch Stunden dauern. Stunden, in denen vielleicht schon manchen der Passagiere der eisige Tod weggerafft… Und kam es gar, ohnmächtig, gegen den wahnsinnigen Sturm, der über die Eisfläche brauste, anzukämpfen, erst am nächsten Morgen… keinen einzigen von der Besatzung der ›Potomac‹ mehr… einen Sarg würde es finden.

Weit draußen auf dem Eise. Eisenecker war’s, der dort gegen den Sturm ankämpfte, die Taschenlampe in der einen, den Kompaß in der anderen Hand, Schritt für Schritt vordrang. Oft mußte er stehenbleiben. Atem schöpfen, neue Kraft sammeln.

Immer wieder warf der Sturm ihn zu Boden. Er nahm die Lampe zwischen die Zähne. Keuchend kroch er geblendet von den Schneeflocken vorwärts. Immer wieder drohten die Kräfte ihn zu verlassen. Eine tiefe Schneewehe. Er stürzte hinein. Die Lampe entglitt ihm. Die starren Hände tasteten nach ihr, fanden sie nicht… das Ende?

Mit letzter Kraftanstrengung warf er sich zur Seite, den Rücken gegen eine Schneewehe gelehnt. Hier traf ihn der Sturm weniger.

Eine unendliche Müdigkeit… unendliche Ruhe überkam ihn… Ah! Wie tat das wohl, hier zu liegen. Die Augen fielen ihm zu. Schlafen… schlafen… Ruhe!

Und so lag er, und wie im Fluge glitt sein Leben, alles was er getan, an ihm vorüber…

Barsum!… Der Tag, der die Wende bedeutete. Wie ein krankes Tier hatte er sich nach jenem Furchtbaren in seine Höhle… in das fast vergessene Vaterhaus zurückgezogen. Hatte gewartet, sich in Sorge und Liebe um Mette Harder verzehrend, daß irgendein Lebenszeichen zu ihm dränge. Ein halbes Jahr verstrich darüber. Da las er in der Zeitung von der Verlobung Mettes mit dem anderen. In tage- und nächtelangem Kampf hatte er mit sich gerungen. Er hatte geglaubt, zugrunde gehen zu müssen. Zwecklos jede Lebensstunde ohne Mette an seiner Seite.

Der Herbst war ins Land gegangen. Eine Schar Zugvögel in langer Kette über seinem Kopf nach Süden steuernd… ihnen nach! Reisen! In die weite Welt!… Vergessenheit suchen!

Schon hatte er mit einem letzten Blick Abschied nehmen wollen vom Vaterhaus. Da war ihm der alte Wahlspruch der Eisenecker, der oben im Querbalken des Tores tief eingehauen stand, in die Augen gefallen:

Holt fast und kolt Isen!

Er hatte ihn gelesen, wieder und wieder, bis sich unbewußt seine Lippen öffneten, er die harten Worte laut vor sich hinsprach, sie schrie.

Da war es ihm klar geworden: Halt fest! Gib’s ihnen!

Und dann war er an das große Werk getreten… das Werk, das ihn… gelang es… zum Herrn der Welt machen mußte, Tag und Nacht… Jahr um Jahr hatte er gearbeitet. Das jahrhundertealte Besitztum der Eisenecker war dabei zugrunde gegangen. Schon das Dach über seinem Haupte bedroht. Da war der gleißende Klumpen aus dem Kasten gesprungen, der Bote des Sieges…

Der Kasten!…

Seine Hand fuhr zur Seite. War’s denn möglich? Hier lag er, den Tod erwartend, und der Retter hing ihm zur Seite.

Holt fast!

Die Hand klammerte sich um den kleinen Kasten. Er fühlte, wie die Schrauben und Spangen nachgaben. Sein Werk… Zepter und Krone! Herr über die Menschen… über die Natur! Die Hand, die den Kasten umspannt. Eine wohlige Wärme daran zuerst… immer stärker werdend. Schon zuckte die Hand zurück. Unbeabsichtigter Zufall! Es arbeitete darin.

Mit einem Sprung stand er da. Kinderspiel! Ein König, der nicht wußte, wie weit seine Macht ging. Da lag die Lampe. Er ergriff sie, schaltete sie ein. Mit neuer Kraft warf er sich dem Sturm entgegen. Drang weiter, weiter vor, bis er das Ziel erreicht… eine Felsenwand.

Zum Teil Granit, zum Teil Basalt. Durch den älteren und längst erstarrten Granit mußte viel später wohl ein glühender Basaltstrom in vulkanischem Ausbruch seinen Weg gebahnt haben. War dann auch erstarrt und hatte bei der Abkühlung eine weite und tiefe Höhle gebildet.

Eisenecker trat in die Höhle, schritt weiter und weiter in sie hinein, bis er das Ende erreicht hatte. Mit der Taschenlampe leuchtete er um sich. Seine Blicke musterten die Wände, den ganzen Höhlenbau.

»Ein guter, solider Stollen. Zum mindesten so gut wie der des Herrn Jefferson. Wie geschaffen für den Versuch!«

Er ergriff die Kassette, setzte sie durch einen Fingerdruck in Betrieb und stellte sie in einer Felsspalte nieder. Die Taschenlampe in der vorgestreckten Rechten haltend, strebte er eilig dem Ausgang zu.

Daß er nicht zu schnell ging, zeigte der warme Luftstrom, der plötzlich hinter ihm herfegte, stärker und wärmer wurde. Ihn heiß umspülte, ihn mit Gewalt aus dem Höhlenmund ins Freie warf.

Da lag er… stand er. Der Schnee um den Höhlenmund taute schnell weg. Das massive Gletschereis hier geriet ins Schmelzen. Schon bildeten sich Wasserlachen, wo eben noch klirrender Frost das Eis gebannt.

Er stand und lauschte, bis ein Dröhnen wie der Klang einer schwachen Detonation aus dem Höhlenmunde herausdrang.

»Gut so!« Er lächelte dabei. »Den Apparat findet keiner mehr, wenn sie später einmal in der Höhle suchen sollten. Energie nur an seiner Stelle… keiner, der sie sehen… messen kann.«

Zurück zur ›Potomac‹! Der warme Sturm, der ihn trieb, brachte ihn schnell zum Schiff. Da lag es. Tot?… Schon ein Sarg? Durch den Montageraum kroch er ins Schiff.

Ein Bild des Grauens. Wo noch Leben? Wo Tod? Zu Haufen zusammengedrängt, in starrer Ruhe die Insassen des Schiffes… kein Laut… keine Stimme. Friedhofsstille…

Er sprang zum Kabinenfester, riß es auf, daß sie eindrang, die Retterin… die warme, linde Luft.

Er stand und schaute. Und dann begann es sich zu regen. Stimmen wurden laut. Rettung? Hilfe? Was ist?

Der Kapitän der ›Potomac‹ sprang auf die Füße, schaute wirr um sich. Schritt taumelnd zu einer Luke. Seine Hände umkrampften den Rahmen des Fensters. In tiefen Atemzügen sog er den warmen lebensspendenden Hauch in die Brust ein. Einmal… zweimal… dann erinnerte er sich seiner Pflicht. Laut klang seine Kommandostimme durch das Schiff. Und wie, wenn sie Tote zum Leben zurückrufen? begann es sich zu regen. Einer nach dem anderen. Die Besatzung sammelte sich um ihn.

Was ist’s? Wo sind wir? klang’s wirr aus dem Haufen.

Das Hilfsschiff? Ist es da?… Nein!… Nichts ist da… Wetterumschlag!…

»Zu den Passagieren«, kommandierte der Kapitän.

Eine Viertelstunde nach der anderen. Lange… lange schienen alle Bemühungen bei einzelnen Passagieren vergeblich zu sein. Dann war es doch getan… geglückt. Alles zum Leben zurückgebracht.

Und dann drang alles nach außen… heraus aus dem Schiff. Statt des eisigen Schneegestöbers ein leichter warmer Regen. Sie achteten nicht, daß er sie durchnäßte. Froh jauchzend boten sie sich dem Wunder dar.

Unfaßbar!… unerklärlich! Was war es?

Das herannahende Tenderschiff erlöste die Harrenden, brachte neue Gedanken. Der Schaden war schnell repariert, schnell wurden die Tanks wieder aufgefüllt. Dann rief die Sirene alles an Bord. Die Laufstege wurden eingezogen, die Luken geschlossen. Die Schiffe stiegen auf. Nach Osten, nach Reykjavik setzte der Tender seinen Kurs, nach Westen, nach Kanada die ›Potomac‹.

Verlassen blieb die eisige Einöde zurück. Noch waren die weiten Eis- und Schneeflächen in Sicht, da schossen Feuerströme fontänenartig aus dem Gestein des Basaltberges. Vermischt mit riesigen Dampfsäulen erhitzten Wassers.

»Ein Erdbeben! Ein Vulkanausbruch!« Viele hundert Stimmen schrien es gleichzeitig. Nur so konnte es sein.

Malte von Iversen stand in der Nähe Eiseneckers. Seine Blicke sogen sich an dessen Mienen fest. Ein unbestimmter Argwohn in ihm. Der da! Der Eisenecker. Dessen Mienen ruhig, unbeweglich! Nur einmal, als der Ruf: Ein Erdbeben! erklang, glaubte er ein belustigtes Lächeln über dessen Züge huschen zu sehen. Aber das konnte vielleicht auch eine andere Erklärung haben.

Iversen grübelte und kombinierte. Der letzten einer war er gewesen, die die Mannschaft ins Leben zurückbrachte. Kostbare Zeit verstrich, wo er jenen nicht beobachten konnte.

Und er fragte und fragte. Den und den. Die Besatzung… die Offiziere… den Kommandanten…

»…Herr Eisenecker?… Hm! Jawohl! Gewiß… ich erinnere mich. Er war der ersten einer… wohl gar der erste…«

Malte von Iversen sann lange, kombinierte hin und her… verwarf alle Kombinationen… gab dem Generaldirektor Harder telegrafischen Bericht von dem, was geschehen.

Wochenend an den Niagara-Fällen. Alle Gasthöfe überfüllt. Unmöglich, die Massen in den engen Mauern zu beherbergen… und immer neue noch, die zu Wasser, zu Lande und zu Luft herbeiströmen. In selbstgebauten Zelten, oft aus den unmöglichsten Dingen errichtet, lagerten Tausende und aber Tausende in Erwartung jenes Moments, von dem man in den Staaten, ja in der ganzen Welt schon seit Wochen sprach. Sie erwarteten jenen Augenblick, an dem Punkt 12 Uhr mittags alle Wasserkräfte des Niagara mit ihren 35 Millionen Pferdestärken auf jenen Versuch Jeffersons konzentriert werden sollten. Auf jenen wunderbaren Versuch, von dessen Erfolg für das Wirtschaftsleben der ganzen Welt so unendlich viel abhängen konnte… wenn er gelang.

Das südliche, amerikanische Ufer der Fälle war seit einer Woche gänzlich abgesperrt. Dort hatte man in den massiven Fels der hohen Ufermauern unterhalb der Fälle einen Stollen gesprengt, der den Versuchsraum bilden sollte. Auf dem anderen, dem kanadischen Ufer, staute sich die neugierige Menge. Staute sich und starrte, obwohl kaum etwas zu sehen war. Nur der betonierte Stolleneingang, in den ein paar mannstarke Kabel hineinführten.

Um 12 Uhr sollte das Experiment stattfinden. Jetzt war es 11 Uhr. Schon begannen die in Flugzeugen Kommenden sich möglichst gute Plätze in der Luft zu sichern. Etagenweis stand die ungeheure Menge der Flugzeuge im Äther über den Flußufern aufgebaut.

Die Fälle selbst donnerten jetzt am Sonntag mit kaum geschwächter Kraft in die Tiefe, wie sie schon vor Hunderten und Tausenden von Jahren niedergestürzt waren. Unendliche Wassermassen, die über die Felskante fielen und Gischt und Nebel 100 Meter hoch warfen. Denn so war es ja jetzt geregelt. Wenn am Samstag die großen Kraftwerke den größten Teil ihres Betriebes stillegten, wenn nur noch ein Teil der Energie für Beleuchtungs- und Verkehrszwecke gebraucht wurde, darin schloß sich allmählich eine der Kanalschleusen nach der anderen, und die Wassermassen, deren Energie im Augenblick nicht mehr benötigt wurde, durften sich im freien Sturz im alten Bett austoben. Ein majestätisches Schauspiel für die Besucher, die jeden Sonntag zu den Fällen kamen. Ein Schauspiel, das jedesmal bis zum Montag morgen währte, an dem sich die Schleusen wieder öffneten und die Wassermassen zu den riesigen Turbinen leitete.

Heute trat diese Veränderung schon am Sonntag um 11 Uhr vormittags ein. Eine Schleuse nach der anderen wurde geöffnet, ein Kraftwerk nach dem anderen nahm den Betrieb an dem sonst so heilig gehaltenen Sonntag voll auf, um seinen Beitrag an Energie für das Experiment liefern zu können. Schwächer und schwächer wurden die Wassermassen, die noch über die Felskante stürzten. Nur noch ein leises Rieseln schwacher Rinnsale. Jetzt ist der kanadische Fall fast völlig trocken, jetzt auch der Horseshoe-Fall auf der anderen Seite. Die Ziegeninsel in der Mitte, Goats-Island, trockenen Fußes von beiden Ufern her erreichbar. Alle Kraft der Fälle arbeitete in den Werken, bereit, im entscheidenden Augenblick durch eine einzige Schalterbewegung in jenen in den massiven Fels eingesprengten Experimentierraum geleitet zu werden. Eine druckfeste Wanne dort tief im Felsen, gefüllt mit einigen wenigen Zentnern reinen Quecksilbers. Um 12 Uhr würden sich 35 Millionen Pferdestärken auf dieses Quecksilber stürzen, würden es… wie die Physiker erwarteten… zertrümmern… in Gold… in Helium… in Nichts. Selbst wenn das Experiment nicht in seiner ganzen Größe gelang, wenn die Atomenergie des Quecksilbers noch nicht freigemacht werden konnte, so erwartete man doch mit Sicherheit die Zerlegung und Umwandlung des Quecksilbers in einfachere Elemente.

Ein Mann in besten Jahren, einfach gekleidet, vielleicht ein Arbeiter aus den Kraftwerken, suchte sich durch die dichtgedrängten Menschenmassen am kanadischen Ufer nach vorn zu schieben. Was ganz unmöglich schien, nach und nach war’s ihm gelungen, sich bis zu den vordersten Reihen durchzudrängen. In nächster Nähe eines hochgewachsenen blonden Mannes hielt er plötzlich an. Betrachtete den Minuten hindurch mit größter Aufmerksamkeit. Murmelte dann zu den Umstehenden etwas von Unwohlsein und begann sich wiederum hastig nach rückwärts durch die Massen zu drängen.

Jetzt blieb er wieder stehen. Stand in der Nähe eines anderen, mit äußerster Eleganz gekleideten Herrn unbestimmten Alters. Machte dem, für die Umstehenden gar nicht bemerkbar, ein Zeichen mit den Fingern, und sofort begann auch dieser andere seinen Platz zu verlassen, sich aus dem Gedränge nach hinten hin zurückzuarbeiten, wo der Platz freier, mehr Beweglichkeit möglich war. Dort stand der Elegante, holte ein Taschentuch aus der Brusttasche und breitete es umständlich aus. Es war ein weißes großes Tuch mit einem gezackten blauen Rand. Er wischte sich damit den Schweiß von der Stirn und legte es genauso umständlich wieder zusammen, wie er es entfaltet hatte. Dann, als ob ihm das noch nicht genug, zog er ein rotseidenes Tuch heraus, mit dem er sich Luft zufächelte, als wäre ihm die Hitze ganz unerträglich geworden, entfaltete er ein neues weißes Tuch und führte auch das ans Gesicht. Dann sprang er in einen der hier stehenden Kraftwagen und fuhr in Richtung der Stadt davon.

Im gleichen Augenblick begann sich einer der in der obersten Flugschiffreihe stehenden Hubschrauber aus dem Verband zu lösen, flog über den Fluß und nahm ebenfalls den Kurs zur Stadt.

Der Apparat Iversen arbeitete. Seine Spürhunde hingen an Eiseneckers Fersen und würden ihn auch hier in dieser Riesenmenge bestimmt nicht aus den Augen verlieren.

Je näher die Mittagsstunde kam, desto höher stieg die Erregung der vieltausendköpfigen Menge. Sinnlos schoben die Massen immer weiter nach vorn. Auch das umfangreiche Polizeiaufgebot vermochte nicht mehr, die befohlene Ordnung aufrechtzuerhalten. Schon gab es Verwundete und Ohnmächtige in dem gefährlichen Gedränge. Die Sanitätsmannschaften hatten alle Hände voll zu tun. Immer gewaltiger der Lärm, immer wilder die Stimmung.

Da endlich 12 Uhr!… Ein Kanonenschuß erdröhnte… sekundenlange Stille folgte. Alles starrte wie hypnotisiert auf das gegenüberliegende Ufer.

Ein leichtes Dröhnen und Brausen drang durch die Luft. Ein Zittern ging durch den Erdboden. Dann ein befreiender Aufschrei aus hunderttausend Kehlen.

Bravo!… Hurra!… Händeklatschen… die Massen kamen in Bewegung. Ihr Johlen und Schreien wetteiferte mit dem immer stärker werdenden Dröhnen in den Felsen des anderen Ufers.

Doch stärker und stärker wurde das Dröhnen, wurde zum Donnern… und dann ein häßlicher markdurchdringender Klang. Ähnlich etwa, wie wenn das eiserne Rad eines schweren Wagens auf der Straße einen Ziegelstein zermalmt. Aber vieltausendfach stärker, millionenfach kreischender. Ein Klang, bei dem es den Hunderttausenden auf dem gegenüberliegenden Ufer kalt über den Rücken rann.

Die Menge stand starr, stierte in höchster Spannung auf das gegenüberliegende Ufer, auf jene Stelle hin, wo die meterstarken Kabel in den Fels eintraten. Starrte und sah, was geschah.

Die ganze gewaltige Felswand dort drüben geriet in Bewegung, schwankte wie im Erdbeben und klaffte in immer größer werdenden Rissen auseinander. Leichter Dampf schoß aus den Spalten. Wassermassen folgten. Immer mächtiger, immer gewaltiger brachen sie aus der Felswand. In breitem Schwall sprudelten sie aus den Klüften, stürzten schäumend und donnernd in die Tiefe.

Was war das? War eine verborgene Wasserader angeschlagen? Nein!… Wie ein Lauffeuer ging es durch die Tausende.

Eine Katastrophe hatte sich ereignet, eine Katastrophe für die Kraftanlage. Die riesige Energie, tief im Felsen auf einen einzigen Punkt konzentriert, hatte sich gewaltsam Luft gemacht. Sie hatte die Eingeweide der Felswand zerstört, zerbrochen, zermalmt. Die Turbinenschächte, die von den oberen Stromschnellen her das Kraftwasser zu den Werken führten, waren aufgebrochen und verschüttet, alle Kraftanlagen tot… unbrauchbar.

Die sinnlose Menge sah es und jubelte beim Bilde dieser Zerstörung. Was kam es noch weiter auf die Kraftwerke an. Das Experiment mußte ja gelungen sein… mußte ganz sicher geglückt sein. Und dann, im Besitze der neuen Energie, der Atomenergie… was brauchte man da noch die Wasserkraftwerke des Niagara.

Und wenn es etwa nicht vollständig gelungen war, wenn die Atomenergie noch nicht entfesselt war… das mußte doch zum mindesten geglückt sein, die Umwandlung des Quecksilbers in Gold. Und mit dem Golde, damit konnte man ja leicht neue bessere Turbinenschächte bauen, wenn man die Kraftwerke vorläufig doch noch brauchen sollte.

Die große Menge war bei diesem Schauspiel jedenfalls auf ihre Kosten gekommen und machte ihrer Begeisterung in unendlichem Toben und Lärmen Luft.

Das Experiment William Jefferson war zu Ende. War es wirklich gelungen? Erst nach Tagen, vielleicht nach Wochen würde man darüber etwas wissen können. Dann erst, wenn die entfesselten Wassermassen wieder abgelenkt, der Zutritt zu dem Versuchsstollen wieder frei sein würde. Dann vielleicht, wenn die tobenden Fluten den ganzen Apparat nicht etwa mitgerissen und alle Ergebnisse fortgeschwemmt hatten. Jetzt wußte man noch nichts darüber. Aber schon jetzt war es für jeden Fachmann klar, daß es viele Millionen und lange Arbeit kosten würde, um die verhängnisvollen Folgen dieses Experimentes zu beseitigen und den alten Zustand der Kraftwerke wiederherzustellen.

Abendgesellschaft im Königsschloß von Madrid. Schimmernde Uniformen hoher Offiziere mischten sich mit dem schwarzen Kleid der obersten Beamten und Diplomaten. Wie ein bunter Flor dazwischen die vielfarbigen glänzenden Toiletten der Damen.

Der neue Hof. Die ganze neue Gesellschaft, die sich um diesen Hof scharte. Darunter wohl einige schiffbrüchige Existenzen der alten Gesellschaft… Alles war versammelt. Trotzdem offensichtlich eine gewisse Auswahl unter den farbigen Vertretern getroffen war, sah man doch so ziemlich alle Typen des nordafrikanischen Völkergemisches. Hier der stolze gelassene Maure, dort der schlanke rassige Berber. Neben dem eleganten Tunesier der blonde, blauäugige Rifkabyle. Dazwischen die Kreuzungen aller dieser Rassen. Mischlinge aus europäischem und afrikanischem Blut.

Unter den Damen die gleichen Erscheinungen. Die entblößten Nacken und Arme blitzten von kostbarem Schmuck, übergossen vom Sonnenglanz der elektrischen Lampen.

An der Seite der Fürstin Iraklis, welche für die fehlende Hausfrau die Honneurs machte, Prinz Ahmed Fuad, der Bruder des Kalifen. Das Antlitz schwach gebräunt, unter den schweren Lidern ein paar dunkle Augen. In ungezwungener Haltung begrüßte er jeden Gast mit ausgesuchter Liebenswürdigkeit.

Jetzt verweilte er lange bei einem hohen Offizier, dem der linke Ärmel leer an der Uniform hing. Das war Fürst Murad Iraklis, der berühmte Führer der maurischen Vorhut. Sein Haar war stark ergraut, doch straff die Haltung, ungebeugt die Gestalt. Das ebenmäßig geschnittene Gesicht, die helle Hautfarbe ließen ihn durchaus als Europäer erscheinen. Fürst Iraklis, der Georgier, der Kaukasus seine Heimat. Doch nach einem Zwist mit Soliman el Gazi, dem Kalifen des neuen asiatischen Reiches, war der Feuerkopf außer Landes gegangen, war der Paladin des maurischen Kalifen geworden.

An seiner Seite ein junges blondes Mädchen. Nordländischer Typ unverkennbar. Bewundernd blickten die blauen strahlenden Augen auf das glänzende Bild dieser Gesellschaft… und doch wäre ein gewisser müder, abgespannter Ausdruck in den feinen Zügen dem aufmerksamen Beobachter kaum entgangen. Es war Modeste von Karsküll, die Schwester der Baronin Jolanthe. Die schöne Russin, wie sie in der Madrider Gesellschaft genannt wurde.

Erst seit kurzem weilte sie hier. So überraschend und verwirrend war alles gekommen. Vor wenigen Wochen noch in Livland auf dem einsamen Tirsenhof. Und dann plötzlich diese Reise nach Spanien, hier die Einführung in die Gesellschaft und bei Hofe.

Jolanthe hatte sie von dort geholt. Wollte sie der Einsamkeit entreißen, ihr die Schönheiten Europas zeigen.

Das Reiseziel? Alle Hauptstädte Europas standen auf dem Programm. Der Tod des alten Fürsten Iraklis warf es über den Haufen.

Ein gewaltiger Besitz hatte seinen Herrn verloren. Zwar ging der bedeutendste Teil davon an den Fürsten Murad, aber große Liegenschaften fielen auch an Jolanthe. Eine Auseinandersetzung war notwendig. So ging sie nach Spanien, und so kam Modeste von Karsküll nach Madrid. Herzlich hier die Aufnahme der Schwestern im Hause des Gouverneurs.

Aber dann… Modeste hatte die Gründe dafür nicht recht verstehen können… dann mußte Jolanthe plötzlich in einer wichtigen Angelegenheit nach London fahren. Auf kurze Zeit nur, hieß es. Täglich wurde sie jetzt zurückerwartet. Inzwischen boten die Verwandten alles auf, um Modeste den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, ihr durch Zerstreuungen und Unterhaltungen aller Art über die Trennung hinwegzuhelfen.

Prinz Ahmed Fuad, der Regent, kam öfters in das Haus des Gouverneurs. Hier sah er Modeste das erstemal. Tief war der Eindruck, den Modestes taufrische Jugend, in blonder Schönheit blühend, auf den maurischen Fürsten machte. Tief die Leidenschaft, die das Blut des reifen Mannes entflammte. Immer häufiger wurden die Besuche des Prinzen, so häufig bald, daß ihre Ursache dem Fürstenpaar nicht länger verborgen bleiben konnte. Auch in der Gesellschaft huldigte der Prinz der jungen Baronin in solcher Weise, daß es vielen auffiel.

Modeste, betäubt und berauscht von dem glänzenden Leben dieser Hofkreise, in das sie so plötzlich getreten war, ließ sich seine Huldigungen ahnungslos gefallen. Die vornehme, unaufdringliche Art, in der Prinz Ahmed sie mit den Beweisen seiner Ergebenheit umgab, schmeichelte ihr.

Erst allmählich gelang es ihr, den klaren Blick wiederzugewinnen. Mit Erschrecken hatte sie wahrgenommen, daß die Worte und Blicke des Prinzen mehr bedeuteten als die üblichen Huldigungen des galanten Kavaliers. Was sollte sie tun? Sich der Fürstin Iraklis anvertrauen, diese um Rat fragen? Sie ließ den Gedanken bald wieder fallen.

So ganz anders stand sie ja der Familie des Gouverneurs gegenüber als Jolanthe, die durch enge Blutsverwandtschaft mit dem Fürsten Iraklis verbunden war. Ihr wollte es nicht gelingen, ein wärmeres Gefühl für die Fürstin zu fassen. Zu vieles schied sie innerlich von der Frau, die auf Seiten der Gegner des europäischen Vaterlandes stand.

Gegner des Vaterlandes? Modeste begann in diesen Wochen, da Jolanthe in London weilte, über die Verhältnisse nachzudenken. Fürst Murad, der rechte Oheim Jolanthes, der Eroberer Spaniens, das Schwert des Kalifen. Jolanthe, die Schwester? Fühlte die noch für das europäische Vaterland, oder stand ihr Herz auf der Seite der maurischen Eroberer?

Modeste erschrak bei dem Gedanken. Sie fühlte, daß sie hier allein stand, ihre Sache allein auskämpfen mußte. Bis die Schwester wiederkam, bis sie dies Land verlassen, nach Europa zurückkehren konnte. Zurück, wenn es sein mußte, selbst in die enge Stille des Tirsenhofes.

Sie nahm sich vor, sich dem Prinzen gegenüber so reserviert wie möglich zu verhalten, seine Nähe, so gut es ging, überhaupt zu meiden. Und erreichte damit doch nur das Gegenteil. Mehr denn je bemühte er sich jetzt um sie und zeichnete sie vor aller Welt in einer Weise aus, daß kein Zweifel an seinen Gefühlen bestehen konnte. Jetzt wieder, als der Prinz so auffällig lange bei ihr verweilte, glaubte sie zu spüren, wie die Blicke der Gesellschaft auf ihr brannten, glaubte das Geflüster zu hören, das von Mund zu Mund durch den Saal ging.

Da brandeten die Wellen der Musik durch den weiten Raum. Eine tiefe Verbeugung des Prinzen. Er reichte Modeste den Arm und eröffnete mit ihr den Ball. Röte und Blässe wechselten in ihren Zügen. Schwankend ging sie an seiner Seite. Fast körperlich glaubte sie jetzt die Blicke der Gäste zu fühlen. Diese Auszeichnung vor den Augen der Hofgesellschaft. Kaum, daß sie Kräfte fand, die freundlichen Worte, die der Prinz zu ihr sprach, zu erwidern.

Erlöst atmete sie auf, als der Rundgang beendet war und der Prinz sie zu dem Fürstenpaar zurückführte. Wie hilfesuchend wollte sie sich an den Arm des Fürsten hängen, doch die erhobene Hand fiel zurück, als sie das strahlende, vielsagende Lächeln in deren Mienen sah. Hier war es vergeblich, Beistand zu suchen. Alleinsein der einzige Wunsch.

Mit unsicheren, zitternden Gliedern gelang es ihr, sich aus dem Gedränge der Gäste zu entfernen. In einer Ecke des großen Wintergartens sank sie erschöpft auf eine Bank nieder. Die Stille, die kühle Luft hier beruhigten sie. Allmählich gelang es ihr, ihre Selbstbeherrschung wiederzugewinnen. Sie wollte sich erheben, in den Saal zurückkehren, da stand der Prinz vor ihr.

»Verzeihung, Baronin… Ihr Entfernen… Sie fühlen sich nicht wohl?… Ich bin besorgt.« Er blickte in ein farbloses Antlitz, das sich abzuwenden versuchte. Wie abwehrend hob Modeste die Hand. Der Prinz ergriff sie, hielt sie fest.

»Baronin… Modeste, ich glaubte Ihr Vertrauen zu besitzen… ich fühle, daß Ihre Freundlichkeit gegen mich geringer… habe ich Sie gekränkt?«

»Nein, ich fühle mich nicht gekränkt… ich wüßte auch nicht, daß ich mich irgendwie geändert hätte.«

»O doch! Sie sind ganz anders in der letzten Zeit geworden. Die schöne Freundschaft, die Sie mir am Anfang unserer Bekanntschaft gönnten, die mich so sehr beglückte, ist verschwunden… habe ich das verschuldet?«

Der Prinz stockte. Modeste fühlte den zitternden Unterton seiner Stimme, fühlte, wie er immer fester ihre Hand umklammerte.

»Modeste…?« Drängend, werbend klang der Name ihr ins Ohr. Mit aller Kraft versuchte sie den Bann zu brechen, in den die Stimme sie zu zwingen drohte. Nach einer Pause kam ihre Antwort.

»Was wünschen Königliche Hoheit?«

Ihre Stimme klang fest. Das scharf hervorgehobene Wort ›königliche Hoheit‹ im Gegensatz zu seiner vertraulichen Anrede brachte ihn ein wenig zu sich.

Mit einer raschen Bewegung machte Modeste ihre Hand frei.

»Verzeihung, Baronin… wenn ich irrte, wenn ich glaubte…«

Noch einmal suchte er ihre Hand zu erfassen. Sie barg sie hinter sich, wandte sich wie zur Flucht.

Er vertrat ihr den Weg.

»Noch eine Frage, noch die letzte, Baronin…«

»Königliche Hoheit!« Die Stimme seines Adjutanten klang vom Eingang her. Ahmed Fuad zuckte zusammen. Mit drohender Miene wandte er sich um. Der Adjutant kam auf ihn zugeschritten.

»Was ist?« Die Stimme des Prinzen klang heiser vor Zorn.

»Das Telegramm aus England, Königliche Hoheit!«

In der Stimme des Offiziers klang etwas, das den Prinzen aufhorchen ließ.

»Das Telegramm?«

»Jawohl, Königliche Hoheit. Ich glaubte die Nachricht unverzüglich…«

»Gewiß!… Natürlich… Sie sind vollkommen entschuldigt. Rufen Sie den Fürsten Iraklis sofort in mein Arbeitszimmer. Die Gesellschaft… entschuldigen Sie mein Fernbleiben, gnädigste Baronin. Die Staatsgeschäfte zwingen mich, dem schönsten Fest den Rücken zu kehren.«

Er reichte Modeste den Arm und führte sie zum Ballsaal zurück. Am Eingang beugte er sich über ihre Hand. Sein Blick suchte ihr Gesicht, es war abgewandt.

»Die Frage… Baronin, später werde ich sie…«

Noch ehe er den Satz vollendet, war Modeste von seiner Seite verschwunden. Er verfolgte sie mit den Blicken, sah sie im Gewühl der Gäste zur Fürstin Iraklis eilen. Der Adjutant riß ihn aus seinen Sinnen.

»Das Telegramm aus England, Königliche Hoheit.«

Fürst Iraklis saß dem Prinzen gegenüber. Die chiffrierte Depesche lag auf dem Tisch zwischen ihnen. Trotzdem niemand außer ihnen in dem großen Raum war, sprachen sie nur flüsternd miteinander, als fürchteten sie, daß die Wände Ohren hätten. Beide befanden sich, es war unverkennbar, in starker Erregung. Aber ihre freudigen Mienen verrieten, daß die Nachricht nicht nur wichtig, daß sie auch gut sein mußte.

Der Prinz sprach.

»Und wem verdanken wir diesen wichtigen Erfolg? Einzig und allein Ihrer Nichte, Fürst. Ohne sie wäre es wohl niemals gelungen.«

»Ich bin beglückt, daß es ein Mitglied meiner Familie war, dem unsere Sache das zu verdanken hat.«

»Sie dürfen stolz darauf sein, Fürst Murad. Der bewundernswürdige Geist Jolanthes… sie hat schon manche Probe gegeben, das hier ist das Beste, was sie je geleistet. Die Art und Weise, wie sie alles vorbereitet… die kühne und glückliche Ausführung dann… es verdient uneingeschränkteste Bewunderung und Anerkennung. Mein Bruder, der Kalif, wird mit den Beweisen seiner Huld nicht zurückhalten… soweit es möglich ist, ohne Jolanthes Verhältnis zu uns zu decouvrieren.«

»Es ist meine ständige Sorge, daß eines Tages die Mission Jolanthes bekannt würde. Die Folgen für sie wären unausdenkbar.«

»…unausdenkbar. Das muß in jedem Falle vermieden werden.«

»Ich habe ihr schon mehrfach Vorstellungen gemacht. Sie zu größerer Vorsicht gemahnt. Sie lacht mich aus. Ich kenne Jolanthe aus ihrer frühesten Kindheit. Sie war stets ein streitbarer, schwer zu bändigender Charakter. Tollkühn, waghalsig, jedem Sport zugeneigt, der Gefahren in sich barg. Sie bedauerte es immer, nicht als Mann auf die Welt gekommen zu sein. Stundenlang konnte sie von den großen Taten schwärmen, die sie dann ausrichten würde. Als der letzte Krieg ausbrach, war sie eines Tages aus meinem Hause verschwunden.«

Der Prinz nickte.

»Ich hörte davon. Sie soll es fertiggebracht haben, als Freiwillige… nein, als Freiwilliger in das Heer Solimans einzutreten.«

»Sie hat es in der Tat fertiggebracht. Wir mußten lange Zeit suchen, bis es uns gelang, sie zu finden. Soliman el Gazi ließ sie sich vorstellen. Sie fiel ihm zu Füßen und bat, im Heere bleiben zu dürfen. Er schlug es ihr natürlich ab. Als sie bei ihrer Bitte beharrte, machte ein Adjutant scherzend den Vorschlag, sie möchte doch die gegnerischen Kriegspläne holen und uns bringen.

Ich sehe noch, wie Jolanthe aufhorchte, überlegte, dann plötzlich, als hätte sie einen Entschluß gefaßt, aufsprang und davonlief. Die anderen lachten. Ich, der Jolanthe kannte, äußerte Bedenken. Doch Königliche Hoheit kennen ja die Geschichte von früher her.«

»Ich hörte davon sprechen… andeutungsweise.«

Der Prinz schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Es ist nicht gut für uns… gefährlich für Jolanthe, wenn diese Geschichten zu vielen bekannt werden. Ich hörte nur, daß sie auch hier das Unmögliche möglich machte.«

»So war es in der Tat. Vier Wochen nach jener Szene stieß ein Flugzeug im türkischen Hauptquartier nieder. Jolanthe trat heraus. Sie hatte es selbst gesteuert, verlangte, zum Sultan geführt zu werden. Zufälligerweise war es derselbe Adjutant von damals, der sie empfing und lächelnd nach den Kriegsplänen fragte.

Statt der Antwort legte sie ein umfangreiches Paket auf den Tisch. Man glaubte immer noch an einen Scherz. Man öffnete es, und es waren die Abschriften der Feind-Pläne. Wie sie das zuwege gebracht hat? Man muß es aus ihrem Munde selbst hören. Wenn sie wiederkommt…«

»Wann denken Sie, daß wir Jolanthe wieder hier haben werden?«

»Das hängt von unserem Londoner Botschafter ab. Er allein kann die Situation klar beurteilen.«

»Sie wird ihre Schwester Modeste später mit nach London nehmen?«

»Sie hatte die Absicht.«

Ein Schatten lief über das Gesicht des Prinzen.

»Ich würde das sehr bedauern…«

»Gestatten Sie mir gnädigst ein offenes Wort?«

»Bitte, Fürst Iraklis, sprechen Sie.«

»Die Auszeichnung, mit der Königliche Hoheit Modeste von Karsküll begegnen… so ehrend sie auch ist, ist doch geeignet, in den Augen der Gesellschaft…«

Der Prinz richtete sich hoch auf.

»Die Gesellschaft? Wer wagt es, Modeste…?«

»Ich bitte, niemand wagt es… doch dürfte es genügen, die Gesichter der einzelnen zu beobachten, um zu wissen, wie man darüber denkt.«

Der Prinz war aufgesprungen und schritt erregt auf und ab.

»Die Gesellschaft!« Ein bitteres Lachen begleitete die Worte. »Ja, ja, die Gesellschaft. Ich hätte sie besser kennen sollen. Nichts ist dieser sensationslüsternen Menge heilig. Nichts bleibt von ihren unlauteren Gedanken verschont…«

Ein Zug zweifelnder Freude glitt über sein Gesicht. Sollte es das gewesen sein, was Modeste so verwandelte? Sollte die Furcht vor dem Urteil der Menge, der Meinung ihrer Umgebung die Ursache sein? Daher vielleicht der Zwiespalt ihrer Gefühle, daß sie über die Lauterkeit seiner Pläne in Unklarheit geraten?

Er trat an den Fürsten heran und legte ihm leicht die Hand auf die Schulter.

»Sie selbst, mein Fürst, haben, ich bin dessen gewiß, niemals geglaubt, daß ich aus anderen als rein freundschaftlichen Gefühlen heraus den Verkehr in Ihrer Familie gepflogen habe. Schon meine hohe Achtung vor Ihnen dürfte Ihnen Gewähr geben, daß es mir fern liegt, der Ehre Ihres Hauses zu nahe zu treten…«

Der Prinz stockte, als würde es ihm schwer, die Worte zu finden, sprach dann langsam weiter.

»Ich selbst habe es eine Zeitlang nicht vermocht, mir über meine Gefühle klare Rechenschaft zu geben. Die verschiedenen Verhältnisse… politische Erwägungen… Sie verstehen.

Jetzt bin ich mir vollständig im klaren. Hören Sie! Ich habe bei meinem Bruder als dem Oberhaupt der Familie angefragt, wie er sich zu meiner Heirat mit Modeste stellen würde.«

Fürst Iraklis war aufgestanden und beugte sich tief über die Hand, die der Prinz ihm entgegenstreckte.

»Ich verhehle Ihnen nicht, Fürst Iraklis, daß es von der Seite des Kalifen aus gesehen Gründe gibt, die dagegen sprechen. Ich hoffe jedoch, daß er sich meinen Darlegungen nicht verschließen und meiner Bitte ein gnädiges Ohr schenken wird. Bliebe nur das Wichtigste: wie wird Modeste meinen Antrag aufnehmen?«

»Ich hoffe, daß meine Nichte die hohe Ehre genügend zu schätzen weiß.«

»Mein lieber Fürst, ich weiß es nicht. Ja, ich muß sagen, daß ich über Modestes Gefühle gegen mich in Unklarheit und Zweifeln bin.

Es wäre mir sehr angenehm, wenn Jolanthe recht bald nach Madrid käme. Ihr Einfluß, ihr diplomatisches Geschick würden mir die Bahn ebnen. Mein Vertrauen zu ihr ist unbegrenzt.«

»Ich glaube kaum, daß Jolanthe vor einer Woche nach Madrid kommen wird. Ich werde es mit allen Mitteln versuchen, ihre Rückkehr zu beschleunigen. Man könnte die Erbschaftsangelegenheit benutzen… ihr vielleicht sogar durch das englische Auswärtige Amt Nachricht zukommen lassen, die ihre Reise hierher als unbedingt nötig und eilig erscheinen läßt. Ich will versuchen, es auf diesem Wege zu erreichen.«

Der englische Staatsrat war versammelt. Der Ministerpräsident kam zum Schluß seiner Ausführungen.

»Die Hoffnung, daß es Professor Syndham gelingen würde, den Apparat in Betrieb zu bringen, hat sich nicht erfüllt. Es war unsere letzte Hoffnung. Ich halte es danach für ausgeschlossen, sich noch länger dem Drängen aller europäischen Bundesstaaten zu widersetzen…«

Murren, halblaute Zwischenrufe in der Versammlung… ›unmöglich… unerhört… eine Blamage vor ganz Europa‹…

Der Ministerpräsident wartete, bis die Unruhe wieder abebbte, sprach dann weiter.

»Ich verstehe Ihren Widerspruch. Aber für die außen- und innenpolitische Lage Europas ist die schnelle Lösung des Montgomeryschen Rätsels von unendlicher Wichtigkeit. Eine weitere Verzögerung könnte bedeutsame Wendungen bringen, über deren Charakter ich mich wohl nicht näher auszulassen brauche.«

Wieder zwangen lebhafte Zwischenrufe den Redner, eine Pause zu machen. Mit erhobener Stimme fuhr er danach fort:

»Das Ministerium hat daher einstimmig beschlossen, der europäischen Bundesregierung ihre Bereitwilligkeit zu erklären, den Apparat Montgomerys durch andere von den Regierungen in Vorschlag zu bringende Physiker untersuchen zu lassen. Es kämen da die Sachverständigen der Riggers-Werke in Betracht. Ich hoffe, daß der Staatsrat zu diesem Vorschlag des Ministeriums sein Einverständnis geben wird.«

Eine überaus lebhafte Debatte begann. Stundenlang stritt man in heftigem Für und Wider.

Eine ungeheure Blamage. Ein vernichtendes Armutszeugnis. Immer wieder kam der Ruf aus dem Mund der Redner. Je weiter die Zeit vorrückte, desto unsicherer wurde der Erfolg einer Abstimmung.

Noch einmal erhob sich der Ministerpräsident, um die Argumente der Gegner zu widerlegen. Kaum hatte er seine Rede begonnen, als ihm durch einen Sekretär eine Depesche überbracht wurde. Er hielt kurz inne und überflog die wenigen Worte.

Was war das? Was war von solcher Wichtigkeit, daß man ihn damit in seiner Rede störte?

Die ganze Versammlung starrte auf den Präsidenten, der… ja, was war mit dem? Irgendeine persönliche Angelegenheit? Das Gesicht des Ministers war so weiß wie das Blatt in seiner zitternden Hand. Seine Lippen bewegten sich tonlos. Mechanisch tupfte er mit dem Taschentuch über die Stirn, als wäre es ihm zu heiß. Immer wieder irrten seine Augen verstört über die Depesche.

Eine peinliche Pause. Was hatte er, was stand in der Depesche?

Endlich! Der Präsident gab sich einen Ruck.

»Meine Herren!« Seine Stimme stotterte, als hätte er sie noch nicht in der Gewalt. »Meine Herren… eine Mystifikation… die Nachricht hier… aus Montgomery-Hall… der Apparat… er ist… er soll verschwunden… gestohlen sein! Ich kann es nicht…«

Als hätte der Blitz in die Versammlung geschlagen, war die Wirkung dieser Worte. Sie saßen alle starr, schauten mit schreckensbleichen Gesichtern auf den Minister. Dann… ein Aufruhr, allgemeiner Tumult.

Sie sprangen von ihren Sitzen, stürzten auf den Präsidenten zu, umringten ihn, bestürmten ihn mit Fragen…

Einer riß ihm die Depesche aus der Hand. Zehn Hände streckten sich danach, um sie ihm zu entreißen. Doch der entfaltete das Papier und las mit lauter Stimme.

»Montgomery-Hall, den 18. Juni, 10 Uhr vormittags.

Leutnant Steffenson und Mac Ivor öffneten um 9:30 Uhr das Laboratorium. Die Tür ordnungsgemäß verschlossen und gesichert. Im Laboratorium alles in Ordnung. Der Apparat Montgomerys verschwunden. Sämtliche Sicherungen des Schlosses revidiert. Alle eingestellt, in Ordnung. Unmöglich, daß der Apparat aus dem Schloß entfernt ist. Alle Räume des Schlosses durchsucht, nichts gefunden. Die Nachforschungen werden fortgesetzt. Leutnant Steffenson, Mac Ivor.«

Der Ministerpräsident hatte seine Fassung wiedergewonnen.

»Meine Herren!« Seine Stimme schallte durch das Getöse und den Wirrwarr im Saal. »Meine Herren, wollen Sie sich auf Ihre Plätze begeben. Die Angelegenheit erfordert, daß wir mit größter Ruhe und Überlegung die Schritte beraten, die zu tun sind. Vorerst verpflichte ichSie alle zur strengsten Verschwiegenheit. Die Öffentlichkeit darf nichts erfahren, bevor der Tatbestand nicht völlig klargestellt ist.

Zur Sache selbst beantrage ich, daß eine sofort zu wählende Kommission sich im Flugschiff nach Montgomery-Hall begibt. Scotland Yard stellt dazu drei ausgewählte Detektive. Die Professoren Syndham und Farland werden aufgefordert, sich anzuschließen. Keiner jedoch erfährt den Zweck vor dem Betreten des Schlosses.«

Der Antrag wurde ohne Debatte angenommen. Unverzüglich wurde zu seiner Ausführung geschritten.

Dreimal vierundzwanzig Stunden später. Alle Lautsprecher der Welt schrien es der Menschheit in die Ohren:

Montgomerys Apparat aus Montgomery-Hall verschwunden!

Die Welt hielt den Atem an. Schwer war es zu sagen, welche Nachricht stärker in ihrer äußerlichen Wirkung, die von Montgomerys Tode oder die vom Verschwinden des Apparates. Rätselhaft war das Vorkommnis. Immer unlöslicher wurde das Rätsel, je mehr man nach einer Erklärung suchte, je länger die Untersuchung sich hinzog.

Die Regierung hatte einen schweren Stand. Die Zentralregierung, die Regierungen der Einzelstaaten, die gesamte Presse luden ihr die Verantwortung auf. Das Kabinett trat, dem allseitigen Druck weichend, zurück.

Der europäische Staatsrat trat zu einer Sondersitzung zusammen. Nur einen Punkt hatte die Tagesordnung: Der Diebstahl des Apparates.

Hier sprach man nicht mehr von einem Verschwinden. Man setzte ohne weiteres voraus, daß der Apparat von interessierter Seite entwendet worden sei… trotz aller Sicherungen und trotz aller Wachen gestohlen worden sei. Es regnete Vorwürfe gegen die Vertreter und die Regierung, die die Erfindung für sich behalten wollte. Nach einer heftigen Rede des französischen Delegierten erhielt der deutsche Vertreter das Wort. Er machte der englischen Regierung den Vorwurf der Fahrlässigkeit. Sicherungen und Schutzmaßregeln, die einen Diebstahl nicht unmöglich machten, seien eben keine ausreichenden Maßnahmen. Ausgeschlossen sei es, daß etwa ein europäischer Staat an dem Diebstahl beteiligt sein könne. Zweifellos sei der Apparat von einer Europafeindlichen Seite entwendet worden. Unausdenkbar wären die Folgen, wenn es dieser Stelle auch noch gelänge, den Apparat in Tätigkeit zu setzen. Der Redner fuhr fort:

»Die Hoffnung Europas klammerte sich an diesen Apparat. Bot er doch die Möglichkeit, dem Kontinent das alte Übergewicht wieder zu schaffen. Jetzt ist nicht nur das Übergewicht, sondern auch das Gleichgewicht dahin. Dieser Apparat, diese Riesenenergie… es war das, was uns helfen konnte. Es versprach uns neue Lebensmöglichkeiten, Gelegenheit, unseren Menschenüberfluß unterzubringen. Es hätte uns auch die Möglichkeit gegeben, einen neuen Waffengang gegen die Eindringlinge in Spanien mit der Aussicht auf besseren Erfolg zu versuchen, die iberische Halbinsel für Europa zurückzugewinnen.

Meine Herren, stellen Sie sich vor, der Apparat wäre in maurischen Händen. Der Gedanke wäre nicht auszudenken. Unsere an sich schon übermächtigen Feinde im Besitz des Apparates, es wäre das Ende Europas.«

Gewaltig war der Eindruck dieser Rede auf die Versammlung. In aller Schärfe war hier ausgesprochen, welche fürchterliche Gefahr der Besitz des Apparates für ganz Europa bedeutete. Der englische Vertreter nahm das Wort, um die Erregung zu dämpfen. Er gab zur Entschuldigung seiner Regierung eine genaue amtliche Darstellung der Verhältnisse und Sicherheitsmaßnahmen in Montgomery-Hall. Er verwies auf die bisher freilich leider negativen Ergebnisse der Polizei, und er schloß: »Mag’s gestohlen haben, wer will, in Betrieb wird den Apparat niemand setzen können. Was der Blüte unserer Wissenschaft nicht gelang, wird auch keinem anderen gelingen.«

Ein Murren ging bei diesen Worten durch die Versammlung. Noch einmal nahm der deutsche Vertreter das Wort.

»Ich kann die Ansicht meines Kollegen nicht teilen. Die deutsche Regierung hat es als einen Affront empfunden, daß man ihr Anerbieten, deutsche Gelehrte zur Mitarbeit heranzuziehen, glatt ablehnte. Ich spreche ja kein Geheimnis aus, wenn ich sage, daß auch bei uns auf dem gleichen Gebiet gearbeitet wird. Die Versuche der Riggers-Werke sind noch weit vom Abschluß entfernt. Man hat bei uns erst bedeutend später mit diesen Arbeiten begonnen. Aber trotzdem hätte es das Interesse Europas erfordert, daß man mindestens einige Physiker der Riggers-Werke zur Lösung der Aufgabe mitherangezogen hätte. Ich glaube, daß eine Lösung des Problemes mit vereinten Kräften wahrscheinlicher gewesen wäre, und ich kann England den Vorwurf nicht ersparen, daß es durch sein Verhalten diese Möglichkeit vereitelt hat.

Dieser gestohlene Apparat ist jedenfalls zu Lebzeiten Montgomerys in Betrieb gewesen. Die Möglichkeit, ihn wieder in Betrieb zu setzen, besteht. Wehe unserem armen Europa, wenn das von feindlicher Hand geschieht.«

Die Sitzung des Staatsrates ging ihrem Ende zu. Blitzartig hatte sie die schwere Gefahr erhellt, die ganz Europa aus der gegenwärtigen Situation erwachsen konnte, wahrscheinlich erwachsen mußte. Wirksame Mittel zur Abhilfe konnten auch die in diesem Rat versammelten Staatsmänner nicht schaffen. Von Tag zu Tag steigerte sich die allgemeine Nervosität. Wer konnte den Apparat haben? Wer hatte das größte Interesse daran, ihn in seinen Besitz zu bringen?

Kein europäischer Staat! Das wurde allgemein angenommen.

Aber wer sonst?… Amerika? Die Vereinigten Staaten von Amerika? Kamen die ernsthaft dafür in Betracht? Man erinnerte sich, daß jenes gewaltige Experiment Jeffersons erst am 18. Juni stattfand, während der englische Apparat schon einen Tag früher entwendet wurde… Da war es wenig wahrscheinlich, daß Amerika seine Hand dabei im Spiele hatte.

Das japanische Inselreich? Nach früheren Erfahrungen und Vorkommnissen war man geneigt, ihm auf dem Gebiet der Spionage und selbst der Eskamotage mancherlei zuzutrauen. Aber es fehlte jede Spur eines Beweises. Bisher hatte Japan äußerlich wenigstens noch nicht das geringste Interesse an dem großen Problem der Atomenergie gezeigt.

Blieben drittens und letztens die neuen islamitischen Reiche in Nordafrika und Asien. Das mauretanische Reich Abdurrhamans, das ägyptische Kalifat und das große islamitische Reich in Asien, welches die Länder vom Suez-Kanal bis nach Turkestan umfaßte. Die hätten alle drei wohl Grund gehabt, sich des Apparates zu bemächtigen, um in dessen Besitz desto kräftiger und feindlicher gegen Europa aufzutreten. Aber auch hier führte kein Weg vom Verdacht bis zum Beweis.

Das Rätselraten ging weiter. Alarmierende Nachrichten durchliefen die Presse der ganzen Welt. Bald hier, bald dort vermutete man den verschwundenen Apparat. Detaillierte Berichte über seine an diesem und jenem Orte der Welt beobachteten Wirkungen schwirrten durch die Spalten der Weltpresse. Besonders findige Berichterstatter wollten Leute gesprochen haben, die den gläsernen Kasten Montgomerys sogar gesehen hatten.

Aber immer wieder war es blinder Alarm. Die Wirkungen, die man dem Apparat zuschrieb, stellten sich stets als ganz natürliche Vorkommnisse, als Seebeben, Vulkanausbrüche oder Wirbelstürme heraus, die man auch schon vor Montgomerys Erfindung beobachten konnte.

Die Wochen verstrichen darüber, und immer dichter, immer undurchdringlicher wurde der mysteriöse Schleier, der über dieser Affäre lag. Im Gedächtnis der großen Menge begann das Ereignis zu verblassen, von anderen neuen Geschehnissen verdrängt zu werden.

Zwei Männer aber lebten in Europa, die es nicht vergaßen. Der Generaldirektor Harder, der jetzt sein Versuchswerk auf der Nordseeinsel Warnum mit Sicherungen spickte und verschanzte, zehnmal so undurchdringlich und zehnmal so todbringend wie die von Montgomery-Hall…

Und außerdem Friedrich Eisenecker.

Der 18. Juni… ein Schicksalstag für Europa und für Amerika. Noch fieberte Europa in der Aufregung über das Rätsel von Montgomery-Hall, als die amerikanische Regierung schon eine Armee von Arbeitern an die Fälle warf, um wiederherzustellen, was die entfesselte Energie dort zerstört hatte. Eine schwere und gefährliche Arbeit, da ja die Kraftwerke stillagen, die Energie für den Betrieb der Baumaschinen und die Beleuchtung der Baustelle behelfsmäßig erzeugt werden mußte.

Aber schon in der Nacht vom 18. auf den 19. Juni begannen sich dort die Trommeln der ersten Betonmischer zu drehen und den Baustoff zu liefern, mit dem man das geborstene Gebirge wieder flicken und verkitten konnte.

Acht Tage und Nächte heißer, unermüdlicher Arbeit. Acht Tage und acht Nächte, in denen die Presse sich in Vermutungen und Prophezeiungen überbot.

Europa… das altersschwache Europa, was hatte es denn geleistet. Nichts!… Wenigstens nichts Greifbares. Montgomerys Apparat verschwunden! Die Riggers-Werke immer noch im Stadium der Vorversuche.

Von Amerika mußte das Heil kommen. Nur hier war es zu erwarten. Im Stollen Jeffersons dort in der Felswand an den Fällen, da würde man die Lösung des Problems finden.

Und nun war es soweit. Jetzt endlich waren die zerklüfteten Felsen geflickt und gestützt. Jetzt konnte man es wagen, in den Stollen einzudrängen. Eine kleine, sorgfältig von Washington zusammengestellte Kommission. Regierungsbeamte und Physiker. Sie alle eidlich zur absoluten Verschwiegenheit verpflichtet.

Die schimmernde Juninacht lag über dem Strom. Meilenweit dröhnte der Donner der frei herabstürzenden Wassermassen durch das Land, als die Kommission beim Licht der Scheinwerfer in den Stollen eindrang. Ein schmaler, gewundener Felsgang, so niedrig, daß sie sich bücken mußten, als sie ihn durchschritten. Rauh und rissig die Felswände. Und dann nach einem Weg von 100 Metern, am Ende des Ganges die eigentliche Arbeitskammer, in der die riesige Energie gewütet hatte. Glasig waren die Felswände hier zusammengeschmolzen. Gelblich goldig schimmerte das Gestein unter den Strahlen der kräftigen Scheinwerfer. Es blendete und verwirrte die Augen und Sinne derer, die es betrachteten.

Was war das?… Gold?… War es doch geglückt? War es Jefferson doch gelungen, wenigstens das Quecksilber in Gold zu zerschlagen? Hatte der unter dem Überschwang der Energie entweichende Golddampf sich hier auf den schmelzenden Felswänden niedergeschlagen und diese Märchengrotte geschaffen? Mit Gewalt rissen die Männer der Wissenschaft sich von dem zauberhaften Eindruck dieses Bildes los. Mit den unbestechlichen Mitteln ihrer Wissenschaft prüften sie das schimmernde Mineral.

Das Gold war Truggold. Unter der übermächtigen Gewalt der entströmenden Energie erglühend und verdampfend, hatte sich das Kupfer des Apparates mit dem Schwefel des Felsens zu jenem goldgleißenden Mineral verbunden, das schon so manche Goldgräber narrte und trog.

Das stand nun fest. Aber wo war das Quecksilber geblieben? Wie hatte die Riesenkraft der Fälle darauf gewirkt? Sie forschten und suchten weiter, und ein Zufall war ihnen günstig. Dort, in einem Winkel der Felskammer, wo der Boden eine Tasche bildete, fanden sich Überreste des flüssigen Silbers. Wenig nur. Aber das wenige unverändertes reines Quecksilber. In der Gluthitze, die der Strom hier erzeugte, war es verdampft. Als der Fels zerriß, als die Wasser hier einbrachen und Kühlung brachten, hatte der Quecksilberdampf sich wieder niedergeschlagen. Unverändert, unverwandelt trotz der Höllenenergie, die hier tobte.

Aber es war kaum der zehnte Teil jener Quecksilbermengen, die Jefferson in den Stollen gebracht hatte. Wo war der Rest geblieben? War er dampfförmig durch die Risse des aufgespaltenen Gebirges entwichen? Hatten die einbrechenden Wassermassen ihn mit hinweggespült?… Oder war der Versuch hier doch gelungen? Waren etwa doch die Atome dieser fehlenden Quecksilbermenge in leichtere Metalle zerschlagen worden? Steckten sie doch vielleicht dort in dem Truggold der Wände?

Die Kommission konnte die Antwort auf diese Fragen nicht geben. Sie mußte sich pflichtgemäß an das halten, was erweisbar vorhanden war. Und so lautet ihr Urteil: Der Versuch Jeffersons hat keinen Erfolg gehabt. Auf dem Wege, den er vorschlug, ist die Atomenergie nicht zu gewinnen.

Eine Woche noch gelang es der amerikanischen Regierung, dies Gutachten geheimzuhalten. Dann gelangte es auf unkontrollierbaren Wegen zur Kenntnis der Öffentlichkeit und wirkte sich an den Börsen der ganzen Welt aus. Die Kurse der Kohlenwerte, der Kraftwerte, seit Wochen wankend und nachgebend, wurden plötzlich fest und gingen sprunghaft in die Höhe. Nur noch ein kurzes Zwischenspiel schien vielen jetzt das große Problem der Atomenergie zu sein. Ein Intermezzo freilich, bei dem an den Börsen Milliarden verloren und gewonnen worden waren.

Eine bescheidene Wohnung in der Calle del Prado in Madrid, in der Antonio Gonzales, pensionierter Oberst der ehemaligen spanischen Armee, seine Tage verbrachte. Heute war Friedrich Eisenecker bei ihm, war plötzlich und überraschend aufgetaucht, war als alter Freund herzlich empfangen worden. Der dunkle Wein von Alicante stand zwischen ihnen und ließ alte Erinnerungen lebendig werden. Don Antonio sprach.

»Da lagen wir unter den zerschossenen Kanonen, dezimiert von dem feindlichen Feuer, das großenteils aus europäischen Geschützen kam. Oh, die Toren, die nie die Stunde begreifen. Wie hat unsere Regierung gewarnt, gebeten und immer wieder gewarnt.

Beim Stab der dritten Division der Hauptarmee lagen wir bei Cordova. Der Donner der weittragenden Geschütze, die fürchterlichen Luftkämpfe, bis endlich unsere eigene Luftflotte vernichtet, wir wehrlos den feindlichen Fliegergeschwadern ausgesetzt waren, die Tod und Verderben auf uns niedersandten.

Und während das alles geschah, berieten sie noch in den europäischen Kabinetten, wer den Oberbefehl über die Truppen führen sollte, die sich in Frankreich zu versammeln begannen. Während sie noch debattierten und feilschten, da kam, was ich fürchtete, und was bei uns doch kaum einer geglaubt hatte. Da wiederholte sich der Tag von 711. Da kamen sie über die Meerenge herübergezogen, unter dem Wasser, auf dem Wasser, durch die Luft. Wie Heuschreckenschwärme ergossen sich ihre Scharen über unser Land.

Immer noch berieten die in Europa, und als sie endlich mit ihren Beratungen fertig waren, da stand schon der Feind an den Pyrenäenpässen und sperrte der Hilfe jeden Weg. Der Guerillakrieg in den Bergen! Gewiß, unser stolzes Volk wollte sich nicht widerstandslos ergeben. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Was früher einmal möglich war, dem machten die maurischen Flugzeuggeschwader bald den Garaus.«

»Mein lieber, alter Freund, wir lasen davon in den europäischen Zeitungen. Lasen zwischen den Zeilen, daß Europa sich scheute, den Kampf bis aufs Messer mit der gewaltig gewachsenen maurischen Macht aufzunehmen.«

»Mit der maurischen Macht? Das war’s nicht allein, Senor Eisenecker. Sie fürchteten… sie wußten in Europa, daß die islamitischen Reiche verbündet waren. Sie wußten, daß sie gleichzeitig Nordafrika und einen Teil Asiens gegen sich haben würden. Darum wich Europa vor der drohenden Geste Abdurrhamans zurück. Darum liegt unser Vaterland heut noch in Knechtschaft. Eine Schmach für uns, eine Schmach für Europa.«

Der Oberst schwieg. Eisenecker blickte sinnend auf sein Glas, in dem ein verlorener Sonnenstrahl sich blutrot brach. Seine Augen hingen an dem Purpurschein, als hätte er eine Vision. Langsam und stockend begann er zu sprechen.

»Es wird nicht so bleiben, Don Antonio. Ich sehe… ich sehe den Tag, an dem die Massen wieder nach Süden zurückfluten. Einen Tag, an dem die maurische Herrschaft dahinschmilzt wie Märzenschnee. Einen Tag, an dem die Sonne Spaniens wieder hell leuchtet… auf den Tag, Don Antonio!«

Er hob sein Glas und trank dem Freund zu. Der tat Bescheid.

»Ich trinke mit! Mag der Tag kommen. Bald kommen, daß wir ihn noch erleben.«

»Der Tag wird kommen, Don Antonio… bis dahin… muß die maurische Herrschaft ertragen werden. Die Geschichte der letzten hundert Jahre zeigt Beispiele viel schlimmerer, viel drückenderer Okkupationen.

Wer nicht scharf hinsieht, merkt kaum etwas von der Besetzung des Landes. Die Verwaltung liegt in den Händen Ihres alten Beamtenapparates. Spanische Ritter urteilen nach spanischem Recht und in spanischer Sprache. Das Volk geht seinem Erwerb wie früher nach…«

»Das ist es ja, Senor Eisenecker. Das ist ja das Schlimme. Dieser kluge Abdurrhaman vermeidet alles, was auch nur den Anschein einer Bedrückung erwecken könnte. Unsere religiösen Einrichtungen und Sitten, unsere bürgerlichen Gebräuche, Spiele und Feste, alles wie früher! Jeder kann unbehindert seinen Geschäften nachgehen. Auch die Steuern nicht höher als früher, nur mit dem Unterschied, daß sie jetzt in maurische Kassen fließen. Strengste Manneszucht der Truppen. Größte Zurückhaltung des Militärs im öffentlichen Leben. Das ist ja die teuflisch schlaue Politik des Kalifen, alles zu vermeiden, was Unzufriedenheit erregen könnte.

Das Volk in seiner Masse spürt kaum etwas von dem Wechsel der Gewalt, von dem Wandel der Dinge. Den Fremden, die aus Europa in unser Land kommen wollen, werden nicht die geringsten Schwierigkeiten gemacht. Sie finden Gelegenheit, alles mit eigenen Augen zu betrachten. Wenn sie objektiv sind, müssen sie zugeben, daß die wirtschaftliche Lage des Landes in keiner Weise schlechter geworden ist. Die maurischen Eroberer vermeiden alles, was etwa das Interesse der übrigen Welt an den so sehr veränderten Zuständen erregen könnte.

Gelegentlich ein paar Putsche… das kommt wohl vor, wird aber immer schnell und mit größter Energie unterdrückt, dringt kaum in dieÖffentlichkeit…«

Ein Lärm von der Straße her unterbrach den Oberst, ließ auch Eisenecker aufhorchen und ans Fenster treten. Ein Gebrüll wie von Betrunkenen. Das Geheul der Volksmasse. Jetzt ein Schuß… jetzt der Gleichschritt heranmarschierender Truppen. War es einer dieser Putsche, von denen Antonio Gonzales soeben gesprochen hatte?

Iversen hatte Eisenecker nicht aus den Augen verloren. Von den Niagara-Fällen war er ihm nach Frankreich und Spanien gefolgt, hängte sich auch hier in Madrid an seine Fersen. Jetzt stand er abwartend in der Calle del Prado, vertrieb sich die Zeit, indem er Beobachtungen machte, und amüsierte sich über zwei Betrunkene.

Ein spanischer Polizist versuchte die beiden Opfer des Alkohols von der Straße zu bringen, und wurde mit ihnen nicht fertig. In seiner Verlegenheit rief er eine gerade vorbeimarschierende maurische Wache um Hilfe an, und im Augenblick verwandelte sich die Szene. Das Vorgehen des Polizisten, Fremde gegen seine Landsleute aufzubieten, erregte allgemeinen Unwillen. In wenigen Minuten waren die maurischen Soldaten von schreienden, gestikulierenden und drohenden Gruppen umringt. Und nun nahm die Angelegenheit eine dramatische Wendung, denn irgendwo fiel aus der Menge ein Schuß und wirkte wie ein Alarmsignal. Sofort eilten aus den Seitenstraßen andere Truppen herbei und riegelten den Platz ab. Ehe Iversen die Entwicklung der Dinge noch recht begriffen hatte, fühlte er eine schwere Hand auf seiner Schulter, und der barsche Befehl: Zur Wache! drang an sein Ohr. Das gesamte, am Tatort befindliche Publikum, wohl an 30 Personen, mußte, von den Truppen eskortiert, den Weg zur Polizeiwache antreten.

Es war höhere Gewalt. Jeder Widerstand unmöglich. Das sah Iversen wohl ein und fügte sich in das Unvermeidliche. Was sollte ihm auch schließlich passieren? Seine Papiere waren ja in bester Ordnung. Sein Paß enthielt einen besonderen empfehlenden Vermerk des maurischen Generalkonsuls in Berlin.

Der Weg zur Wache war etwa zehn Minuten weit. Der Zufall brachte Iversen dabei an die Seite einer jungen hellblonden Dame, und mit wachsendem Interesse musterte er die Gestalt seiner Leidensgenossin. Ganz offensichtlich keine Spanierin. Zweifellos germanisches Blut. Engländerin?… Skandinavierin? Oder vielleicht auch Deutsche? Iversen überlegte noch, wie er die Herkunft seiner Begleiterin ermitteln könne, als aus der Reihe der hinter ihm Gehenden, mehr im Scherz als im Ernst gemeint, eine Bemerkung fiel: Wer jetzt keinen Paß hat, dem geht es schlecht. Ein Lächeln flog über Iversens Züge. Selbstzufrieden strich er mit der Hand über die Brusttasche, in der er seinen Paß wußte. Ganz anders war die junge Dame. In sichtlicher Aufregung begann sie in ihre Handtasche zu suchen, während deutsche Worte von ihren Lippen fielen: »O Gott, mein Paß, wo ist denn nur mein Paß geblieben!«

Also doch eine Deutsche! Iversen hielt es für geboten, sich ins Mittel zu legen.

»Nur Ruhe, meine Gnädigste. Wenn Sie ihren Paß bei sich hatten, so muß er auch jetzt noch da sein. Sehen Sie Ihre Tasche nur in Ruhe durch. Ah, sehen Sie, da ist er ja schon.«

Erleichtert atmete die Dame auf. Abgebrochen kam es von ihren Lippen:

»Gott sei Dank, daß, er da ist… das hätte doch unangenehm werden können…«

Sie beherrschte das Deutsche zwar fließend, sprach es aber mit dem etwas harten Akzent der Balten.

»Seien Sie unbesorgt, meine Gnädigste. Der Zwischenfall ist für uns alle nicht angenehm. Aber schließlich wird es mit einer kurzen Prüfung unserer Papiere sein Bewenden haben. In einer halben Stunde werden sich die Besitzer von ordnungsgemäßen Pässen zweifellos wieder im Genüsse voller Freiheit befinden…«

Unverwandt ruhten die Blicke Iversens dabei auf den Zügen seiner Begleiterin. Er hätte gern noch weiter gesprochen, wenn der Zug nicht inzwischen bei der Wache angekommen wäre.

Hier ging es schnell voran. Kurze Kommandos: Alle Personen ohne Pässe in diesen Raum! Alle Personen mit Pässen in dies Zimmer.

Der Polizeikommissar. Iversen konnte nicht recht klug daraus werden… war es ein Spanier, ein Spaniole oder ein Maure? Er drängte sich vor, hielt dem Beamten seinen Paß vor die Nase, deutete mit dem Finger auf den Vermerk.

»Hier mein Paß, Herr Kommissar. Hier eine besondere Empfehlung Ihres Generalkonsuls in Berlin.« Der Kommissar warf kaum einen Blick darauf.

»Warten Sie, Senor! Erst die Damen!«

Damit wandte er sich der blonden Begleiterin Iversens zu und nahm den Paß in Empfang.

»O Senora, entschuldigen Sie bitte… Verzeihen Sie bitte! Ein peinlicher Mißgriff… die Beamten wußten nicht…« Mit vielen Verbeugungen gab der Kommissar der Dame ihren Paß zurück, begleitete sie selbst unter nochmaligen Entschuldigungen aus der Wache. Kam dann zurück, die Ausweise der übrigen zu prüfen, und war wieder genau so barsch und kurz angebunden wie vorher.

»Hier mein Paß, Herr Kommissar. Ich habe eine besondere Empfehlung Ihres Generalkonsuls.«

»Interessiert mich nicht. Tragen Sie eine Waffe bei sich?«

»Nein, Herr Kommissar.«

Ein kurzes Betasten der Kleidung Iversens, ob nicht doch irgendwo eine verborgene Waffe steckte.

»Gut, Sie können gehen.«

»Freut mich. Danke! Beinahe hätte ich gesagt auf Wiedersehen.«

Er verließ die Wache und schlenderte nachdenklich durch die Straßen. Diese blonde Dame, sie ging ihm nicht aus dem Kopf. Wer war sie? Was für einen Paß… was für einen ganz besonderen Ausweis muß sie besitzen?

Unablässig spann sein Gehirn immer neue Gedankenreihen, während er automatisch weiterschritt. Den breiten Paseo del Prado entlang, am Jardino Botanico vorbei und da… da schritt sie ja vor ihm, die, mit der seine Gedanken sich unablässig beschäftigten. Vorsichtig und unauffällig folgte er der vor ihm Schreitenden, gelangte schließlich an der Estacion del Mediodia vorüber in einen villenartigen Vorort, und sah sie dort in einem Eckhaus verschwinden.

Das Schild an der Tür… ein maurischer Name. Kein Anhalt von Bedeutung. Vergeblich versuchte er immer neue Kombinationen. Ist sie etwa deutsche Erzieherin in einem maurischen Hause?… Das wäre kein Grund für die auffallende Höflichkeit dieses Polizeikommissars… oder… ist sie vielleicht die Geliebte eines maurischen Großen? Das würde das Benehmen des Polizeimannes eher erklären. Aber aus anderen Gründen – Iversen war sich über deren Art selber nicht klar – verwarf er diese zweite Hypothese schon in dem Augenblick, in dem er sie aufgestellt hatte.

Grübelnd und sinnend schritt er um das Eckhaus herum und betrachtete die Einzelheiten des Gebäudes. Hier in dieser Nebenstraße noch ein zweiter kleinerer Eingang, anscheinend nur für die Dienerschaft bestimmt. Schon war er im Begriff, die Nachforschungen aufzugeben, schritt wieder der Sraßenecke zu, als eine Autohupe ihn aufblicken ließ. Ein Kraftwagen fuhr an ihm vorbei und hielt vor jenem kleineren Eingang.

Er drehte sich interessiert um. Ein Auto, das vor dem Eingang für Dienstboten hielt. Das mußte er sich näher besehen. Näher, aber unauffällig.

Ein böiger Wind wehte ihm entgegen, gab ihm Gelegenheit, einen Trick anzuwenden. War es der Wind oder war es Iversens Hand? Jedenfalls flog sein Hut ihm fort und rollte auf den Kraftwagen zu. Er eilte ihm nach. Aber er tat es absichtlich ungeschickt, denn er wollte ihn erst hinter dem Kraftwagen erreichen.

In diesem Augenblick öffnete sich der Wagenschlag. Dem Gefährt entstieg eine hochgewachsene blonde Dame, ein Gegenstück… fast ein Ebenbild jener anderen, die Iversen vor kurzem in das Haus gehen sah. Sie trat auf den Bürgersteig und hielt den heranwirbelnden Hut mit dem Schirm auf, so daß Iversen ihn bequem aufnehmen konnte. Mit einer tiefen Verbeugung bedankte er sich für die Gefälligkeit, musterte gleichzeitig mit Blitzesschnelle alle Einzelheiten seines Gegenübers. Die Kleider von spanischem Schnitt. Eine Mantilla um die Schultern. Und doch keine Spanierin. Das blonde Haar sprach zu deutlich dagegen.

Während er seinen Hut abstäubte, hörte er sie dem Chauffeur eine kurze Weisung geben: ›Kommen Sie um 8 Uhr wieder!‹ Sah, wie sie ein Schlüsselchen aus der Tasche zog, den kleinen Eingang selbst öffnete und im Inneren des Hauses verschwand.

Alle Wetter! Ein blondes Kapital! Was waren das für Leute? Wer waren die Bewohner dieses Hauses? Das mußte doch herauszubekommen sein. Er trat in einen nahegelegenen Laden und schlug das Adreßbuch auf. Ein spanischer Graf als Eigentümer. Aber am Hause selbst stand doch ein maurischer Name. Ah, so! Das Adreßbuch war schon drei Jahre alt.

Er fragte den Ladeninhaber selbst. Der konnte nur mangelhafte Auskunft geben.

»Das Haus ist das Kavaliershaus des anstoßenden Palais Almeira, jetzt Palais Iraklis. Gegenwärtig wohnen zwei Ausländerinnen darin.« Das war alles, was der Mann wußte. Iversen mußte es auf andere Weise in Erfahrung bringen.

Jolanthe saß dem Fürsten Iraklis gegenüber an der anderen Ecke des Kamins.

»Wenn man dich hört, Jolanthe, könnte man denken, du wärest dir der Größe deines Erfolges nicht ganz bewußt.«

»Nun, was war es denn groß, nachdem ich durch Lord Permbroke selbst auf die einfachste Weise hinter das Geheimnis der Sicherungen gekommen war. Halil Rifaat war auf seinem Posten. Als ich zum Flugschiff zurückging, meine vergessene Tasche zu holen, half er mir eifrig beim Suchen. Wir waren ganz allein. Ich konnte ihm das System der Sicherungen gut und deutlich erklären.

Den Kranken spielte er virtuos. Mit den Reizmitteln, die er versteckt bei sich trug, hielt er sich ständig in hohem Fieber.

Das Schwierigste, nachts zur verabredeten Stunde unbemerkt das Lazarett zu verlassen und in Montgomerys Räume zu dringen, gelang ihm glänzend. Er schaltete die Sicherungen aus, daß euer Hubschrauber seinen Spähkorb in den hinteren Schloßhof hinablassen konnte. Er legte Montgomerys Apparat hinein. Der Korb wurde hochgezogen.

Halil Rifaat eilte zurück, stellte die Sicherungen wieder ein und legte sich wieder in sein Bett im Lazarett. Die einfachste Sache der Welt!«

Der Fürst lächelte. »Einfach! Du nennst einfach, was für jeden anderen eine harte Nuß… wahrscheinlich überhaupt unmöglich gewesen wäre.

Selbst der Kalif zweifelte manchmal an der Möglichkeit. Er wird dir selbst seinen Dank aussprechen.«

»Der Kalif?«

»Ja, gewiß. Er wird in diesen Tagen erwartet.«

»So werde ich Gelegenheit haben, ihn zu sehen?«

»Unbedingt, Jolanthe. Er will das kostbare Beutestück selbst sehen, ehe es…«

Das Eintreten der Fürstin und Modestes unterbrach ihn. Er erhob sich und räumte seinen Platz der Fürstin.

»Ich werde vielleicht schon heute Genaueres über die Ankunft unseres Herrn erfahren. Ich gehe jetzt zum Vortrag beim Prinzen.«

»Könnten wir ihn nicht heute abend bei uns sehen?« fragte die Fürstin, »er wird vielleicht auch gern Näheres von Jolanthe selbst erfahren wollen.«

Der Fürst zögerte, unschlüssig, mit einem Blick auf Modeste.

»Ich weiß nicht…«

»Ein andermal, vielleicht morgen«, unterbrach ihn Jolanthe.

Kaum, daß sich die Tür hinter dem Fürsten geschlossen, verließ auch die Fürstin den Raum. Eine Zeitlang herrschte Schweigen.

»Willst du nicht hier am Kamin Platz nehmen, Modeste?«

»Gewiß, Jolanthe! Es drängt mich, mit dir über unsere Abreise zu sprechen. Ich habe deine Ankunft mit Ungeduld erwartet.«

»Ich bin erstaunt, Modeste. So schnell bist du des schönen Madrid überdrüssig geworden? Ich glaubte, nach dem eintönigen einsamen Leben auf dem Tirsenhof würdest du dich hier ganz besonders wohlfühlen. Was mißfällt dir an dem Aufenthalt hier?«

»Mißfallen?… Der Ausdruck ist vielleicht etwas zu stark, Jolanthe. Ich möchte eher sagen, ich fühle mich nicht wohl hier. Mag sein, daß es der schroffe Wechsel zwischen dem Tirsenhof mit seinen kleinen harmlosen Freuden und der großen Weltstadt hier ist. Zweifellos trägt auch dazu bei, daß ich das Gefühl nicht los werde, mich hier auf feindlichem Boden zu befinden.«

»Spanien feindlicher Boden? Modeste, ich verstehe nicht…«

»Gewiß, Jolanthe! Natürlich meine ich nicht die spanische Bevölkerung, ich meine die Herren des Landes, die Mauren.«

»Ah, siehe da, die kleine Patriotin! Fühlst du so ganz als Paneuropäerin?« Jolanthe lachte hell auf. »Doch im Ernst, Modeste… du brauchst mich nicht so erstaunt anzusehen… ich glaube genügend Einblick in die spanischen Verhältnisse gewonnen zu haben, um zu behaupten, daß die große Masse sich schon stark mit den neuen Verhältnissen abgefunden hat. Weshalb willst du spanischer sein als die Spanier?«

»Du willst oder kannst mich nicht verstehen, Jolanthe. Aber glaube mir, es dürfte nicht viele Spanier geben, die nicht den Tag herbeisehnten, an dem die maurische Fremdherrschaft fällt.«

»Und du selbst an erster Stelle!« Jolanthe stieß ein hartes ironisches Lachen aus. »Ha, wenn das Prinz Ahmed wüßte.«

»Prinz Ahmed?« Modeste wandte ihr Gesicht ab. Vergebens suchte sie die aufsteigende Röte zu verbergen. »Du berührst damit eine Sache, Jolanthe, die mich seit einiger Zeit stark beunruhigt.«

»Ah! Was ist das? Modeste?… Wohl gar ein süßes Geheimnis?«

»Jolanthe, ich bitte dich, scherze nicht mit Dingen, die wenig geeignet dazu sind. Höre mich erst an.«

»Bitte, Modeste, ich bin aufs äußerste gespannt.«

»Prinz Ahmed steht, wie du weißt, dem Fürsten sehr nahe und kommt oft in dessen Haus. Sein liebenswürdiges Wesen, seine einfache schlichte Art machten ihn mir zu einem, ich sage es offen… gern gesehenen Gesellschafter. Später…« Modeste stockte in peinlicher Verlegenheit.

»Nun, später… änderte er sein Benehmen, oder was meinst du?«

»Ja, du sagst es. Ich verstand zunächst nicht und glaubte, mich zu irren. Aber bald zeigten mir die Blicke der anderen, daß ich recht gesehen.«

»Und was war es? Was sahest du?«

Modeste zögerte, als koste es sie Überwindung, zu sprechen.

»Der Prinz wurde in einer Weise vertraulich, daß es… es war klar, daß er sich um meine Gunst bemühe.«

»Ah, endlich!… Und was weiter?«

Modeste starrte die Schwester fragend an.

»Jolanthe, ich verstehe dich nicht. Du scheinst die Sache als Bagatelle zu behandeln.«

»Keineswegs, meine Liebe! Was du sagst, ist von größter Wichtigkeit und erfüllt mich mit stolzer Freude. Du… Gemahlin des Prinzen Ahmed! Schon die Aussicht… ich muß dich beglückwünschen.«

Jolanthe war aufgestanden und zu ihrer Schwester getreten. Ihr Arm legte sich schwer um den Nacken Modestes.

»Und du? Was tatest du?«

»Ich übte die größte Zurückhaltung, suchte ihm zu verstehen zu geben, daß seine Bemühungen umsonst, sein Werben aussichtslos…«

»Was? Das tatest du?… Unmöglich?« Jolanthes Hand grub sich so fest in die Schulter Modestes, daß diese schmerzhaft zusammenzuckte.

»Jolanthe! Was ist dir?« Modeste war aufgesprungen und schaute die Schwester fragend an. »Du bist erregt über…?«

»Über dein unglaubliches Verhalten. Gewiß, das bin ich. Du… du wärest imstande, einen Antrag des Prinzen Ahmed Fuad, des Bruders des Kalifen, zurückzuweisen? Bist du dir auch nur im entferntesten über die Tragweite deines Handelns klar?«

Modeste hatte sich wieder am Kamin niedergesetzt. Ihre Stimme klang kühl und gelassen.

»Ich bin mir klar darüber, daß ich keine Liebe für den Prinzen empfinde… und daß Motive anderer Art mein Handeln niemals beeinflussen können.«

»Modeste! Du bist nicht bei Sinnen! Du willst die Hand des Prinzen zurückweisen? Die Hand, die vielleicht später einmal das Zepter des maurischen Reiches führen wird? Der Kalif ist ehelos… möglich, daß er es bleibt! Prinz Ahmed als nächster Agnat der präsumtive Thronerbe. Das alles sollte dir gleichgültig sein?«

»Jolanthe… du hast es selbst früher so oft gesagt, daß unsere Naturen völlig verschieden sind. Für dich mag die Aussicht, Prinzessin Fuad zu werden, verlockend sein. Bei dir mögen alle Gründe, die dagegen sprechen, zurücktreten. Ich denke anders!«

»Dein Denken und Fühlen geht wohl… auf… irgendeinen livländischen Landjunker? Vielleicht gar hat schon einer dieser Braven dein Herz gewonnen?«

»Dein Spott trifft mich nicht, Jolanthe. Ich bin nicht gebunden.«

»Um so besser! Dann hoffe ich bestimmt, daß du dich besinnst… daß du nicht eine Chance von dir weist, die sich dir in deinem ganzen Leben nie wieder bietet. Ganz abgesehen von seiner hohen Stellung, Prinz Ahmed vereinigt die höchsten Mannestugenden in sich.«

Jolanthe schaute eindringlich auf das schöne Mädchen, das zart und hoch vor ihr stand.

»Das leugne ich nicht! Aber ich liebe ihn nicht, werde ihn niemals lieben können.«

Ein harter Zug legte sich um die Lippen Jolanthes.

»Liebe! Immer wieder das Wort! Ich dachte, in diesem Falle wären derartige… feinere seelische Essenzen überflüssig.«

»Genug, Jolanthe! Du verschwendest deine Worte! Es wird dir nicht gelingen, meine Gefühle zu beeinflussen… Es liegt mir unter diesen Umständen daran, Madrid recht bald zu verlassen. Du wirst es begreiflich finden…«

Jolanthe warf den Kopf zurück.

»Dein Wunsch wird sehr bald in Erfüllung gehen. Ich sagte dir schon in Livland, daß unser Aufenthalt in Madrid nur vorübergehend sein würde. Wir werden jedoch nicht direkt nach England gehen, sondern für einige Zeit in Biarritz Station machen. Meine Nerven sind nicht ganz intakt. Ich hoffe von dem wunderbaren Seeklima in Biarritz schnelle Erholung.«

»Sehr schön, Jolanthe! Ich freue mich darauf.«

»Doch denke nicht, daß ich damit meine Hoffnungen bezüglich des Prinzen aufgebe. Du bist jung… sehr jung, hast noch die Ideale der Jugend. Mit der Zeit wirst du lernen, kühler über seelische Affektion zu denken. Heute kommst du dir noch groß vor, wenn du solche idealistisch klingende Aphorismen aussprichst… du könntest nicht ohne Liebe heiraten?… morgen wirst du darüber lachen.«

Wenig befriedigt war Iversen in sein Hotel zurückgekehrt. Ein Blick auf die Schlüsseltafel in der Portierloge zeigte ihm, daß Eisenecker inzwischen zurückgekehrt und auf sein Zimmer gegangen war. Der war ihm also sicher. So ließ er sich in der Halle nieder, bestellte einen Whisky mit Soda und begann das Ergebnis seiner heutigen Beobachtungen zu überschlagen, seinen Bericht für den Generaldirektor Harder zu überlegen. Das eine schien außer Zweifel, Eisenecker unterhielt keine Beziehungen zu maurischen Behörden.

Sein Bericht inhaltlos wie meist. Schon längst hatte er bereut, den Auftrag übernommen zu haben.

Was hatte Harder veranlaßt, ihn hinter Eisenecker herzuschicken? Die Angst, daß Eisenecker seine Erfindung unter Benutzung der Erfahrung der Riggers-Werke gemacht habe? Nun etwa das Resultat seiner Arbeiten zum Nachteil der Riggers-Werke anderen in die Hände gab?

Ja! War er denn so sicher, daß Eiseneckers Erfindung überhaupt auf den Erfahrungen der Riggers-Werke basierte? So ganz wollte ihm das nicht einleuchten. Die Sache mit dem Gold wollte ihm gar nicht aus dem Kopf. Da war doch niemals auch in der Presse die Rede davon gewesen, daß bei der Erschließung von Atomenergie nach dem Verfahren von Montgomery oder der Riggers-Werke Gold gewonnen werden konnte.

Er erinnerte sich immer daran, wie Harder doch recht nervös wurde, als er eine diesbezügliche Frage stellte. Je länger er darüber nachgedacht, desto mehr war ihm das alles in verändertem Licht erschienen. Manchmal wollte es ihn dünken, daß die Pläne und Absichten Harders nicht so ganz lauter wären. Gekränkter Ehrgeiz, Neid, daß ein anderer ihm auf anderem Wege die Frucht jahrzehntelanger Arbeit weggenommen!

Jäh wurde er in seinem Nachdenken unterbrochen. Eine Hand legte sich auf seine Schultern.

Ein Herr stand neben ihm, in der anderen Hand das Iversen wohlbekannte Erkennungszeichen der politischen Polizei.

»Bitte folgen Sie mir recht unauffällig! Stören Sie die anderen Gäste nicht.«

Iversen spürte eine Art von Galgenhumor. Vor einer Stunde erst entlassen, jetzt zum zweiten Male verhaftet. Der Tag schien ja allerhand zu versprechen. Ingrimmig faßte er nach seinem Hut und folgte dem Beamten zur Wache. Zu derselben Wache, die er vor kurzem verlassen, zu demselben Kommissar, von dem er eben erst Abschied genommen hatte.

»Herr Kommissar, darf ich mir eine Frage erlauben?«

»Bitte sehr, mein Herr, fragen Sie.«

»Ich möchte gern wissen, warum man mich hier noch einmal auf dieselbe Wache schleppt, auf der ich mich bereits einmal vor kaum einer Stunde ausreichend legitimiert habe?«

»Das geschieht darum, Herr von Iversen, weil sich inzwischen Dinge ereignet haben, die uns an den Angaben Ihres Passes zweifeln lassen. Nach Ihrem Paß und nach Ihrer Eintragung im Fremdenbuch Ihres Hotels sind Sie hierhergekommen, um für die deutsche Presse tätig zu sein. Das erscheint uns nicht mehr recht glaubhaft.«

»Und ich weiß nicht, Herr Kommissar, was Sie dazu berechtigt… nein, von Berechtigung kann gar keine Rede sein… was Sie dazu veranlaßt, an meinen Angaben zu zweifeln…?«

»Mancherlei, Herr von Iversen. Es gibt für einen Pressevertreter eine ganze Menge sehenswerter Dinge in Madrid. Gärten, Paläste, Theater, Museen und dergleichen. Aber es ist uns unverständlich, was ein Pressevertreter in einer abgelegenen Vorortstraße zu suchen hat…«

»Ist es etwa verboten, eine öffentliche Straße zu betreten, auch wenn sie zufällig still ist und in einem Vorort liegt?«

»Das nicht, Senor. Aber es erweckt eben Zweifel an der Richtigkeit Ihrer Angaben.«

»Das ist Schikane, Herr Kommissar. Niederträchtige Schikane! Ein schreiender Mißbrauch der Gewalt gegenüber einem harmlosen Reisenden.«

»Ihre Auffassung dieser Angelegenheit interessiert mich sehr wenig, Herr von Iversen. Jedenfalls muß ich Sie bis auf weiteres hier festhalten. Wollen Sie bitte Ihre sämtlichen Papiere und Wertsachen hier auf diesem Tisch deponieren.«

»Das ist Gewalt, Herr… Ich protestiere dagegen. Ich verlange, daß man mir sofort Gelegenheit gibt, mit unserem Botschafter zu sprechen.«

»Diese Gelegenheit soll Ihnen selbstverständlich gegeben werden. Vorläufig ersuche ich Sie, meiner Weisung nachzukommen und Ihre Sachen dort zu deponieren. Ich würde es bedauern, wenn ich Gewalt anwenden müßte.«

Dabei drückte der Kommissar auf einen Knopf. Ein Schreiber und mehrere Polizisten traten in den Raum.

»Setzen Sie sich dorthin, Don Jose, und nehmen Sie ein genaues Verzeichnis der Papiere und Wertsachen dieses Herrn hier auf.«

Iversen zitterte vor verhaltener Wut. Einen Augenblick schoß es ihm durch den Sinn, daß das Manöver vielleicht von Eisenecker ausging, der sich seiner auf diese Weise entledigen wollte. Doch nein. Diesen Gedanken verwarf er bald wieder. So konnte sich seine Menschenkenntnis in dem doch nicht getäuscht haben.

Er leistete dem Befehl Folge. Seine Papiere, seine Brieftasche… Briefe von Harder an ihn, Eisenecker betreffend… seine Uhr, seine Ringe… alles wanderte auf den Tisch, und sorgsam notierte der Schreiber jedes Stück davon. Zusammen mit dem Protokoll schloß der Kommissar die Sachen umständlich in einem Safe ein.

»So, Herr von Iversen, wollen Sie jetzt diesem Herrn da folgen?« Dabei deutete der Kommissar auf einen Polizisten.

»Was soll das, Herr Kommissar, was fällt Ihnen ein?… Ich will mit dem Botschafter sprechen!…«

»Später, Herr. Folgen Sie jetzt dem Beamten!«

Eine schwere Hand legte sich auf Iversens Schulter. Ein zweiter Polizeibeamter trat hinter ihn. Eine Minute später fiel die schwere eisenbeschlagene Tür einer Gefängniszelle hinter ihm ins Schloß.

Der schöne Trick mit dem Hut, den der Wind dem Auto Jolanthes von Karsküll zuwehte… der Trick, auf den Iversen innerlich so stolz gewesen, war sehr danebengelungen. Dem scharfen Blick Jolanthes war das Gemachte dieses Manövers nicht entgangen.

Ein Verfolger?! Schon der Verdacht rechtfertigte peinlichste Untersuchung.

»Herein!« Eisenecker rief es vom Schreibtisch her und drehte sich um, als eine fremde Stimme an sein Ohr drang.

»Sind Sie Herr Friedrich Eisenecker?«

»Ja, was wollen Sie?«

Wieder das kurze Blinken der ominösen Erkennungsmarke.

»Ich bin von der politischen Polizei und möchte Ihren Paß einsehen.«

»Bitte sehr, bedienen Sie sich.«

»Gut, Senor! Ihr Paß ist in Ordnung. Trotzdem muß ich Sie bitten, mir für kurze Zeit auf die Polizeistation zu folgen.«

Ein flüchtiges Lächeln huschte über die Züge Eiseneckers.

»Es hätte wenig Zweck, der politischen Polizei eine Bitte abzuschlagen. Ich stehe zu Ihrer Verfügung, mein Herr.«

Sie standen vor dem Kommissar.

»Sie sind Herr Eisenecker aus Deutschland.«

»Jawohl, Herr Kommissar.«

»Bitte, wollen Sie Platz nehmen! Sie waren schon früher im Lande, Herr Eisenecker. Noch vor dem Kriege?«

»Jawohl, Herr Kommissar.«

»Sie bauten damals hier das große Kraftwerk bei Segovia…!«

»In der Tat, Herr Kommissar!«

»Sie machten heute einen längeren Besuch bei dem Obersten Gonzales?«

»Jawohl, Herr Kommissar. Der Oberst Gonzales stand damals als Hauptmann in Segovia. Ich bin seit langem mit ihm befreundet.«

»Gut, Herr Eisenecker, unsere Akten unterstützen Ihre Aussagen. Sie standen damals im Dienste der Riggers-Werke und haben diese Dienste wohl inzwischen verlassen?«

»In der Tat, Herr Kommissar. Ich tat es vor vier Jahren. Aber ich verstehe nicht recht, aus welchem Grunde…«

»Sie werden es sehr bald verstehen, Herr Eisenecker. Bitte, überlegen Sie sich recht genau, was Sie antworten wollen… Glauben Sie, daß es Gründe geben könnte, welche die Direktion der Riggers-Werke veranlassen könnten, einen Privatdetektiv hinter Ihnen herzuschicken?«

»Was?… Was? Einen Privatdetektiv hinter mir?… Die Riggers-Werke? Ist das wahr?«

»Es hat den Anschein!«

»Und welche Anhaltspunkte haben Sie dafür?«

»Darüber möchte ich mal zunächst nichts sagen.«

»Gestatten Sie, daß ich einen Augenblick darüber nachdenke. Die Nachricht ist eine große Überraschung für mich.«

»Bitte!«

Eisenecker sann lange nach. Der Wechsel der Gedanken spiegelte sich in seinem Gesicht. Zuletzt ein Lächeln.

»Herr Kommissar. Von meinem Standpunkt aus gesehen gibt es keine Gründe für ein derartiges Vorgehen der Riggers-Werke.«

»Des Generaldirektors Harder, meinen Sie.«

»Gewiß, Herr Kommissar. Das bedeutet dasselbe. Der Generaldirektor Harder. Ja! Vielleicht, daß er aus einem falschen Verdacht heraus… das erscheint mir wiederum recht unglaubwürdig… Aber immerhin… vom rein menschlichen Standpunkt aus wäre es begreiflich… Also glaube ich Ihre Frage dahin beantworten zu können. Ja! Es wäre möglich, daß Herr Generaldirektor Harder mir einen Privatdetektiv auf die Fersen gesetzt hätte.«

»Näher wollen Sie sich nicht auslassen?«

»Nein!«

»Dann, Herr Eisenecker, bleibt nur noch übrig, Sie mit diesem Herrn zu konfrontieren.«

Dabei winkte der Kommissar einem Soldaten im Hintergrund. Die Tür öffnete sich, und von einem Sergeanten geführt, trat Iversen in den Raum. Beim Anblick Eiseneckers verhielt er den Schritt und starrte ihn verwundert an. Der Kommissar, der ihn scharf beobachtete, hieß ihn Platz nehmen.

»Herr von Iversen, kennen Sie diesen Herrn?«

»Jawohl, es ist Herr Friedrich Eisenecker.«

»Herr Eisenecker, kennen Sie den Herrn?«

»Nein, ich habe ihn nie gesehen. Jedoch erinnere ich mich des Namens. Es bestehen da, soviel ich weiß, verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Harder und Iversen.«

»Hm!« Der Kommissar kraulte sich hinter dem Ohr und überlegte lange.

»Die Briefe!«

Sie wurden gebracht. Der Beamte durchlas sie mit der größten Sorgfalt. Entnahm dann einen und gab ihn Eisenecker.

»Wollen Sie bitte lesen!«

Der warf dabei einen Blick auf Iversen, der mit hochrotem Kopf dasaß, augenscheinlich in größter Verlegenheit war. Eisenecker schob den Brief zurück.

»Ich habe keine Neigung, mich in fremde Korrespondenz zu mischen.«

»Wenn Sie nicht wollen… ich kann Ihnen jedoch versichern und auch Ihnen, Herr von Iversen, daß es sehr erwünscht wäre, wenn Herr Eisenecker diesen Brief läse. Vielleicht, daß dann gewisse schwere Verdachtsmomente gegen Herrn von Iversen entkräftet werden könnten.«

Eisenecker schaute zu Iversen hinüber. Auf dessen Gesicht war deutlich zu lesen, daß er in sichtlicher Bedrängnis war.

»Gestatten Sie, Herr von Iversen?« Eisenecker deutete dabei auf den Brief. »Ich möchte Ihnen helfen.«

Der kämpfte lange mit sich.

»Bitte!« Fast tonlos kam es von seinen Lippen. Eisenecker las den Brief. Gab ihn dann dem Kommissar zurück.

»Herr Kommissar, ich habe nach der Lektüre dieses Briefes nicht den geringsten Zweifel an der Identität dieses Herrn.«

Der Kommissar wiegte den Kopf.

»Es wäre sehr günstig für Sie, Herr von Iversen, wenn es so ist, wie Herr Eisenecker sagt.«

Einen Augenblick sah der Kommissar die beiden prüfend an.

»Noch einen Moment, meine Herren.« Er ging in den Nebenraum, wo sich der Hut Iversens befand, und maß mit einem Stahlband dessen Weite. Dann warf er einen Blick auf das Signalement Iversens… und nickte wiederum. Der Hut war in der Tat eine Nummer zu klein. Es war möglich, daß wirklich ein Windstoß ihn zur Erde geworfen hatte.

Er kehrte in den großen Raum zurück.

»Herr von Iversen, Sie haben Glück gehabt. Wollen Sie Ihre Sachen wieder an sich nehmen? Meine Herren, Sie sind beide entlassen. Die Angelegenheit, um derethalben wir Sie hierherbemühen mußten, ist aufgeklärt.«

Mit einer leichten Verbeugung verließ Eisenecker die Wache.

Vierzig Kilometer von der friesischen Küste entfernt liegt die kleine Insel Warnum in der Nordsee. Eigentlich nur eine große Hallig. In vergangenen Jahren die Heimat einiger weniger Fischer. Dann kamen die Riggers-Werke, kauften die Insel und verlegten dorthin ihre riesigen Laboratorien für das Studium der Atomenergie.

Seit jener Zeit war das Werk auf Warnum das Lieblingskind, aber auch das Schmerzenskind des Generaldirektors Harder.

»Ich gehe auf einige Wochen nach Biarritz.« Mit diesen Worten hatte er sich neulich in Berlin von den Physikern des Werkes verabschiedet. Wer von Berlin nach Biarritz will, der muß nach Süden fliegen. Warnum in der Nordsee liegt nicht an seinem Wege. Als aber die Privatjacht des Generaldirektors, die ihn und Mette nach Biarritz bringen sollte, am Bismarckdamm aufstieg und den Kiel nach Süden reckte, ergriff er das Telefon und befahl dem Piloten, den Kurs über Warnum zu nehmen und dort zu landen.

Der Gedanke, daß nicht nur der eine, der Tote, das erreicht hatte, was dort immer noch vergeblich erstrebt wurde… nein, weit mehr noch der andere viel quälendere, daß nun auch der zweite… der Lebende, es besaß, der Gedanke raubte ihm die Ruhe bei Tag und den Schlaf bei Nacht. Der Gedanke trieb ihn noch einmal hierhin, bevor er zur Erholung nach Süden flog.

Leicht senkte sich der große graue Vogel auf die leise atmende See und schwamm, bis er dicht neben der Mole von Warnum lag. Taue wurden festgemacht und Planken herangeschoben.

Und dann stand Harder zwischen seinen Physikern und Ingenieuren, die ihn längst weit im Süden wähnten. In ihrer Begleitung schritt er durch die weiten Hallen, von Station zu Station, von Prüffeld zu Prüffeld. Hörte ihre Berichte, und immer düsterer wurde sein Blick, immer faltiger seine Stirn.

»Wie stark das Feld hier?«

Der Oberingenieur warf einen kurzen Blick auf den Zeiger eines Meßinstrumentes.

»Vier Millionen Gauß, Herr Generaldirektor.«

»Zu wenig!… Zu wenig!« Harder stieß es zwischen den Zähnen hervor. »Die Veränderungen? Was haben Sie beobachtet? Wie verhält sich das Eisen in diesem Felde?«

»Starke Atomveränderungen, Herr Generaldirektor. Chrom, Titan, Kalzium sicher nachgewiesen. Die Heliumlinien bei der Spektraluntersuchung unverkennbar…«

»Das ist nicht genug, Herr Doktor. Das genügt mir nicht… bei weitem nicht… das muß ganz anders werden.«

»Herr Generaldirektor, wir haben trotz mancher… ich muß es offen aussprechen, recht schwerer Bedenken die Feldstärke in einem anderen Stand weitergetrieben. Dort drüben in Stand sechzehn.«

»Wie weit?… Wie stark ist das Feld?«

»4,2 Millionen Gauß, Herr Generaldirektor.«

»4,2 Millionen… und die Erfolge?«

»Der Gehalt des behandelten Eisens an dem von mir genannten Stoff ist dort erheblich stärker. Es ist außer Zweifel, daß in diesem stärkeren Felde mehr Eisenatome aufgebrochen werden. Wir hatten dort in chemisch reinem Eisen, nachdem es fünf Minuten im Felde war, einen Chromgehalt von fünfzehn Prozent.«

»Und dann?… und was weiter? Was war nach zehn und zwanzig Minuten? Bitte, Herr Doktor, halten Sie mit Ihrer Wissenschaft nicht hinter dem Berge.«

»Der Chromgehalt nahm weiter langsam zu, Herr Generaldirektor. Aber nicht mehr so schnell wie in den ersten Minuten des Versuches.«

Harder schlug mit der Faust auf einen Werktisch, daß die Gläser und Retorten auf ihm durcheinanderfielen und in Splitter gingen. Die Adern seiner Stirn schwollen drohend an, »Und das nennen Sie nach meinen Anordnungen handeln, Herr Doktor? Habe ich nicht ausdrücklich bei unserer letzten Zusammenkunft gesagt, daß wir schnell und zielbewußt weiterkommen müssen?… Habe ich Ihnen damals nicht die Gründe auseinandergesetzt, weswegen das für uns unter allen Umständen notwendig… geradezu eine Lebensfrage für die Riggers-Werke ist? Schnell und zielbewußt habe ich gesagt, Herr Doktor. Hier ist weder von Schnelligkeit noch von einem Ziel etwas zu merken.«

Der Gescholtene schwieg. Er wußte aus langer Erfahrung, daß in diesem Zustande mit dem Generaldirektor nicht gut Kirschen essen war.

»Das ist Ihre größte Feldstärke, Herr Doktor?«

»So ist es, Herr Generaldirektor.«

Harder drehte sich kurz auf dem Absatz herum und ging in das Konferenzzimmer.

»Bitte, Herr Doktor, die anderen Herren auch hierher!«

In kurzer Zeit war der ganze Stab des Warnum-Werkes um den Gewaltigen versammelt. Mit finsteren Blicken musterte er die Versammelten. Sie senkten den eigenen Blick davor, denn sie sahen, daß das Barometer auf Sturm stand. Dann sprach er. Rauh und abgebrochen kamen die Worte von seinen Lippen.

»Meine Herren! Für das, was ich heute hier gesehen habe, gibt es nur zwei Erklärungen. Unfähigkeit… oder Feigheit.«

Ein dumpfes Murren ging durch die Runde.

»Jawohl, Feigheit, meine Herren. Die Möglichkeit besteht, denn an einen solchen Grad von Unfähigkeit kann ich kaum glauben.«

Wieder wollten sie aufbegehren, und wieder traf sie ein Blick, der alles schweigen ließ.

»Ich sagte Ihnen bereits in Berlin, daß der theoretische Wert der Feldstärke bei fünf Millionen Gauß liegt. Sie haben hier die technischen Mittel, um diese Feldstärke zu erreichen. Warum wurde sie noch nicht erreicht? Bitte, Herr Doktor.« Er wandte sich an den Oberingenieur. »Bitte, Herr Doktor, wollen Sie oder will einer der anderen Herren mir darauf eine klare Antwort geben.«

Ein drückendes Schweigen. Dann raffte sich der Oberingenieur zur Antwort zusammen.

»Sie sagten selbst, Herr Generaldirektor, bei unserer letzten Konferenz in Berlin, daß Montgomery die Atomenergie vielleicht schon mit schwächeren Feldern gewonnen hat. Deshalb…«

»Ich sagte: vielleicht, Herr Doktor. Ich stellte es als eine entfernte Möglichkeit hin, daß sich das Ziel vielleicht schon früher erreichen ließe.

Wenn das aber nicht der Fall ist… und Sie sehen doch, daß es nicht der Fall war… dann mußten Sie eben die Feldstärken sofort erhöhen. Mit allen Mitteln erhöhen, bis die erwarteten Erscheinungen sich zeigten. Anstatt dessen tasten Sie ganz vorsichtig innerhalb sicherer Grenzen umher, in denen nichts passiert… nach der Theorie ja auch nichts passieren kann. Aber natürlich, die Angst um das liebe Leben… es könnte vielleicht schneller Energie entfesselt werden, als erwartet… das veranlaßt die Herren, gegen meine klaren Anweisungen zu handeln.«

Harder hatte sich bei den letzten Worten erhoben. Hoch reckte sich seine Gestalt, seine beiden Fäuste stemmten sich auf den Konferenztisch. »Wir müssen kämpfen, meine Herren, wenn wir unser Ziel erreichen wollen. Solche Kämpfe sind nicht immer ungefährlich.«

Eine Idee schoß ihm durch das Gehirn. Eine historische Erinnerung… die Anrede Friedrichs des Großen an seine Offiziere vor der Schlacht bei Leuthen.

»Meine Herren, ist etwa einer unter Ihnen, der sich scheut, diese Gefahren auf sich zu nehmen, der kann noch heute ohne jeden Tadel von mir seine Entlassung… oder seine Versetzung in ein anderes Werk erhalten.«

Schweigen in der Runde. Es meldete sich niemand. Nach einer langen Minute fuhr Harder fort.

»Von denen aber, die hier bleiben… an der großen Aufgabe weiterarbeiten wollen, von denen verlange ich, daß meine Anordnungen ohne jedes Zögern… ohne jede Abweichung von den gegebenen Befehlen durchgeführt werden. Die Anordnung lautet: Die theoretische Feldstärke von fünf Millionen Gauß ist schnellstens zu erreichen. Mit dieser Feldstärke sind die Arbeiten weiterzuführen. Ihren umgehenden Bericht darüber, Herr Doktor, erwarte ich in Biarritz.«

Ein kurzer Abschiedsgruß an die Versammlung. Harder schritt über die Mole seinem Flugschiff zu.

Da stand Mette im hellen Schein der Vormittagssonne im leichten Jachtkostüm. Die Hand schützend über den Augen, blickte sie nach Westen, wo dicht an der Kimme wie ein blauer Hauch die Düne von Barsum zu erkennen war. Weit zurück flogen ihre Gedanken bis zu jenem Sommer, zu jener Sturmfahrt nach Barsum, die ihr Schicksal wurde.

Die Schritte ihres Vaters rissen sie aus dem Sinnen.

Schweigend schritt sie an der Seite des Vaters zum Flugschiff.

Fürst Iraklis stand vor dem Kalifen im Königsschlosse zu Madrid.

»Mein Herr hat Hoffnung, daß Ibn Ezer Erfolg haben wird?«

Abdurrhaman erhob sich und schritt ungeduldig hin und her.

»Die Hoffnung ist gering, Murad. Recht gering leider. Ich ließ ihn nach Fez kommen und habe ihn gehört.

Natürlich… ihn erfüllt ganz der Gelehrtenehrgeiz. Er wird sich die größte Mühe geben. Aber… und das ist das Schlimme… er sagte es offen, wenn nicht ein gütiges Geschick ihm zur Seite steht, wenn es ihm nicht gelingt, das Geheimnis Elias Montgomerys im ersten Angriff zu ergründen, dann wird er wahrscheinlich lange, lange Zeit brauchen.

Inzwischen ist zu befürchten, daß das Problem von anderer Seite gelöst wird. Ein Teil des Erfolges wäre damit hinfällig.«

»Ich hoffe, mein Herr sieht zu schwarz. Mein Herz vertraut auf Ibn Ezer. Was er bisher geleistet hat, läßt mich auf ihn vertrauen.

Jedenfalls… den Vorteil hat der Streich für uns gehabt… wir haben die Möglichkeit, uns in absehbarer Zeit der Kräfte der Atomenergie zu bedienen, während Europa nur noch auf die Erfolge, die unsicheren Erfolge der Riggers-Werke hoffen darf. Das Kräfteverhältnis hat sich damit doch sehr zu unseren Gunsten verschoben.«

Abdurrhaman nickte zustimmend. Der Fürst fuhr fort.

»Wir mußten fürchten, daß es den europäischen Gelehrten doch in absehbarer Zeit gelingen würde, den Apparat Montgomerys in Tätigkeit zu setzen. Schon war ein englischer Regierungsantrag so gut wie beschlossen, die Gelehrten der Riggers-Werke heranzuziehen, ihnen die Lösung des Geheimnisses zu überlassen.«

Der Kalif unterbrach ihn.

»Ja, Murad! Ich weiß es. Midhat Pascha meldete es. Berichtete zu meiner großen Freude auch immer wieder, daß man in England noch nicht den leisesten Verdacht hat, daß der Apparat in unserer Hand. Das heißt, man rät, besonders in der Presse, unter den vielen Interessenten auch auf uns, aber außer diesen Vermutungen hat man nicht den geringsten greifbaren Beweis, daß wir da irgendwie im Spiele sind. Jolanthe hat wieder einmal gute Arbeit geleistet. Ich will sie sehen, ihr meinen Dank abstatten.«

Der Fürst warf einen Bick auf die Uhr.

»Meine Nichte dürfte zurückgekommen sein…«

»Darf ich…?«

»Bitte, mein lieber Fürst!«

Einen Augenblick später trat Jolanthe ein. Das Auge des Kalifen ruhte mit ungeheuchelter Bewunderung auf der hohen, stolzen Gestalt, die in dem dunkel herabfließenden Gewand gleich einem Bild in altvenezianischem Stil in dem geschnitzten Türrahmen erschien. Er eilte auf sie zu und beugte sich tief über ihre Hand.

»Wie soll ich Ihnen danken.«

»Sire, Sie beschämen mich.«

»Baronin Jolanthe, Ihnen allein verdanken wir diesen Erfolg.« Der Kalif legte ihren Arm in den seinen und führte sie zu dem Sessel am Kamin. Sprach dann weiter. »Sie haben mir eine große… eine ungeheure Last von der Seele genommen. Seit dem Tode Elias Montgomerys mußte ich Europa wieder fürchten. Wären die englischen Gelehrten hinter das Geheimnis des Apparates gekommen, Europa hätte das wirtschaftliche Übergewicht gehabt. Das allein schon eine schwere Gefahr für uns, der zu begegnen unmöglich. Aber nicht nur das. Die Atomenergie wird bei weiterer Entwicklung auch eine furchtbare militärische Waffe werden. Diese Waffe in der Hand Europas, und die Tage unseres militärischen Übergewichtes und unserer Herrschaft in Spanien wären gezählt. Oh, ich unterschätze die Größe des Dienstes nicht, den Sie unserer Sache… den Sie mir erwiesen haben. Aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen den schuldigen Dank dafür abstatten kann.«

Auf Jolanthes Wangen schien ein Widerschein des Kaminfeuers zu brennen. Mit rascher Hand schob sie den Kaminschirm zwischen sich und die Glut, ihr Antlitz damit beschattend.

»Ich danke Eurer Majestät für die liebenswürdigen Worte… Sie dürfen überzeugt sein, daß mir die Freude über den glücklichen Erfolg allein genügt, um mich für jede Mühe völlig zu entschädigen.«

Wieder flog es wie dunkle Glut über ihre Wangen, während sie die Worte sprach.

»Als ein geringes Zeichen meiner freundlichen Gesinnung, die ich für Sie im Herzen trage, will ich meine Einwilligung für eine Verbindung zwischen meinem Bruder, dem Prinzen Ahmed, und Ihrer Schwester Modeste geben.«

Ein heller Freudenschein glitt über das Gesicht Jolanthes.

»Sire, die Gnade, die so unverhofft…«

Sekundenlang hatte die gewohnte Selbstbeherrschung sie verlassen. Mit Mühe unterdrückte sie einen Ausdruck jubelnder Freude, vergaß ganz die Unterredung mit Modeste.

Abdurrhaman versenkte seine Blicke in die Jolanthes.

»Ich hoffe, durch diese verwandtschaftlichen Bande die so herzlichen, freundlichen Beziehungen unserer Familien noch enger zu knüpfen… besonders Sie selbst noch stärker an mich zu fesseln… Sie, die mir so notwendig sind.«

Vergeblich versuchte Jolanthe dem Blick des Kalifen zu begegnen, darin zu lesen… ein flammendes Funkeln zwang sie, die Augen zu senken. Ihr Herz schlug in starken Schlägen.

»Die Mitteilung, die ich Ihnen soeben machte, Baronin Jolanthe, wollen Sie bitte als ganz vertraulich behandeln. Auch den Beteiligten gegenüber.«

Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest in der seinen.

»Es trieb mich, wenigstens einen kleinen Teil der Dankeslast mich zu entledigen, die mein Herz so stark beschwert. Ich will hoffen, wünschen, daß sich bald Gelegenheit finden wird, mein Herz noch stärker von der Schuld zu entlasten. Wenn das andere in Erfüllung gehen wird. Der Traum, den Apparat Montgomerys in Tätigkeit zu sehen. Dann…« Seine Blicke hingen fest an denen Jolanthes. Ein heißer Strom durchrann sie.

Ihre Hand zuckte. Sie entzog sie ihm.

»Hatte Ibn Ezer schon Gelegenheit, den Apparat zu sehen?«

»Noch nicht, Baronin. Er soll morgen den ersten Versuch daran machen.«

»Und wenn es ihm nicht gelingt, Sire, nicht sogleich gelingt?«

»Dann«, die Züge des Kalifen verfinsterten sich, »muß der Apparat nach Ägypten geschafft werden, wo Ibn Ezer alle Hilfsmittel zur Verfügung hat. Und dann…kann es vielleicht viele Monate dauern, bis das Geheimnis gelöst wird. Wir müssen uns bescheiden. Können wir vorläufig die Kräfte des Apparates nicht bedienen, so ist doch auch Europa die Möglichkeit verschlossen, das Geheimnis zu lösen.«

»Sollte es nicht möglich sein, Sire, den einen oder den anderen durch hohe Summen zu bestechen und sie zu gewinnen, für uns zu arbeiten?«

»Unmöglich! Diesen Gelehrten ist mit Gold nicht beizukommen. Außerdem, die Zahl der Leute, die das Verfahren wirklich beherrschen können, ist gering. In erster Linie der Oberingenieur auf Warnum und natürlich der Generaldirektor Harder.

Der weilt übrigens zur Zeit in Biarritz. Sie werden vielleicht Gelegenheit finden, ihn kennenzulernen, wenn Sie selbst demnächst nach Biarritz kommen.«

Jolanthe starrte sekundenlang in das verlöschende Kaminfeuer. Eine Idee war in ihr aufgezuckt. Als hätte sie die Gegenwart des Kalifen vergessen, warf sie sich in den Sessel zurück und schloß die Augen.

Zitterndes Zucken der Gesichtsmuskeln verriet das angestrengte Nachdenken.

Abdurrhaman starrte mit verhaltendem Atem auf die Gestalt Jolanthes, die wie von hypnotischem Schlaf befallen regungslos in dem Sessel lag… endlich hob sich ihre Brust unter tiefen befreienden Atemstoßen. Sie strich sich leicht mit den Händen über Stirn und Schläfen, ihre Augen öffneten sich, gingen suchend in die Runde, bis sie den Blick Abdurrhamans trafen. Ein stilles, leises Lächeln legte sich über ihr Gesicht. Langsam erhob sie sich, stand vor dem Kalifen.

»Ein Plan, Sire. Ein neuer Plan. Er wird vielleicht zunächst bizarr… unmöglich erscheinen. Aber das Unmögliche hat mich bei großen Unternehmungen stets am meisten gereizt. Eine verzweifelte Situation erheischt verzweifelte Mittel.

Das Mittel, das zu versuchen ich vorschlage, ist, ich sage es offen, verzweifelt. Schlägt es fehl, dürften die Folgen nicht angenehm sein. Aber es wird nicht fehlschlagen, es wird gelingen, muß gelingen.«

Abdurrhaman grub seine fieberhaft glänzenden Blicke in die ruhigen, entschlossenen Züge Jolanthes.

»Sie spannen meine Erwartungen aufs höchste. Ein Mittel!… Sie wissen es?… Doch ehe ich höre… ich scheue, um einen Erfolg zu erzielen, vor nichts… Ihre Person aber, Baronin Jolanthe, darf dabei nicht im geringsten gefährdet sein!«

Ein flüchtiges Rot schoß über Jolanthes Gesicht, ihre Blicke gingen ausweichend zur Seite.

»Die Besorgnis um meine Person, Sire… dürfte nach dem Plan, den ich mir erdacht, unnötig sein. Ich selbst werde ganz im Hintergrunde bleiben.«

»Dann bitte ohne Umschweife, Baronin! Ich ertrage die Spannung nicht länger. Ihr Plan ist?…«

»Ist… das Geheimnis des Apparates durch den lösen zu lassen, dem es von allen Physikern der Welt am leichtesten gelingen würde… durch… Harder, den Generaldirektor der Riggers-Werke.«

Abdurrhaman trat einen Schritt zurück, starrte Jolanthe ratlos an.

»Baronin… Baronin Jolanthe, ich verstehe Sie nicht. Aber ich kann nicht annehmen, daß Sie scherzen. Ihre Idee ist so ungeheuerlich… ich weiß nicht…«

Der Kalif schritt schwer atmend im Gemach auf und nieder.

»Sire, darf ich bitten, mit mir zu dem Apparat zu gehen.«

Der Kalif erhob sich und folgte wortlos Jolanthe.

Im Bibliothekszimmer eine schwere Truhe maurischer Arbeit. Der Kalif öffnete, schlug den Deckel hoch. Da stand das Erbe Montgomerys. Der unscheinbare Kasten, in dem das Welträtsel der Atomenergie gelöst war.

Wie von einem inneren Drange getrieben, hob Abdurrhaman den Deckel des Apparates. Seine Augen starrten wie gebannt auf das Gewirr der Drähte und Spulen. Seine Finger glitten zag, vorsichtig über die winzigen Hebel und Schrauben. Jolanthe folgte mit leisem befriedigtem Lächeln jeder Bewegung des Kalifen.

»Nun möchte ich meinen Plan kurz entwickeln, Sire. Harder ist in Biarritz. Ich werde seine Bekanntschaft machen. Wir werden zusammen Ausflüge machen. Ein Ausflug geht in die baskischen Berge. In dem noch immer unruhigen Grenzgebiet wird die Gesellschaft überfallen und auf spanisches Gebiet entführt. Derartige Überfälle mit dem Zweck, Lösegeld zu erpressen, sind dort schon mehrfach vorgekommen. Harder wird in schonendster Weise nach einem sicheren Ort gebracht. Der Apparat ist, das muß die Voraussetzung für alles andere sein, von spanischen Patrioten entwendet, um mit seiner Hilfe Spanien zu befreien! Die erforderlichen Personen für die Rollen der spanischen Patrioten werden sich finden lassen. Das alles… ich habe die Einzelheiten noch nicht genügend durchdacht… doch das ist alles nicht schwierig.

Erst wenn das erreicht ist, beginnt die Schwierigkeit. Harder und der Apparat!

… trotzdem… ich fühle es… ich habe die Gewißheit, daß es gelingen wird. Der Apparat wird von den sogenannten spanischen Patrioten… es müssen sehr gewandte Leute sein, die auch einen guten Namen tragen… Harder in die Hand gegeben. Wie sich Harder auch sonst zu dem Bisherigen stellen mag, in dem Augenblick, wo er den Apparat Montgomerys in der Hand hat, vergißt er jedes Bedenken. Seine eigenen Arbeiten… ich hörte, sie sind noch weit vom Abschluß entfernt. Sein Gelehrtenehrgeiz wird der Versuchung unterliegen.

Ich sehe ihn… den Apparat flüchtig betrachten. Sehe ihn mit immer größer werdendem Interesse die Einzelheiten studieren, sehe ihn mit allen seinen Kräften darauf stürzen, sein Geheimnis zu lösen, ihn in Tätigkeit zu setzen… Und dann sehe ich…«

Jolanthe hatte den Oberkörper weit nach vorn geneigt und sah dem Kalifen fest in die Augen.

»Weiter! Weiter!« drängte Abdurrhaman. Erregung sprach aus seinen Zügen.

»…sehe ich den Tag kommen, wo das Geheimnis gelöst ist, der Apparat arbeitet. Wir im Besitze der Atomenergie!… die Welt uns Untertan!«

»Jolanthe!« Abdurrhaman rief es mit erstickter Stimme. Er beugte sich über ihre Hände, preßte seinen Mund darauf. Sie zuckte vom Kopf bis zu den Fußspitzen. Sie sah ihn mit weitgeöffneten, entrückten Augen an. Dann senkte sie die Augen nieder und blieb unbeweglich.

»Jolanthe! Wie soll ich dem Schicksal danken, das Sie mir gab. Sie müßten über Kräfte herrschen, die Ihnen gleichen. In ihrer Nähe schwinden alle Sorgen. Keine Gefahren, kein Hindernis, das schreckt. Sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann!«

Er wollte sich wieder über ihre Hände beugen. Sie entriß sie ihm, trat zurück, stand da wie eine bleiche Flamme.

Mit einem heißen Blick umfing sie seine ganze Gestalt, zeigte ihm ihre unbegrenzte, flammende Leidenschaft. Sie stand da, fast körperlos, ganz tiefgeheimste Seele, ihr Innerstes unverhüllt seinen Blicken preisgegeben.

Ein Schauer ging durch die Glieder des Kalifen. Er wollte sprechen. Das Wort erstarb ihm auf den Lippen. Er wollte zu ihr eilen und hatte nicht die Kraft, einen Schritt zu tun…

Die Scheite im Kamin fielen prasselnd zusammen. Ein Funkenregen stob in das Gemach. Durch die plötzliche Unterbrechung der Stille, die wie das Ende einer Bezauberung war, aufgerüttelt, wandte er sich instinktmäßig ab.

»Kommen Sie! Wir wollen sofort das Erforderliche mit dem Fürsten besprechen.«

Schwer atmend kamen die Worte aus seinem Munde. Jolanthe lächelte mühsam. Ihr Herz klopfte gegen ihre erstarrte Brust wie ein Hammer. Dunkler Schatten umgab sie. Müden, schweren Schrittes folgte sie dem Voranschreitenden.

Ein sonniger Julimorgen in Biarritz. Auf dem breiten, flachen Badestrand und den Uferpromenaden ein mondänes Leben und Treiben. Tief stahlblau das schwach bewegte Meer. Eine leichte Brise kam von der See her, trug Kühlung durch die geöffneten Fenster und spielte mit den Vorhängen des Hotelzimmers, in dem Harder am Schreibtisch saß. Vor ihm der letzte Bericht von Warnum.

Mit einer ärgerlichen Gebärde schob er ihn beiseite. Immer wieder! Keiner von der Gesellschaft, der Mut hat. Dieses übervorsichtige, feige Herumtasten.

Fernsteuerung. Der alte Vorschlag, wie überflüssig.

Er öffnete einen zweiten Brief mit dem Stempel Madrid. Von Iversen. Hm, nun, was würde der berichten? Wahrscheinlich ebenso inhaltslos wie die früheren Berichte auch. Was war mit Eisenecker, wozu dieses Herumfahren in der Welt? Der Mensch, die Erfindung, er mußte sie vollendet haben. Das heißt, auch das Letzte, das Höchste erreicht haben. Sonst!… Er säße sicherlich noch in seiner Heide. Ah… dieser Eisenecker und seine Arbeiten.

Der Barren Gold, ständig sein gleißender Glanz vor seinen Augen. Der Barren!… Wie ein Schlag von ungeheurer Wucht hatte ihn das getroffen. Wie ein Alp lastete es auf ihm. Zuerst glaubte er zusammenbrechen zu müssen. Schien doch alles, was er selbst, was seine Werke in jahrelanger Arbeit geleistet hatten, dadurch mit einem Schlage wertlos. Nur schwer hatte er sich wieder aufgerichtet, durchgerungen zu dem Entschluß, die Arbeiten in Warnum weiterzuführen.

Mit tausend Gründen immer wieder hatte er sich zu beweisen versucht, daß das Verfahren Eiseneckers auf denselben Grundlagen basierte wie die Arbeiten der Riggers-Werke und die Elias Montgomerys, daß auch er mit elektromagnetischen Feldern arbeitete. Montgomery! Das Schicksal seiner Erfindung. Ein Unstern schien darüber zu schweben. Der Apparat war gestohlen, geraubt. Von wem?… Wer hatte ihn? Aus welchem Grunde? Etwa um selbst damit zu arbeiten? Ausgeschlossen. Wo in der Welt gab es Physiker, die… ihm war keiner bekannt, der irgendwelche Aussichten gehabt hätte. Blieb also nur die Erklärung, der Zweck des Raubes war, Europa die Waffe aus der Hand zu schlagen… Der Gefahr, die den Riggers-Werken von Montgomerys Apparat gedroht hatte, glaubte er enthoben zu sein.

Aber Eisenecker… Das Gold, dieser verfluchte Barren, er schien allerdings der Beweis dafür, daß Eisenecker auf anderem, elektrostatischem Wege ans Ziel gekommen war. Und das wieder wollte und konnte Harder nicht zugeben. Schien es doch aller physikalischen Erkenntnis zu spotten.

Fast ein Menschenalter hindurch hatte er alle Möglichkeiten studiert, alle Wege zu ergründen versucht, die zum letzten Ziele, zur Gewinnung der Atomenergie, führen konnten. Das elektrostatische Verfahren unmöglich. Auch noch später, als er längst auf dem Wege Elias Montgomerys schritt, hatte er doch immer wieder diese andere Möglichkeit erwogen… immer wieder verworfen… unmöglich! Der Weg war nach dem Stande der Wissenschaft für jeden ausgeschlossen. Vielleicht, daß spätere Generationen ihn einmal gehen könnten.

Der Barren… der verfluchte Barren! Wo kam der her? Wie war der gewonnen? Wie ein unverrückbares, unüberschreitbares Hindernis störte dieser Goldklumpen immer wieder die Schußkette seines mathematischen, streng logischen Denkens.

Der Boy überreichte ihm eine Karte. Harder warf einen Blick darauf. Wie? Wer? Malte von Iversen. Er sprang auf, schritt selbst zur Tür, öffnete.

»Iversen, Sie hier? Eben noch las ich Ihren Bericht. Was ist! Sie haben Wichtiges zu melden, sicher, sonst undenkbar, daß Sie hier wären, Ihren Posten verlassen.«

Er schloß hinter Iversen die Tür.

»Setzen Sie sich, reden Sie!« Sein Blick hing erwartungsvoll an dem Besucher.

Iversen vermied es, Harder anzusehen. Seine Stimmung war offensichtlich nicht die beste.

»Sie erwarten etwas Wichtiges, Herr Harder. Wichtig gewiß, allerdings anders, als Sie erwarten. Um es vorwegzunehmen, Eisenecker ist bekannt, daß ich in Ihrem Auftrage ihn seit seiner Abreise überwachte.«

»Ah, wie unangenehm!… Ah, solche Ungeschicklichkeit! Wie war das möglich? Sie müssen die Schuld daran tragen, anders nicht denkbar. Wie konnte das passieren?«

»Gestatten Sie, daß ich etwas weiter aushole. Gewiß, die Ursache bin ich, aber schuldlos.«

Iversen gab dem Generaldirektor eine Schilderung jener Vorkommnisse auf der Polizeiwache in Madrid.

»Sie sehen«, schloß er, »daß irgendein Verschulden meinerseits nicht vorliegt. Ein unerklärlicher, mir heute noch unbegreiflicher Zufall muß da mitgespielt haben.«

Der Generaldirektor stand auf, schritt zum Fenster. Es kochte in ihm. Auch das noch! Er stampfte mit dem Fuß auf. Unerträglich, was heute alles auf ihn einstürmte. Und dann, um seinem Ärger irgendwie Luft zu machen, wandte er sich um, ging auf Iversen zu.

»Ihre Offizierslaufbahn war ja allerdings von kurzer Dauer. Aber immerhin, so viel müßten Sie wenigstens dabei gelernt haben, daß man seinen Posten nicht verläßt, ohne Weisung des Auftraggebers. Es bestand doch für Sie die Möglichkeit, mir das per Code mitzuteilen und mir damit Gelegenheit zu geben, meine Dispositionen zu ändern, eventuell einen anderen auf den Posten zu stellen.«

Iversen erhob sich, ging langsam auf Harder zu. »Herr Harder, Herr Generaldirektor, ich dachte, Sie suchten sich einen anderen, um Ihre Mißstimmung auf den abzuladen. Ich bin mir dessen wohl bewußt, was ich tat, habe es auch reiflich bedacht. Wenn ich’s tat, tat ich es in erster Linie Ihrethalben, in zweiter Linie Herrn Eiseneckers halber und dann erst meiner Person halber.«

Harder trat unwillkürlich einen Schritt zurück. »Sie!… Meinethalben!…«

»Gewiß, Herr Harder. Ich will versuchen, Ihnen meine Beweggründe auseinanderzusetzen. Sie erinnern sich, daß ich zunächst nicht geneigt war, Ihren Auftrag anzunehmen. Sie sprachen dann von dem großen Interesse, das Sie und die Riggers-Werke daran hätten, über alle Schritte, alles Tun Eiseneckers unterrichtet zu sein, wobei im Hintergrunde etwas dunkel angedeutet wurde, daß Eisenecker gegen die Vertragstreue verstoßen hätte.

Ich machte Ihnen schon damals in meinem Laienverstand Einwände, die Sie aber als belanglos verwarfen. Ich glaubte es auch.«

»Und welche Gründe hätten Sie heute, das nicht mehr zu glauben? Eiseneckers Gold? Dessen Herkunft? Wissen sie etwa was Neues, was anderes darüber?«

Iversen zuckte die Achseln. »Auf welchem Wege er das geschaffen hat, weiß ich auch jetzt nicht.«

»Also, was wollen Sie dann! Welche Gründe hätten Sie?«

»Gründe… Ich habe Friedrich Eisenecker kennengelernt.«

»Und was weiter?«

»Weiter nichts. Ich habe ihn gesehen, habe ihn sprechen hören, das hatmir genügt, um zu der Überzeugung zu gelangen, Eisenecker ist frei von Fehl. Der Mann die Riggers-Werke schädigen!« Er schüttelte mit dem Kopf.

Harder lachte höhnisch auf. »Ah, Sie unübertrefflicher Menschenkenner, Gedankenleser. Sie sahen ihn, hörten ihn, und alles, was ich sagte, war plötzlich wertlos.«

»Eine Frage, Herr Harder, offen und ehrlich. Von Ihrer Antwort wird es abhängen, ob ich mich schuldig bekenne. Sind Sie, Herr Generaldirektor Harder, ehrlich fest überzeugt davon, daß…« Mit einer wütenden Gebärde unterbrach ihn Harder.

»Wie, Sie wagen es, an der Aufrichtigkeit meiner Erklärung zu zweifeln!«

»Ich wage es, Herr Harder. Das Wort des Mannes, nicht das des Industriekapitäns, des Erfinders… das Wort des Mannes will ich von Ihnen. Haben Sie wirklich Grund, Eisenecker zu mißtrauen? Ein Mann, ein Wort.«

Iversens Augen senkten sich fest in die des Generaldirektors. Der stand… hielt den Blick nicht aus. Iversen drehte sich kurz um, schritt zur Tür.

»Ich weiß genug.« Er drückte sie auf, da trat ihm Mette entgegen.

»Ah, Herr von Iversen, welche Überraschung, Sie hier?« Der Gedanke an Eisenecker durchzuckte sie. War da irgend etwas Wichtiges, Schlimmes oder… Gutes? Ihr Blick flog von Iversen zu ihrem Vater. Der stand noch da, in der Mitte des Gemaches, schwer atmend, totenblaß, die Hände zur Faust geballt.

»Was ist, Vater, Herr von Iversen, was ist?« Sie schloß die Tür, stürzte auf ihren Vater zu, umschlang ihn.

»Vater, was ist dir? Herr von Iversen, was ist hier vorgefallen? Vater, ich bitte dich, deine Aufregung, entsetzlich, beruhige dich, komm zu dir.«

Sie legte die Hände um seinen Kopf, strich ihm über die Stirn. Die war in Schweiß gebadet.

Iversen trat näher.

»Herr Generaldirektor, ich bitte Sie, verzeihen Sie mir. Die Ereignisse der letzten Tage… Sie werden begreifen, daß die Situation für mich über die Maßen peinlich… niederschmetternd für mich war. Dazu jetzt Ihr Vorwürfe… Ich ließ mich hinreißen… verzeihen Sie, was geschehen. Ich selbst begreife, entschuldige, verstehe alles.«

Er ergriff die Hand Harders, die er ihm willenlos ließ.

»Geh, Mette, laß mich allein«, stoßweise kamen die Worte aus seinem Munde, »geh mit Iversen zum Strand, ich… ich komme dann nach… komme später.«

Vom Pic d’Ory fällt der Pyrenäenstock schroff nach Norden hin ab. Jäh stürzen die Wildwasser hier in die Tiefe und liefern die Kraft für die Werke von Rallain und für die Eisengrube von Sainte Marie aux Chaines. Etwas oberhalb der Gruben ein altes verfallenes Schlößchen im Zopfstil des Rokoko. ›Mon Repos‹ ließ sich noch mit Mühe aus den verblichenen und verwitterten Bronzelettern an der Fassade entziffern, die früher einmal im Schmucke reicher Vergoldung geglänzt hatten. Jahrzehnte hindurch hatte der Bau unbewohnt gestanden, bis Eisenecker ihn für ein Billiges erwarb. Ihm war diese weltabgeschiedene Lage gerade recht. Hier konnte er ungestört am Ausbau seiner Erfindung arbeiten. Die Unsicherheit in diesem Grenzgebiete schreckte ihn nicht. Die Lage, so dicht an der maurischen Grenze, war ihm im Gegenteil gerade recht.

In dem in den Felsen eingehauenen Untergeschoß war eine kleine Werkstatt eingerichtet. An einer Werkbank Eisenecker, den Blick auf den Drehstahl gerichtet.

Die Wendeltreppe, die von oben herunterführte, kam der Diener hinab, den ihm Gonzales beigegeben hatte. Ein alter, schnauzbärtiger Sergeant der früheren spanischen Armee. Das grimme, von Narben durchsetzte Gesicht zu einer freudigen Grimasse verzogen.

»Er ist gekommen, Senor!«

»Schon da?« Eisenecker warf einen Hebel herum und folgte dem Alten nach oben.

»Ah, guten Abend, Don Antonio! Der Weg über die Berge? Gut verlaufen?«

Der Oberst deutete lächelnd auf seinen Hut, der an einem Haken hing.

»Das Loch darin! Sonst weiter nichts.«

Gonzales warf sich in einen Stuhl und trank in langen Zügen einen Becher Alicantewein.

»Sie waren scharf hinter mir her. Ich mußte mich beeilen. Nun, einerlei! Der Zweck meiner Reise… ich brauchte nicht weit zu gehen, um sie zusammen zu haben… die hundert Getreuen, die wir brauchen. Wollte auch nicht in die Ebene steigen. Die aus den Bergen sind härter, gewandter im Gebirgskampf.

Die meisten davon schon bei den letzten Guerillas dabei! Sie alle harren, warten mit Ungeduld auf den Ruf. Keiner weiß natürlich etwas von den neuen Waffen. Es ist ihnen genug, daß sie wieder einmal einen Anführer haben, der sie gegen den Feind führt.

Ich selbst… verzeihen Sie meine Ungeduld!

Der Tag! Ich kann es nicht erwarten, bis der Tag kommt, an dem der letzte Blitz zuckt.«

Eisenecker lächelte.

»Ich verstehe Sie vollkommen, lieber Freund. Der Tag… Ihr Tag… er ist nicht mehr fern.

Ich sehe schon das Morgenrot. Ihre Leute mögen sich rüsten!«

Der Oberst wollte sprechen. Da zuckte das elektrische Licht ein paarmal auf und erlosch. Sie saßen im Dunkeln.

»Was ist das, Don Frederego?«

»Voraussichtlich eine Störung im Kraftwerk. Ich werde meine Notbeleuchtung ein…«

Ehe Eisenecker den Satz vollendet, drang das dumpfe Grollen einer Explosion in den Raum.

»Was ist das, Don Frederego?«

Eisenecker hatte sich zum Schreibtisch getastet und einen Schalter bewegt. Eine Stehlampe flammte auf und erleuchtete den Raum. Sie lauschten.

Als ein reißender Bergstrom kommt der Oberlauf des Oleron vom Pic d’Ory brausend hinab, bis ihn 500 Meter über Rallein die großen eisernen Druckrohre des Kraftwerkes aufnehmen und die Wasser gebändigt hinab zu den Turbinen des Kraftwerkes führen. Während Eisenecker mit Gonzales im Gespräch saß, stand dort oben an den wirbelnden Wassern ein Mensch. Unmöglich, in der Dunkelheit sein Gesicht zu erkennen. Nur undeutlich leuchteten im Sternenlicht die weißschäumenden Wirbel, die das Wildwasser hier zum letzten Male aufwarfen, bevor es in die Rohre einströmte. Der Fremde hier bewegte den Arm, warf etwas, das klatschend auf das Wasser fiel, im nächsten Moment von den Wellen ergriffen und in das erste Rohr hineingerissen wurde. Er stand und lauschte. Eine Minute… noch eine… die dritte Minute.

Aus der Tiefe des Tales drang der Donner einer Explosion nach oben. Die erste Bombe hatte ihr Ziel erreicht. Vom Wasser mitgerissen, war sie mit elementarer Gewalt gegen die Schaufeln der ersten Turbine geschleudert worden, und die Aufschlagzündung hatte gewirkt.

Noch einmal ein Wurf und dann ein dritter. Auch die beiden anderen Rohre hatten die todbringende Sendung verschluckt und führten sie mit der Schnelligkeit des stürzenden Wassers den Maschinen des Kraftwerkes zu.

Der Fremde wartete den Erfolg nicht ab. Eilig schritt er einen schmalen Pfad bergauf. Trotz der Dunkelheit verfolgte er den halsbrecherischen Steg mit einer wunderbaren Sicherheit zur maurischen Grenze hin und war schon tief in den Bergen, als das Dröhnen der nächsten Explosion sein Ohr erreichte. Die Werke von Rallain wurden gemordet. Gemordet auch die sechstausend Mann der Belegschaft in St. Marie…?

Eisenecker stand neben der brennenden Lampe. Noch einmal ein fernes Donnern.

»Was ist das, Don Frederego?«

Eisenecker preßte die Lippen zusammen. Lauschte, bis das Grollen einer dritten Explosion an sein Ohr drang.

»Santa Maria, was ist das, Don Frederego?«

»Ich glaube, Don Antonio, das waren drei Explosionen, durch welche die drei Maschinensätze des Kraftwerkes von Rallain zerstört wurden.«

»Zerstört? Ein Unglücksfall? Ein Verbrechen?«

»Sie vergessen, Don Antonio, daß wir hier nah an der maurischen Grenze sitzen.«

»Ah! Was ist das? Sie meinen also, daß maurische Hand…?«

»Ich nehme es an.«

»Wozu? Warum?«

Eisenecker hatte sich abgewandt. Die Frage brachte ihn selbst zur Tat.

»Ste. Marie aux Chaines!« Gonzales schrie es. »Die Werke vernichtet! Die Belegschaft?! Dreitausend die Schicht! Sie ist verloren. Undenkbar eine solche Schandtat! Don Frederego!«

Er war auf Eisenecker losgestürzt.

»Sie?… Was…«

»Ich werde versuchen…«

Drei schwere Explosionen im Kraftwerk von Rallain. Die drei großen Turbinen zerschmettert. Zerbrochen die eisernen Käfige, die das Wildwasser zwangen. Mit Gewalt brach das befreite Element sich Bahn. Schäumend und wirbelnd überschwemmte es im Augenblick alle Räume des Kraftwerkes.

Schon schrillte von den Eisengruben her das Telefon.

»Wo bleibt der Strom? Strom her!… Kraft her!« Der Ingenieur schrie es mehr, als er sprach.

»Unmöglich!… drei Explosionen… alle Maschinensätze zerbrochen.«

»Strom her! In Gottes Namen Strom her… unsere Maschinen stehen. Die ganze Belegschaft ist verloren.«

»Unmöglich… wir können nicht. Gott helfe euch…«

Der Hörer wollte dem zitternden Zecheningenieur aus der Hand sinken… da…

»Der Strom kommt!«

Es war eine andere… eine ganz fremde Stimme, die dem Ingenieur in Sainte Marie aux Chaines aus dem Apparat ans Ohr drang.

»Wer spricht dort? Wer ist da in der Leitung?«

»Ich gebe Strom für eine Stunde. Bringt die Belegschaft aus den Gruben.«

»Wer spricht dort? Wer ist in der Leitung?«

»Für eine Stunde nur, richtet euch danach.«

Die Stimme ließ sich nicht wieder hören. Nur verworrene Rufe von Rallain her.

Der Ingenieur in Sainte Marie umklammerte den Hörer, als wolle er ihn zerbrechen.

Eben noch warf die flackernde Kerze der Notbeleuchtung unsichere Reflexe durch den Raum. Jetzt glühten die elektrischen Lampen wieder auf. Volle Helligkeit flutete durch das Gemach. Jetzt brannten auch die großen Lampen auf dem Zechenhofe wieder.

Narrten ihn seine Sinne? Trieb jemand sein Spiel mit ihm?

Er schrie nochmal in den Apparat.

Keine Antwort mehr. Er stand starr. Die Knie wankten unter ihm. Unfähig, einen Entschluß zu fassen.

Die Muschel des Apparates noch mechanisch gegen das Ohr gepreßt. Nur das Dröhnen rauschender Wassermassen, die dort in Rallain in die Zentrale des Kraftwerkes einbrachen. Ein Gurgeln… ein Brausen… dumpf und immer dumpfer. Mit grauenhafter Deutlichkeit vernahm er hier alle Einzelheiten der Katastrophe, die sich dort abspielte.

Jetzt erreichten die Wasser dort oben das Mikrofon. Überschwemmten es, verdarben es. Der Apparat lag tot und stumm.

Der Ingenieur preßte die Fäuste in die Augen. Er fürchtete, wahnsinnig zu werden… schon zu sein. Das brennende Licht. Strom. Woher der?

»Eine Stunde!« hatte die unbekannte Stimme gesagt. »Eine Stunde gebe ich euch Strom.«

Seine Augen hingen an dem großen Schalthebel.

Generalalarm?

»Eine Stunde gebe ich euch Strom.« Als ob die Stimme nochmals ertönt wäre. Da riß er den Hebel herum, stürzte aus dem Raum. Dort… kam dort nicht ein Mann auf den Hof gestürzt… ein zweiter… ein dritter nach ihm? Leute vom Kraftwerk, die hierhergestürzt kamen. Vom rasenden Lauf erschöpft, durch die Katastrophe erschüttert und verwirrt, kamen sie daher. Mit aufgerissenem Mund, mit erhobenen Händen taumelten sie auf den Ingenieur zu.

Was ist hier? Strom? Das Kraftwerk zerstört? Von den entfesselten Wassermassen überflutet. Alles in dunkler Nacht.

Hier Kraft?!… Licht?! Ein unfaßbares Wunder.

Der Ingenieur lief zum nächsten Schacht. Da schnellte gerade die Förderschale empor. Aus ihren Türen entquoll der erste Satz der Belegschaft.

Der Hebel für den Generalalarm. In der Sekunde war er herumgerissen, flammten an hundert Stellen tief unten in den Gruben die roten Lampen auf, schrillten die Glocken, die alles Lebendige zu den Förderschalen riefen.

Rastlos arbeiteten die Maschinen. Schwer beladen kam Korb um Korb zutage. Schwarz quoll es aus den Schächten. Schwarz wimmelte es bald auf dem Zechenhofe.

Immer größer die Menge hier, im wildem Aufruhr durcheinanderwogend, schreiend. Die Zeit verrann. Eine Viertelstunde nach der anderen. Der letzte Korb! Der letzte Mann der Belegschaft gerettet!

Wenige Minuten noch… die Stunde war um! Finsternis… tiefste Nacht. Sekundenlange Stille unter den Tausenden.

Ein gellender Schrei aus dem Munde des Ingenieurs durchbrach sie.

Wie vom Blitz getroffen war er zusammengebrochen.

»Ich will es versuchen!« Mit diesen Worten war Eisenecker aufgesprungen und in den Nebenraum gegangen. Der Oberst Gonzales blickte ihm erstaunt nach. Was wollte der Deutsche? Er hörte ihn sprechen… in das Telefon offenbar. Hörte einzelne Worte, konnte aber den Sinn nicht verstehen. Ein Lichtschein ließ ihn aufblicken. Es zuckte in den Lampen, und dann brannte das Licht wieder.

Eisenecker kam zurück.

»Also doch nur eine vorübergehende Störung im Kraftwerk, Don Frederego.«

»Nein, Senor, das Kraftwerk von Rallain ist vollkommen zerstört!«

»Unmöglich, Don Frederego… wie könnten dann die Lampen brennen?«

»Ich gab den Strom!«

Iversen hatte geendet. Mette, die neben ihm im Sande lag, richtete sich auf. Reichte Iversen die Hand.

»Dank, Malte, tausend Dank.« Ungehemmt ließ sie die Tränen über ihre Wangen fließen. »Seit Monaten die erste frohe Stunde. Wenn Sie wüßten, wie schwer ich litt seit dem Tage, wo ich unfreiwillig Zuhörerin Ihres Gesprächs mit meinem Vater war. Das ganze Verhalten meines Vaters… wie gut und schön Sie es entschuldigen. Ich selbst vermag es nicht so, vermag nicht Ihre Gründe mir zu eigen zu machen. Und auch das, was Sie über Eisenecker sagten, wie Sie ihn verteidigten…«

»Eisenecker… kennen Sie Friedrich Eisenecker?«

Mette wandte den Kopf zur Seite, schaute lange über die weite blaue Fläche.

»Ja… ich kenne ihn, kenne Friedrich Eisenecker… Es war zu der Zeit, als Warnum aufgebaut wurde, er dort tätig war…«

Und dann erzählte sie ihm leise, tonlos, die Geschichte jenes Sommers.

Sie hatte geendet.

»Mette«, er reichte ihr die Hand, drückte sie fest. »Alles wird noch gut werden. Diese beiden Männer, jeder eine Herrscher-, eine Kraftnatur, nur erfüllt von dem Gedanken an ihre Arbeit, ihr Ziel, Gegner heute noch… einer, der die Segel streichen muß, einer, der Sieger sein wird… Eisenecker wird es sein. Bei ihm der höhere Geist, die größere Kraft, er der stärkere Mann. Und du, du wirst dem Sieger folgen, wenn er kommen wird, dich zu holen. Du vergaßest ihn nicht. Er! Der Mann, in dessen Leben die Liebe nur einmal tritt, der Mann, der nicht vergißt.« Er ergriff ihre Hand, küßte sie. »Wer könnte Mette Harder vergessen?«

»Ah, treffen wir Sie hier, wir suchen Sie so lange schon am Strande.« Iversen schaute empor. Zwei Damen vor ihm. Mit Mühe unterdrückte er einen Ausruf des Erstaunens. Die beiden blonden Damen aus dem Villenvorort von Madrid. Mit einem Sprung war er hoch, half Mette auf.

Nur mit halbem Ohr hörte er die vorstellenden Worte Mettes. Seine Augen hingen an der jüngeren der beiden.

Modeste von Karsküll, so hieß sie also?

Jolanthes Blick ruhte lange und forschend auf ihm. Kaum, daß sie auf das Geplauder Mettes achtete, die neben ihr herschritt. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf das lebhafte Gespräch, das zwischen Iversen und Modeste sich entsponnen.

»Und Sie erkannten mich auch wieder, gnädigste Baronin?«

»O gewiß, Herr von Iversen. Halfen Sie mir doch so freundlich, meinen Paß zu suchen. Sie wurden auch natürlich bald entlassen.«

»Gewiß.« Es schwebte Iversen auf der Zunge, seine nochmalige Verhaftung zu erzählen, doch irgend etwas hieß ihn schweigen.

Da kam es von Jolanthes Lippen zurück.

»Ah, Sie waren auch in diesen Tagen in Madrid?«

»Jawohl, meine Gnädigste, und hatte dort das Vergnügen, mit Ihrem gnädigen Fräulein Schwester auf der Straße verhaftet und zur Polizeiwache gebracht zu werden.«

»Weshalb Sie natürlich Madrid in schlechter Erinnerung haben, Herr von Iversen.«

»Nun ja«, erwiderte er lächelnd, »angenehm war meine Situation gerade nicht.«

»Nun, Sie konnten sich doch legitimieren, Sie hatten doch Ihren Paß.«

»Gewiß, aber hm…«

»War er nicht in Ordnung, oder als was reisten Sie?«

»Ich war… ich hatte einen Auftrag für ein großes deutsches Blatt, ein paar Zeitungsberichte über Madrid zu bringen und die dortigen Verhältnisse.«

»Ah, Sie sind Korrespondent, Journalist.«

»Hm, nur so mal bei Gelegenheit, nicht gerade von Beruf. Beruf… Mette, du weißt ja, versuchte mich so in allerlei Berufen schon.«

In lebhafter Unterhaltung erreichten sie die Strandbrücke. Hier trennten sich ihre Wege.

Beim Abschied. Jolante fragte: »Sie bleiben wohl längere Zeit hier, Herr von Iversen? Werden Sie unseren Ausflug auch mitmachen?«

»Was für einen Ausflug, Baronin?«

»Ah, Sie wissen von nichts… Wir alle wollten morgen einen Ausflug in die baskischen Berge machen zu dem berühmten Schäfer Arriava.«

»Schäfer? Arriava? Nie gehört. Was ist mit dem?«

»Nun, der Mann ist doch bekannt durch seine prophetische Gabe.«

Iversen zuckte die Achseln und verzog den Mund.

»Gnädigste Baronin, sind Sie auch sicher, daß seine Prophezeiungen nicht post festum kommen?«

»O nein, Sie irren, Herr von Iversen. Der Mann, das steht fest, hat des öfteren anderen gegenüber von der Zukunft gesprochen, die ihm in Träumen sich offenbart.«

»Und die Träume sind auch richtig in Erfüllung gegangen?! Das noch am Ende des 20. Jahrhunderts!«

»Lachen Sie nicht zu früh, Herr von Iversen. Vielleicht, daß Ihre Ungläubigkeit schneller bekehrt wird, als Sie denken.«

»Selbstverständlich, ich werde mitkommen. Wäre es auch nur, um einen schönen Stoff für einen Zeitungsbericht zu haben.«

Am 18. August brachten die europäischen Zeitungen an hervorragender Stelle die folgende Nachricht:

Bern, den 17. August. Heute vormittag um 11:30 Uhr begab sich der maurische Geschäftsträger zum Minister des Äußeren und übergab dem Minister die nachstehende Note:

Die Regierung Seiner scherifischen Majestät lehnt es ab, der Einladung zu einer neuen Versammlung der römischen Konferenz Folge zu leisten. Nach dem bisherigen Verlauf dieser Verhandlungen kann die Regierung Seiner scherifischen Majestät nicht zu der Überzeugung gelangen, daß die Wiederaufnahme zu einem glücklichen Resultat führt.

Sie kann sich der Ansicht nicht verschließen, daß auf europäischer Seite der ernsthafte Wille fehlt, den Verhandlungen einen Abschluß zu geben, der die völlige Wiederherstellung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den beteiligten Staaten gestattet.

Die offizielle Telegrafenagentur meldet hierzu eine Stunde später:

Die Erklärung Mauretaniens kommt der europäischen Staatsregierung völlig überraschend. Die europäische Regierung wird nicht verfehlen, bei der mauretanischen Regierung Aufklärung zu fordern. Es erscheint der europäischen Staatsregierung undenkbar, daß die mauretanische Regierung damit die ständige Besetzung Nordspaniens oder gar die Annexion aussprechen will.

Kurz vor Schluß der Redaktion ging folgendes Manuskript der Telegrafenagentur ein:

Die Notiz eines hiesigen Mittagsblattes, daß die so plötzlich veränderte Sprache der scherifischen Regierung aller Wahrscheinlichkeit nach darauf zurückzuführen sei, daß der Apparat von maurischer Seite geraubt sei und sich im Besitz der maurischen Regierung befindet, dürfte jeder Begründung entbehren.

Am nächsten Tag ein neues Telegramm der offiziellen Agentur:

Die gestrige Abendmeldung der Agentur ist leider durch einenÜbertragungsfehler entstellt worden. Die Erklärung der Agentur lautet natürlich:

Die Behauptung, daß der englische Apparat in maurischer Hand sei, entbehrt jeder Begründung.

Der starke Kraftwagen Harders rollte die Landstraße entlang, die von Bayonne aus dem Laufe der Nive folgt. In hundert Windungen und Krümmungen eilt der reißende Bergstrom zu Tale, bis er dicht bei Biarritz das Meer erreicht. Bald zu seiner Rechten, bald zu seiner Linken, ihn oft auf kühnen Brückenbogen überschreitend, dringt die Straße in das Gebiet der Hochpyrenäen ein. Majestätische Berge zu beiden Seiten des Weges. Die Gipfel schon stellenweise mit ewigem Schnee bedeckt. Tief unten im Tal grünglasig schimmernd die wirbelnden Wasser der Nive. Über dem Ganzen der Azurhimmel Südfrankreichs. Bezaubernd die Landschaft, verlockend die Fahrt.

Im breiten Fond des Wagens Mette Harder. Zu ihrer Rechten Modeste von Karsküll. Auf den Vordersitzen Harder und Iversen.

Enger wurde jetzt das Tal. Steiler und schroffer traten die Gebirge zusammen, in schäumenden Kaskaden stürzten die Wasser der Nive über gewaltige Felsblöcke.

Iversen warf einen Blick auf die Uhr.

»Noch etwa zehn Minuten, Herr Harder, dann dürften wir am Ziele sein. Ich bin neugierig, was der Wundermann uns erzählen wird.«

Harder kräuselte spöttisch die Lippen.

»Dieser Besuch ist eine Laune meiner Tochter, Herr von Iversen. Noch genauer gesagt, eine Idee der Baronin von Karsküll. Die Baronin machte zuerst den Vorschlag. Sie erzählte so viel von dem Wundermann, bis auch Mette ihn durchaus kennenlernen wollte. Und als sie mich dann endlich breitgeschlagen hatten, als der Ausflug beschlossen war und der Wagen vor der Tür stand, hielt sie ein wichtiges Telegramm in Biarritz zurück. Erbschaftsangelegenheiten, wenn ich richtig verstand. Die beiden anderen Damen wollten den Ausflug nicht aufgeben. Meinetwegen. Ich für meine Person habe für diese modernen Propheten und Wundertäter sehr wenig übrig.«

Iversen zog ein Zeitungspapier hervor.

»Es kann doch ganz interessant werden, Herr Harder. Haben Sie den letzten Aufsatz im Miroir de Bayonne gesehen?«

Er faltete das Blatt auseinander und deutete auf eine fettgedruckte Überschrift: Arriava, der wunderbare Seher von St. Jean le Miracle.

Harder lachte.

»Warum schreiben sie nicht lieber der wunderbare Schäfer. Ich habe es mir in Biarritz sagen lassen. Es ist ein alter verschrumpfter Baske, der hier oben in der Nähe von St. Jean seine Schafe hütet und daneben den Leuten allerlei unkontrollierbare Sachen erzählt.«

Iversen gab seiner abweichenden Meinung Ausdruck.

»Ich glaube, Herr Harder, so einfach läßt sich die Sache doch nicht abtun. Der Aufsatz hier führt eine Reihe von Fällen an, in denen die Prophezeiungen des Mannes ganz merkwürdig eingetroffen sind.«

»Mir fehlt der Sinn für solche Dinge, Iversen. Das zweite Gesicht. In meiner westfälischen Heimat spukt das schon immer.«

Er machte eine abweisende Handbewegung. Iversen lachte.

»Warten wir es ab, Herr Harder, vielleicht gelingt es dem Sieur Arriava, Sie zu bekehren.«

Nach einer letzten steilen Serpentine erreichte der Wagen St. Jean und hielt auf einem kleinen Platz zwischen den wenigen Häusern des Fleckens.

Ein Eingeborener wies ihnen den Weg, einen schmalen, steinigen Fußpfad den Berghang hinan. Sie mußten hintereinander gehen, sorgfältig auf den Weg achten, um nicht fehlzutreten. Dazu die Hitze des Augusttages, öfter als einmal blieb Harder stehen und trocknete sich die Stirn. Jetzt endlich war das Ziel erreicht. Eine ärmliche Hütte, roh aus aufeinandergeschichteten Feldsteinen errichtet. Ein fließender Brunnen daneben, der seinen Strahl in eine steinerne Tränke fallen ließ. Weidende Schafe an den Hängen. Ein Hund, der sie umsprang.

Auf der Bank vor der Hütte ein steinalter Mann. Bastsandalen an den Füßen, die Unterschenkel mit Fellen und Riemen umschnürt, den breiten baskischen Hut auf dem Kopf, einen verwitterten ausgeblichenen Mantel trotz Sommerhitze um die Schultern.

Iversen trat näher und grüßte in französischer Sprache. Regungslos, wie geistesabwesend blieb der Alte sitzen. Nur ein paar unverständliche baskische Worte kamen von seinen Lippen. Harder zuckte die Achseln.

»Unsere Expedition läßt sich nicht sehr aussichtsvoll an, Iversen.«

Noch bevor Iversen antworten konnte, trat ein jüngerer Mann aus der Hütte. Auch er in der Hirtentracht der Basken. Der sprach ein erträgliches, wenn auch mit zahlreichen baskischen Worten gemischtes Französisch.

»Sie wünschen zu hören, was Arriava Ihnen zu sagen hat. Sie müssen einzeln an ihn herantreten, ihm in die Augen sehen…«

Wer sollte der erste sein, der es unternahm? Ein Streit erhob sich in der Gesellschaft. Keiner wollte. Iversen versuchte ihn zu schlichten.

»Die Damen zuerst! Bitte, gnädiges Fräulein, wer von Ihnen will den Vortritt nehmen?«

Auch hier noch ein kurzer Streit, bis Modeste von Karsküll entschlossen vortrat. Sie versuchte den Alten anzuschauen und sah in leere, glanzlose Augen, die wesenlos über sie hinwegblickten. Wohl eine Minute stand sie, dann begannen die Lippen des Greises sich zu bewegen. Baskische Worte. Der Jüngere daneben übertrug sie in das Französische.

»Ein Großer… ein Mächtiger… dunkel sein Gesicht. Er begehrt dich. Du fliehst ihn. Er läßt dich nicht. Hüte dich, wenn dein Weg sich wieder mit dem seinen kreuzt.

Gefahren werden dich umgeben. Dann wird er kommen, der dich aus den Flammen löst. Ihm wirst du folgen…«

Der Alte schwieg. Vergebens wartete Modeste von Karsküll, vergebens warteten die anderen auf ein weiteres Wort.

Harder lachte leise in seinen Bart.

»Jungen Mädchen die Myrthe zu versprechen… dazu bedarf es keiner besonderen Sehergabe. Bitte, Mette, laß dir die Gelegenheit nicht entgehen. Laß dir auch den Myrthenkranz versprechen.«

Mette Harder trat vor den Alten hin, sah und blickte auch in dieses tote Auge.

Die Antwort kam schnell und war kurz.

»…eine blühende Myrthe…«

»Bravo! Gut gemacht, alter Schäfer!« Harder lachte es heraus.

Mette hängte sich an den Vater, eine helle Röte auf ihren Wangen.

»Nun, du, Vater! Jetzt mußt du! Du bist der nächste.«

Mit leichtem Zwange schob Mette ihren Vater vor den Alten hin. Einmal in diese Stellung gedrängt, versuchte Harder, dem Schäfer in die Augen zu sehen, jetzt eben noch glanzlos leer, jetzt wieder ein kurzes Blitzen darin.

»Ich sehe ein Feuer. Ein großes Feuer auf dem Meer. Es brennt… es kocht… es verschwindet…«

Langsam Wort für Wort wiederholte der Jüngere französisch, was der Alte in baskischen Lauten sprach. Harder war erblaßt.

»Weiter! Weiter… Continuez!« Er stieß es hervor. Der Alte sprach langsam weiter, der Jüngere verdolmetschte.

»Ein anderes Feuer, ein großes Feuer im Süden.«

Vergebens wartete Harder auf mehr. Der Alte war zu Ende.

Als letzter blieb Iversen. Der trat jetzt vor, tat wie die anderen, blickte den Alten an. Aber der hatte die Augen geschlossen. Sah Iversen nicht mehr, sprach wie im Traume weiter.

»Ich sehe… ich sehe Krieger von den Bergen steigen… ich sehe Flucht… Flucht nach Süden… sie fliehen… sie fliehen über das Meer…«

Er wollte noch weitersprechen. Da, ein furchtbarer Krach, dem langrollender Donner folgte. Alle waren zusammengefahren.

Was war das? Kein Wölkchen am Horizont. Stahlblau der Himmel. Ein Gewitter? Eine atmosphärische Entladung oder eine Explosion?… Eine Sprengung?

Eisenecker und Gonzales schritten der Grenze zu.

»Hoffentlich ist die Luft rein, Don Antonio. Ich fürchte… Ihre häufigen Besuche bei mir… einmal werden Sie den Grenzwächtern doch in die Hände fallen.«

»Keine Angst! Ein Hirt zeigte mir einen neuen Pfad. Zwar etwas halsbrecherisch, aber unbedingt sicher. Doch wie wäre es jetzt?«

Er sah sich um.

»Wir sind weit genug von ›Mon Repos‹ und bewohnter Gegend entfernt. Die Probe, die Sie mir versprachen!«

»Ich bin bereit! Ein Ziel!«

Er schaute sich um. »Wo wäre eins?«

Der Oberst suchte mit einem Feldstecher die Gebirgshänge ab.

»Da! Dort! Die Felswand! Sie liegt in vollem Sonnenlicht. Eine Bergziege weidet daran… Dort… zu weit! Unmöglich, ein Geschoß zielsicher dort hinzutragen.«

Eisenecker nahm den Feldstecher, sah nach der Wand. Ließ das Glas sinken.

»Zu weit! Können Sie immer noch nicht verstehen, Don Antonio, daß dieses Wort für meine Waffe nicht gilt? Nehmen Sie das Glas, sehen sie dorthin.«

Er selbst nahm ein Militärgewehr von der Schulter, lud es mit einer Patrone, die sich äußerlich in nichts von der üblichen Munition unterschied.

»Jetzt passen Sie auf!«

Er legte an.

»Nun, was wollen Sie tun?«

Gonzales trat neben ihn. »Die Ziege für das bloße Auge unerkennbar! Selbst im Glas nur ein winziger Punkt.«

»Winzig? Eine Fläche von hundertsechzigtausend Quadratmeter? Die ungefähre Mitte davon! Es genügt.«

Er legte das Gewehr an, zielte lange, schoß. Der kurze blecherne Ton des Mündungsknalles. Sekunden verstrichen… Da blitzte es dort drüben an der Felswand auf. Sekundenlang stand sie in bläulichem Feuer.

»Die Ziege! Sie stürzt!« Gonzales schrie es, das Glas an die Augen gepreßt. »Schon unten am Hang! Da! Sie prallt auf! Stürzt in den Abgrund.«

Er wollte sich zu Eisenecker wenden, als ein krachender Donner ihn zusammenfahren ließ. Es war derselbe Donner, der die Besucher vor der Hütte des Schäfers Arriava so jäh erschreckte.

»Da drüben an der Felswand!« Iversen deutete zu dem Berghang im Süden. »Da drüben war’s! Ich sah plötzlich einen bläulichen Schimmer darübergebreitet. Zuckte wie Blitze… nach allen Seiten!«

Harder wandte sich an den jungen Hirten.

»Ist dort eine Grube?… Ein Steinbruch? Wird dort gesprengt?«

Der schüttelte verständnislos den Kopf.

»Nichts! Da drüben ist unzugängliches Gebirge, wo keines Menschen Fuß hinkommt.«

Harder schüttelte den Kopf.

»Sonderbar das alles!« Dann, als wolle er sich von allem Grübeln freimachen:

»Kommt! Wir wollen weiter. Noch ein ganzes Stück zur Kapelle von St. Jean.«

Sie mußten den schmalen Weg wieder ein Stück hinabsteigen, um einen breiteren Seitenweg zu erreichen, der zur Kapelle St. Jean le Miracle führte. Dort konnten sie nebeneinander gehen, und Iversen nahm die Unterhaltung wieder auf.

»Wie hat Ihnen der Wundermann gefallen, Herr Harder?«

Harder fuhr sich ein paarmal über die Stirn, bevor er die Antwort fand.

»Was weiß der alte Mann von der Insel Warnum?… Was kann er von Warnum wissen?… Nur Warnum kann er meinen… wenn seine Worte überhaupt einen Sinn haben.«

Iversen zuckte die Achseln.

»Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, Herr Harder, von denen…«

»Keine abgegriffenen Zitate, Herr von Iversen! Geben Sie mir eine Erklärung für das, was wir eben hörten.«

»Wenn man es erklären könnte, Herr Harder, wäre es nicht mehr so wunderbar.«

»Es muß sich erklären lassen, Iversen. Versuchen Sie es, eine Erklärung zu geben.«

»Unmöglich, Herr Harder. Wenn ich es versuche… es werden doch immer wieder Worte… Umschreibungen… das zweite Gesicht… es findet sich öfter in der baskischen Bevölkerung. Man sagt, sie sehen weit über Raum und Zeit hinweg, sehen entfernte und zukünftige Dinge in voller Klarheit. Aber erklären… erklären, Herr Harder, kann man diese wunderbare Gabe nicht.«

Mit Gewalt mußte Harder den Eindruck abschütteln, den die Worte des Alten auf ihn gemacht hatten.

»Unerklärlich… jedenfalls unkontrollierbar. Also warten wir ab, ob die Zukunft den Worten des Mannes recht gibt. Hoffentlich verläuft der zweite Teil unseres Programms in angenehmerer Form.«

Iversen war ein paar Schritte zurückgeblieben, ging jetzt neben Modeste von Karsküll. Sah, daß auch sie blaß und erregt war.

»Gnädige Baronin, waren Sie mit ihrer Prophezeiung zufrieden?«

Eine Minute verging, bevor Modeste antwortete.

»Es ist wunderbar, Herr von Iversen… nein, nicht wunderbar, es ist furchtbar. Wie kann der Alte das alles wissen?«

»Was ist Ihnen, was haben Sie, Modeste?« Mette Harder stellte die Frage. »Ihr Orakel, nehmen Sie es so ernst? Es scheint ja fast, als ob der Alte richtig orakelt hat. Sieh da!«

Modeste wandte die Augen von Mette zur Seite. Da traf ihr Blick den Iversens, der wie in stummer Frage auf ihren Zügen haftete. Eine dunkle Röte schoß ihr ins Gesicht.

»Ach, es ist ja alles Scherz, Mette! Lassen wir das alles!«

Während sie so sprach, war Harder mit schnelleren Schritten vorgegangen. Seine Gedanken gingen von dem Schäfer nach Warnum, hin und her. Wie ein Zwang lag es auf ihm. Vergeblich suchte er sich davon freizumachen. Nur Warnum konnte mit der brennenden Insel gemeint sein.

Er erbebte bei dem Gedanken, daß die dort, folgend seinem Gebot, mit allen Mitteln zum Ziele strebend… die Feldstärken steigernd… zur Katastrophe?… zweihundert Menschenleben verloren…

Ein eisiger Schauer durchrann ihn. Fernsteuerung… dieses Wort? Immer wieder kam es von seinen Lippen… Fernsteuerung! Dann wenigstens kein Menschenleben gefährdet. Noch heute sollte der Befehl abgehen.

Der Weg führte jetzt über ein fast ebenes Gelände. In der Nähe wurde die kleine Kapelle sichtbar, die das Ziel dieses Ausfluges bildete. Ein schmächtiger, altersgrauer Bau. Iversen suchte die gedrückte Stimmung zu verscheuchen, die der Besuch bei Arriava wenigstens bei zwei Mitgliedern der kleinen Gesellschaft hervorgerufen hatte. Er begann von der Geschichte der Kapelle zu erzählen.

»Die Überlieferung berichtet, daß schon römische Baumeister der Provinz Gallien die Grundmauern dazu errichtet hätten. In den Stürmen der Völkerwanderung, in den jahrhundertelangen Kämpfen zwischen Goten, Franken und Mauren waren öfter als einmal Brand und Zerstörung darüber gekommen. Doch immer wieder hatten fromme Hände den kleinen Bau hier dicht an der Grenze zwischen Spanien und Frankreich von neuem errichtet. Ein uraltes Marienbild sollten die Mauern bergen, das wie durch ein Wunder alle Zerstörungen der ewigen Grenzkriege überstanden hatte. Ein Gnadenbild, zu dem jetzt noch die Bevölkerung aus Frankreich und auch von der spanischen Seite her wallfahren ging.«

Er sprach, erzählte, wurde warm bei seiner Erzählung und merkte, daß auch die Stimmung seiner Zuhörer sich wieder zu heben begann.

Da plötzlich!… Rauhe Rufe… der barsche Befehl stehen zu bleiben. Im Augenblicke strömte es hinter Klippen und Bäumen der Umgebung hervor. Sechs Männer, der Tracht nach Basken… baskische Räuber!

Harder stand still… wie dumm! Wie unvorsichtig dumm von uns. Unablässig ging ihm dieser Gedanke durchs Gehirn. Hatte man nicht in den Zeitungen in Biarritz genug von der Unsicherheit an der französisch-maurischen Grenze gelesen. Wurde da nicht ständig von Räubereien und Überfällen berichtet? Wie konnte er sich nur zu einem Ausflug in diese unsichere Gegend verleiten lassen. Schwer fiel es ihm jetzt auf die Seele.

Doch es blieb nicht lange Zeit zum Nachdenken. Die Basken hatten die kleine Gruppe jetzt umzingelt. Ihr Anführer forderte sie auf, ihnen ohne Widerstand in die Berge zu folgen.

Was tun? Die Banditen bis an die Zähne bewaffnet, die Touristen ohne jede Waffe. Jeder Widerstand gegen die Übermacht zwecklos.

Der Anführer trat vor Harder hin.

»Sie sind der Generaldirektor Harder aus Deutschland?«

»Jawohl! Der bin ich! Und wer sind Sie? Was wollen Sie von uns?«

»Nun! Das wird sich finden. Vorläufig sind Sie unsere Gefangenen.«

Harder wollte aufbegehren. Der Anführer ließ ihn nicht zu Worte kommen.

»Keine unnützen Fragen! Sie werden nicht beantwortet werden. Folgen Sie uns! Nichts weiter.«

Der Trupp setzte sich in Bewegung. Die beiden Frauen bestürzt und verwirrt. Harder seinen Leichtsinn verwünschend, Iversen zähneknirschend.

Jetzt sah der, wie einer der Banditen Modeste von Karsküll am Arm packte, um sie schneller vorwärtszuziehen. Hörte, wie die grobe Berührung ihr einen Schmerzensschrei erpreßte…

Wie ein Tiger sprang er den Banditen an, hob ihn hoch und schleuderte ihn auf den Felsboden.

Im nächsten Augenblick fielen die anderen über ihn her. Der Anführer setzte schon die Mündung seiner Waffe auf seine Brust. Da warf sich Modeste mit einem Schrei dazwischen.

»Schont ihn! Gnade!«

Der Anführer sah Modeste einen Augenblick prüfend an.

»Es ist gut!« Zu seinen Genossen gewandt, »führt ihn weiter.«

Dichter schloß sich der Trupp um die vier Gefangenen.

So schnell wie möglich ging der Marsch weiter einen Pfad hinauf in das Gebirge. Immer enger und düsterer wurde die schmale Kluft. Kein Sonnenstrahl verirrte sich hierhin. Zur Linken in der Tiefe ein tosender Bergbach, zur Rechten wie Kulissen hintereinandergeschoben Felsklippen. Feucht und schlüpfrig der Pfad in kühler Dämmerung.

Je weiter der Marsch, desto langsamer der Schritt der Frauen. Stundenlang schon waren sie unterwegs. Mette am Arm ihres Vaters, Modeste an den Iversens gehängt. Der Führer merkte, daß es bald nicht mehr weiterging. An einem Seitenpfad blieb er stehen, überlegte einen Augenblick.

Er sah die beiden Frauen, bleich, zitternd, völlig erschöpft.

»Zur Hütte Joses! Hier den Pfad hinauf! Nur noch ein kurzer Weg, meine Damen. Eine knappe Viertelstunde, dann werden Sie Gelegenheit haben, sich auszuruhen.«

Endlich war die Hütte erreicht. Sie war leer. Es war anscheinend ein altes Zollhaus, das aber nicht mehr benutzt wurde. Der Anführer stieß die Tür auf. Zwei Räume zu ebener Erde. Sonst nichts! Darin ein Tisch, ein paar morsche Bänke als einzige Ausstattung.

»Wir werden hier über Nacht bleiben. Ich würde Ihnen gern einige Bequemlichkeiten zur Verfügung stellen, wenn ich sie nur hätte. Ich selbst werde mit meinen Leuten draußen kampieren.«

»Und Essen und Trinken?« Iversen fuhr ihm in den Weg. »Sie sehen, die Damen sind völlig erschöpft.«

»Wird sofort besorgt werden«, antwortete der Anführer in beinahe höflichem Tone. Er ging hinaus und kam auch bald mit einem anderen wieder, der auf den Tisch ein Abendessen hinstellte. Kalte Küche, aber mit auffälliger Sorgfalt zubereitet und zusammengestellt. Ein Krug frischen Quellwassers dazu.

Fürst Iraklis stand vor dem Kalifen. »Ich komme soeben von Ibn Ezer.«

»Ich sehe es an Ihren Mienen, auch ihm ist es nicht gelungen, im ersten Ansturm den Apparat zu bezwingen. Ich habe es auch nicht erwartet.«

»Und doch ist die Meldung, die ich zu bringen habe, nicht ungünstig. Er hofft, in absehbarer Zeit wenigstens hinter das Geheimnis Montgomerys zu kommen.«

Der Kalif sprang auf.

»…absehbarer Zeit… Wochen… Monate… unerträglich dieses Warten auf unbestimmte Zeit.

Harder! Jolanthes Plan, die einzige Rettung, so abenteuerlich auch das ganze Unternehmen ist. Wäre es nicht Jolanthes Gedanke, ich würde mich kaum darauf eingelassen haben. Und doch wieder, wenn man den Plan scharf durchdenkt… vieles, was für den Erfolg spricht. Zumal Jolanthe selbst alles bis aufs kleinste geordnet.«

Eine Uhr schlug die sechste Stunde.

»Könnte schon Nachricht da sein?« fragte er den Fürsten.

»Es wäre möglich. Ich will selbst gehen.«

Abdurrhaman lehnte sich zurück, schloß die Augen.

Jolanthe! Welch ein Weib! Tag und Nacht seine Gedanken bei ihr seit jenem Abend im Madrider Schloß.

Schon seit der Zeit, da er sie zuerst gesehen, sie für ihn zu arbeiten begann, hatte sie sein ganzes Interesse gehabt. Ihre ungewöhnlichen Leistungen! Die Leidenschaft, mit der sie das gefährliche Spiel spielte. Maßloser Ehrgeiz, Machthunger, Freude am Außergewöhnlichen. Alles Eigenschaften des Mannes, der den Drang zu großen Taten in sich spürt. Nichts Weibliches schien in ihr zu sein. Kein Herz, das für Liebe empfänglich.

Es war ja auch unmöglich, wo sie alle Gefühle und Gedanken auf ihre Aufgaben konzentrieren mußte. Und wie sehr war sie doch von der Natur begnadet, Männerherzen zu entflammen. Alles schien doch in ihr vereinigt, was den Reiz des Weibes ausmacht.

Und dann… der Abend im Madrider Schloß. Niemals würde er das vergessen, was er sah. Wie sie vor ihm den innersten Schrein ihres Herzens geöffnet, ihre geheimsten Gedanken entblößt. Dagestanden, ganz Liebe, ganz Leidenschaft.

Da stob das Feuer zu seiner Seite, Funken um ihn sprühend. Der Bann gebrochen! Die Bezauberung gelöst… Und doch, er fühlte es in sich mit zwingender Gewißheit… ihrer beider Schicksal miteinander verknüpft mit unlösbaren Banden. Ein Weg für sie zu Sieg und Tod…

Fürst Iraklis trat in das Gemach. Mit frohem Gesicht, eine Depesche in der Hand.

»Darf ich lesen?« Der Kalif nickte. Der Fürst las.

»Auftrag ausgeführt. Auf spanischem Boden.« Abdurrhaman neigte das Haupt. Der erste Schritt gelungen! Das andere?… Jolanthes Hand. Sie versagte nie.

Kaum berührt standen die Speisen auf dem Tisch in der Zollhütte.

ng, ist… Jolanthe.«

Gesammelte Werke: Science-Fiction-Romane + Abenteuerromane + Erzählungen

Подняться наверх