Читать книгу Gesammelte Werke: Science-Fiction-Romane + Abenteuerromane + Erzählungen - Dominik Hans - Страница 7

Teil III

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Inhaltsverzeichnis

»Auf die Postille gebückt zur Seite des wärmenden Ofens …«

Es war Geburtstag im Hause Termölen. Das Geburtstagskind Andreas Termölen trug seine acht Jahrzehnte, so gut ein Mensch sie zu tragen vermag. Schon am Vormittag hatte er den Festrock aus feinem schwarzen Tuch angelegt. Die Kriegskreuze aus dem großen Kampfe von Anno 14 bis 18 schimmerten auf der linken Brustseite.

Das volle, weiße Haar, der starke Schnurrbart gaben dem Gesicht einen energischen Zug. Doch die Jahre machten sich fühlbar. An der Seite seiner Luise, der fünf Jahre jüngeren Gattin, hatte der Jubilar in den Vormittagsstunden die Schar der Gratulanten empfangen. Die Wirtz, die Schmitz, die Raths und wie sie alle hießen. Der Duft von Blumenspenden erfüllte das Wohnzimmer. Der Alte hatte sich aufrechtgehalten. Mit alten Freunden und Kriegskameraden geplaudert und ein Gläschen getrunken.

Danach das Mittagsmahl. Nur zu zweit mit seinem Luischen, die mit ihm jung gewesen und alt geworden war. Da spürte er die Anstrengungen des Tages. Die Hände zitterten mehr als gewöhnlich. Der Rücken schmerzte ein wenig.

Besorgt betrachtete ihn die Gattin.

»Es is also, als et Bismarck schon gesacht hat. Die ersten Siebenzig sind alleweil die besten. Da is nichts dran zu ändern, Luische.« So suchte er die Sorge der Gattin fortzuscherzen. Und war doch froh, als er sich nach geschehener Mahlzeit behaglich in dem alten Ledersessel ausstrecken konnte. Da konnten sich die alten Glieder wohlig ruhen und lösen.

Die Termölensche Ehe war kinderlos. Die Liebe der alten Leute betätigte sich an Neffen und Nichten. Auch an der dritten Generation, die zum größten Teil schon erwerbstätig im Leben stand.

Der alte Mann wollte sein Schläfchen machen. Aber die Anregungen und Ungewohnheiten des Tages wirkten nach. Er war zu aufgeregt dazu.

»Wat meinst du, Luischen, ob de Jong, de Willem, hüt von Essen röwerkütt?«

»Ich mein, er wird schon komme, wenn er Zeit hat.«

Die Zwiesprach galt dem Oberingenieur Wilhelm Lüssenkamp von den Essener Stahlwerken. Der stand nun auch schon im fünfzigsten Lebensjahre. Aber für die beiden Alten blieb er nach wie vor »de Jong, de Willem«.

Der Alte sann einige Zeit über die Antwort nach.

»Wenn er Zeit hat. Et jibt jetzt mächtig zu don. Et jibt bald Krieg. Engländer und Amerikaner. Et soll mich freuen, wenn dat Volk sich ordentlich de Köpp zerschlägt.«

Dann sprangen seine Gedanken zu einem anderen Gegenstand über.

»Wer hätt dat jedacht, Luische, dat aus unserer Reisebekanntschaft auf dem Schiff … damals hinter Bonn … dat daraus wat Ernstlichet werden wird. Ich han mir nachher jedacht, die jungen Leut' müßten mich für 'nen alten Schwefelkopf halten. Und da kütt dann en Brief aus Amerika. Un dann noch einer aus Schweden. Dat muß ich nochmal lesen.«

Frau Luise Termölen brachte die Briefe. Der alte Mann versuchte zu lesen. Die Hand war zu zitterig, und die Schrift verschwamm ihm vor den Augen.

»Lis du es jet, Luische. Du hast jüngere Augen.«

Frau Luise setzte sich zurecht und las die fünfzigmal gelesenen Briefe zum einundfünfzigstenmal.

Trenton, den 14. Dezember 1953.

Geehrter Herr Termölen!

Ein wunderbarer Zufall hat es gefügt, daß die Hinweise, die Sie mir vor Jahresfrist gaben, mir wirklich ziemlich vollkommene Klarheit über meine Herkunft gebracht haben. Ich bin, wie Sie aus dem Poststempel ersehen können, in Trenton. In denselben Staatswerken, in denen auch Frederic Harte bis vor zwei Jahren seine Stellung bekleidete. Er verlor sein Leben bei einem Unfall. Aber seine Witwe weiß über die Schicksale der einzelnen Familienmitglieder gut Bescheid. Ich habe Frau Harte und ihre Tochter Jane kennen und schätzen gelernt. Nach den langen Unterhaltungen, die ich mit Frau Harte hatte, ist es für mich Gewißheit, daß ich der Sohn von Gerhard Bursfeld bin, der im Herbst 1922 in Mesopotamien verschollen ist. Zeit und Ort stimmen genau mit den Angaben, die mir von anderer Seite her über das Verschwinden meines Vaters bekannt wurden. Die Wahrscheinlichkeit, daß zwei Deutsche an derselben Stelle zur selben Zeit in dieser Weise verschwinden sollten, ist praktisch gleich Null. Auch Frau Harte bestätigte die Ähnlichkeit mit Gerhard Bursfeld, von dem sie gute Bilder besitzt. Ich darf Sie danach auch als meinen Verwandten betrachten und begrüße Sie als

Ihr dankbarer

Silvester Bursfeld.

Der Brief war an den Kniffstellen mehrfach eingerissen und trug die Spuren häufiger Lektüre.

»Wer hätte dat jedacht, Luische, dat die Menschen sich auf Jottes weiter Welt so zusammenfinden. Laß mich och den zweiten Brief hören.«

Frau Luische rückte die Brille zurecht und las weiter. Der andere Brief war neuesten Datums.

Linnais, den 5. Juli 1955.

Mein lieber Herr Termölen!

Ich bin der glücklichste Mensch auf der Welt und verdanke Ihnen, daß ich es bin. Hätten Sie mir damals nicht die Nachweise gegeben, wär ich nie zu Mrs. Harte gekommen. Dann wäre Jane Harte auch nicht meine liebe Braut und in zwei Stunden mein angetrautes Weib. Es treibt mich, Ihnen von meinem Glück Kenntnis zu geben. Heute nachmittag gehen wir auf die Hochzeitsreise. Italien, Griechenland, Ägypten bis zu den Pyramiden. Jane kennt die Alte Welt noch nicht. Sie hat immer in Amerika gelebt. Auf der Rückreise wollen wir Sie besuchen. Ich lade mich und meine junge Frau auf die Mitte des Monats für ein paar Tage bei Ihnen zu Gaste. Durch Jane, die es von ihrer Mutter weiß, erfuhr ich, daß Sie am 8. Juli Ihren achtzigsten Geburtstag feiern. Wir gratulieren dazu von den Ufern des Torneaelf her und werden unsere Glückwünsche bald mündlich wiederholen.

Ich bleibe

Ihr ergebenster …

Frau Luise blickte von ihrer Lektüre auf. Nun war der alte Mann doch eingeschlafen. Die Natur verlangte ihr Recht. Sie ließ ihn ruhig schlummern und bereitete leise den Kaffeetisch für den Nachmittag. Der Junge, der Wilhelm, wurde ja erwartet. Vielleicht kamen auch noch andere Gäste. – – –

Die Hausglocke erklang. Andreas Termölen fuhr aus seinem Schlummer empor. Eine kräftige männliche Stimme im Vorraum. Wilhelm Lüssenkamp trat in das Zimmer. Der blonde Rheinländer begrüßte den alten Oheim herzlich und brachte ihm seine Gabe dar. Einen Korb mit Rosen, zwischen denen die rotgekapselten Hälse von einem Dutzend guter Flaschen verheißungsvoll blinkten.

»Alter Wein für alte Leute, Onkelchen. Meine besten Glückwünsche. Lange kann ich nicht bleiben. Wir arbeiten mit Nachtschicht. Mit List und Tücke bewog ich den Kollegen Andriesen, mich über den Nachmittag zu vertreten. Erwischte einen freien Werkflieger, der mich bis Düsseldorf mitnahm, und da bin ich.«

Andreas Termölen ließ den Wortschwall über sich ergehen. Drückte die Hände seines Neffen herzlich und lange.

»Et freut mich, Jong, dat du noch auf en paar Stündchen den Weg zu deinem alten Ohm jefunden hast. Dafür sollst du och dat erste Stück vom Kuchen haben.«

Sie setzten sich an den Kaffeetisch, griffen zu und ließen sich schmecken, was Frau Luise darbot.

In die idyllische Ruhe dieses stillen Heims kam Wilhelm Lüssenkamp aus dem sausenden Getriebe der großen Essener Stahlwerke. Kam, brachte die Unrast und Anspannung harter Arbeit mit, und fand bei dem alten Manne freudiges Verständnis. Bis vor fünfzehn Jahren hatte Andreas Termölen selbst eine leitende Stellung in der rheinischen Stahlindustrie bekleidet. Er wußte, was es bedeutet, den Gang der Schmelzöfen zu überwachen und Abstich auf Abstich in die Kokillen zu bringen. Begierig lauschte er den Erzählungen des Neffen.

Daß das Werk im Laufe der letzten vierzehn Tage die Zahl der Stahlöfen verdreifacht habe. Tag und Nacht wurde mit riesenhaft vermehrtem Personal gearbeitet. Eben trocken, wurden die Ofen schon in Betrieb genommen. Vorsichtig begann die Beheizung. Die Gasanlage war Gott sei Dank auf Zuwachs gebaut und lieferte den nötigen Brennstoff.

War nach vierundzwanzigstündiger Beheizung die letzte Spur von Feuchtigkeit aus dem Mauerwerk getrieben, dann wurde der volle Flammenstrom angestellt. Dann stieg die Hitze im Ofeninnern in wenigen Stunden auf grelle Weißglut. Dann warfen die Maschinen Charge auf Charge in den Ofen. Gußbrocken, Schmiedeeisen und alle anderen Rohstoffe, aus denen in der Höllenglut der edle Stahl gekocht wurde.

Der warme Betrieb mußte Tag und Nacht durchgehen, weil man die Öfen nicht einfrieren lassen durfte. Aber er ging jetzt forciert. Er war schon verdreifacht und sollte noch einmal verdreifacht werden.

»Wat soll dat all? Wo wollt ihr mit der Unmasse Stahl hin?«

Wilhelm Lüssenkamp zuckte mit den Achseln.

»Nicht meine Sorge, Ohm. Das Schmelzwerk hat den Auftrag, soviel Stahl wie möglich zu liefern. Wenigstens aber eine Million Tonnen im Jahr. Da heißt es: Anbauen und sich dranhalten. Übrigens … ich verrate damit kaum ein Geheimnis: Es ist stadtbekannt, daß die Amerikaner unmenschliche Stahlmengen für ein Sündengeld fest gekauft haben und in Deutschland stapeln.«

»Et jibt Krieg, Jung. Ick hab dat schon vorher jesagt.«

»Kann sein, Onkel Andreas. Es sieht so aus, als ob John Bull und Uncle Sam sich an die Kehle wollen. Der Amerikaner kauft Stahl. Der Engländer interessiert sich mehr für fertige Sachen. Im Motorenraum, unsere neuen Turbinen … ich will mich nicht rühmen … aber die haben's in sich und haben's auch den Englischen angetan. Bei den Probefahrten haben wir zwölfhundert Kilometer geschafft. Die bis jetzt schnellsten Maschinen, das ist die amerikanische R. F. c.-Type. Tausend Kilometer. Von uns um zweihundert Kilometer geschlagen. Der englische Kapitän, der eine Probefahrt mitmachen durfte, war einfach platt. Steckte die Entfernung zwischen Fredericsdal an der grönländischen Südspitze und der Wendemarke auf der Azoreninsel immer wieder auf dem Globus ab und schüttelte den Kopf. Seitdem sind die Engländer scharf hinter den Turbinen her. Zehntausend Stück sofort in festen Auftrag.«

Wilhelm Lüssenkamp ließ den Blick auf den Kriegsorden des Oheims ruhen.

»Du hast die alten Denkzeichen angelegt?«

Er beugte sich vor und ließ einzelne Spangen der Dekoration durch die Finger gleiten.

»Sommeschlacht … Verdun … Kemmelberg … Ypern … Dixmuiden … Chemin des Dames … blutige Orte. Nach dem, was wir schon als Kinder hörten, muß es da böse zugegangen sein.«

Der alte Mann nickte zustimmend.

»Jong, et is jetzt vierzig Jahre her. Aber die Tage stehen mir noch wie heute vor dem Gesicht. Manchmal scheint et mir noch heut unglaublich, dat ich damals am Leben geblieben bin … Et war die Hölle. Et war mehr als die Hölle.« Der Alte schwieg, von der Erinnerung ergriffen. Der Neffe nahm das Thema auf.

»Es war schlimm, Onkel Andreas. Aber jetzt kommt es noch viel schlimmer. Der Krieg, der uns bevorsteht, wird das Entsetzlichste, was die Welt jemals gesehen hat. Dreihundert Millionen Nordamerikaner gegen siebenhundert Millionen Britten. Die Industrie der Erde schon jetzt keuchend in voller Kriegsarbeit. Neue Mittel, neue Mordmethoden, von denen die meisten Menschen heute noch keine Ahnung haben. Aber … es geht nicht um unsere Haut. Die beiden Weltmächte, die übriggeblieben sind, schneiden sich die Kehle ab. Niemand kann die Katastrophe aufhalten. Sie ist unabwendbar. Wenn sie nicht morgen kommt, dann übermorgen. Aber sie kommt. Ich glaube nicht, daß wir noch im Frieden den Kornschnitt erleben. Nach meiner Meinung muß der amerikanische Diktator ganz plötzlich und unvermutet losschlagen, wenn er die besseren Chancen auf seine Seite bringen will.

Die Engländer sprechen seit fünfzig Jahren vom Saxon day. Ich meine, er steht dicht vor der Tür, und kein Mensch kann das Verhängnis aufhalten.«

»Kein Mensch …«

Der alte Mann wiederholte es nachdenklich.

»Sie haben et nicht verdient, dat wir ihnen eine Träne nachweinen. Laßt sie sich meinetwegen die Hälse abschneiden … janz wat anderes, Jung'! In zehn Tagen jibt et bei uns Besuch. Einer von den Bursfelds. Ich hab dir ja erzählt, wie wunderlich wir ihn entdeckt haben. Seine Jroßmutter war meine Schwester. Eine Schwester deiner Mutter. Er wird uns mit seiner jungen Frau besuchen. Sieh, dat du in den Tagen auch mal zu uns kommst.«

Wilhelm Lüssenkamp versprach es. Sah auf die Uhr und bemerkte, daß es die höchste Zeit zum Aufbruch sei. Er mußte eilen, wenn er sein Flugzeug an der verabredeten Stelle treffen wollte. Die siedende Arbeit rief ihn zurück, fort aus dieser ruhigen Feierstimmung, in die Gluten und zu den rasselnden Maschinen industriellen Hochbetriebes.

Glockengeläut klang vom Turm der alten Kirche von Linnais. Über die sonnenbeschienenen Dächer des Ortes, über bestellte Felder, die in kurzen Sommerwochen spärlichen Ertrag brachten, zogen die Töne dahin, das Tal des Torneaelf entlang und verloren sich schließlich in bläulicher Ferne zwischen den föhrenbestandenen Ufern.

In der Kirche herrschte gedämpftes Licht. In hundert Farben spielte es durch die bunten Fenster. Die Kirche fast leer. Nur einige zwanzig Personen auf den dreihundertjährigen Eichenbänken und in den Chorstühlen.

Die Orgel setzte ein. Die Klänge des Chorals drangen durch den Raum. Es war der Hochzeitstag Silvesters. Der Tag seiner Vereinigung mit Jane.

Die Orgel schwieg. Der alte Geistliche segnete den Bund. Jane im weißen Kleide, den Myrtenkranz im lichtblonden Haar, ätherisch zart. Sie glich den Engelsgestalten, welche die Kunst eines alten Meisters über dem Altar geschaffen hatte. Silvester, den Arm nach der Verwundung noch in der Binde, aber froh und glücklich.

Dicht hinter dem Paar die beiden Zeugen der Zeremonie: Erik Truwor und Soma Atma.

Der Inder ruhig, in sich versunken. Der freie Ritus der Zeit erlaubte es ihm, hier als Zeuge zu dienen. Seine Gedanken weilten bei den Lehren der eigenen Religion. An das Rad des Lebens dachte er, an das wir alle gebunden sind. An das Kämpfen und Leiden aller Kreatur, die erst nach tausendfacher Wiedergeburt und Bewährung zur ewigen Seligkeit des Nirwana eingehen darf.

Erik Truwor hoch gereckt. Jede Muskel verhaltene Kraft. Glücklich beim Glücke des Freundes. Doch schon weitere Pläne erwägend. Ungeduldig über jede Verzögerung, die seine Lebensaufgabe erfuhr.

Der Priester wechselte die Ringe. Leicht schob sich der goldene Reif auf den schlanken Finger der Braut. Hart und schwer legte er sich an Silvesters Hand neben den Ring von Pankong Tzo.

Atma sah es, und seine Gedanken nahmen einen anderen Lauf.

»Wer schon gebunden ist, soll sich nicht nochmals binden. Zwei Pflichten kann niemand erfüllen, zwei Herren niemand dienen.«

Der christliche Priester sprach milde Worte. Daß sie nun eins seien. Daß jedes dem anderen gehöre, bis einst der Tod sie scheiden würde.

Atma sah nur die beiden Ringe an Silvesters Hand.

Auch Erik Truwors Gedanken wanderten. Fort aus dem grünen Tale, nordwärts über brandendes Meer und weite Eisflächen zu verschneiten Felsen. Nur undeutlich drangen die Worte des Priesters an sein Ohr. Im Geiste baute er dort nordwärts in eisigen Fernen bereits eine neue Zufluchtsstätte. Ein neues Heim, unentdeckbar und unangreifbar.

Der Geistliche hatte geendet. Segnend legte er die Hände auf die Häupter der Neuvermählten. Ein voller Sonnenstrahl fand seinen Weg bis zum Altar und wob aus goldenem Licht eine Krone auf dem Scheitel der Braut. Die Orgel fiel wieder ein. Die Feier ging dem Ende zu.

Kraftwagen brachten die Teilnehmer zum Hause Truwor zurück, wo das Mahl gerichtet war. Gäste aus dem Ort: Der Vogt von Linnais mit seiner Gattin. Der Königliche Richter. Besitzer freier Bauernhöfe aus der Umgebung von Linnais mit ihren Frauen.

Eine schwedische Hochzeit mit den alten Sitten und Gebräuchen. Seit einem Menschenalter hatte die hohe Halle des Hauses so zahlreiche Gesellschaft nicht mehr beherbergt. Seitdem Erik Truwors Mutter starb und der Vater nur noch seiner Wissenschaft und seinen Reisen lebte.

Jetzt dröhnte der Dielenboden unter den Schritten kräftiger hoher Gestalten. Scherzen und Lachen erklangen und verjagten die Geister der Einsamkeit.

Amtmann Bjerkegrön führte als Respektsperson den Vorsitz und das Wort an der Tafel. Richter Kongsholm sekundierte ihm vom anderen Ende her. Es wurde geschmaust und getrunken. Der Amtmann brachte den Toast auf das junge Paar aus. Der Richter wollte nicht nachstehen und sprach auf künftige Paare, die in dieser Halle noch Hochzeit halten würden. Der nächste Bräutigam müsse Erik sein. Seit tausend Jahren stünde Haus Truwor und sei stets vom Vater auf den Sohn vererbt worden. Also …

Er schloß in nicht mißzuverstehender Weise und leerte sein Glas auf die noch unbekannte Braut.

Um drei Uhr hatte das Mahl begonnen. Um sechs Uhr saß man noch. Viele Toaste waren ausgebracht, viele Gläser geleert worden. Die Köpfe waren rot, und die Stimmung ging hoch. Allgemeines Stimmengebraus erfüllte den Raum. Mancher sprach, um zu sprechen, und achtete nicht sonderlich mehr darauf, ob er Zuhörer fand.

Erik Truwor hatte in der allgemeinen Lebhaftigkeit unbemerkt seinen Platz verlassen und sich halb rückwärts hinter Atma einen Stuhl hingezogen. Der Inder war ruhig und schweigsam wie gewöhnlich. Während der Richter von künftigen Hochzeiten sprach, ruhte sein Blick auf den altersbraunen Deckenbalken der Halle. Wieder kam ihm in jener Sekunde die unheimliche Gabe des Fernsehens, und er glaubte verzehrende Flammen um das Gebälk lecken zu sehen.

»Dein brauner Kumpan ist schweigsam, Erik. Wir wollen ihm zeigen, was eine Hochzeit in Schweden ist. Ein Brautführer darf nicht nüchtern bleiben, wenn er der Braut Ehre machen soll.« Der dicke Vogt rief es lachend und kam dem Inder mit einem vollen Pokal vor. Atma tat Bescheid. Dem Vogt und vielen anderen. Nur war der Trunk, der bald goldglänzend, bald funkelnd wie Rubin in seinem Glase schimmerte, kein Wein.

Erik Truwor beugte sich vor.

»In dreißig Minuten muß Silvester aufbrechen, wenn er den Anschluß an die Regierungslinie nach Deutschland erreichen soll.«

»So laß ihn gehen.«

Atma sagte es ruhig und leidenschaftslos.

»Du kennst meine Landsleute nicht. Sie wollen den Brauttanz. Sie wollen den Schleier der Braut vertanzen, wollen zuletzt aus dem Brautschuh trinken. Ich bedauere es jetzt, daß ich die alten Freunde und Nachbarn eingeladen habe. Es gibt Anstoß, wenn das Paar jetzt aufsteht.«

Atma überblickte die Tafel. Sie waren alle in ihrem Element. Der Richter hielt dem Beisitzer einen Vortrag über einen besonders interessanten Fall aus der letzten Sitzung. Der Vogt machte der Frau Amtmann Komplimente. Der Amtmann begann auf die Regierung zu schimpfen.

»Ich muß mit Silvester noch sprechen. Wir haben ihm eine Woche für seine Hochzeitsreise zugestanden. Ich habe mich besonnen, er mag vierzehn Tage reisen.«

Atma wandte sich aufmerksam um.

»Warum das? Du wolltest ihn zuerst nur drei Tage entbehren. Er hat dir die Woche abgerungen. Warum jetzt zwei Wochen?«

»Weil … ich habe meine Gründe, die ich dir später sagen werde. Ich muß das Paar jetzt aus dem Saal herausbekommen.«

Atma ließ seinen Blick von neuem über die Tafel gehen. Er erhob sich und trat an die schmale Wand der Halle. Es sah aus, als ob er dort irgend etwas erklären oder zeigen wolle.

Schon hoben einige aus der Gesellschaft die Köpfe und blickten angespannt auf das dunkle Getäfel der Wand. Die Frau Amtmann fiel dem Vogt ins Wort.

»Sehen Sie … das herrliche Bild … ein indisches Schloß, wie es scheint. Wie wundervoll! Die bunten Kuppeln im stahlblauen Himmel … unser Erik ist ein scharmanter Gastgeber. Er bietet uns einen Extragenuß … Wohl Bilder von seinen exotischen Reisen …«

Der dicke Vogt hob neugierig den Kopf und folgte der weisenden Hand seiner Nachbarin. Eben noch schien ihm weißer Nebel über die Wand zu wallen. Jetzt sah er in strahlender Schönheit den Kaiserpalast von Agrabad.

Und machte den Nachbarn darauf aufmerksam. Und der den nächsten. Wie ein Lauffeuer ging es um die Tafel. Die mit dem Rücken gegen die Schmalwand saßen, drehten sich um. Wo Silvester und Jane nur das dunkle Getäfel erblickten, schimmerte den andern das wunderbare Bauwerk altindischer Kunst in strahlender Schöne. Aus dem stehenden wurde ein bewegtes Bild. Der Palast zog näher heran. Die staubige, sonnenbeschienene Straße dehnte sich bis in den Saal. Längst hatte der Richter seinen Prozeß, der Amtmann seinen Zorn auf die Regierung vergessen. Fasziniert starrten die Gäste auf das Schauspiel an der Wand. Die Elefanten des Königs kamen. Mit vergoldeten Stoßzähnen und purpurnen Schabracken.

Es schien ein bunter Film zu sein, wie man ihn in allen Theatern hatte. Aber ein Film von unerhörter Farbenpracht. Und er blieb nicht an der Wand. Einzelne Figuren liefen bis weit in den Saal hinein.

Lobbe Lobsen zog seinen Stuhl zurück, weil ein staubiger Pilger ihm direkt über die Füße lief. Immer wunderbarer wurde es. Atma, der eben noch in europäischer Kleidung da war, stand plötzlich im exotischen Gewand unter den Gestalten, begrüßte hier einen, nickte dort einer Figur zu, wurde gekannt und wieder gegrüßt.

Derweil stand Erik Truwor draußen vor dem Hause am Schlage des Kraftwagens und tauschte den letzten Händedruck mit dem jungen Paar.

»Reist glücklich! Genießt euren Honigmond! Die letzten drei Tage seid ihr Gäste im Hause Termölen. Am 19. hole ich dich von der Station der Regierungslinie ab. Farewell!« Der Motor sprang an. Der Führer mußte sich eilen, um das Regierungsschiff nach Deutschland noch im Flughafen zu fassen.

Erik Truwor kehrte langsam in die Halle zurück. Er fand Atma ruhig auf einem Sessel an der Schmalwand der Halle sitzend. Die Hochzeitsgesellschaft starrte mit aufgerissenen Augen auf diese Wand, als ob dort ein besonderes Schauspiel zu erblicken wäre. So ähnlich mußten wohl die Studenten in Auerbachs Keller ausgesehen haben, als Mephisto ihnen edle Weine aus dem trockenen Holz des Tisches fließen ließ. Erik Truwor konnte sich eines Lächelns nicht erwehren.

Atma erhob sich und ging auf seinen Platz am Tische zurück. Im gleichen Augenblick begann das Bild, welches die Zuschauer so fesselte, zu verblassen. Es wurde neblig, verlor die Farbe, und schon war wieder die dunkle Wand sichtbar. Nur langsam löste sich die Erstarrung der Gäste. Dann entlud sich der Beifall um so lauter.

Herrlich … großartig … wundervoll. Die Plastik der Bilder. Das Hinaustreten der Figuren in den freien Raum. Sie waren fast alle in Stockholm gewesen und hatten das Kino mit allen Feinheiten gesehen. Farbig natürlich. Auf Nebelwände projiziert. Aber niemals hatten sie gesehen, daß einzelne Figuren des Bildes bis unter die Zuschauer liefen.

Sie sparten nicht mit ihren Komplimenten gegen den Gastgeber.

Und niemand vermißte das Brautpaar. Hin und wieder trank ihm einer zu, als ob Jane und Silvester noch auf ihren Plätzen säßen. Sie schmausten und zechten bis spät nach Mitternacht und dachten erst in den Morgenstunden an die Heimfahrt.

Erik Truwor kannte Atmas Künste. Er wußte, daß es dem Inder ein leichtes war, dieser ganzen auf keinerlei Widerstand eingestellten Gesellschaft die unwahrscheinlichsten optischen und akustischen Phänomene zu suggerieren. Aber es erfüllte ihn dennoch mit Erstaunen, als er sah, wie der Amtmann auf den leeren Stuhl von Jane zuschritt, sich feierlich vor einem Nichts verbeugte, mit einem Nichts im Arm durch die Halle walzte und das Nichts wieder zum Stuhle zurückgeleitete. Als die Amtmännin sich mit geschmeicheltem Lächeln erhob und ebenso solo durch den Raum tanzte. In der festen Überzeugung, vom Bräutigam aufgefordert zu sein, von ihm geführt zu werden.

Es wirkte auf Erik Truwor, weil alle Gäste diesen Tänzen besonderen Beifall spendeten. Weil sie alle den Schemen sahen, den der Wille Atmas ihnen aufzwang, weil er allein der Suggestion nicht unterworfen war und das unsinnig Groteske dieser Tänze voll spürte.

Er war es zufrieden, als die letzten das Haus verließen.

Gefolgt von Atma, ging er in das Laboratorium. Dort stand der neue Strahler, gekuppelt mit dem Fernseher.

»Wo mag das Paar jetzt sein?«

Der Inder antwortete nicht sogleich. Seine Augen blickten weit geöffnet in die Ferne. Langsam kamen die Worte.

»Im Süden in weiter Ferne … über schneebedeckten Bergen.«

»Du meinst im deutsch-italienischen Regierungsschiff? Wir werden sehen.«

Erik Truwor sagte es mit stolzer Befriedigung. Er richtete den Apparat. Er ließ einen leichten Energiestrom strahlen. Ein Bild erschien auf der Scheibe. Ziehende Wolken, schneebedeckte Gipfel. Die Alpenkette … das Gotthardmassiv. Ein schimmernder Punkt darüber.

Er arbeitete an den Mikrometerschrauben der Feinstellung. Er richtete und visierte.

Da wuchs der Punkt zum großen Flugschiff. Jede Schraube, jede Niete wurde erkennbar. Er mußte dauernd regulieren, um das schnell fahrende Schiff in dieser Vergrößerung nicht aus dem Gesichtsfelde zu verlieren.

Jetzt stimmten Regulierung und Flugschiffbewegung genau überein. Regungslos verharrte das Schiff in der Mitte der Bildfläche. Vorn dicht hinter der breiten Zellonscheibe der Kabine standen Silvester und Jane. Hand in Hand, glücklich lächelnd, blickten sie vor sich nieder in die fruchtbare italienische Ebene.

»Alle diese Kriegsgerüchte sind … ich will den Ausdruck unserer Zeitungsleute gebrauchen … sind stark verfrüht. Die Welt gehört den Anglosachsen. Sie wären Toren, wenn sie sich gegenseitig zerfleischen wollten. Der innere tiefliegende Grund zum Kriege fehlt, und deshalb wird es trotz allen Pressegeschreis und aller Nervosität keinen Krieg geben. Das ist meine persönliche Ansicht … und nicht meine Ansicht allein.«

Dr. Glossin sprach in der überzeugenden und beinahe hypnotisierenden Art, über die er so gut verfügte.

Lord Horace Maitland saß ihm in der Bibliothek von Maitland Castle gegenüber. »Ihre Worte in Ehren, Herr Doktor. Aber warum versucht Amerika die europäische Stahlproduktion aufzukaufen?«

Lord Horace ließ die scharfen grauen Augen forschend auf dem Arzte ruhen. Dr. Glossin hatte seine Muskeln in der Gewalt. Es war ja vorauszusehen, daß die Bemühungen der amerikanischen Agenten den Engländern nicht verborgen bleiben würden.

»Es ist eine wohldurchdachte Maßnahme des Herrn Präsident-Diktators, um den Frieden der Welt aufrechtzuerhalten.«

»Ich muß gestehen, daß mir die Zweckmäßigkeit dieses Weges nicht völlig einleuchtet.«

»Eure Herrlichkeit wissen vielleicht nicht, daß ich geborener Schotte und nur durch Naturalisation Amerikaner bin. Ich betrachte es als meine vornehmste Aufgabe, die guten Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu pflegen … Sie werden einwenden, daß für diesen Zweck die gegenseitigen Botschafter der beiden Mächte vorhanden sind. In erster Linie gewiß! Aber ein Botschafter ist immer eine offizielle Persönlichkeit. Was er spricht, spricht er amtlich im Namen seines Standes. Vieles darf er nicht sagen, was zu sagen doch bisweilen gut ist.«

Lord Horace strich mit beiden Händen die Zeitung auf dem Tisch glatt. Ein leichter Sarkasmus lag in den Worten seiner Erwiderung.

»Sie dagegen, Herr Doktor, sind nicht mit der Last der Amtlichkeit beschwert, obwohl wir in England ziemlich genau wissen, daß Sie der vertraute Ratgeber des Präsident-Diktators sind. Sie sprechen ganz privatim als Herr Doktor Glossin mit Lord Maitland, der zufälligerweise der Vierte Lord der englischen Admiralität ist. So meinen Sie es?«

»Genau so, Lord Horace. Und so erwidere ich denn: Wir erfuhren, daß die Agenten Englands auf dem Kontinent Kriegsmaterial in größtem Maße bestellten und kauften. Wir hätten mit gutem Rechte das gleiche tun können. Die Rüstungen beider Staaten wären dadurch bis zur Fieberhitze in die Höhe getrieben worden. Wir zogen es vor, unsere friedliche Gesinnung dadurch zu zeigen, daß wir nur den unverarbeiteten Rohstahl kauften. Es ist uns leider nicht in dem beabsichtigten Umfange gelungen. Ihre Regierung läßt nach unseren Ermittelungen Kriegsmaterial auf dem Kontinent bauen, durch das Ihre Luftstreitkräfte um fünfzig von Hundert verstärkt werden. Die Industrie auf dem Kontinent versteht es leider nur zu gut, aus der politischen Spannung Kapital zu schlagen. Immerhin werden Ihre Rüstungen durch unsere Stahlkäufe in solchen Grenzen gehalten, da wir selbst nicht neu zu rüsten brauchen.«

Die Worte Dr. Glossins verfehlten ihre Wirkung auf Lord Horace nicht. Es war richtig, daß Amerika bisher nur Stahl gekauft hatte. Den freilich in ungeheuerlichen Mengen. Noch gab sich Lord Maitland nicht gefangen.

»Sie werden die erworbenen Mengen nach den Staaten bringen und dort selbst die Waffen daraus schmieden.«

Erstaunen malte sich auf Glossins Zügen. »Wir denken gar nicht daran, die zehn Millionen Tonnen Stahl, die wir bisher erwarben, nach den Staaten zu bringen. Es genügt uns, daß sie der Kriegsindustrie entzogen sind. Und … vergessen Eure Herrlichkeit nicht … wir haben schnell gekauft. Haben noch zu erträglichen Preisen gekauft.

Eine Entspannung der politischen Lage wird über kurz oder lang eintreten. Die Völker der Welt werden sich, wie es immer nach solchen Situationen geschah, mit erneutem Eifer der Produktion für den Frieden hingeben. Aber das Rohmaterial wird dann teurer sein …« Doktor Glossin fuhr mit erhobener Stimme fort: »Dann werden wir über diesen riesenhaften Vorrat frei verfügen. Wir haben es verhindert, daß Schwerter daraus gefertigt wurden, wir werden dann Pflugscharen daraus schmieden lassen. Die Wunden, die dieser Stahl schlagen wird, sollen fruchtbringende Ackerfurchen werden. So ist es die Meinung und der Wille meines …«

Er brach jäh ab, als habe er zuviel gesagt.

»… meines Herrn, des Präsident-Diktators Cyrus Stonard«, ergänzte Lord Maitland die Worte Glossins in Gedanken. Jetzt war er überzeugt.

Der Doktor behandelte die Kriegsgefahr als nicht vorhanden. Das konnte Verstellung sein, zu plump, um einen englischen Staatsmann auch nur eine Sekunde zu täuschen. Aber Dr. Glossin entwickelte gleichzeitig ein Zukunftsgeschäft, das den Amerikanern Milliarden von Golddollars bringen mußte, wenn die Spannung sich friedlich löste. Der Größe dieser wirtschaftlichen Aussichten konnte der Engländer sich nicht entziehen. Busineß bleibt Busineß. Der Grundsatz saß zu tief im englischen Denken und Fühlen, um nicht zu wirken.

Eine Meldung des englischen Geheimdienstes hatte Lord Horace darüber unterrichtet, daß Dr. Glossin erst vor wenigen Tagen eine lange Unterredung mit Cyrus Stonard gehabt hatte. Es war außer Zweifel, daß er im Auftrage des Diktators sprach. Amerika suchte den Krieg zu vermeiden, machte dabei aber gleichzeitig ein Milliardengeschäft. Die Taktik war eines Cyrus Stonard würdig. Er vermied den Krieg, dessen Ausgang unter allen Umständen unsicher war, und schuf gleichzeitig die Prosperität, die seine Gewaltherrschaft wieder auf eine Reihe von Jahren sichern mußte.

Blitzschnell gingen diese Gedanken Lord Horace durch den Kopf. Er prüfte in kurzen Minuten des Schweigens den Plan nach allen Richtungen und fand ihn wohldurchdacht. Das Netz war gut gewoben. Keine Masche war von der Nadel gefallen.

Von diesem Augenblick an neigte er zu der Überzeugung, daß Cyrus Stonard ehrlich den Frieden wolle. Die Frage, ob auch England ihn wolle, stand auf einem anderen Brett. Es hatte danach jedenfalls die Möglichkeit, sich die Zeit für einen Konflikt nach Gefallen zu suchen.

Lord Maitland hielt die Angelegenheit für wichtig genug, um zu einer Besprechung nach London zu fahren. Er überließ Dr. Glossin der Gastfreundschaft von Maitland Castle und der Gesellschaft von Lady Diana.

Maitland Castle war in der Tudorzeit erbaut. Spätere Umbauten hatten im Innern mehr Luft und Licht geschaffen, ohne das Äußere bemerkenswert zu verändern. Vor der Südfront des Schlosses lag eine breite Terrasse, gegen den Garten durch eine Sandsteinmauer begrenzt, mit Efeu und Monatsrosen übersponnen.

Die Wasserkünste des Schlosses spielten. Aus gewaltigen Löwenrachen schossen die breiten Strahlen in Muschelschalen, fielen regenbogensprühend von Kaskade zu Kaskade die Mauerhöhe hinab, füllten ein großes Bassin, um schließlich in Form eines schilfumrandeten Baches dem See zuzufließen.

Im Schatten einer Ulme saß Lady Diana in einem bequemen Korbstuhl. Das Buch, in welchem sie gelesen hatte, lag lässig in ihrer Hand.

Ihr gegenüber saß Dr. Glossin.

»Herr Doktor … Ihr Interesse für meine Person versetzt mich in Erstaunen. Es geht weit über das hinaus, was meine anderen Gäste mir entgegenbringen, und … was ich entgegengebracht haben möchte.

Mein Gemahl sagte mir, daß Sie im Interesse unseres Vaterlandes nützliche Arbeit tun, den Frieden zwischen beiden Ländern erhalten helfen. Das ist in meinen Augen ein großes Verdienst. Es gibt Ihnen manche Freiheit. Aber jede Freiheit hat Grenzen …«

Diana Maitland zeigte Bewegung, als sie von der Erhaltung des Friedens sprach. Zum Schluß klang ihre Stimme kalt abweisend.

»Eure Herrlichkeit legen meinen Worten einen falschen Sinn unter. Was ich sagte, hängt mit dem Wohlergehen unserer beiden Länder eng zusammen.«

»Herr Doktor, Sie sprechen in Rätseln. Ich kann beim besten Willen keinen Zusammenhang zwischen meiner Mädchenzeit in Paris und dem Wohlergehen unserer Länder finden. Aber ich bewundere Ihre Quellenforschung. Sie sind wirklich recht genau über meine Vergangenheit unterrichtet …«

»Ich bin es in der Tat, Lady Diana. Ich bin es noch genauer, als Sie glauben.«

»Bitte, Herr Doktor, ich habe nichts zu verbergen …«

Diana Maitland sagte es hart und spöttisch, um einen Überzudringlichen ein für allemal abzuweisen.

»Ich sagte Eurer Herrlichkeit, daß unsere beiden Länder durch einen mächtigen und gefährlichen Feind bedroht sind.«

»Ich hörte es bereits, Herr Doktor.«

»Der Feind ist Erik Truwor.«

Langsam brachte Dr. Glossin die Worte hervor. Und konnte ihre Wirkung Wort für Wort verfolgen.

Lady Diana, eben noch das Bild sarkastischer Überlegenheit und kalt abweisender Ruhe, erblaßte. Ihre Augen weiteten sich bei der Nennung des Namens Truwor, als ob sie ein Gespenst sähe. Ihr Gesicht war sehr bleich. Viel mehr als die heitere Ruhe offenbarte die leidenschaftliche Erregung, deren Spiegel es jetzt war, alle Wunder dieses schönen Antlitzes. In dem prachtvollen Rahmen des reichen dunkelbraunen Haares, mit den halbgeöffneten Lippen und den bebenden Nasenflügeln hatte es etwas Dämonisches. Aus ihren Augen sprühte die Glut eines flammenden Zornes, eines tödlichen Hasses.

»Erik?! … Erik Truwor …?« rief sie heftig.

Sie warf den Kopf zurück und sah Glossin mit durchdringenden Blicken an.

»Wie können Sie einen Namen aussprechen, dessen Nennung allein eine schwere Beleidigung für mich ist?«

»Ich nannte den Namen eines Mannes, der heute unsere beiden Länder schwer bedroht … und der vor langen Jahren, Lady Diana, auch einmal in Ihr Leben eingebrochen ist.«

»Was sagen Sie? Erik Truwor bedroht … bedroht das große England, bedroht das ganze Amerika? … Ein einzelner Mann die mächtigsten Reiche der Welt? Soll das ein Scherz sein, Herr Doktor …«

Ihre Stimme bekam einen drohenden Klang. »So würde mir Ihre Anwesenheit in Maitland Castle von diesem Augenblick an für immer unerwünscht sein.«

»Die Ungnade Eurer Herrlichkeit würde ich in Kauf nehmen, wenn ich die harte Tatsache zu einem leichten Scherz stempeln könnte.

Ich nannte Erik Truwor. Zusammen mit zwei Freunden haust er in Schweden an der finnischen Grenze. Der eine seiner Freunde ist Silvester Bursfeld, der Sohn jenes Gerhard Bursfeld, den ich vor dreißig Jahren in den Tower brachte. Die beiden kennen das Geheimnis des Vaters, und sie entwickeln die Erfindung weiter.

Bursfeld weiß, daß sein Vater als ein Opfer englischer Politik im Tower starb. Darum gilt seine Arbeit der Rache an England. Erik Truwor läßt ihn gewähren. Der Dritte im Bunde, ein Inder, hat für sein Vaterland auch eine … kleine Rechnung mit England zu begleichen.

Vom Torneaelf droht dem englischen Reiche eine Gefahr, viel schwerer, viel größer, als Cyrus Stonard mit seinem Dreihundertmillionenvolk sie jemals sein könnte. Erik Truwor mit seinen zwei Freunden ist mehr zu fürchten als Cyrus Stonard.«

Lady Diana hatte ruhig zugehört. Nur ihre Blässe verriet ihre innere Erregung.

»Wissen Sie, was Erik Truwor mir antat?«

Dr. Glossin setzte die Worte vorsichtig und langsam.

»Ich weiß, daß er der Verlobte der jungen Komtesse Raszinska war und daß er ihr … den Verlobungsring zurücksandte.«

»Sie wissen viel … vielleicht nicht alles.«

»Ich weiß auch, Lady Diana, daß Sie Erik Truwor hassen. Um so weniger werden Sie sich besinnen, zum Wohle Ihres Vaterlandes zu handeln und Ihren Gemahl auf die Gefahr aufmerksam machen, die von Linnais her der Welt droht.

Lady Diana, fassen Sie den korrekten Sinn meiner Mitteilung: Erik Truwor und seine beiden Freunde sind im Besitze des Geheimnisses, um dessentwillen die englische Regierung Gerhard Bursfeld in den Tower brachte.

Noch ist es Zeit! Ein einfacher Handstreich! Gut organisiert! Schnell unternommen und durchgeführt! Hat Ihre Regierung die Sache erst einmal beschlossen, wird sie auch wissen, wie sie durchzuführen ist.«

Lady Diana hatte sich aufgerichtet. Widerstreitende Gefühle kämpften in ihr. Die Erinnerung an die glücklichen Monate in Paris wurde lebendig. Die Gestalt Erik Truwors traf ihr geistiges Auge. Die Zeit nach dem brüsken Bruch, die schrecklichste ihres ganzen Lebens, wachte auf.

Glossin sah ihr Zaudern.

»Hat Diana Raszinska vergessen, was ihr angetan wurde?«

Diana Maitlands Augen flammten auf. Aus fremdem Munde zu hören, was sie im Innersten bewegte …

Dr. Glossin fuhr fort: »Ich sagte Ihnen bei unserer ersten Unterredung, daß Sie mir eines Tages die Hand zum Bündnis bieten würden. Der Tag ist gekommen. Zum Bündnis gegen den Feind unserer beiden Länder, der auch Ihr persönlicher Feind ist. Der Ihnen das Schwerste angetan hat, was ein Mann einer Frau antun kann.«

Dr. Glossin streckte seine rechte Hand vor. Wenige Minuten des Schwankens. Dann legte Diana ihre Rechte in die des Doktors.

»Es sei, Herr Doktor. Mein Gewissen bleibt unbelastet. Hegt Erik Truwor keine feindlichen Pläne gegen England, so wird er frei aus dieser Prüfung hervorgehen. Sonst … Ich tue nur, was ich gegen jeden Feind meines Landes tun würde.«

Lady Diana erhob sich. Ihre Erregung wich einer tiefen Abspannung. Sie hatte das Bedürfnis, aus Glossins Nähe zu kommen, allein zu sein, zu ruhen. Dr. Glossin begleitete sie bis an die Pforte des Schlosses. Dann kehrte er auf die Terrasse zurück.

Lord Horace Maitland war mit den Ergebnissen seiner Londoner Reise zufrieden. Seine Mitteilungen hatten ersichtlichen Eindruck auf das Kabinett gemacht. Man sah in London, wie die gefährliche Wetterwolke, die seit vierzehn Tagen dunkel drohend am politischen Himmel hing, allmählich lichter wurde. Während man vor zwei Wochen fast jede Stunde den Ausbruch des Krieges erwartete, schien die Gefahr jetzt von Tag zu Tag geringer zu werden. Man sah in London die Kriegsgefahr weichen und hatte keine Erklärung dafür.

In diesen Stand der Dinge war Lord Horace mit den Anschauungen und Darlegungen getreten, die Dr. Glossin ihm entwickelt hatte.

Es gibt im Schachspiel gefährliche Züge, bei denen die feindliche Figur den König angreift und gleichzeitig die Dame gefährdet. Solch einen Zug hatte Cyrus Stonard offenbar auf dem Brett. Während England Hals über Kopf Milliarden in neuem Kriegsgerät festlegte, kaufte er nur Stahl. Band starke Kräfte des Gegners und behielt die Möglichkeit, zur gegebenen Zeit Milliarden für die Union einzuheimsen.

Nachdem man die Absicht des Gegners erkannt hatte, war es möglich, Abwehrpläne zu schmieden. Diese Möglichkeit dankte man den Informationen von Lord Horace, und die Anerkennung dafür kam zum Ausdruck.

Lord Horace war zufrieden nach Maitland Castle zurückgekehrt. Er erkannte die Bedeutung und Wichtigkeit seines amerikanischen Gastes. Sein Entschluß, mit ihm auch fernerhin gute Beziehungen zu pflegen, ihn sich zu verpflichten, stand fest. In dieser Stimmung trafen ihn die Mitteilungen Dianas.

Eine Gefahr für das Reich? … Eine Erfindung, an der alle bekannten Kriegsmittel zuschanden wurden? … Die Sache ging England und Amerika gleichermaßen an.

Ganz dunkel spürte Lord Horace, daß die Union im Grunde selber zufassen und die Gefahr beseitigen könne … Aber England hatte eine alte Rechnung mit diesen Leuten. Auch Lord Horace hatte damals die Akten des Bursfeld-Prozesses durchgesehen. Gehörte der Sohn des Mannes, der einst im Tower seinem Leben selber ein Ende setzte, zu diesem Kleeblatt in Linnais, dann mußte sich die Kraft der neuen Macht in der Tat zuerst gegen England richten. Dann war es in erster Linie Englands Sache, diese Gegner unschädlich zu machen … aufzuheben … und vielleicht die Erfindung selbst der Wehrmacht Englands dienstbar zu machen.

An diese letzte Möglichkeit dachte Dr. Glossin wohl sicher nicht. Lord Horace zog sie in die Berechnung hinein. Ein einzelner konnte sterben, bevor ihm das Geheimnis entrissen war. Drei Mitwisser … getrennt voneinander, in den sicheren Verliesen des Towers. Es mußte wunderbar zugehen, wenn es dann nicht gelang, in den Besitz des Geheimnisses zu kommen.

Dr. Glossin hatte seine Minen gut gelegt, die Fäden durch Lady Diana geschickt gesponnen. Er hatte eine lange Unterredung mit seinem englischen Gastfreund. Als er nach zweistündigem Gespräch das Zimmer von Lord Horace verließ, lag die Genugtuung des großen Erfolges unverkennbar auf seinen Zügen. Es war ihm geglückt, was er selbst kaum für möglich gehalten hatte. Es war ihm gelungen, den klugen und weitsichtigen Engländer vor seinen Wagen zu spannen.

Die Engländer hatten sich verpflichtet, die Kastanien für ihn aus dem Feuer zu holen. Sie nahmen ihm das schwerste Stück der Arbeit ab. Waren die drei erst einmal gefangen, dann brauchte man nicht mehr zu fürchten, daß plötzlich verzehrendes Feuer die Welt überfiel. Dann war die Bahn für neue Pläne frei.

Der Sonnenball berührte die stahlblauen Fluten des Tyrrhenischen Meeres und übergoß den Azurspiegel mit einer Flut roter und gelber Tinten. Auf dem Korso von Neapel wogte die Menge, Fremde und Einheimische, in buntem Durcheinander. Die Neapolitaner lachend und schwatzend, sich der Naturschönheiten ihrer Stadt und ihres Landes kaum noch bewußt. Die Fremden entzückt und gefesselt von einer Farbensinfonie, die ihre Töne von Minute zu Minute wandelte. Aber keiner von den Tausenden, die hier promenierten, genoß die Reize des Abends wohl so wie das Paar, das weitab von der Menge der Promenierenden seinen Platz auf der Straße zum Posilip gefunden hatte, wo das Grabmal Virgils sich neben dem alten Römerweg erhebt.

Schon lange saßen sie dort wortlos, Hand in Hand, bis eine kühle Brise den Mann veranlaßte, das Schweigen zu brechen.

»Wollen wir nicht lieber zurückgehen, Jane? Es weht frisch von der See.«

»Nein, Silvester, laß uns noch bleiben …«

Noch fester umschloß sie Silvesters Arm.

»Es ist unser letzter Abend in Italien. Du weißt ja nicht, mit welchem Grauen ich an die kommenden Stunden denke, in denen wir wieder zurück müssen, in denen du mich allein lassen wirst.«

»Jane … ich lasse dich doch nur für kurze Zeit, für wenige Tage, höchstens Wochen allein. Dann komme ich zu dir zurück, und dann sind wir für immer vereint. Noch viele, noch schönere Tage wird uns das Leben bescheren.«

»Noch schönere Tage? … Kann es noch Schöneres geben, als was wir jetzt genossen haben?

Wie ein Traum, wie ein unendlich schöner Traum liegen die Tage der letzten Wochen hinter mir … Unsere Hochzeit in Linnais. Wie Atma die ganze Gesellschaft betörte und wir ungesehen abreisen konnten … die wunderbare Fahrt über die Eisgipfel der Alpen … Dann der erste Gruß der sonnigen Gefilde Italiens … das Mittelmeer, der Nilstrom, die Pyramiden … Rom … das hat mir weniger gefallen. Du sprachst viel von der Geschichte und Größe der Stadt. Aber ich … bedenke nur, daß ich von Kindheit an immer in Trenton in unserem Haus und Garten gelebt habe. Rom, das war mir zuviel …«

Enger schmiegte sie sich an ihren Gatten.

»Aber am meisten freue ich mich darauf, wenn wir nach dieser Reise erst ruhig in unserem eigenen Heim sitzen werden, wenn ich nicht mehr zu sorgen brauche, daß … o warum, Silvester … warum müssen wir uns noch einmal trennen, warum willst du noch einmal von mir gehen … laß mich doch nicht zurück … laß mich nicht allein in der fremden Welt zurück … nimm mich mit nach Linnais. Ich will euch nicht stören. Ich will weder dir noch deinen Freunden in den Weg kommen, solange ihr mit eurer Erfindung zu tun habt. Nur laß mich bei dir bleiben.«

Fester umschloß Silvester sein junges Weib.

»Nein, Jane. Das ist unmöglich. Aber es sind ja nur wenige Wochen. Dann ist das große Werk vollendet. Dann bin ich unabhängig. Dann werden wir leben können, wie und wo es uns gefällt. Wo es uns am besten gefällt, da werden wir unser Heim gründen, nach dem ich mich ebenso sehne wie du.«

Nach langem Schweigen hub Jane wieder an: »Ich weiß, Silvester, auch du gehst nur ungern. Erik Truwor ist es, der uns trennt … Ja, Erik Truwor …«

Vorwurf und Bitterkeit lagen in den letzten Worten.

»Jane! Du kennst Erik Truwor nicht. Und weil du ihn nicht kennst, kannst du ihn nicht verstehen. Unser Werk … sein Werk ist größer als Menschenliebe und Menschenleid. Er arbeitet am Schicksal der Menschheit. Sollte das Geschick zweier Menschen ihn hindern dürfen … Nein, Jane. Keinen Vorwurf für Erik Truwor.«

Einen Augenblick saß Jane schweigend in sich zusammengesunken. Plötzlich warf sie ihre Arme um ihn.

»Wenn du wüßtest, Silvester, was so manchmal bald stärker, bald schwächer mich beunruhigt. Bei Tag und auch bei Nacht, wenn ich in deinen Armen liege …«

»Jane … liebe Jane. Was ist es, was dich quält?«

»Wenn ich es sagen könnte … wenn ich es wüßte, was es ist … ich würde es dir sagen … Eine dunkle Wolke … wenn mein Auge in der schönen glücklichen Zukunft sucht, quillt es schwer und schwarz vor meinen Blicken auf … Eine Ahnung … eine Furcht … ich weiß nicht, was es ist, aber alle heiteren Bilder verschwinden, ich muß die Augen schließen, muß weinen.«

»Jane … du liebes, armes Kind. Die letzten Monate haben zu sehr auf dich eingestürmt. Mein Verschwinden, der Tod deiner Mutter, der Streich Glossins … das war zu viel für dein Herz. Scheuch sie weg, die trüben Ahnungen, wenn sie wiederkommen. Denke an mich. Denke an das Glück, das uns die Zukunft bringen wird …«

Sekunden des Schwankens. Dann legte Jane ihre Arme um Silvesters Hals.

Liebevoll hüllte er ihre zarten Schultern in einen Schal und zog sie an seine Brust.

Es war ein wehmütiger und tränenreicher Abschied, als Silvester sich endlich in Düsseldorf von seiner jungen Gattin trennte, um allein nach Linnais zurückzukehren. Nur der Gedanke machte das Auseinandergehen für Silvester und Jane erträglich, daß es nur eine Trennung von wenigen Wochen sein sollte. Nur noch einige Verbesserungen. Die Konstruktion und Ausführung eines neuen, noch viel stärkeren Strahlers. Dann, das war der feste Entschluß Silvesters, sollte ihn nichts mehr von seinem Weibe fernhalten. Mit dem festen Versprechen, in spätestens vier Wochen zurückzukehren und dann für immer mit ihr zusammenzubleiben, hatte er sich schließlich aus den Armen Janes gerissen.

Er hatte ihr einen kleinen telephonischen Empfangsapparat dagelassen. Hatte sie zuletzt noch getröstet.

»Mein Liebling, wenn ich auch noch einmal auf kurze Zeit von dir gehe, werde ich doch immer bei dir sein. Ich werde imstande sein, jeden Augenblick dein Bild lebendig vor mir zu sehen, werde in jedem Augenblicke wissen können, was du tust, und wie es dir geht. Und dir gibt dieser Apparat die Möglichkeit, wenigstens meine Stimme zu hören. Ich werde keinen Tag vorübergehen lassen, ohne dich zu sehen und mit dir zu sprechen.«

Silvester hatte ihr den Gebrauch des Apparates genau gezeigt. Einen Druck auf einen Knopf, und die Elektronenlampen brannten. Den Hörer ans Ohr, und jedes Wort, das er in Linnais in den Schalltrichter sprach, wurde deutlich gehört.

So war Silvester gegangen. Jane blieb allein im Hause Termölen zurück. Betreut von den beiden alten Leuten. Wie eine Tochter gehegt und gepflegt von Frau Luise und doch betrübt und einsam.

Auf den Himmel der vierzehntägigen Hochzeitsreise folgte die Hölle der Trennung. Jane lernte in diesen schmerzvollen Tagen und Wochen kennen, was es für eine Frau bedeutet, ihr Herz an einen Mann zu hängen, der einer großen Idee verschrieben ist. Neben dem leichten Goldreif, der ihn an Jane band, trug Silvester den schweren Ring, der ihn mit Erik Truwor und Soma Atma zu einer Dreiheit zusammenschmiedete. Das bittere Schicksal der Frau, die mit ihrer Liebe den Plänen und der Lebensarbeit des Mannes nachstehen muß!

Nur wenig hatte ihr Silvester von seinen Erfindungen und Arbeiten erzählt. Daß die Erfindung in wenigen Wochen abgeschlossen sei. Daß sie ihm solchen Gewinn bringen würde, daß er dann alle Berufsarbeit lassen und sich ganz seinem Eheglück widmen könne. Das war der Trost, der Jane in diesen Tagen aufrechthielt. Der Gedanke, daß diese Trennung nur noch eine letzte kurze Prüfung sei. Daß danach Silvester für immer bei ihr bleiben, ihr ganz gehören werde.

Herr Andreas Termölen schmunzelte, und Frau Luise zeigte ein verständnisvolles Lächeln, wenn Jane des Nachmittags in der vierten Stunde unruhig zu werden begann. Sie sorgte dafür, daß ihre Uhr auf die Sekunde genau die richtige Zeit zeigte. Eine Minute vor vier flammten an jedem Tage die Elektronenlampen auf, und um vier Uhr drangen die ersten Worte Silvesters aus dem Hörer an ihr Ohr. Worte der Sehnsucht, Versicherungen unerschütterlicher Liebe, Tröstungen, daß wieder ein Tag der Trennung vorbei sei. Mitteilungen, daß die Arbeit gut gefördert würde, daß das Ende in nahe Nähe gerückt sei.

Silvester sprach. Er stand in Linnais in seinem Arbeitsraum. Den Schalltrichter der großen Telephonanlage am Munde. Den Strahler auf das Zimmer von Jane gerichtet, das Bild seines jungen Weibes lebendig vor sich auf der Mattscheibe.

Jane konnte nur hören, doch nicht zurücksprechen. Eine Station zum Senden in einem Privathause hätte besondere Einrichtungen und Vorkehrungen erfordert, die in der Kürze der Zeit nicht durchzuführen waren. Sie mußte sich darauf beschränken, die Worte ihres abwesenden Gatten zu hören, Silvester konnte nur ihr Bild auf der Mattscheibe betrachten, mußte auf das gesprochene Wort verzichten. Wohl sah er, wie die Worte, die er selbst sprach, auf ihr Mienenspiel wirkten, wie die Beteuerungen seiner Liebe und Zuneigung den Schimmer der Freude über ihre zarten Züge verbreiteten, doch von dem, was sie selber sprach, konnte nichts an sein Ohr dringen.

So hätte diese tägliche Unterhaltung einseitig bleiben müssen, wenn nicht die Liebe neue Mittel für die Verständigung gefunden hätte.

Die vor Silvester stehende Mattscheibe gab das genaue Bild Janes, gab es in Lebensgröße. Jeden Zug, jede Bewegung ihrer Lippen konnte Silvester genau beobachten, und schnell lernte er es, ihr die Worte von den Lippen abzulesen. Er sah Jane und sprach. Jane hörte seine Worte, antwortete, und aus der Bewegung ihrer Lippen erriet er den Sinn der Antwort. Wiederholte ihn, ersah ihre Bestätigung aus ihrem glücklichen Lächeln.

Jetzt am Ende der zweiten Woche der Trennung hatten es die Getrennten gelernt, sich auf diese Weise zu unterhalten, als ob sie nebeneinandersäßen und nicht fünfhundert Meilen zwischen ihnen lägen. Die tägliche Plauderstunde stärkte Jane den Mut bis zum nächsten Tag. Sie war für Silvester die Quelle, aus der er die Kraft schöpfte, sich wieder in seine Arbeit zu stürzen, die Apparate fertigzumachen, deren schnellste Vollendung Erik Truwor so dringend heischte.

Die Nächte in Linnais waren auch in den letzten Julitagen noch hell.

Auf alle Fälle unbequem hell nach der Meinung des englischen Obersten Trotter. Viel zu hell nach dem Geschmack des Dr. Glossin. Zwar ging die Sonne um Mitternacht eine Stunde unter den Horizont. Aber die Dämmerung gestattete es immer noch, einen Mann im freien Felde auf zweihundert Meter zu erkennen. Vollständige Dunkelheit wäre der kleinen Truppe willkommener gewesen, die unter der Führung von Oberst Trotter im Walde von Linnais lagerte.

Zwanzig Mann. Ausgesuchte englische Soldaten. In kleinen Trupps zu vier bis fünf, in Zivil, waren sie im Laufe der letzten drei Tage mit den Regierungsschiffen der Linie Edinburg–Haparanda angekommen. Als harmlose Reisende waren sie den Torneaelf stromaufwärts gezogen. Hier ein wenig Angelsport treibend. Dort Mineralien sammelnd. Alles andere, nur keine Soldaten vorstellend.

Zu vorgeschriebenen Stunden waren sie alle an dem bestimmten Platze, einer Waldlichtung in der Nähe vom Hause Erik Truwors. Dort waren sie und vergnügten sich als sportfreudige Touristen. Sie schlugen Zelte auf, kochten im Freien ab und machten es sich bequem.

In einem der Zelte saß der Oberst Trotter im Gespräch mit Dr. Glossin und vertrat mit britischer Hartnäckigkeit seinen Standpunkt.

»Mein Befehl lautet, drei Bewohner dieses Hauses, namentlich angeführt als Erik Truwor, Silvester Bursfeld und Soma Atma, aufzuheben und lebendig nach London zu bringen. Es ist bei den englischen Offizieren Sitte, Dienstbefehle genau zu vollziehen. Sie mögen als Zivilist eine andere Anschauung von der Sache haben. Für mich und meine Leute gilt die meinige.«

»Herr Oberst, Sie unterschätzen die Gegner, mit denen Sie es zu tun haben. Ich bin über Ihren Plan erschrocken. Sie wollen das Haus mit zwanzig Mann umstellen, einfach hineingehen und die Gesuchten verhaften?«

»Genau so, wie Sie es sagen, Herr Doktor. Das ist die Art und Weise, wie wir solche Aufträge ausführen. Wenn meine Leute das Haus umstellt haben, kommt keine Maus mehr heraus. Ich würde es freilich bedauern müssen, wenn die Gesuchten zu fliehen beabsichtigen. In diesem Falle sind meine Leute angewiesen, zu schießen.«

Dr. Glossin lief wie ein gefangenes Raubtier in dem engen Zelte hin und her und rang die Hände.

»Herr Oberst, Sie haben keine Ahnung, mit wem Sie es zu tun haben. Sie mußten mit einem Flugzeug herkommen und den stärksten brisantesten Torpedo, den Ihre Armee besitzt, auf das Dach abwerfen. Eine Sekunde nach Ihrer Ankunft mußte das ganze Haus bis zum tiefsten Keller pulverisiert sein. Dann bestand einige … ich sage nicht volle, aber doch wenigstens einige Aussicht, daß die Verschwörer unschädlich gemacht wurden.«

Oberst Trotter lächelte mitleidig.

»Sie scheinen ernstlich Furcht vor den Bewohnern dieses Hauses zu besitzen. Well, Herr Doktor, als Zivilist sind Sie nicht verpflichtet, besonderen Mut zu entwickeln. Aber Sie werden mich diese Angelegenheit auf meine Weise erledigen lassen.«

Der Oberst blickte auf seine Uhr.

»Gleich elf. Es wird in dem verdammten Lande nicht dunkel. Ein Sergeant, der gut Schwedisch spricht, ist unterwegs, um sich das Haus und seine Bewohner genauer anzusehen.«

»Auch das noch!« Dr. Glossin stieß die Worte in einem Übermaß von Unwillen hervor.

»Haben Sie an dieser Maßnahme etwas auszusetzen, Herr Doktor? Es ist bei allem Militär der Welt Sitte, daß man vor dem Angriff aufklärt.«

Während der Oberst seine Ansicht mit der Bestimmtheit des alten Soldaten aussprach, hatte Dr. Glossin sich wieder auf den niedrigen Feldstuhl gesetzt. Ernst und bestimmt kamen die Worte aus seinem Munde.

»Mag das Schicksal Erbarmen mit Ihnen und Ihren Leuten haben. Sie sind in der Lage eines Mannes, der einem Tiger nur mit einem Spazierstöckchen bewaffnet entgegentritt.«

Ein Mann trat in das Zelt. Auch im Zivilanzug war der Soldat unverkennbar. Sergeant MacPherson, der von der Aufklärung zurückkam. Ein Schotte mit buschigen Brauen, großen graublauen Augen und ergrautem Vollbart. Er gab seinen Bericht in kurzer, knapper Form. Erst hatte er das Haus von außen vorsichtig umgangen und beobachtet, daß zwei Männer zusammen an einer Maschine im Hause arbeiteten.

Über den dritten konnte er nichts in Erfahrung bringen. Da war er kurz entschlossen in das Haus eingetreten. Die Gartentür stand offen. Ungehindert kam er durch den Garten in das Haus. Eine Treppe führte zur Veranda.

Die Veranda war leer … Schien wenigstens im ersten Moment leer zu sein. Als er weiter in das Haus hineingehen wollte, hörte er plötzlich eine Stimme. Auf einem niedrigen Diwan in der Ecke der Veranda saß ein Mensch mit brauner Haut. Noch ehe er seine Fragen in Schwedisch vorbringen konnte, sprach der Inder ihn englisch an. Nur wenige Worte. Einen Sinn habe er darin nicht entdecken können, so sehr er auch auf dem Rückwege darüber nachgedacht habe.

Wie die Worte hießen, wollte der Oberst wissen.

»Jawohl, Herr Oberst! Der Mensch sagte zu mir: Was du suchst, ist nicht hier; was hier ist, suchst du nicht.«

»Nonsens! … Humbug! … Indische Gaukelei!« … Der Oberst stieß es wütend zwischen den Zähnen hervor. Dann wurde er wieder dienstlich und fragte weiter:

»Wenn ich Sie recht verstanden habe, MacPherson, sind die drei gesuchten Personen in dem Hause und stehen auch nicht im Begriff, es zu verlassen.«

»Jawohl, Herr Oberst, das ist meine Meldung.«

Auf einen Wink des Obersten verließ der Schotte das Zelt.

Oberst Trotter blickte wieder auf seine Uhr.

»Ich denke, Doktor, in einer Stunde haben wir die Burschen.«

Dr. Glossin beachtete den Obersten gar nicht. Er hatte die Hände über dem rechten Knie gefaltet und wiederholte mechanisch die Worte Atmas: »Was du suchst, ist nicht hier; was hier ist, das suchst du nicht.«

Der Oberst wurde ungeduldig.

»Die Geschichte fängt jetzt an, Herr Doktor. Werde ich den Vorzug haben, Sie dabei an meiner Seite zu sehen?«

»Ich ziehe es vor, mir das Abenteuer sehr von weitem anzusehen.«

»Sie werden hier in fünf Minuten allein sein.«

»Ich werde es zu ertragen wissen. Die Einsamkeit birgt keine Gefahr.«

»Wie Sie wollen, Herr Doktor.«

Der Oberst trat auf den Platz, und wie durch Zauberei verschwanden die Zelte. Die Kochgeschirre wurden zusammengepackt. Alles wurde in Taschen und Rucksäcken untergebracht. Es dauerte wirklich nur fünf Minuten, dann stand Dr. Glossin einsam in der Waldlichtung. Eine Kolonne von einundzwanzig Mann bewegte sich vorsichtig und lautlos durch den dichten Wald hin auf das Truworhaus zu.

Dr. Glossin blieb noch fünf Minuten ruhig wartend stehen. Dann zog er eine kleine Pfeife und ließ in kurzen Pausen schrille Pfiffe ertönen.

Das Gebüsch teilte sich. Ein Mann erschien und ging auf den Doktor zu.

»Sergeant Parsons zur Stelle.«

»Es ist gut, Parsons. Sie sahen die einundzwanzig Narren hier abziehen?«

Sergeant Parsons grinste. Die Engländer waren seine Freunde nicht.

»Ich sah sie talabwärts ziehen, Herr Doktor.«

»Sie haben vierzig Mann bei sich?«

»Jawohl, Herr Doktor. Vierzig ausgesuchte Burschen.«

»Gut bewaffnet.«

»Nebel, Tränen und Mordtau.«

»Die andern haben Mantelgeschosse. Insgesamt viertausend Schuß.«

»Allright, Sir. Werden uns vorsehen.«

»Gut, Parsons. Folgen Sie mit Ihren Leuten ungesehen den Engländern. Sie kennen Ihre Aufgabe?«

Den gleichen Pfad, den vor einer Viertelstunde einundzwanzig Engländer hinabgegangen waren, folgten ihnen jetzt einundvierzig Amerikaner. Dr. Glossin blieb auf der Lichtung zurück.

Oberst Trotter erreichte mit seinen Leuten in einer halben Stunde das Truworhaus. In der fahlen Nachtdämmerung lag es deutlich vor ihnen. Er ließ seine Leute in weitem Bogen ausschwärmen, bis die beiden äußersten Flügel vor der Vorderseite des Hauses zusammenstießen. An dieser Stelle des Kreises hielt sich der Oberst selbst auf. Langsam zog sich die Kette bis an den mannshohen, durch Birkenteer braunrot gefärbten Holzzaun zusammen. Oberst Trotter schwang sich auf den Zaun, um als erster in den Garten zu springen.

Da krachte ein Schuß. Er kam aus einer der kleinen Schießscharten zu beiden Seiten der Haustür. Haarscharf pfiff das Projektil am Kopf des Obersten vorüber und riß ein Stückchen Stoff an der rechten Schulter ab.

Der Oberst gelangte unversehrt in den Garten, und an allen anderen Stellen der Umzäunung folgten ihm seine Leute. Aber dies Eindringen war das Signal für ein Massenfeuer, das aus allen Fenstern und Luken des Hauses begann. Das Truworhaus war mit Munition gut versorgt. Es hatte den viertausend Schüssen der Angreifer reichlich die dreifache Zahl entgegenzustellen. In geschlossenen Feuergarben sprühten die Geschosse aus Fenstern und Luken und fegten durch den Garten. Hier und dort verriet ein Aufschrei, daß der eine oder der andere von den Engländern getroffen worden war.

Es gab Verwundete und Tote. Nur dadurch, daß die Angreifer, soweit sie überhaupt noch lebten und bewegungsfähig waren, sich zu Boden warfen, jeden Busch, jede Bodenfalte als Deckung nutzten und alle Künste des Kolonialkrieges anwandten, gelang es ihnen, Meter um Meter näher an das Haus heranzukommen.

In der Deckung eines starken Wacholdergestrüppes lag Oberst Trotter. Die Kugeln umpfiffen ihn. Jetzt bedauerte er es, dem Rate des Amerikaners nicht gefolgt zu sein.

Seine Leute schossen nur noch vereinzelt und zielten dabei sorgfältig auf die Punkte, von denen die Feuerströme der Verteidiger herkamen. Hier und dort hatten sie auch Erfolg. Oberst Trotter konstatierte trotz seiner recht ungemütlichen Lage, wie hier und dort eine Schießscharte nach einem glücklichen Treffer der Angreifer verstummte.

Trotz alledem … das Rezept des Amerikaners … den dicksten Lufttorpedo von obenher und unversehens auf den gottverdammten Kasten geworfen … Oberst Trotter wurde die Empfindung nicht los, daß der Plan recht viel für sich hatte.

Zweihundert Meter bergaufwärts stand Dr. Glossin und beobachtete durch ein gutes Glas den Kampf. Er gab für das Leben der Engländer keinen roten Cent mehr. Wenn die Angegriffenen ihr Feuer gut leiteten, mußten sie die wenigen Angreifer bei diesem Munitionsaufwand zu Hackfleisch zerschießen. Ungeachtet aller Deckungen und Schleichkünste. Um so mehr wunderte sich der Arzt, daß etwa die Hälfte der Engländer immer noch am Leben war, daß sie sogar langsam, aber unaufhaltsam das Feuer der Verteidiger zum Schweigen brachten. Jetzt feuerte die eine Schmalwand des Hauses nicht mehr. Der letzte Treffer von englischer Seite hatte dort eine kräftige Explosion verursacht. Bedeutendere Munitionsmengen mußten in die Luft gegangen sein.

Wenige Minuten warteten die Angreifer noch. Dann stürmten sie gegen diese schmale Seite vor. Eine schmale Tür, aus starken Bohlen gefügt, war ihr Ziel. Axthiebe trafen das Holz. Krachend gaben Schloß und Angeln nach. Die Angreifer wollten über die gefallene Tür in das Innere dringen, aber sie kamen nicht dazu.

Es war ganz klar. Dr. Glossin, der den Gang der Dinge als ruhiger Beobachter verfolgte, war sich dessen sicher. Mit der Tür war eine Kontaktvorrichtung verbunden, die im Innern des Hauses eine schwere Explosion hervorrief, sobald die Tür aus den Angeln wich.

Weithin über die Berglehnen zu beiden Seiten des Tornea rollte der dumpfe Donner der Explosion und übertönte das Rauschen des Flusses.

Die Angreifer, eben noch im Begriff, das Haus mit stürmender Hand zu nehmen, taumelten zurück.

Ein Brand war im Innern ausgebrochen. Rotglühend erleuchtet flammte hier und dort ein Fenster auf.

Und dann … Dr. Glossin hatte zweifelsohne einen günstigeren Platz gewählt als der Oberst Trotter, der sich erst jetzt hinter seinem Wacholdergebüsch hervorwagen konnte … Dr. Glossin sah von seinem zweihundert Meter höher gelegenen Standpunkt, wie das ganze Dach des Hauses sich leicht hob und dann öffnete, wie der Krater eines ausbrechenden Vulkans. Eine ungeheure Flammensäule stieg empor und riß viele Tausende von hölzernen Schindeln mit. Brennend stiegen die leichten Holzstückchen hoch in den fahlen Himmel. Brennend fielen sie wieder langsam zu Boden. Das Haus war nach der Explosion nur noch ein einziges wogendes und brandendes Feuermeer. In seinen Kellern mußten enorme Mengen brennbarer Öle lagern. Mußten durch die Explosion Feuer gefangen haben und sandten nun Flammenberge und schwere Wolken dichten schwarzen Qualmes empor. Schon war der obere Fachwerkbau des Hauses bis auf wenige Sparren verzehrt. Reichlich genährt brodelte das Flammenmeer weiter. Die uralten Zyklopenmauern des unteren Teiles, vor Jahrhunderten gefügt, für die Ewigkeit gebaut, wurden rotglühend.

Dr. Glossin beobachtete das Schauspiel und vergaß vor seiner wilden Schönheit für kurze Zeit Sorgen und Pläne.

Die Glut drang von innen nach außen durch. Auf den weiten dunklen Mauerflächen zeigten sich plötzlich rosa Flecken. Wuchsen, wurden immer heller, flossen zusammen, bis schließlich die ganze wohl meterstarke Wand in voller Rotglut dastand. Und dann begann der Mörtel, der diese erratischen Blöcke zum Mauerwerk verband, in der höllischen Hitze zu schmelzen. Flüssig und weiß glühend lief es an hundert einzelnen Stellen aus den Mauerfugen.

Dann stürzten die letzten Reste des Truworhauses zusammen. Im Augenblicke bildete das Rechteck der Zyklopenmauern nur noch einen wirren Haufen rot- und hellweißglühender Blöcke.

Ein glühendes Hünengrab, das unter schmelzenden Felsbrocken die tausendjährige Geschichte eines heldenhaften Geschlechtes begrub – – – und mit ihr den letzten dieses Geschlechtes.

Die Engländer hatten sich vor der unerträglichen Glut weit zurückgezogen. Längst war der Aufenthalt innerhalb der Gartenumfriedigung unerträglich. Schon brannte der hölzerne Zaun an mehreren Stellen. Erst unten am Fluß machten sie halt. Kühlten die brennenden Gesichter, die verbrannten Hände im frischen Wasser des Elf. Bemerkten, daß ihnen die Kleidung, von der strahlenden Hitze des Brandes versengt, in Fetzen vom Leibe hing.

Verstört und niedergeschlagen musterte Oberst Trotter das Häuflein der Überlebenden. Eine Stimme hinter ihm:

»Herr Oberst, Sie haben sie nicht einmal tot bekommen!«

Es war die Stimme Dr. Glossins.

Der Oberst fuhr sich über den halb versengten Schnurrbart.

»Damm' your eyes, Sir! Sie sind tot! Es ist keine Maus rausgekommen. Sie sind in ihren Schlupfwinkeln gebraten worden. Wenn es Ihnen Spaß macht, suchen Sie die Reste in dem Trümmerhaufen da oben. Aber verbrennen Sie sich nicht die Fingerspitzen. Ich weiß, was ich meiner Regierung zu melden habe.«

Oberst Trotter war von den Flammen angesengt, schmutzig und unansehnlich geworden. Sein Gesicht schmerzte ihn, so daß er sich zum Fluß beugte und frisches Wasser über die gerötete Stirn schüttete.

Nach dem kalten Wasser fühlte er neue Kraft. Er wollte dem verdammten Amerikaner deutlich werden. Doch als er sich dazu anschickte, war Dr. Glossin verschwunden. Ebenso plötzlich, wie er aus dem Walde herausgetreten war, hatten ihn die Sträucher und Stämme des alten Forstes wieder aufgenommen.

Mr. E. F. Goody, der Führer der Opposition im australischen Parlament, faßte die Hauptpunkte seiner zweistündigen Rede noch einmal im Schlußwort zusammen.

»Die Welt ist heute zu eng geworden. Es scheint, als ob die beiden großen Staaten nicht mehr nebeneinander Platz haben. Wir müssen unsere Stellung zwischen den beiden Parteien wählen. Beides sind Englisch sprechende Völker. Jedem von uns durch Bande des Blutes verbunden. Staatsrechtlich steht uns England näher. Aber unsere wirtschaftlichen Beziehungen weisen nach Amerika. Der Energie der Vereinigten Staaten verdanken wir es, daß unser Land von dem schweren Druck der japanischen Gefahr befreit wurde. Die Klugheit gebietet uns, heute Anschluß an Amerika zu nehmen …«

Laute Beifallsrufe unterbrachen den Sprecher. Es ging sonst ebenso ernsthaft und gesetzt im australischen Parlament zu wie im Hause der Gemeinen zu London. Aber hier waren die Leidenschaften auf das höchste erregt. Die weißbärtigen Farmer aus Queensland und Neusüdwales, die Kaufleute aus Viktoria, die Viehzüchter aus Westaustralien und Alexandraland sprangen von ihren Sitzen auf und machten ihrer Begeisterung in lauten Cheerrufen Luft. Es dauerte Minuten, bis der Redner fortfahren konnte.

»… Ich stelle fest, daß Regierungspartei und Opposition in diesem Punkt einig sind. Australien muß sich geschlossen an die Seite Amerikas stellen, wie es Kanada vor fünf Jahren getan hat. Die anglosächsische Rasse hat vor vierzig Jahren die neue Doktrin vom Selbstbestimmungsrecht der Völker verkündet. Diese Lehre ist nie wieder aus der Welt verschwunden. Wir nehmen dieses Recht der Selbstbestimmung für uns in Anspruch und beschließen den Zollbund mit der amerikanischen Union.«

Der Schluß der Rede ging in brausenden Cheerrufen unter. Das alte Parlament, welches hier in Sydney tagte, war nicht wiederzuerkennen. Tücher wurden geschwenkt. Händeklatschen mischte sich in die Beifallsrufe. Einzelne Parlamentsmitglieder sprangen auf die Sitze und gestikulierten mit den Armen.

Die bevorstehende Abstimmung konnte nur noch eine reine Formsache sein. Die einstimmige Annahme des Beschlusses war sicher.

Einzelne Mitglieder verließen den Sitzungssaal, traten in die Vorhalle, sprachen mit Journalisten und Geschäftsfreunden. Von Mund zu Mund sprang die Nachricht weiter, gelangte ins Freie und wälzte sich durch die breiten Straßen Sydneys. Seit dreißig Jahren hatte Australien seine besondere Flagge, den Union Jack, mit dem aufgelegten australischen Wappen. Das Kreuz mit den Symbolen des Landes lag auf dem roten Tuch der britischen Flagge. Jetzt tauchten in wenigen Minuten an unzähligen Fenstern Arrangements der australischen Flagge und des Sternenbanners auf. Es war unbegreiflich, woher diese Unmenge amerikanischer Fahnen im Augenblick kam, die hier im Winde flatterten und den Straßen ein festliches Aussehen gaben.

Während die Begeisterung durch die Straßen lief und das Parlament zur Abstimmung schritt, saß der australische Premierminister G. A. Applebee dem Königlich Großbritannischen Sondergesandten Mr. Swift MacNeill gegenüber.

»Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß die englische Regierung die Lage als außerordentlich ernst ansieht. Der Beschluß des australischen Parlamentes ist ungesetzlich, weil er alte, wohlerworbene Rechte des Mutterlandes verletzt.«

Mr. MacNeill sprach die Worte langsam und unbewegt. So mochten vor zweitausend Jahren Tribunen und Legaten die Weltmacht Roms in die Wagschale geworfen haben: Roma locuta, causa finita!

Mr. Applebee überlegte seine Erwiderung sorgfältig, bevor er den Mund aufmachte.

»Es ist der einstimmige Beschluß des Parlamentes, Sir! Ein Land mit einer Bevölkerung von vierzig Millionen steht geschlossen hinter dem Parlament. Dadurch, daß Australien in ein engeres Verhältnis zur amerikanischen Union tritt, hört es nicht auf, ein Freund Englands zu sein …«

»Australien ist ein Teil des britischen Reiches.« MacNeill sagte es kurz und schroff.

»Gewesen, Sir! Bis zum heutigen Tage gewesen! Mit dem heutigen Parlamentsbeschluß nimmt das Land das Recht voller politischer Mündigkeit und Souveränität für sich in Anspruch.«

»Diesen Ausspruch erkennt die britische Regierung nicht an. Ich kann meine Warnung nur wiederholen. Die Lage ist ungemein ernst.«

Die Züge des australischen Ministers röteten sich allmählich. Die innere Erregung ließ seine Stimme vibrieren.

»Die Lage ist für das britische Reich genau so ernst wie für uns, wenn Ihre Regierung darauf bestehen sollte, die einstimmigen Beschlüsse eines freien und mündigen Volkes zu mißachten. Australien kann nicht ausgehungert werden. Es hat einen bedeutenden Überschuß an Fleisch und Brot. Es hat in seiner Bevölkerung fünf Millionen wehrhafter Männer …«

»Ich hoffe nicht, daß das Land der Welt das traurige Schauspiel einer abtrünnigen Kolonie bieten wird.«

Der Engländer sagte es, um etwas zu sagen. Er war seiner Sache nicht mehr so sicher wie im Anfang.

Mr. Applebee fuhr fort: »Ein solches Schauspiel mag für England traurig sein. Die Sympathien der Welt sind fast immer bei den Kolonien gewesen, welche die Freiheit für sich in Anspruch nahmen und …«

Mr. Applebee schwieg. Auch der englische Gesandte blieb still. Der Name des Diktators Cyrus Stonard stand unausgesprochen zwischen ihnen. Der Australier fühlte sich der amerikanischen Unterstützung sicher. Der Engländer hatte die Überzeugung, daß die amerikanische Wehrmacht in dem Augenblick losschlagen würde, in dem ein englischer Soldat oder ein englisches Schiff die Freiheit des fünften Kontinents antasteten.

»Ich hoffe, daß es der Umsicht der englischen Regierung gelingen wird, die Lage zu entspannen.«

Das waren die Abschiedsworte, mit denen der australische Premier den Gesandten entließ.

Mr. Applebee kehrte in sein Kabinett zurück. Ein Klerk meldete ihm, daß Mr. Jones ihn zu sprechen wünsche. Mr. J. F. C. Jones, der Sondergesandte des Präsident-Diktators. Allright, der sollte die frohe Botschaft aus erster Quelle vernehmen. Der Australier hielt ihm die Liste mit dem Abstimmungsergebnis entgegen.

»Die Sache ist in Ordnung, Sir! Einstimmiger Beschluß von Oberhaus und Unterhaus. Der erste Fall in der Geschichte Australiens, daß ein Beschluß in beiden Häusern mit allen Stimmen angenommen wird.«

Mr. Jones trocknete sich die hohe Stirn mit einem seidenen Taschentuch.

»Ich sehe leider, daß ich zu spät gekommen bin. Ich wollte Sie bitten, die Abstimmung um vierzehn Tage zu verschieben.«

Mr. Applebee sank sprachlos auf seinen Stuhl.

»Ich verstehe nicht. Ich denke, das amerikanische Volk ersehnt die Vereinigung ebensosehr wie wir?«

»Es ersehnt sie. Nur ein Aufschub von vierzehn Tagen. Aus Gründen der äußeren Politik der amerikanischen Union.«

Mr. Applebee machte eine hilflose Bewegung.

»Wenn ich auch nur mit der Andeutung eines solchen Wunsches vor das Parlament trete, bin ich in zwei Minuten später nicht mehr Minister.«

Der Amerikaner betrachtete seine Stiefelspitzen.

»Ich werde mich umgehend mit Washington in Verbindung setzen, den Tatbestand mitteilen, um neue Instruktionen bitten. Die Sache liegt klar. Der Parlamentsbeschluß ist in der ganzen Stadt, jetzt vielleicht schon in allen Großstädten des Kontinents bekannt. Das Volk auf der Straße ist in einem Freudenrausch. Wir können nicht daran denken, diese Stimmung zu stören. Aber … Sie sind das ausführende Organ für die Beschlüsse. Wenden Sie Ihre ganze Kunst auf, um England hinzuhalten. Beachten Sie wohl, die Sache soll durchaus so vor sich gehen, wie sie verabredet wurde. Sie ist nur aufgeschoben, nicht aufgehoben. Bei dieser Sachlage wird es Ihnen möglich sein, einen Konflikt um vierzehn Tage hinauszuschieben … Ich hoffe, es wird Ihrer Kunst gelingen.«

Mr. Applebee versprach, sein möglichstes zu tun. Während von draußen her der Jubel der enthusiasmierten Menge dumpf in den Raum drang, empfahl sich der Amerikaner mit kräftigem Händedruck.

Unter den Passagieren des Flugschiffes Stockholm–Köln befand sich Dr. Glossin. Während seine Mannschaft nach dem Abenteuer in Linnais im eigenen Schiff nach den Staaten zurückkehrte, fuhr er nach Deutschland.

Das Flugschiff war ein gutes, ziemlich schnelles Fahrzeug der mitteleuropäischen Verkehrsgesellschaft. Für zweihundert Passagiere eingerichtet, legte es bei einer Stundengeschwindigkeit von etwas über vierhundert Kilometer die Strecke Stockholm–Köln in rund vier Stunden zurück. Dr. Glossin war um acht Uhr morgens von Stockholm fortgeflogen. Fahrplanmäßig mußte das Schiff den Kölner Flughafen zwölf Uhr mittags erreichen. Jetzt stand er zwischen Malmö und Kiel über der Ostsee.

Der Doktor hatte es sich in einer Fensterecke bequem gemacht und zog bei sich die Bilanz des Geschehenen.

Die Sachen waren nicht schlecht gegangen. Erik Truwor und die Seinen waren vernichtet. Es war bereits schwarz auf weiß gedruckt zu lesen. Haparandas Dagblad hatte in der Morgenausgabe einen kurzen Bericht über das Unglück von Linnais. Eine rätselhafte Brand- und Explosionskatastrophe, die mehrere schwedische Bürger das Leben gekostet haben sollte. Er hatte einige Exemplare der Zeitung gekauft, bevor er von Haparanda die Reise nach dem Süden antrat.

Dr. Glossin konnte zufrieden sein. Der heikle Auftrag des Präsident-Diktators war erledigt. Die drei Menschen, die er wirklich fürchtete, waren tot. So, wie er es geplant hatte, war es geschehen. Die Engländer hatten ihm die gefährliche Arbeit besorgt. Daß die bei der Gelegenheit etwas angesengt worden waren, störte ihn wenig. Wenn er an den eingebildeten Trotter dachte, der schließlich seine Brandblasen im Tornea kühlen mußte, empfand er ein gewisses Vergnügen.

Erik Truwor war tot. Der Mann, der im Begriffe stand, eine Macht zu gewinnen, an der Weltreiche zerschellen konnten. Der greuliche Inder war verbrannt. Der braune Satan, der ihn, den starken Hypnotiseur, selbst in den Bann der Hypnose gezwungen hatte. Und Silvester Bursfeld war gestorben. Silvester, dessen späte Rache er fürchten mußte. Silvester, der ihm Jane entrissen hatte.

Das Verhältnis des Arztes zu dem Mädchen war immer komplizierter geworden. Er brauchte sie als Medium von unübertrefflicher Leistung. Als ein Medium, mit dessen Hilfe er räumlich und zeitlich ins Weite blicken, die Pläne und Taten seiner Gegner rechtzeitig erkennen, entfernte Zusammenhänge aufzudecken vermochte. Das war es, was ihm in den letzten Wochen gefehlt hatte. Alle seine Mißerfolge schrieb er diesem Fehlen zu. Jane mußte wieder fest in seiner Hand sein.

Sein Medium, sein Talisman und seine Liebe!

Mit verzweifelter Kraft klammerte sich die vereinsamte Seele des alternden Mannes an den Gedanken, Jane ganz sein Eigen zu nennen. Er fühlte unbewußt, daß diese Liebe für ihn die Entsühnung bedeute. Er träumte von einem neuen Leben in Reynolds-Farm an Janes Seite. Jetzt fuhr er nach Düsseldorf, um sie für sich zurückzuerobern.

Warum mußte auch Jane einen Brief an ihre Nachbarin in Trenton schreiben und sich erkundigen, ob das Grab ihrer Mutter gut gepflegt werde. Es lag auf der Hand, daß dieser Umstand dem um das Wohl seines Mündels so ängstlich besorgten Vormund von den Empfängern des Briefes nicht verheimlicht werden würde. So wußte Dr. Glossin, daß Jane im Hause Termölen in Düsseldorf lebte. Es war einfach, beinahe zu einfach gewesen, ihren Aufenthaltsort zu erfahren. Viel schwieriger würde es sein, mit ihr in Verbindung zu treten.

Während das Schiff die westfälische Ebene überflog, versuchte der Arzt, sich einen Plan zu machen. Wann hatte er Jane das letztemal gesehen? Damals, als der Inder R. F. c. 2 wie Wachs schmelzen ließ; als Glossin um sein Leben laufen mußte. Das mußte eine Annäherung des Doktors unmöglich machen. Es kam noch dazu, daß Jane doch inzwischen mit Silvester zusammengewesen sein, von ihm erfahren haben mußte, welche Rolle Glossin bei seiner Gefangennehmung und Verurteilung gespielt hatte. Es schien bei solcher Sachlage ein unmögliches Unterfangen für den Arzt, Jane vor die Augen zu treten.

Aber schwierige Aufgaben reizten ihn. Er kannte seine eigene hypnotische Macht über Jane. Gelang es ihm, sich ihr zu nähern, seinen Einfluß wirken zu lassen, so mußte es ihm glücken, sie wieder ganz in seinen Bann zu zwingen, alle störenden Erinnerungen wegzusuggerieren. Nur der erste Angriff mußte geschickt ausgeführt werden. Die ersten dreißig Sekunden entschieden alles.

Ruhig und mit voller Nervenkraft an das Werk gehen, darauf kam es an. Er nahm einige der winzigen Pillen, die ihm eine genau auf die Minute dosierte Nervenentspannung verschafften, und streckte sich in den Sessel zurück. So saß er regungslos, bis das Schiff in Köln landete. Eine knappe halbe Stunde später schritt er durch die Straßen Düsseldorfs auf das Haus Termölen zu.

Sein Plan war einfach. Zu irgendeiner Stunde würde Jane doch einmal die Wohnung verlassen. Sie auf der Straße abpassen, das Fluidum wirken lassen, sie beeinflussen, sie in seinen Bann zwingen. Er war so einfach, daß er wohl gelingen mußte. Wenn nicht … es gab wohl ein »Wenn«, aber Dr. Glossin hatte es gar nicht in den Bereich der Möglichkeit gezogen.

Er schlenderte die Straße entlang, und der Zufall begünstigte ihn.

Jane trat aus dem Hause und ging in der Richtung nach dem Rattinger Tor hin. Dr. Glossin verschlang ihre Gestalt mit den Blicken. Sie hatte sich ein wenig verändert, seitdem er sie zuletzt sah. Die beängstigend ätherische Zartheit ihres Teints war einer gesünderen Farbe gewichen. Ihre Figur war voller und kräftiger geworden.

Sie ging die Straße entlang, blieb hier und dort vor einem Schaufenster stehen und musterte die Auslagen. Mit der Gewandtheit eines Jägers pirschte sich der Doktor an sie heran. Unbeachtet in ihre nächste Nähe kommen, den Einfluß wenige Sekunden wirken lassen, und das Spiel war gewonnen.

Während Jane die Schmuckstücke im Schaufenster eines Juweliers betrachtete, kam er dicht an sie heran, stand unmittelbar hinter ihr und ließ seine ganze Energie spielen.

Jane schien es zu merken. Unangenehm, wie eine fremde körperliche Berührung. Sie drehte sich um und sah ihm unbefangen in die Augen.

Dr. Glossin erschrak. Das war das Mädchen nicht mehr, das sich in Trenton und Reynolds-Farm willenlos seinem Blick unterwarf. Er gab das Spiel verloren, erwartete im nächsten Moment eine Flut von Vorwürfen zu hören, sann auf schnellen Rückzug.

Nichts dergleichen geschah.

Jane begrüßte ihn wie einen alten Bekannten. Sie lud ihn ein, mit in das Haus zu kommen, und geleitete ihn dort in das Besuchszimmer. Hier erkundigte sie sich nach allen Bekannten in Trenton.

Dr. Glossin beantwortete ihre Fragen ausführlich und versuchte, dieses eigentümliche Benehmen zu ergründen. Ganz vorsichtig ließ er den Namen Elkington fallen. Jane reagierte nicht darauf. Der Doktor wurde deutlicher. Er sprach von Elkington, wo er sie das letztemal gesehen habe. Jane blickte ihn verwundert an.

»Elkington? … Elkington? … Ich bin nie in Elkington gewesen. Soweit ich mich erinnere, haben wir uns das letztemal in Trenton beim Begräbnis meiner Mutter gesehen.«

»Aber meine liebe Miß Jane, können Sie sich auch nicht an Reynolds-Farm erinnern …«

Jane schüttelte verneinend das Haupt. Dabei lachte sie vergnügt; lachte den Doktor geradezu aus, bis er seine Neugier nicht mehr meistern konnte.

»Darf ich fragen, Miß Jane, welcher Umstand Ihre Heiterkeit erregt?«

»Gewiß, Herr Doktor, ich amüsiere mich darüber, daß Sie mich noch immer als Miß anreden. Ich glaubte, mein Mann hätte Ihnen meine Vermählung längst mitgeteilt …«

Dr. Glossin sah nicht sehr geistreich aus. Das Erstaunen war zu groß, die Neuigkeit war zu überraschend und kam zu plötzlich.

Jane sah es und brach in ein helles Gelächter aus.

»Sie wissen also nicht, daß ich verheiratet bin? Wissen natürlich auch nicht, wer mein Mann ist?«

»Keine Ahnung, Mrs. … Mrs. …«

»Mrs. Bursfeld, damit Sie meinen vollen Namen kennenlernen, Herr Doktor.«

»Ich konnte es mir fast denken.«

Dr. Glossin murmelte die Worte unhörbar vor sich hin. Mochte Jane immerhin geheiratet haben, so war sie heute doch schon wieder Witwe. Das sollte ihn nicht stören. Aber er mußte klar sehen, welche Veränderung mit ihr vorgegangen war.

Ihre Erinnerung war lückenhaft. Sie wußte nichts mehr von Reynolds-Farm, wußte vielleicht überhaupt nicht mehr, daß es jemals einen Menschen namens Logg Sar gegeben hatte, obwohl sie heute Mrs. Bursfeld war. Todesurteil, Verrat, alle die Dinge, bei denen Glossin eine so schlimme Rolle spielte, waren ihrem Gedächtnis entschwunden. Es war dem Doktor klar, daß hier eine suggestive Beeinflussung vorlag. Man hatte Jane diese aufregenden Vorfälle vergessen lassen, um ihr hier ein ruhiges Leben der Erholung und Kräftigung zu ermöglichen. Die guten Wirkungen der Maßnahme zeigten sich auch unverkennbar an ihrem Aussehen.

Aber noch etwas anderes mußte geschehen sein. Während Dr. Glossin mit Jane sprach, versuchte er die alten Künste. Ganze Ströme magnetischen Fluidums ließ er auf sie wirken, während er im Laufe des Gespräches ihre Hände ergriff. Mit aller Kraft suchte er sie wieder unter seinen Willen zu zwingen. Ein Weilchen ließ ihn Jane gewähren. Dann entzog sie ihm ihre Hände.

»Nun ist es genug, Herr Doktor. Sie sehen mich an … so … was … wollen Sie?«

Bei diesen Worten schaute sie ihm selbst so sicher und unbeeinflußt in die Augen, daß er seine Bemühungen aufgab.

Ein mächtiger Wille hatte Jane gegen alle hypnotischen Beeinflussungen von anderer Seite verriegelt. Wohl konnte er ruhig mit Jane sprechen. Aber alle Annäherung konnte ihm nichts nutzen. Sie war gegen seinen Einfluß gefeit. Eine Verriegelung, die Atma gelegt hatte … Dr. Glossin zweifelte, ob es ihm je gelingen könnte, sie wieder aufzuheben. Ein einziges Mittel blieb, eine schwere seelische Erschütterung. Wenn sie stark genug war, wenn sie die Seele mit voller Macht traf, dann konnte sie den Riegel vielleicht zerbrechen.

Dr. Glossin lehnte sich in seinen Stuhl zurück und holte aus seiner Brusttasche ein zusammengefaltetes Zeitungsblatt hervor.

»Ich bitte Sie um Verzeihung, Mrs. Bursfeld, wenn meine Blicke länger als üblich an den Ihren hingen, meine Hände länger als gewöhnlich in den Ihren ruhten. Die überraschende Mitteilung Ihrer Vermählung bringt mich in eine eigenartige Lage, macht eine Nachricht, die sonst nur bedauerlich gewesen wäre, zu einer Trauerbotschaft.«

Jane blickte ihn mit weitgeöffneten Augen an. Überraschung und Bestürzung malten sich auf ihren Zügen.

»Eine schlimme Nachricht aus Linnais.«

Dr. Glossin sagte es, während er Jane das Haparanda Dagblad mit der Nachricht vom Untergange des alten Hauses Truwor hinhielt.

Jane warf einen Blick darauf.

»Herr Doktor, ich verstehe kein Schwedisch. Sie müssen mir das übersetzen.«

Dr. Glossin nahm das Blatt wieder an sich und begann Wort für Wort zu übersetzen. Die Nachricht vom Brande, von den Explosionen. Vom Untergange des ganzen alten Hauses in einer einzigen wabernden Lohe. Vom sicheren Tode aller Insassen.

Während er Zeile für Zeile übersetzte, wurde Jane von Sekunde zu Sekunde blasser. Bei den letzten Worten sank sie mit einem leisen Schrei ohnmächtig von ihrem Stuhl auf den Teppich.

»Jetzt oder nie … vielleicht ist der Riegel gebrochen.«

Dr. Glossin beugte sich über die ohnmächtig Daliegende. Er strich ihr über die Stirn. Alles magnetische Fluidum, über das er verfügte, versuchte er in ihren Körper zu jagen. Sie wieder ganz unter seinen Willen und Einfluß zu zwingen.

Er befahl ihr, sich zu erheben, und Jane führte den Befehl aus. Mit halbgeschlossenen Augen stand sie vor ihm.

Auf einen Dritten hätte die Szene einen wunderbaren Eindruck gemacht … Kein Wort wurde gesprochen. Lautlos erteilte Dr. Glossin seine Befehle. Lautlos vollzog sie Jane, solange sie sie noch vollzog.

Eine Richtung der Pupillen von Jane gefiel dem Doktor nicht. »Sehen Sie mich an. Sehen Sie mir genau in die Augen«, befahl er.

Jane leistete dem Befehl keine Folge. Erst wanderte ihr Blick. Dann drehte sich ihr Haupt und dann der ganze Körper. Sie wandte dem Doktor halb den Rücken zu. Wäre Dr. Glossin über die Himmelsrichtungen in dem Zimmer orientiert gewesen, hätte er bemerkt, daß Jane genau nach Norden blickte.

So stand sie. Minuten hindurch. Dr. Glossin bot seine ganze Kraft auf und hatte keinen Erfolg.

Wenn der Riegel jemals gebrochen war, so war er in diesen Sekunden wieder zusammengeschweißt.

Jetzt wandte sich Jane ruhig dem Doktor wieder zu. Sie zeigte eine heitere Miene. Jede Angst und Unruhe waren wie weggewischt. Sie nahm die Unterhaltung da wieder auf, wo sie vor langen Minuten gestockt hatte.

»Dieser Zeitungsbericht ist doch längst überholt. Ein bedauerlicher Zwischenfall. Ein Brand, der im Laboratorium von Erik Truwor ausbrach. Ich hörte davon. Es ist schade. Es hält die Arbeiten wieder auf. Ich werde meinen Mann ein paar Tage länger entbehren müssen. Aber Sie können beruhigt sein. Er ist unversehrt und arbeitet mit allen Kräften an seiner Erfindung weiter …«

Dr. Glossin hatte das Empfinden, als ob alles um ihn niederbräche. Eben noch seines Sieges gewiß. Im Bewußtsein, drei Gegner vernichtet zu haben. Im Begriff, Jane wieder unter seinen Einfluß zu zwingen.

Und nun? Die junge Frau stand sicher und selbstbewußt vor ihm. Sie lachte über die Mitteilungen, die sie niederschlagen sollten.

»Herr Doktor, Ihre Nachrichten sind überholt. Ich habe neuere, bessere.«

Mit dieser im Konversationston vorgebrachten Bemerkung schlug sie alle seine Angriffe zurück, vereitelte sie seine Anstrengungen, setzte sie ihn der Gefahr aus, sich lächerlich zu machen, wenn er seinen Besuch noch weiter ausdehnte.

Dr. Glossin empfahl sich. Äußerlich höflich, innerlich zerrissen und wütend.

»Wenn nicht die eine, so die andere! Wir wollen sehen, wie Lady Diana die Nachricht aufnimmt.«

Mit diesem Vorsatz verließ er das Haus.

Das war die Stellung der beiden Flotten. Vor der Broken-Bai auf der Reede von Port Jackson lagen die sechs großen australischen Schlachtschiffe. Die »Tasmania«, »Viktoria«, »Kaledonia« usw. Mit den leichteren Streitkräften insgesamt fünfzehn Fahrzeuge. Etwa sechzehn Kilometer nördlich nach Rielmond hin ankerte das englische Geschwader. Es hatte alles in allem rund die doppelte Schiffszahl der australischen Flotte und auch die doppelte Kampfstärke.

Nur Kommodore Blain und die Herren von der Admiralität in London wußten, warum ein englisches Geschwader von solcher Stärke plötzlich in der Nähe von Sydney auftauchte. Vielleicht geschah es, um den Vorstellungen des englischen Sondergesandten MacNeill ein besonderes Gewicht zu verleihen. Vielleicht war es auch wirklich nur ein Zufall.

Mochte dem sein, wie ihm wolle. Die Besatzungen der australischen Schiffe vom Admiral Morison bis hinab zu den letzten Midshipmen waren über die Anwesenheit nicht erbaut. Für den Admiral Morison waren zwar die strikten Anweisungen seiner Regierung bindend, die ihm einen nicht nur höflichen, sondern sogar herzlichen Verkehr mit der englischen Flotte zur Pflicht machten. Aber Admiral Morison war einer gegen dreißigtausend Mann der Flottenbesatzung.

Mittags um zwölf wurde der Beschluß des australischen Parlaments auf der Flotte bekannt. Es war Essenszeit. Wer nur irgendwie dienstfrei war, saß beim Mittagmahl. Die Mannschaften in den großen luftigen Zwischendecks, Offiziere und Ingenieure in ihren Messen. Die Gebräuche der Marine und der anglosächsischen Marine ganz besonders sind ehrwürdig und wenig veränderlich. Es gab Speck mit dicken Erbsen, wie ihn die Seeleute Nelsons schon bei Aboukir und Trafalgar bekommen hatten und wie ihn aller Voraussicht nach auch noch die Enkel und Urenkel der hier Schmausenden erhalten würden. Nur so weit hatte sich der soziale Gedanke auch in der australischen Flotte durchgesetzt, daß die Offiziere das gleiche erhielten wie die Mannschaften, also in diesem Falle ebenfalls Speck mit dicken Erbsen.

So saßen sie und speisten. Die Mannschaften zu Hunderten. Die Offiziere zu Dutzenden. Nur der Kapitän allein. Eben jenem alten Brauche folgend, der im Kapitän eines Schiffes einen Halbgott erblickt, den kein anderer Sterblicher essen sehen darf.

Also saß Kapitän George Shufflebotham, der Kommandant der »Tasmania«, allein in seiner Kabine und verzehrte das kräftige, aber Durst erregende Mahl. Es lag in seinen persönlichen Gewohnheiten begründet, daß er dabei den Whisky nur wenig mit Soda verdünnte. Gerade als er das letzte Stück Speck mit einem guten Schluck Whisky vom Stapel ließ, kam der Läufer in seine Kabine und legte ihm die Funkendepesche auf den Tisch.

Kapitän Shufflebotham kaute und las. Schluckte und schlug mit der Faust auf den Tisch.

Mit der Depesche in der Hand verließ er seine Kabine und ging in das Mannschaftsdeck, wo die Leute gerade mit den Resten der Mahlzeit beschäftigt waren. Winkte den ersten besten heran.

»Kannst du lesen, mein Junge?«

»Ich denke ja, Herr Kapitän.«

»Dann lies mal! Lies das Ding so laut vor, daß alle es hören können!«

Mit einem Blick hatte Jimmy Brown den Inhalt der Depesche überflogen und begriffen. Stellte sich in Positur und brüllte mit Riesenstimme: »Achtung! … Ruhe! … Verlesung auf Befehl des Herrn Kapitäns …!«

Als Jimmy Brown geendet hatte, durchbrauste ein ungeheurer Jubel das Zwischendeck. Kapitän Shufflebotham beobachtete mit triumphierender Miene die Wirkung der Verlesung. Dann winkte er Jimmy Brown beiseite, nahm die Depesche zurück und sprach angelegentlich mit ihm.

Jimmy Brown hörte zu. Erst ruhig. Dann mit weit aufgerissenen Augen, als verstünde er nicht, was der Kapitän sage und wolle. Dann mit beginnendem Verständnis und schließlich mit kaum verhehltem Vergnügen. Der Kapitän ging in seine Kabine zurück. Jimmy Brown ließ Erbsen Erbsen sein und machte sich auf dem Deck zu schaffen. Auf Deck, und zwar an der Flaggenleine. Ganz langsam stieg der Union Jack, der im Topp des Gefechtsmastes flatterte, herunter. Kurze Zeit hatte Jimmy Brown danach an einer Stelle der Flaggenleine zu tun. Er bastelte, knotete und knüpfte, während ein paar Kumpane ihn nach allen Seiten deckten.

Dann kam die Flaggenleine wieder in Bewegung. Sie stieg. Aber sie nahm eine eigenartige und von keiner seefahrenden Nation anerkannte Flagge mit empor. Es war ein großer Scheuerlappen, der dort majestätisch in die Höhe ging, und in einem Drittel der Mastlänge folgte ihm der Union Jack. Als die Leine zur Ruhe kam und von Jimmy Brown festgeknotet wurde, flatterte der Lappen munter im Topp, und tief unter ihm, beinahe Halbmast, stand die Flagge Großbritanniens.

Es war Unfug … Grober Unfug … Wenn die Mannschaften einmal mit der Beköstigung oder sonstwie unzufrieden waren, hatten sie solchen Lappen an die Flaggenleine geknotet. Die Götter mögen wissen, wie dem Kapitän Shufflebotham in der Whiskylaune der Gedanke kam, diese alte Geschichte wieder aufzuwärmen und zu einer offenkundigen Verhöhnung der britischen Flagge zu benutzen. Es genügt, daß es geschah und auf den anderen Schiffen Nachahmung fand. Auch auf der »Viktoria«, der »Alexandra«, der »Kaledonia« und allen anderen hatte man die Depesche des Parlamentsbeschlusses erhalten und war tatenlustig. Vergebens warfen sich die Offiziere ins Mittel und verboten das Manöver. Es grenzte so ziemlich an Meuterei. Überall wurden die Vorgesetzten zurückgedrängt, und auf allen Schiffen der australischen Flotte flatterte nach wenigen Minuten ein übler Lappen über dem Union Jack.

Vergeblich sandte Admiral Morison von seinem Flaggschiff, der »Melbourne«, eine dringende Depesche nach der anderen und drohte, die Schiffskommandanten vor ein Kriegsgericht zu bringen. Sie beteuerten die Unmöglichkeit, diese sonderbaren Flaggen gegen den Willen der gesamten Mannschaften niederzuholen. Bis auf den Kapitän Shufflebotham. Der antwortete überhaupt nicht. Er lag auf dem Sofa seiner Kabine und schlief den Schlaf des Gerechten.

Aber die eigenartige Flaggenparade war von mehr als einer Stelle gesehen worden. Auch Kommodore Blain, der Chef des englischen Geschwaders, hatte sie bemerkt. Bei der Entfernung von sechzehn Kilometer konnte er auch mit einem guten Glase nur erkennen, daß eine einfarbige dunkle Flagge über dem Union Jack saß. Darum schickte er einen Flieger aus, der sich das Ding in der Nähe besehen sollte. War entrüstet, als er hörte, daß die ältesten und zerrissensten Schauerlappen in den Toppen der australischen Flotte über der geheiligten Flagge Englands wehten. Dann griff er zum Telephon und rief den Admiral Morison selber an.

Die Unterredung war auf englischer Seite von bemerkenswerter Kürze, aber inhaltvoll. Admiral Morison betonte, daß seine Flotte sich im Zustande halber Meuterei befände, daß sein eigenes Schiff den Unsinn nicht mitmache, daß er bemüht bleibe, wieder ordnungsmäßige Zustände herzustellen. Die Antwort des Admirals Blain war kurz und schroff.

»Es ist drei Viertel eins. Wenn die Lappen noch um eins hängen, schieße ich.«

Die telephonische Verbindung brach ab. Admiral Morison rief den Kapitän und die Offiziere seines Flaggschiffes. Es war in zwölf Minuten eins, als sie bei ihm eintraten. Von ihnen hörte er, daß das englische Geschwader die Anker aufgenommen habe und nordwärts über die Kimme dampfe. In fliegender Hast benachrichtigte er sie von der Unterredung mit dem Engländer. Zehn Minuten vor eins hatten sie die Lage begriffen. Natürlich … die englische Flotte segelte auf Gefechtsentfernung von dreißig Kilometer irgendwohin, wo sie im Falle eines Kampfes die australischen Flieger erst ausfindig machen mußten, während Admiral Blain wußte, wo er den Gegner zu suchen und zu treffen hatte.

Neun Minuten vor eins … acht Minuten vor eins.

Die Schiffe noch jetzt zum Streichen dieses verdammten Schauerlappens zu bringen? … Ganz unmöglich. Seit fast einer Stunde versuchte man es ja vergeblich. Dann wenigstens nicht wehrlos zugrunde gehen. Sich nicht hier vor Anker in Grund schießen lassen. Es war sechs Minuten vor eins, als vom Admiralschiff an alle Einheiten der Flotte der Befehl kam, schnellstens Anker aufzunehmen und gefechtsklar zu machen.

Niemals wurde ein Befehl in der australischen Marine schneller befolgt. So schwerhörig sie früher auf den einzelnen Schiffen gewesen waren, so hellhörig wurden sie jetzt. Man hatte das Verschwinden der englischen Flotte beobachtet und machte sich seinen Vers darauf.

Vier Minuten vor eins waren alle Anker gelichtet. Drei Minuten vor eins lief die australische Flotte, die einzelnen Geschwader in Kiellinie, mit voller Maschinenkraft seewärts Kurs Süd zu Südost.

Admiral Morison sah auf die Uhr. Eine Minute vor eins. Er trat in den Kommandoturm. Immer noch die schwache Hoffnung im Herzen, daß der Engländer seine Drohung nicht wahrmachen würde. Daß es ihm selber gelingen würde, die Flotte unter den Kanonen der Botany-Bai in Sicherheit zu bringen. Der Kampf mit der doppelt so starken englischen Flotte war zu aussichtslos, als daß er ihn irgendwie wünschen konnte. Der Kapitän der »Melbourne« war hinsichtlich der Engländer anderer Meinung.

Schon schwirrten englische Flieger über der Kimmung. Und dann kamen die ersten englischen Geschosse. Zunächst keine Treffer. Aber jeder Schuß gab Veranlassung zu Korrekturen, und immer näher bei den Schiffen schlugen die schweren Geschosse in die See, dort wüste und wütende Wasserberge emporreißend.

Die Aussichten, ein schnell und im Zickzackkurs fahrendes Schiff auf dreißig bis vierzig Kilometer Entfernung direkt zu treffen, waren natürlich minimal. Dafür aber hatte die Technik dieser Tage Geschosse geschaffen, welche das alte Prinzip der bereits im Weltkriege benutzten Wasserbomben weiter ausbauten. Sie explodierten erst vierzig Meter unter Wasser, warfen dann aber eine Woge auf, welche jeden in fünfhundert Meter Nähe befindlichen Panzer zum Kentern bringen mußte. Die Kriegstechnik hatte, wie immer, auf den verbesserten Angriff einen verbesserten Schutz folgen lassen. Die Kriegsschiffe waren mit stabilisierenden Kreiseln ausgerüstet, die den kippenden Wogen Widerstand zu leisten vermochten. Bis zu einem gewissen Grade wenigstens.

Aber nun folgten die englischen Salven in dichter Folge. Admiral Morison zog seine Schiffe weit auseinander, um aus dem schlimmsten Strudelwasser herauszukommen. Auch die Australier feuerten, was die Rohre hergeben wollten, und ihre Flieger meldeten die Einschläge, verbesserten die Richtungen.

Aber es stand schlimm um die Schiffe Morisons. Schon trieb die Kaledonia gekentert kieloben. Jetzt faßte ein Zufallstreffer die Alexandra und verwandelte sie in der nächsten Sekunde in eine graue Wolke kleiner Stahlbrocken und gelblich schwelenden Rauches. Wohl hatten auch die australischen Kanoniere einige Fahrzeuge des Gegners gekippt, und einem Torpedoflieger war es gelungen, einen Lufttorpedo aus zweitausend Meter auf das Deck des Alcestes zu setzen und ihn in Trümmer zu zerreißen. Aber es war klar, daß die australische Flotte nur noch für die Ehre der Flagge focht … welcher Flagge denn?

Ein bitteres Lächeln umspielte die Züge des Admirals Morison, als er den Gedanken dachte. Für die Laune, hier einen Scheuerlappen zu hissen, schlug sich seine Flotte auf Leben und Tod mit dem weit überlegenen Gegner. Um dieser Laune willen mußte er in schreiendem Gegensatz zu den Befehlen seiner Regierung mit einer Flotte kämpfen, mit der ihm die Pflege freundschaftlicher Beziehungen befohlen war. Es war bitter für einen Mann, dessen Leben bisher strenge Pflichterfüllung gewesen war. Aber Admiral Morison stand unter dem Zwange der Verhältnisse und beschloß, auszuharren bis zum Ende.

Eine Meldung eines seiner Flieger ließ ihn aufmerken.

»Englischer Panzer Alkyon gekentert. Ohne Schuß von uns.«

Schon kam eine zweite Meldung von einem anderen Flugschiff:

»Amphitrite geht auf Grund. Ohne Schußeinwirkung von uns.«

Die dritte Meldung folgte unmittelbar:

»Niobe sinkt. Es scheinen U-Boote zu wirken«.

Die folgenden Sekunden brachten noch ein halbes Dutzend gleichartiger Meldungen. Bis Admiral Blain den ungleichen Kampf aufgab und mit dem Reste seiner Schiffe nach Nordosten entfloh.

Admiral Morison sammelte den Rest seines Geschwaders und setzte den Kurs auf den bisherigen Standort der englischen Flotte. Nach beendetem Kampf war es Seemannspflicht, Überlebende zu retten.

Auf halbem Wege, auf der Höhe von Sydney, kamen ihm U-Boote entgegen. Hundert U-Boote. In Kiellinie zogen sie in Überwasserfahrt daher. Große, schwer gepanzerte Kreuzer von einer Art, wie sie Australien nicht besaß. Sie fuhren schnell und waren im Augenblick heran.

Es konnten Feinde sein. Aber keinem Menschen in der australischen Flotte kam dieser Gedanke. Sie alle, von dem Schiffskommandanten bis zu den einfachen Kanonieren, erblickten in diesen Booten die Erretter vom sicheren Untergang und begrüßten sie mit brausendem Cheer. Da ging am Heck des ersten Bootes ein rötlicher Ball empor, breitete sich im Winde aus und zeigte das Sternenbanner der amerikanischen Union. Amerikanische U-Boote hatten unter der Führung des Admirals Willcox eingegriffen. Unbekannt mit den letzten Entschließungen von Cyrus Stonard, sah Willcox die australische Flotte im Kampfe mit der englischen Übermacht. Mochten die Politiker treiben, was sie wollten. Der Seebär Willcox wußte nur, daß Australien nächstens amerikanisch werden würde. Das hatte ihm genügt.

Die australische Flotte lief in den Hafen von Sydney. Die amerikanische U-Boot-Flotte folgte nach einer plötzlichen Entschließung des Admirals Willcox. Der meinte, daß es Zeit sei, das warme Eisen zu schmieden, und kümmerte sich den Teufel um diplomatische Gebräuche und Abmachungen.

Die Kunde von dem Gefecht und dem Eingreifen der amerikanischen Hilfe war den Flotten drahtlos vorausgeeilt. Eine bange Stunde hindurch hatten in Sydney die Häuser unter dem schweren Feuer der kämpfenden Flotten gebebt. Dann kam die Erlösung. Hilfe und Sieg durch die Amerikaner. Da schlug die bange Stimmung in das Gegenteil um. Die Amerikaner, die jetzt im Hafen lagen, die in einzelnen Trupps an Land kamen, wurden mit hellem Jubel begrüßt. Niemand in ganz Sydney dachte mehr an die Tagesarbeit. Von dichten Scharen waren die Straßen schwarz, während die Häuserfassaden im Flaggenschmuck verschwanden.

Einer der wenigen, die nicht an diesem allgemeinen Jubel teilnahmen, war der australische Premier Mr. Applebee. Der Staatsmann dachte an die Zukunft und fuhr bei MacNeills, dem englischen Gesandten, vor. Nicht ohne sich einen bestimmten Plan zurechtgemacht zu haben.

Der Engländer empfing ihn hochmütig und kalt. Das Erstaunen zu deutlich zur Schau tragend, als daß es für ganz natürlich gehalten werden konnte.

»Was wünschen Sie, Herr Ministerpräsident? Ich glaube kaum, daß wir uns nach dieser Affäre noch etwas zu sagen haben.«

Mr. Applebee war auf den Empfang gefaßt.

»Gestatten Sie, daß ich anderer Meinung über die Vorfälle bin. Es war der englische Admiral, der die Feindseligkeiten eröffnete und den ersten Schuß auf unsere Flotte tat. Auf unsere kleine Flotte, die sich in diesem unglücklichen Augenblick in offensichtlicher Meuterei befand. Sie dürfen überzeugt sein, daß ich diesen Flaggenunfug genau so verurteile wie unser Admiral Morison. Der ganze Unsinn geht von einem als Trinker bekannten Kapitän aus, der heute noch seines Amtes enthoben werden soll. Doch dieser Umstand rechtfertigt das schroffe Vorgehen Ihres Admirals nicht. Was ist dabei herausgekommen? Gerade das, vor dem ich heute vormittag warnen zu müssen glaubte. Ein Eingreifen Amerikas an unserer Seite.

Aber trotz aller dieser Vorfälle … höchst bedauerlichen Vorfälle, die uns und Ihnen Menschenleben und gute Schiffe gekostet haben, hoffe ich immer noch, daß sich die Affäre in friedlicher Weise beilegen lassen wird. Ich habe nach Ihrem letzten Besuch auf Mittel und Wege gesonnen, dem Parlamentsbeschluß die Spitze abzubrechen. Ich hoffe, solche gefunden zu haben, und wäre untröstlich, wenn die Verständigung jetzt scheitern sollte.«

MacNeills horchte auf. Eine Möglichkeit, den Parlamentsbeschluß zu inhibieren? Das gab der Sache eine neue Wendung. Er erwiderte, er wolle umgehend drahtlos Instruktionen seiner Regierung einholen.

Mr. Applebee war noch keine Stunde von diesem Besuch zurückgekehrt, als er den Gegenbesuch MacNeills empfing. Die englische Regierung bestehe auf restlose Aufklärung der Vorfälle. Danach würde sie ihre weiteren Schritte einrichten.

Mr. Applebee atmete auf. Das hieß, aus dem Diplomatischen in die tägliche Gebrauchssprache übersetzt, daß auch England die Sache nicht über das Knie brechen wolle. Restlose Aufklärung … das waren wenigstens vierzehn Tage. Mehr hatte Cyrus Stonard nicht verlangt. Er schüttelte dem Engländer beim Abschied mit ostentativer Herzlichkeit die Hand.

Mr. MacNeills fuhr im Kraftwagen nach seinem Hotel zurück. Am Prinz-Alfred-Park geriet das Auto in den Strom der singenden, johlenden, flaggenschwingenden Menge. Das Gedränge zwang den Chauffeur, langsam zu fahren. Ein australischer Matrose, ein Sternenbanner in der Rechten schwingend, sprang auf das Trittbrett. Ließ die Flagge wehen.

»Hallo, Boys, drei Hurras für Uncle Sam!«

Vieltausendstimmig wurde der Ruf von der Menge aufgenommen und rollte wie ein Donnerwetter die breite Straße entlang. Da fühlte MacNeills, daß Australien für England unwiederbringlich verloren sei. Der Führer hatte sich durch den Menschenstrom gewunden, die ruhige Seitenstraße erreicht.

»Fahr zu, Chauffeur!«

Kurz und scharf rief es der Engländer und warf sich in das Kissen zurück.

Die gespannte politische Lage nötigte auch den Vierten Lord der Admiralität, seinen Landaufenthalt für unbestimmte Zeit zu unterbrechen. Lord Horace Maitland war mit Familie und Dienerschaft in sein Stadthaus übergesiedelt, ein einfaches, aber geräumiges Palais aus der Zeit des dritten Georg. Kaum zehn Minuten von der Admiralität entfernt.

Eine kleine Gesellschaft der nächsten Bekannten saß dort um den Teetisch versammelt. Lord Horace kam aus einer Sitzung. In diesem Kreise durfte er sich ziemlich frei äußern.

»Die Ansichten im Kabinett waren geteilt. Einige meiner Kollegen hoffen immer noch, daß sich ein Krieg … der Krieg, der um Englands Schicksal geht … vermeiden läßt. Die Entscheidung liegt beim Parlament, das morgen zusammentritt.«

»Eine bange Nacht für alle, die mit ihrem Blute für das Vaterland eintreten müssen.«

Einer der Gäste hatte es gesagt.

»Noch eine lange, bange Nacht!«

Lady Diana flüsterte es mit bewegter Stimme. Sie blickte geistesabwesend vor sich hin und rührte mit dem kleinen Silberlöffel mechanisch in der Teetasse.

Lord Horace betrachtete sie mit forschendem Blick. Seit Tagen fiel ihm eine Veränderung an ihr auf, für die er keine Erklärung fand. Was konnte die ruhige, gefestigte Natur seiner Frau so außer Fassung bringen? Der drohende Krieg? … Wenig wahrscheinlich! Was sonst?

Lady Diana atmete, wie von einer Last befreit, als die Gäste sich empfahlen. Lord Horace sah, wie gezwungen das Lächeln war, mit dem sie sie verabschiedete.

Vergeblich wartete er auf ihre Rückkehr.

»Die Lady hat sich in ihre Räume zurückgezogen.«

Der Bescheid wurde ihm auf seine Frage. So war es ihm unmöglich, dem Grunde dieser Veränderung näherzukommen. Es hieß wohl zu warten, bis seine Gattin freiwillig sprechen würde.

Er war in Sorge. Seine Heirat war eine Liebesheirat im besten und edelsten Sinne. Die Erhöhung des Gatten, die unerwartete Erbschaft des Lordtitels hatte das innige zarte Verhältnis der Gatten nicht geändert. Die Liebe, die in der Hütte blüht, stirbt leicht im Palast. Hier war das nicht der Fall. Doch seit einigen Tagen fühlte Lord Horace, daß etwas Fremdes zwischen ihm und seiner Gattin stand.

Lady Diana schritt rastlos in ihrem Zimmer hin und her, mit fieberisch geröteten Wangen. Die Lippen wie durstig geöffnet.

Die Stutzuhr schlug die sechste Stunde.

Diana Maitland hielt in ihrem Gang inne und starrte auf das Zifferblatt.

»Schon wieder ein Tag vergangen … ohne Nachricht … Noch eine Nacht wie die vergangene ertrage ich nicht … Warum das alles? … Um eines Mannes willen, dessen Namen ich längst aus meinem Leben gestrichen zu haben glaubte. Ah …«

Sie warf sich auf den Diwan. Die eine Hand schob ungeduldig die Kissen zurecht, die andere strich das Haar von der Schläfe. Ihre Augen waren geschlossen, aber es zuckte zuweilen in den langen Wimpern.

Eine Welt lag zwischen diesem unruhig sinnenden, gegen Tränen kämpfenden Weib und jener heiteren, strahlenden Schönheit, die noch vor wenigen Tagen den Mittelpunkt der glänzenden Gästeschar in Maitland Castle bildete.

Ihre Lippen formten Worte.

»Warum lasse ich mich in wachendem Zustand von diesen Träumen quälen? Ist es nicht genug an den unruhigen Nächten? … Warum diese Angst? … Was habe ich getan, was ich nicht vor mir selbst, vor aller Welt verantworten könnte?

Ich bin nur feig … oder vielleicht krank … und könnte doch gerade so glücklich sein, wie mich die Welt schätzt.«

Lady Diana richtete sich heftig auf.

»Horace beobachtet mich … meine Aufregung ist ihm nicht entgangen … ich bin ihm kein Geständnis schuldig! Nein, nein! Soll ich ein zweites Mal für eine Sünde büßen, die keine war?«

Erschöpft warf sie sich auf den Diwan zurück und schlug die großen dunklen Augen zur Zimmerdecke auf. Wie unter einem Zwange sprach sie weiter:

»Der eine liegt auf dem Père Lachaise. Der andere in Linnais …?«

Ein Pochen an der Tür. Auf silbernem Tablett brachte die Zofe einen Brief. Ein großes graues Kuvert. Deutsche Briefmarken. Die Schrift der Adresse schien ihr wohl bekannt, und doch konnte sie den Schreiber nicht erraten.

»Legen Sie den Brief auf den Tisch. Ich werde ihn später lesen.«

Sie sagte es mit gleichgültiger Stimme. Kaum hatte die Zofe den Raum verlassen, als sie aufsprang und den Umschlag mit zitternden Fingern zerriß. Ein einfaches Zeitungsblatt bildete den Inhalt. Eine schwedische Zeitung. Ihre Sprachkenntnisse reichten hin, den Inhalt halb zu entziffern, halb zu erraten. An einer Stelle ein roter Strich. Eine fettgedruckte Stichmarke … Linnais …

Sie ging zum Diwan zurück, zwang sich gewaltsam, die wenigen Zeilen Wort für Wort zu lesen:

»Linnais, den 20. Juli. Eine Katastrophe, die noch der Aufklärung bedarf, hat gestern das in unserer Nähe liegende Gehöft der Truwors betroffen. Um Mitternacht flog das Herrenhaus unter schweren Explosionen in die Luft. Es wurde von dem erst kürzlich aus dem Auslande zurückgekehrten Besitzer bewohnt, der zwei Freunde als Gäste bei sich hatte. Mit Sicherheit ist anzunehmen, daß alle Insassen den Tod gefunden haben. Über die Ursache der Katastrophe gehen Gerüchte, die wir ihrer Unkontrollierbarkeit wegen vorläufig nicht wiedergeben wollen.«

Mit einem leisen Aufschrei sank Diana Maitland auf den Diwan zurück. Wie im Traume sah sie, wie sich die Tür öffnete, Lord Horace in das Zimmer trat, die Tür hinter ihm ins Schloß fiel. Es war ihr unmöglich, sich zu erheben. Es gelang ihr nur, sich etwas aufzurichten.

»Du hast eine unangenehme Nachricht erhalten?«

»Eine unangenehme Nachricht … wie kommst du auf die Frage?«

Lord Horace deutete auf das am Boden liegende Zeitungsblatt.

»Wer sandte dir diese Zeitung?«

Die Antwort kam nicht gleich. Endlich kam sie … zögernd und unfrei:

»Dr. Glossin.«

»Von Dr. Glossin?!«

Lord Horace trat einen Schritt zurück.

»Von Dr. Glossin? … Gib mir, bitte, eine Erklärung. Du bist sie mir schuldig. Was steht in dem Blatt, daß dich in eine solche Erregung versetzt?«

Lady Diana zögerte, stockte. Erst nach geraumer Weile hatte sie ihre Stimme in der Gewalt.

»Du darfst mir nicht zürnen, Horace. Es überkam mich plötzlich … gewiß eine Folge der letzten kritischen Tage. Sie haben Ansprüche auf meine Nerven gemacht, denen ich nicht gewachsen war … Die Zeitung von Dr. Glossin … oh, gewiß! Es wird dich interessieren, welchen Erfolg die Expedition nach Linnais gehabt hat. Dr. Glossin … ah, gewiß! Es wird dich interessieren, welche Nachrichten er überbringt.«

»Warum schickte er die Zeitung an deine Adresse?«

»Ich glaube … ich glaube … nun sehr einfach, ihr Männer seid doch jetzt Feinde.«

Diana Maitland versuchte zu scherzen.

»Sein patriotisches Gewissen erlaubt ihm keinen Verkehr mehr mit dir … Ich werde dir diese Zeilen übersetzen.« Sie las ihm den Inhalt der Notiz vor.

»Ah, sehr gut … Der Plan ist also gelungen. Unbegreiflich, daß noch keine Meldung von Oberst Trotter vorliegt … Doch du? … Du freust dich nicht? Und nahmst doch zuerst so starken Anteil an dem Plan.«

Diana war zurückgesunken. Sie drückte das feine Spitzentuch gegen die Stirn. Ihre Brust bewegte sich heftig.

»Diana, was ist dir?«

»Nichts! Habe Geduld mit mir, Horace. Es wird vorübergehen. Überlasse mich heute mir selbst, ich bitte dich!«

»Schenke mir Vertrauen, Diana. Befreie dich von der Last. Sage mir, was dich quält.«

Lord Maitland näherte sich ihr und legte den Arm beruhigend um ihren Nacken.

Diana zuckte leise zusammen. Ihr Körper erzitterte.

»Lasse mich! Lasse mich! Ich bin nicht die, die …«

Klage und Herausforderung schienen zu gleicher Zeit im Klange dieser Worte zu liegen. Lord Horace zog seine Hände von ihren Schultern zurück. Betroffen sah er das jagende Wechselspiel von Licht und Schatten auf ihren Zügen. Er wagte nicht zu sprechen, wagte nicht diese Qual, in der ihre Seele sich wand, zu unterbrechen. Endlich nach langem Schweigen schien ihr der Entschluß zu reifen. Ein harter Zug legte sich um ihren Mund.

»Ich will nicht länger schweigen. Nur die Wahrheit kann mir helfen.«

Sie sprach ohne Schwäche.

»Hör mich an als mein Gatte, mein Freund … als mein Richter.« Sie wendete sich ihm zu und blickte ihn mit freien Augen an.

»Du weißt, Horace, daß meine Eltern Polen waren. Unser Nachbar war der Fürst Meszinski. Er hatte einen einzigen Sohn Raoul. Raoul war drei Jahre älter als ich. Schon als halbe Kinder galten wir als Verlobte. Die Familien wollten es so haben. Mein Vater war reich. Raoul entstammte einem alten Geschlecht und trug den Fürstentitel. Es paßte so schön zusammen, alter Adel und Reichtum. Im Grunde genommen, ein Handel, den beide Familien ausgeklügelt hatten. Ich wußte nichts davon. Raoul auch nicht. Wir hatten einander lieb, wie sich Kinder liebhaben. Wir wußten beide nichts vom Leben und von der Liebe.

Raoul wurde Offizier und lernte das Leben kennen. Während mein Herz sich gleichgeblieben war, wurden seine Empfindungen leidenschaftlicher. Noch ein Jahr, und unsere Ehe sollte geschlossen werden … Da kam der Krieg gegen die Russen und die Deutschen. Die vierte Teilung Polens war ihr Ziel. Du weißt, daß nach einem kurzen heldenmütigen Verzweiflungskampf Polen der Übermacht erlag. Als Raoul auszog, waren alle Vorbereitungen für eine schnelle Eheschließung getroffen. Wir schickten uns an, zur Trauung zu gehen, als eine starke russische Kavalleriepatrouille in den Gutshof einbrach. Die Hochzeitsgesellschaft stob auseinander. Raoul schoß den feindlichen Führer vom Pferde und entfloh.

Zur Strafe wurde unsere Besitzung verbrannt. Mein alter Vater mißhandelt, so daß er bald darauf starb. Meine Mutter floh nach Finnland, ihrer Heimat. Ich weigerte mich, ihr zu folgen, und ging als Krankenschwester zur Armee.

Als eines Tages ein neuer Transport Verwundeter in unser Lazarett eingeliefert wurde, sah ich darunter Raoul, den ich schon tot geglaubt. Er hatte eine schwere Brustwunde. Raoul selbst wußte genau, wie es um ihn stand. Nur das Bewußtsein, mich um ihn zu wissen, hielt das schwache Lebensfünkchen noch in Glut.«

Lady Diana Maitland fuhr fort: »Jetzt erkannte ich ganz, wieviel tiefer seine Liebe war als die meine. Ich hatte ihn geliebt, wie ich jeden zu lieben geglaubt hätte, den mir meine Eltern zur Heirat bestimmten.

Aber ebenso, wie meine Gegenwart seine letzten Tage leicht machte, machte sie ihm das Scheiden schwer.

Ich sah, wie er in Sehnsucht und Liebe sich nach mir verzehrte. Sein unaufhörliches Flehen drang in mich. Meine Liebe werde ihn retten; mein volles Liebesumfangen werde ihn gesunden lassen. Worte süßen Rausches drangen in mein Herz. Noch wehrte ich mich, da sah ich ihn erbleichen, als ob sein Blut zur Erde niederströme. Ich schrie auf, ich glaubte, ihn auf der Stelle sterben zu sehen. Er sah mich mit einem Blick an, in dem sich sein ganzes Empfinden widerspiegelte. Liebe, Enttäuschung, Jammer, Verzweiflung. Er griff nach seiner Brust, als wolle er den Verband abreißen. Da … da hatte ich keine Kraft mehr zum Widerstande …

Ich saß Tag für Tag an seinem Lager, bis sein Leben verlosch. Ich sah ihn hinübergehen, scheiden ohne Schmerz, voll von Glück.

In mir war alles versunken, alles verschwunden. Mir war's, als hätte ich alles nur im Traum erlebt. Nur das letzte Wort Raouls haftete in meinem Gedächtnis … ›Diana!‹ In diesem sterbenden Hauch von den bleichen Lippen hatte eine Unendlichkeit von Jubel, von Staunen und von Glück gelegen. In der Erinnerung blieb nur der Spielkamerad, der Jugendfreund.

Die Jahre und die Ereignisse sind über mich hingegangen, ohne den Teil meiner Seele zu berühren, in dem alles verschlossen war. Nur einmal wurde die Tür dazu geöffnet, erbrochen … und die Erinnerung hieran blieb …«

Ein leichter Schauer durchlief ihren Körper.

»In dem Zusammenbruch unseres Vaterlandes hatten wir alles verloren. Ich wurde Gesellschafterin bei einer schwedischen Gräfin, die meiner Mutter befreundet war. Wir lebten den größten Teil des Jahres in Paris. Auf einer Gesellschaft lernte ich einen schwedischen Ingenieur kennen. Überlegen erschien mir seine Persönlichkeit gegenüber den anderen Männern, die ich kennengelernt hatte. Alle Vorzüge des Geistes und des Körpers schienen mir in ihm vereint … Wir liebten uns … Ich war glücklich, glücklich …«

Ein leises, verlorenes Lächeln schwebte wie ein Hauch um ihre Lippen. Sie empfand eine ungewohnte Erleichterung. Diese Selbstdemütigung schien ihr Herz zu stärken, wie eine Handlung ungestümen Wagemuts. Sie lächelte … Dann verdüsterten sich ihre Züge wieder. Ihre Stimme, eben noch bewegt, wurde monoton.

»Ein Lazarettarzt war unbemerkt Zeuge von Raouls letzter Stunde gewesen. Er tauchte eines Tages in Paris auf. Er erkennt mich wieder und belästigt mich mit seinen Zudringlichkeiten. Meinem Verlobten entgeht es nicht. Er stellte ihn zur Rede. Der Mensch weist ihn an mich. Ich erzählte alles, was vorgefallen. Mein Verlobter erschießt ihn im Duell … Und ich?! … Ich erhalte am nächsten Tag seinen Ring zurück … ohne ein Wort, eine Silbe.«

Sie senkte den Kopf und schloß die Lider. Die Erinnerung an jene Vorgänge ließ sie jetzt noch zittern.

»Ich fühlte mich bis auf den Tod gedemütigt. Ich begriff nicht, wie ich noch leben sollte … vernichtet, verachtet, mitleidlos beiseite geworfen.

Hundertmal wünschte ich mir damals den Tod. An die Stelle der Liebe trat der Haß. Ich haßte so grausam, wie eine Frau nur hassen kann … Was dann kam, weißt du. Ich wurde Sängerin. Im Taumel des Lebens glaubte ich, Vergessenheit zu finden, um nur zu bald völliger Enttäuschung zu begegnen.

Ich beschloß, nur noch meiner Kunst zu leben, und widmete ihr mein ganzes Sein …

Und dann kamst du … du warst edel, warst gut zu mir. Du zeigtest mir deine Bewunderung, deine Achtung, dein Vertrauen. Du warst bereit, dein Schicksal, dein Leben mit dem meinen zu verbinden, deinen Namen einer Frau zu geben, deren Leben du kaum kanntest.«

Mit starrem Gesicht hatte Lord Maitland gelauscht.

Eine qualvolle Pause entstand.

Lord Horace preßte die Zähne zusammen. Widerstreitende Empfindungen ergriffen ihn. Er empfand die rückhaltlose Aufrichtigkeit Dianas als etwas Wohltuendes. Doch ein anderer Instinkt kämpfte gegen dieses Gefühl in ihm an. Etwas seinem eigenen Wesen Feindseliges tauchte in ihm auf, wollte ihn dazu bringen, all seinen Mut zusammenzuraffen, seine Liebe und sein Mitleid zu bezwingen, seiner Gattin den Rücken zu kehren.

Diana schien seine Gedanken zu erraten.

»Horace! Horace!« schrie sie mit erstickter Stimme. Alles Blut wich aus ihrem Gesicht.

Der Lord hörte die angsterfüllte Stimme. Er stürzte auf sie zu und schloß ihr den Mund mit zitternden Händen, erschüttert, entsetzt. Er schloß ihre Augen, die starr und weit geöffnet waren. Seine Wimpern wurden feucht.

… Sie fühlte seine Bewegung, sie spürte auf ihren Augen die Finger, die sie berührten, wie nur Liebe und Mitleid zu berühren wissen.

Ihre Arme streckten sich und schlangen sich um den Hals des Mannes.

»Du liebst mich, du glaubst an mich?«

Lord Horace ergriff ihre Hände.

»Laß mir Zeit … seien wir mutig … du hast die Gespenster der Vergangenheit geweckt. Es wird Zeit brauchen, sie wieder zur Ruhe zu bringen …«

»Du fragst nicht nach dem Namen, Horace?«

»Wozu den Namen? Laß ihn begraben sein, Diana.«

»Ich muß ihn dir nennen, daß du alles verstehst … er ist … Erik Truwor.«

»Lord Maitland wünschen Eure Herrlichkeit zu sprechen.«

Der Diener meldete es, und gleich danach trat Lord Horace in das Kabinett des englischen Premierministers. Die Stimmung war ernst. Vor zwei Stunden war die offizielle Nachricht von dem Gefecht vor Sydney in London eingetroffen. Noch hielt die englische Regierung sie zurück. Doch schon liefen unkontrollierbare Gerüchte durch die Straßen der englischen Metropole. Erzählungen von einer unerhörten Schmach, die der Flagge Englands durch amerikanische Streitkräfte zugefügt sein sollte.

Trotz aller Gesetze und Postregale gab es Dutzende geheimer Empfangsstationen für die Funkenmeldungen der ganzen Welt in London. Stationen, die auf einem Schreibtisch bequem Platz hatten und Funkennachrichten aus Australien und Südafrika ebenso sicher auffingen wie aus Schottland oder Frankreich.

Die Londoner Börse wurde zuerst von den Gerüchten getroffen. Sie war in einer trostlosen Baissestimmung. Das Publikum in den Straßen glich einem aufgeregten Bienenschwarm, und Lord Gashford, der leitende Staatsmann des britischen Weltreiches, fühlte den Druck der schweren Verantwortung mehr denn je. Wohl hatte er durch die letzte Instruktion an den australischen Gesandten MacNeills noch eine Frist für die letzte unwiderrufliche Entscheidung gesichert. Aber er war sich dessen voll bewußt, daß die letzte Entscheidung mit Riesenschritten heranrückte.

Lord Maitland hielt ihm das Zeitungsblatt hin, welches Glossin an Lady Diana gesandt hatte.

»Die Nachricht ist gut, wenn sie wahr ist. Wir wissen es noch nicht. Seit sechsunddreißig Stunden warte ich auf den Bericht des Obersten Trotter, der vom Kriegsministerium mit der Expedition beauftragt wurde.«

»Oberst Trotter …?«

»Wie meinten Sie?«

»Nichts von Wichtigkeit. Nur bin ich der Ansicht, daß der Bericht längst da sein müßte. Es ist unerhört, daß wir das Ergebnis einer von uns betriebenen Unternehmung durch ein schwedisches Lokalblatt erfahren müssen.«

Die Züge des Premiers verrieten von neuem Sorge und Ungewißheit über den Ausgang der Expedition.

»Ich fürchte, daß irgend etwas bei der Unternehmung nicht in Ordnung ist. Auf keinen Fall können wir daran denken, eine Entscheidung zu treffen, bevor wir nicht den Bericht Trotters oder noch besser den Oberst selbst hier haben. Ich habe den Kriegsminister kurz vor Ihrem Erscheinen um seinen Besuch bitten lassen. Ich denke, das wird er sein.«

Sir John Repington trat in das Gemach. In seiner Begleitung kam Oberst Trotter. Er machte nicht eben den besten Eindruck. Die Haut seines Gesichtes schälte sich wie Platanenrinde im Frühjahr. Der stattliche Schnurrbart war bis auf einen kargen Überrest der Schere zum Opfer gefallen. Der erste Eindruck auf alle in diesem Raume Befindlichen war der, daß es nicht gefahrlos sei, mit Erik Truwor und seinen Leuten anzubinden. Waren sie wirklich unter den brennenden Trümmern ihres Hauses begraben, so hatten ihre Flammen und sonstigen Verteidigungsmittel jedenfalls auch dem Gegner reichlich zu schaffen gemacht.

Der Eindruck verstärkte sich, als Oberst Trotter seinen mündlichen Bericht gab. Acht von seinen Leuten tot, zum Teil in den Flammen umgekommen, verschollen. Fünf mehr oder weniger schwer verwundet. Nur mit sieben Leuten war der Oberst nach England zurückgekommen.

Im übrigen bestätigte sein Bericht die Mitteilung des schwedischen Blattes und ergänzte sie. Nach tapferer Gegenwehr war das Feuer der Verteidiger niedergekämpft, das Haus sturmreif geschossen worden. In diesem Moment brachen Explosion und Brand aus, von denen das schwedische Blatt allein berichtete. Sicher waren die Verteidiger, soweit sie das Feuer der Angreifer noch lebend überstanden hatten, in der Gewalt der Explosionen und in der Hölle der Feuersbrunst umgekommen.

Die englischen Minister spürten eine große Erleichterung, während Oberst Trotter den Gang der Dinge schilderte.

»So weit ganz gut«, unterbrach hier Repington. »Aber warum haben Sie nicht sofort nach der Affäre einen drahtlosen Bericht an das Amt geschickt? Sie hatten unser bestes Modell der kleinen Stationen mit. Warum haben Sie nicht sofort gefunkt?«

»Es ging nicht, Sir! Es ging trotz aller Bemühungen nicht. Der Mann, der mit dem Apparat Bescheid wußte, war gefallen. Die anderen konnten ihn nicht in Betrieb bringen.«

Der Kriegsminister runzelte die Stirn.

»Sehr bedauerlich. Der einzige Funker, den Sie bei Ihrer Truppe hatten, durfte nicht exponiert werden, Herr Oberst. Und dann später … Sie sind mit einem unserer Flugschiffe zurückgekehrt. Warum haben Sie da nicht gefunkt?«

Oberst Trotter zerrte verzweifelt an den spärlichen Resten seines Schnurrbartes.

»Es ging nicht, Sir! Es ging absolut nicht! Der Telegraphist erklärte, daß sein Apparat in Unordnung sei. Aus unerklärlichen Gründen in Unordnung sei und nicht funktioniere. Es war nichts zu machen.«

Lord Maitland blickte den Premier an und dieser den Kriegsminister. Einen Moment flammte ein unbestimmter Verdacht in den Herzen der drei Männer auf.

Oberst Trotter gab seinen schriftlichen Bericht, den er während der Überfahrt verfaßt hatte, in die Hände des Kriegsministers und verließ das Kabinett. Lord Horace schaute ihm nachdenklich nach.

»Wenn ich gewußt hätte, daß man gerade diesen Oberst Trotter mit einer so wichtigen Mission betraute, würde ich es kaum unterlassen haben, meine Bedenken geltend zu machen.«

Sir John Repington bekam einen roten Kopf und nahm seinen Offizier in Schutz. Der alte Zwiespalt zwischen Armee und Marine machte sich bemerkbar. Der Premier legte den Zwist bei.

»Lassen wir die Nebensächlichkeiten. Aus dem eben gehörten Bericht geht mit Sicherheit hervor, daß die Expedition ihren Zweck erreicht hat. Den Zweck, Großbritannien von einem unbekannten und unter Umständen unbequemen Gegner zu befreien. Wir können unsere Beschlüsse jetzt ohne Hemmung von dieser Seite her fassen. Nach den Ereignissen des Vormittags ist die Beschlußfassung nicht länger aufzuschieben. Das Parlament ist in London versammelt. Die Parteiführer sind von mir verständigt. Sie können ihre Leute in zwei Stunden zusammen haben. Auf Wiedersehen in zwei Stunden!«

Sobald ihn seine Kollegen verlassen hatten, gab Lord Gashford den offiziellen Bericht über die Schlacht bei Sydney an die Presse und die Nachrichtenagenturen. Im Augenblick wurde er an tausend Stellen Londons bekannt. Extrablätter in Auflagen von Millionen kamen heraus, wurden den Händlern aus den Händen gerissen und vielmals gelesen, bevor sie auf dem Pflaster unter den Rädern der Wagen und den Füßen der hin und her wogenden Menge ein Ende fanden. Die Unruhe wuchs, die Aufregung stieg, und die Stimmung der Bevölkerung Londons näherte sich schnell jenem Siedepunkte, bei welchem gefährliche und unvorhergesehene Ausbrüche der Leidenschaft zu fürchten sind.

Das Parlament war das natürliche Ventil, durch das diese Spannung sich entladen mußte. Und das Parlament war vollzählig bis auf den letzten Mann versammelt, war sich seiner Pflichten gegen das Land bewußt, als die Minister ihre Plätze auf den Bänken der Regierung einnahmen.

Die Tagesordnung war einfach. Stellungnahme zu der Affäre von Sydney. Ein ausführlicher Bericht über das Vorkommnis lag jedem Mitglied gedruckt vor. Die meisten Abgeordneten lasen ihn kaum noch. Sie waren durch ihre Zeitungen informiert.

Die Abstimmung war nur noch Formsache.

Das englische Parlament beauftragte die Regierung, den Vereinigten Staaten von Nordamerika den Krieg zu erklären und ihn mit aller Energie zu führen.

Mit diesem Auftrage zog sich das Kabinett zurück. Es hatte mit der Ausführung der Beschlüsse vollauf zu tun: die vorhandenen Streitkräfte mobil zu machen, Reserven einzuberufen, die Industrie nach dem großzügigen Plan zu mobilisieren. Jeder einzelne Fachminister hatte sein Pensum. Daneben blieb noch eine Formalität zu erfüllen. Dem amerikanischen Botschafter in London Mr. Geddes mußte der Kriegszustand amtlich mitgeteilt werden. Es waren ihm, wie es in der veralteten diplomatischen Sprache immer noch hieß, die Pässe zuzustellen. Zur gleichen Stunde, zu welcher der englische Botschafter in Washington die Kriegserklärung überreichte.

Lord Gashford sah sich forschend um.

»Lord Maitland, Sie sind mit Mr. Geddes persönlich bekannt. Wollen Sie ihn besuchen und ihm die Mitteilung machen?«

Lord Horace nickte zustimmend. Er war mit Mr. Geddes seit Jahren befreundet. Er wollte den Auftrag übernehmen, um dem, was unvermeidlich geschehen mußte, wenigstens die versöhnlichste Form zu geben.

»Betonen Sie besonders bei Ihrem Besuch, daß sich unser Kampf nicht gegen das blutsverwandte Volk richtet, sondern nur gegen den Tyrannen. Daß wir je schneller desto lieber wieder zu friedlichen Zuständen kommen wollen, sobald eine freiheitliche Regierung in Washington es uns möglich macht.«

Lord Gashford wußte, warum er diese salbungsvolle Mitteilung überbringen ließ. Mr. Geddes war durch seine freiheitliche Gesinnung bekannt. Im Herzen ein Philanthrop und Pazifist. Keineswegs ein überzeugter Anhänger der unbeschränkten Herrschaft des Diktators. Letzten Endes ein Schwärmer für Menschenverbrüderung und Ideale, die in dieser Welt harter Realitäten kaum zu erreichen sind.

Cyrus Stonard kannte die Engländer. Er wußte, daß sie seit Jahrhunderten jeden Krieg, jeden Treubruch, jeden Überfall mit einem philanthropischen Mäntelchen behängt hatten, und in einem Anfall seines grimmigen weltverachtenden Humors hatte er ihnen einen überzeugten Philanthropen als Botschafter geschickt. Eben Mr. Geddes, der von ganzem Herzen an alle diese Phrasen glaubte, bei allen Verhandlungen aus vollster Überzeugung damit operierte und letzten Endes doch genau tun mußte, was Cyrus Stonard wollte.

Der Kraftwagen hielt vor der amerikanischen Botschaft. Lord Horace schritt durch das Vestibül und Treppenhaus. Durch die Räume, die er bei Besuchen und Festlichkeiten so oft betreten hatte. Aufgescheuchte Dienerschaft lief umher. Gepackte Koffer standen auf den Fluren. Mr. Geddes hatte der Parlamentssitzung in der Diplomatenloge beigewohnt. Er wußte, daß der Krieg unvermeidlich war, und hatte alle Maßregeln für eine schnelle Abreise getroffen.

Lord Horace ließ sich durch den zurückhaltenden Empfang nicht abschrecken. Er trat an Mr. Geddes heran und ergriff dessen Rechte mit seinen beiden Händen.

»Mein lieber alter Freund, Sie wissen, ich bringe Ihnen schlechte Botschaft. Es ist ein schwerer Gang für mich. Doch einer mußte sie Ihnen bringen. Da habe ich es übernommen.«

Langsam legte Mr. Geddes seine zweite Hand auf die beiden Hände von Lord Horace. Er war zu bewegt, um sprechen zu können.

Eine Minute standen sie so. Dann machte sich Lord Maitland mit sanfter Bewegung frei. Noch eine Verneigung, und er verließ das Haus. Der alte Diener, der ihn so oft bei Festlichkeiten empfangen und geleitet hatte, gab ihm auch jetzt das Geleit bis zur Tür.

Lord Horace atmete tief auf, als das Auto in schneller Fahrt durch die sonnige Straße fuhr. Es war auch für ihn, den routinierten Staatsmann und Diplomaten, ein bitteres Stück Arbeit gewesen, einem Manne wie Geddes die Mitteilung zu überbringen, daß seine Mission hier zu Ende sei.

In der Nacht vom 19. auf den 20. Juli war die große amerikanische Transradiostation in Sayville im vollen Betrieb. Um die dritte Morgenstunde liefen alle Maschinen. Sie erzeugten die hochfrequente Sendeenergie und schickten sie über die Maschinengeber in die sechzehn Antennen der Station.

Im Telegraphistensaal standen die automatischen Schreibapparate und verwandelten die aus allen Teilen Amerikas ankommenden Drahtdepeschen in gelochte Papierstreifen.

Die Telegraphisten nahmen die gelochten Streifen aus den Stanzapparaten, ersahen aus den Adressen, nach welcher Himmelsrichtung sie bestimmt waren, und verteilten sie danach auf die Maschinengeber der verschieden gerichteten Antennen.

Der Chefelektriker saß in seinem Glaskasten, von dem aus er einen Überblick über die ganze Station hatte. Vor ihm auf dem Tisch lag das Stationsbuch. Er war beschäftigt, die letzten Telegramme einzutragen.

Da plötzlich … Mr. Brown stand auf und lauschte … Ein fremder Ton drang aus dem Maschinenraum her. Er kannte seine Station. Jede Unregelmäßigkeit verriet sich seinem geübten Ohr. Er sprang auf, verließ seinen Glaskasten und sah im Vorbeieilen, daß auch im Transmitterraum Unordnung ausgebrochen war. Alle Automaten standen still.

Er eilte in den nächsten Saal zu den Maschinengebern. Das gleiche Bild hier. Eine Lähmung hatte alle diese Apparate getroffen, die eben noch im fliegenden Tempo arbeiteten und Depeschen in alle Welt schickten.

Die Maschinengeber lagen still. Es war erstaunlich, aber schließlich denkbar. Das Undenkbare, das Unmögliche geschah im Nebenraum, in dem die großen, von den Maschinengebern gesteuerten Sendekontakte eingebaut waren. Die Kontakte arbeiteten. Sie tanzten auf und ab, schlossen und öffneten den Maschinenstrom und gaben unverkennbare Morsezeichen.

Der Chefelektriker stürzte in diesen Raum. MacOmber, der alte, sonst so zuverlässige Maschinist, trat ihm verstört entgegen. Er deutete sprachlos auf die großen Kontakte, die sich, wie von unsichtbaren Geisterhänden bedient, bewegten.

Ein höllischer Spuk war es. Aber ein Spuk, der nach einem festen Plan vor sich ging. Alle diese Bewegungen und Manipulationen spielten sich ganz systematisch ab. Er vermochte aus dem Knattern der Kontakte ohne weiteres den Wortlaut der Botschaft herauszuhören, die hier gegeben wurde.

»Sayville. An alle! … Sayville. An alle! … Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen. Die Macht warnt alle vor dem Kriege.«

Mr. Brown stürzte sich auf den nächsten Sendekontakt und suchte ihn mit Gewalt festzuhalten. Die Kontakte arbeiteten unbeirrt weiter.

Dreimal hintereinander gab die Station diese Depesche. Dann begannen mit einem Schlage wieder die Automaten und Maschinengeber zu arbeiten. Kaum zehn Minuten hatte der Spuk gedauert.

Mr. Brown stand in seinem Glaskasten und strich sich die Stirn. Er wußte nicht, ob er wache oder träume. Mit verstörten Mienen blickten die Telegraphisten auf ihren Vorgesetzten. Keiner von ihnen kümmerte sich um die Apparate. Aber die Automaten, die nervenlosen Maschinen, taten ihre Schuldigkeit. Sie schrieben die Depeschen auf, die jetzt von allen Seiten her in Sayville einliefen. Anfragen von amerikanischen und überseeischen Stationen, was die Sendung von Sayville zu bedeuten habe.

Eine dringende Staatsdepesche aus Washington: »Befehl, den Stationsleiter sofort vom Amt zu suspendieren. Die Station dem Stellvertreter zu übergeben!«

Mr. Brown war mit seinen Nerven fertig. Er übergab die Station seinem Vertreter und setzte sich hin, um mit zitternden Händen einen ausführlichen Bericht über das Vorkommnis zu schreiben.

Für die Geschichte jener Zeit ist der Bericht ein wichtiges Dokument geworden. Er gibt noch verhältnismäßig objektiv eine Darstellung der unerklärlichen Beeinflussungen, denen die Großstationen der ganzen Erde in den folgenden Wochen bald hier, bald dort ausgesetzt waren. Eine unbekannte Macht hatte sich des drahtlosen Verkehrs bemächtigt. Sie gab ihre Depeschen »An alle!«, wie es ihr gefiel, unter Benutzung der vorhandenen Stationen ab.

Kapitän H. L. Fagan vom amerikanischen Marinedepartement, der eiserne Fagan, wie ihn seine Kameraden nannten, hatte Vortrag beim Präsident-Diktator. Mit aufmerksamen Blicken folgte Cyrus Stonard den Erklärungen, die Kapitän Fagan an Hand umfangreicher, an der Wand befestigter Zeichnungen gab.

Sie stellten die große amerikanische Unterwasserstation dar, die im Laufe des letzten Jahres in aller Stille, vollkommen geheim, an der afrikanischen Ostküste in der Höhe der Seschellen entstanden war. Durch gründliche Lotungen hatten amerikanische Schiffe eine Stelle ausfindig gemacht, die zweihundert Kilometer von der Küste entfernt mitten im freien Ozean lag und doch nur hundert Meter tief war. Es war die Spitze irgendeines vor Millionen Jahren in der Tiefe des Indischen Ozeans versunkenen Berges. Taucher hatten das Gelände untersucht und die Sprengungen vorbereitet, durch die man eine Plattform von etwa einem Quadratkilometer hundertfünfzig Meter unter dem Seespiegel schuf. Dann kam der Bau.

Zwanzig gewaltige Hallen. Jede einzelne groß genug, die größten Flugschiffe, Flugtaucher und U-Boote aufzunehmen. Jede Halle mit den Maschinen für alle vorkommenden Reparaturen ausgerüstet. Jede Halle mit vielfacher Sicherheit gegen den gewaltigen Wasserdruck erbaut. Darüber hinaus noch durch ein System sinnreicher Sicherheitsschotten gegen Wassereinbrüche geschützt. Unterirdische, tief in den Fels des Berges gesprengte Gänge verbanden die Hallen miteinander. Zisternen waren mit Hilfe stärkerer Sprengmittel in den Basalt hineingearbeitet, die Hunderttausende von Tonnen der besten Treiböle für die Maschinen amerikanischer Kriegsfahrzeuge aufnehmen konnten.

Ferner große Luftschleusen. Ein Druck auf einen der vielen Hebel in der Apparatenzentrale der Station genügte, und eine riesenhafte hydraulische Plattform hob sich wie eine plötzlich entstehende Insel aus den Fluten des Ozeans, bereit, Fahrzeuge aufzunehmen und sicher mit in die Tiefe zu bringen.

Es war ein wahrhaft großartiger unterseeischer Flottenstützpunkt, den ein Befehl Cyrus Stonards hier mitten in der Wasserwüste entstehen ließ. An einer Stelle, von der aus es amerikanischen Streitkräften ein leichtes sein mußte, jede in Mittelafrika neu entstehende Kriegsindustrie im Entstehen zu zerschmettern und Indien schwer zu bedrohen.

Als Cyrus Stonard vor dreizehn Monaten den Befehl gab, erklärten die Fachleute die Sache für unausführbar. Bis der eiserne Diktator den eisernen Kapitän fand. Cyrus Stonard entsann sich deutlich der ersten Unterredung mit dem Kapitän. Unbedingte Geheimhaltung des Planes und des Baues forderte der Diktator. Kapitän Fagan hatte damals wenige Minuten überlegt.

»Wir müssen mit fünftausend Mann arbeiten, wenn wir in einem Jahr fertig werden wollen. Ein Geheimnis, um das fünftausend Menschen wissen, ist kein Geheimnis mehr. Also müssen wir Sklaven für den Bau nehmen.«

Kapitän Fagan hatte es damals mit einer Ruhe und Selbstverständlichkeit gesagt, die sogar den Diktator eine Minute verblüffte. Nur eine Minute. Dann hatte er die Vorzüglichkeit der Idee erfaßt.

Zuchthäusler führten die unterseeische Station aus. Menschen, die von den amerikanischen Gerichten zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren. Es kamen Monate, in denen der elektrische Stuhl wenig zu tun hatte, weil der Diktator auffallend häufig begnadigte. Aber nur Menschen, die mit Eisen und Stahl umzugehen verstanden, Menschen, die in die Branche paßten. –

Kapitän Fagan gab dem Präsident-Diktator auf dessen Fragen präzisen Bericht.

»Die Hallen eins bis sechzehn sind fertig. Versehen mit Proviant, Brennstoff und Munition. Vier Hallen sind noch im Bau. Die Wohnhallen für das ordentliche Marinepersonal. Die Zuchthäusler sterben wie die Fliegen. Haben auch schlechte Unterkunft in den Verbindungstunnels.«

»Der Endtermin ist um drei Wochen überschritten. Wann werden die Wohnhallen fertig beziehbar dastehen?«

Die Stimme des Präsident-Diktators klang scharf und schneidend, als er die Frage stellte.

»In drei Tagen, Herr Präsident.«

»Sie bürgen dafür?«

»Ich bürge, Herr Präsident.«

»Sind die Verteidigungsanlagen fertig?«

»Sie sind fertig, Herr Präsident. Die Station ist von einem dreifachen Kranz unterseeischer Torpedominensender umgeben. Die akustischen Empfänger sprechen auf jedes Schraubengeräusch unter und über Wasser an. Die Hertzschen Strahler fassen auf zehn Kilometer jedes Ziel und dirigieren die Torpedos zu seiner Vernichtung.«

»Wie steht es mit dem Schutz gegen Luftsicht?«

»Seit acht Wochen arbeiten unsere Seefärber. Es war ein glücklicher Gedanke, unsere Station wie einen Tintenfisch mit eigenen Farbdrüsen auszustatten. Das Azoblau, welches die Seefärber Tag und Nacht in gleichmäßigem Strome in die See geben, färbt das Wasser so gleichmäßig, daß die ganze Untiefe vollkommen unsichtbar wird. Auch aus zweitausend Meter Höhe konnten unsere eigenen Flugschiffe die Station nicht finden, wenn die Färber arbeiteten. Wir mußten eine besondere Erkennungsboje auslegen.«

Cyrus Stonard hatte sich erhoben. Seine Augen leuchteten wild in fanatischem Glanz, während er den Mann betrachtete, der das Riesenwerk in einem Jahr glücklich zum Abschluß gebracht hatte.

»Kurz und gut, Herr Kapitän! Wann sitzt der letzte Niet? Wann kann die Station in den Krieg eintreten?«

»In drei Tagen, Herr Präsident! In drei Tagen sind die Marinemannschaften in ihren Quartieren, die Sklaven weggeschafft. In drei Tagen leistet die Station alles, was sie zu leisten hat.«

»Ich danke Ihnen – – – – Herr Admiral! Sie haben Ihre Sache gut gemacht. Sie bleiben weiter zu meiner Verfügung.«

Cyrus Stonard sprach mit befehlsgewohnten Lippen. Kapitän Fagan errötete. Ein Zittern ging durch seine bis dahin unbewegliche Gestalt. Ein Lob aus dem Munde des Diktators. Ein uneingeschränktes Lob und zugleich die Ernennung zum Admiral. Das war mehr, als er in diesen zwölf Monaten schwerer Arbeit mit Nächten der Verzweiflung und Tagen des Mißmuts zu hoffen gewagt hatte.

Er beugte sich nieder, wollte die Hand des Diktators ergreifen und küssen. Cyrus Stonard wehrte ab.

»Lassen Sie, Herr Admiral! Gehen Sie, und dienen Sie mir und dem Lande so weiter, wie Sie bis jetzt gedient haben!«

Mit unsicheren Schritten verließ Admiral Fagan das Kabinett.

In der Mitte des Gemaches blieb Cyrus Stonard stehen und blickte ihm lange Zeit nach. Es zuckte und arbeitete in den aszetischen Zügen des Diktators. Seine Lippen bewegten sich und formten Worte, während ein verächtliches Lächeln sie umspielte.

»Da geht er hin … der Eiserne … Errötet und zittert wie ein junges Mädchen. Um das eine Wörtchen Admiral … Hätte ich ihn hart angefahren, seine Arbeit getadelt, ihn weggejagt, er wäre davongeschlichen … hätte kein Wort des Widerspruchs gewagt … Eisern … pah! … so sind sie alle … ohne Ausnahme! Nur wenn sie den Herrn fühlen, tun sie, was sie sollen … was für das Land nötig ist … Kreaturen, die ein Wort von mir erhöht oder in den Staub wirft …«

Der Präsident-Diktator kehrte langsam zu seinem Sessel zurück. Weltverachtung sprach aus seinen Zügen. Es waren alles Sklaven. Im Grunde nicht besser als die Fünftausend, die das letzte Jahr auf dem Seegrunde gefrondet hatten.

Ein Gefühl des Überdrusses überkam ihn. Warum sich mühen und plagen, um diese Sklavenherde mit Gewalt den Weg zu ihrem Glück zu führen. Weil … weil …

Ein Adjutant trat ein. Leutnant Greenslade brachte eine Depesche. Einen Bericht über die Vorgänge in Sayville. Legte sie auf den Tisch und erwartete in dienstlicher Haltung die Befehle des Diktators.

Cyrus Stonard überflog das Blatt. Die rätselhafte Beeinflussung der großen Radiostation in Sayville. Das selbsttätige unhemmbare Arbeiten der Geber. Das Spielen der Schalter. Schließlich die kurze wunderbare Depesche: »An alle! … Die Macht warnt vor dem Kriege.«

Und wußte in demselben Moment, daß Glossin gelogen hatte! Daß Erik Truwor und die Seinen am Leben und im Besitze der Macht waren!

In diesen Sekunden erlebte der Präsident-Diktator einen jähen und schweren Sturz. Eben noch im Gefühl eines unendlichen Machtbesitzes. Herr der halben und bald der ganzen Erde. Absoluter Gebieter über dreihundert Millionen. Und jetzt von einer unbekannten und unangreifbaren Macht bedroht, in seinen Entschlüssen und Befehlen gehemmt.

Wie eben noch Kapitän Fagan durch wenige Worte des Diktators umgeworfen wurde, so brach Cyrus Stonard über den Inhalt der Depesche zusammen. Er saß vor seinem Tisch, ließ das Haupt auf die Arme sinken und verbarg sein Gesicht. Ein Schluchzen erschütterte den hageren, nur der Arbeit gewidmeten Körper.

Leutnant Greenslade stand in vorschriftsmäßiger Haltung. Sah den Präsident-Diktator die Haltung verlieren und begann um sein Leben zu zittern. Es lebte niemand in den Vereinigten Staaten, der sich rühmen konnte, Cyrus Stonard schwach gesehen zu haben. Leutnant Greenslade hatte nur einen Gedanken.

Wehe, wenn Stonard die Augen wieder aufmacht! Wehe, wenn der Diktator mich sieht! Dann bin ich verloren!

In diesem Augenblick erhob Cyrus Stonard den Kopf. Mit Augen, die abwesend und weltentrückt blickten, schaute er um sich.

»Dr. Glossin soll kommen!«

Leutnant Greenslade übermittelte den Befehl und ging dann mit sich selbst zu Rate, ob er es wagen dürfe, in den Staaten zu bleiben.

Dr. Glossin stand im Kabinett des Präsident-Diktators. Cyrus Stonard erhob sich statuenhaft von seinem Platz. Seine Rechte ergriff die Depesche und ballte sie krampfhaft zusammen. Er sprach kein Wort. Langsam kam er dem Doktor näher, bis er nur noch drei Schritte von ihm entfernt stand. Dann schleuderte er ihm den Papierball mit jähem Ruck in das Gesicht.

Dr. Glossin machte keine Bewegung, den Wurf abzuwehren. Der Ball traf ihn zwischen die Augen und fiel zu Boden. Der Arzt verlor die letzte Spur von Farbe. Er kannte den Inhalt der Depesche, die ihm Cyrus Stonard eben ins Gesicht geschleudert hatte. Seit zwanzig Minuten wußte er, daß all seine Arbeit während der letzten Wochen vergeblich war. Die einzigen Menschen, die er zu fürchten hatte, waren seinen Nachstellungen entgangen. Waren irgendwo in Sicherheit und ließen ihre Macht spielen.

Er war in diesem Augenblick nicht einmal fähig, die Beleidigung zu empfinden, die in dieser Behandlung lag. Der Papierball wirkte wie eine Flintenkugel. Der von ihr Getroffene empfindet den Schuß nicht als Beleidigung, aber er fällt danach um. Dr. Glossin begann auf seinen Füßen zu wanken, tastete mit den Händen nach einem Halt.

Dem Präsident-Diktator hatte der physische Ausbruch Erleichterung verschafft. Die unmittelbare Wirkung des Schlages, der ihn getroffen hatte, ließ nach. Er begann klarer zu sehen. Sah den Menschen vor sich, der im Begriff stand, umzusinken.

Da ließ er sich selbst wieder in seinem Sessel nieder und winkte dem Doktor.

»Setzen Sie sich! … Setzen Sie sich! … Nicht dahin … hierher! Hier dicht zu mir her … ja, hier … Halt, heben Sie das erst auf!«

Er wies mit der Hand auf die zerknüllte Depesche. Er kommandierte den Doktor wie einen Hund, und Dr. Glossin gehorchte wie ein geprügelter Hund. Jetzt saß er auf dem angewiesenen Sessel, dicht neben Cyrus Stonard, und entfaltete ganz mechanisch den Papierball.

»Lesen Sie!«

Dr. Glossin las die Depesche, die er heute schon so oft gelesen hatte.

»Was haben Sie mir gesagt? Und was sagen Sie jetzt?«

Der Arzt war unfähig, eine zusammenhängende Antwort zu geben. Cyrus Stonard sah, daß er ihm die Möglichkeit zur Sammlung geben müsse. So befahl er weiter:

»Geben Sie mir noch einmal einen genauen Bericht über die Vorgänge in Linnais. Nicht gefärbt, absolut genau!«

Dr. Glossin raffte sich zusammen. Er begann zu sprechen und wurde ruhiger, je weiter er in seinem Bericht kam.

»Die Engländer waren zur selben Zeit am Platze wie ich. Als ich den englischen Führer kennenlernte, war ich über seine Naivität erstaunt. Ich wollte ihn zurückrufen lassen, aber die Zeit war zu kurz. Ich hatte keine Möglichkeit mehr, die Expedition zu verhüten …«

Cyrus Stonard streifte den Arzt mit einem kalten Blick.

»Das kommt davon, wenn die Werkzeuge anfangen, selbst zu denken. Ihnen hatte ich den Befehl gegeben, die drei zu vernichten. Ihnen! … Nicht den Engländern. Ich habe Ihre Eigenmächtigkeit nach Ihrem ersten Bericht nicht gerügt, weil Sie mir einen Erfolg meldeten. Einverstanden war ich nicht damit.

Warum habe ich Sie zu meinem Werkzeug gewählt? … Weil ich mir solche bewährte Kraft für manche Geschäfte nicht entgehen lassen durfte. Wenn Ihr Talent nicht ausreicht, drei Menschen vom Erdboden verschwinden zu lassen, wenn Sie dazu die Engländer gebrauchen … Mann, warum haben Sie die Engländer auf die drei gehetzt, anstatt selbst zu gehen?«

Dr. Glossin stammelte: »… Interesse des Landes … Rücksicht auf die Neutralen … diplomatische Schwierigkeiten.«

»Unsinn … Dummheit … was geht mich Schweden an? Denken Sie, ich hätte die Möglichkeit, die Neutralität dieses Ländchens zu verletzen, nicht in meinen Kalkul eingezogen?«

Er blickte dem Doktor scharf in die Augen.

»Sie haben Furcht gehabt! Erbärmliche, feige Furcht vor den drei Leuten! Darum wollten Sie den Fuchs spielen. Andere Leute die Kastanien aus dem Feuer holen lassen … So ist diese … Gemeinheit zustande gekommen … Merken Sie wohl auf! Sie stehen von heute ab unter Überwachung. Sie wissen, was das heißt. Der Verdacht einer Verräterei, eines Ungehorsams, und Sie verschwinden. Denken Sie daran, wenn Sie mir jetzt antworten.

Ich wünsche genau Ihre Meinung über diese drei Menschen zu wissen. Ob sie noch am Leben sind … oder ob diese Depesche etwa von einer anderen Stelle kommt. Und wenn sie leben, was sind ihre Pläne, wie groß ist ihre Macht, wie weit reicht sie? Werden sie sich in dem kommenden Kampfe auf eine Seite stellen? Überlegen Sie sich genau, bevor Sie antworten. Es geht um Ihren Hals.«

Dr. Glossin wußte, daß der Präsident-Diktator nicht scherzte. Eine unbefriedigende Antwort … ein Druck auf den Klingelknopf am Schreibtisch und er erlebte den nächsten Stundenschlag nicht mehr. Er sammelte seine Gedanken und sprach langsam Wort für Wort abwägend:

»Nein! Es ist ausgeschlossen, daß eine dritte Stelle in Betracht kommt. Ich war Augenzeuge der Katastrophe in Linnais, und ich sage doch, es sind die drei, die die Depesche sandten.«

»Wie konnten sie entkommen? Sie mußten doch schließlich fürchten, eines Tages ausgehoben zu werden. Sie konnten sich durch einen unterirdischen Gang sichern, der irgendwo in den Bergen oder am Fluß ins Freie mündet.«

»Ich habe daran gedacht. Aber dann müßte er schon lange bestanden haben. Die drei sind erst seit wenigen Wochen in Linnais. Die Anlage eines Ganges braucht Monate, wenn nicht Jahre. Immerhin bleibt der unterirdische Gang die nächstliegende Erklärung. Es könnte sein, sie hätten ihn mit ihren phänomenalen Hilfsmitteln in dieser kurzen Zeit geschafft … oder … sie sind …«

Dr. Glossin preßte sich mit beiden Händen die Stirn zusammen, als ob ihm der Schädel unter der Gewalt des neuen Gedankens springen wollen. Er schwieg.

Cyrus Stonard trieb ihn zum Weiterreden: »… oder sie sind? Sprechen Sie doch!«

»Oder sie haben unsere Augen geblendet und sind unsichtbar durch unsere Reihen gegangen!«

Cyrus Stonard betrachtete den Doktor zweifelnd.

»… unsichtbar? … Das wäre der Teufel selbst! … Sich unsichtbar machen? … Es geht um Ihren Kopf, Herr Dr. Glossin! Tischen Sie mir keine Märchen auf. Sie werden alt. Ich mußte es Ihnen schon einmal sagen.«

Dr. Glossin sah den Präsident-Diktator ruhig an. Ohne Furcht vor der Gewalt, die jeden Moment sein Leben zerstören konnte. Mit weltabgewandten, weltentrückten Blicken. Dann sprach er. Erst leise und stockend. Dann immer bestimmter und mit gehobener Stimme:

»Was Ihnen Kindermärchen scheint, ist für manchen schon längst Wahrheit und Tatsache. Sie sind der Mann der Realitäten. Der Mann, der seine Politik mit Blut und Eisen macht. Es ist Ihre Stärke, aber … es wird Ihre Schwäche, wenn Kräfte und Dinge aus einer anderen Sphäre an Sie herantreten. Es gibt Wissende, die über diese Dinge nicht lächeln, sondern … ich selbst, Naturwissenschaftler, Skeptiker, ich glaube eher, daß sie aufrecht und unsichtbar durch unsere Reihen gegangen sind, als daß sie sich wie die Maulwürfe in einen unterirdischen Gang verkrochen haben.«

Der Präsident-Diktator zerknitterte die Sayville-Depesche mit energischem Griff von neuem.

»Mögen sie gemacht haben, was sie wollen! Ich halte mich an die realen Tatsachen. Die Macht existiert. Sie ruht in den dreien. Sie hat in Sayville angesprochen. Weshalb warnen sie, wenn sie handeln können? Weshalb haben sie dann nicht auch bei der Geschichte vor Sydney eingegriffen und das Gefecht verhindert?«

»Das ist meine Hoffnung. Sie haben es nicht gekannt. Ihre Macht reicht nicht so weit. Noch nicht so weit. Sonst hätten sie es verhindert. Vorläufig bluffen sie nur. Die Warnung war ein Bluff …«

»Es geht um den Kopf, Herr Dr. Glossin. Sagen Sie nur, was Sie mit Ihrem Kopf vertreten können.«

»Es ist meine feste Überzeugung, Herr Präsident. In ihrer ganzen Tragweite ist die Erfindung erst im Entstehen begriffen. Nur so finde ich eine Erklärung für das Nichteingreifen in die Affäre vor Sydney. Nur so kann ich es verstehen, daß sie warnen, anstatt zu verbieten. Die Fassung der Depesche ist für mich der unumstößliche Beweis, daß die Entwicklung der Macht irgendwo stockt.«

Der Präsident-Diktator war den Ausführungen Glossins mit wachsender Spannung gefolgt.

»Ich glaube Ihnen. Die Folgerung ist einfach. Den Engländern an den Leib! So schnell wie möglich! An Stellen, die der Macht heute noch unerreichbar sind. In Indien … In Südafrika … vielleicht … jedenfalls so schnell wie möglich, denn eines Tages sind sie doch so weit.«

Cyrus Stonard drückte auf den Knopf. Ein Adjutant kam.

»Die Herren vom Kriegsrat! In einer halben Stunde!«

Er sprach wieder zu Dr. Glossin.

»Unsere Pläne müssen geändert werden. Wir wollten England in England schlagen. Jetzt müssen wir es am Äquator versuchen. Das verdanke ich Ihrer Neigung für unkontrollierbare Privatunternehmungen.«

Cyrus Stonard blickte den Arzt an, wie eine Schlange ihr Opfer betrachtet. Mit kaltem, klarem Blick. Lange Sekunden bewegten sich die Lider seiner Augen nicht, und Dr. Glossin fühlte das Blut in seinen Adern gefrieren. Dann fuhr der Präsident-Diktator langsam fort:

»Es gibt ein Mittel für Sie, um sich vollständig zu rehabilitieren. Fangen Sie mir die drei! Wenn Sie sie mir lebendig bringen, will ich Sie belohnen, wie noch niemals ein Mensch von einem anderen belohnt worden ist. Wenn Sie sie tot bringen, soll Ihr Lohn noch überreich sein. Alle Machtmittel, die ein Land von dreihundert Millionen bieten kann, stehen Ihnen zur Verfügung. Neutralität … ich pfeife darauf. Jedes Mittel, jedes Verfahren ist Ihnen erlaubt, wenn es zu dem Ziele führt, die drei in meine Gewalt zu bringen. Denken Sie immer an das Ziel. Seine Erreichung wird unermeßlich belohnt. Mißlingen ist Verrat.«

»… Oder sie sind unsichtbar durch unsere Reihen gegangen.« Dr. Glossin hatte die Möglichkeit gegenüber dem Präsident-Diktator ausgesprochen und hatte damit gesagt, wie es geschehen war.

Als Oberst Trotter als erster über den Gartenzaun von Linnais sprang, stand Erik Truwor in Begleitung seiner beiden Freunde unmittelbar neben ihm. Die hypnotische Kraft Atmas blendete den Obersten und schlug seine Leute mit Blindheit.

»Es ist gut, wenn wir einige Zeit für tot gelten.« Erik Truwor hatte damit den Plan für die nächsten Wochen und Monate gegeben. Atma und Silvester übernahmen die Ausführung. Atma verwirrte die Sinne der Gegner. Silvester trug den kleinen Strahler und brachte die Schießwaffen, mit denen die Fenster des Truworhauses gespickt waren, zum Feuern.

Während die Engländer das Haus belagerten, gingen die drei zur Odinshöhle. Dort ließen sie sich nieder. Aus der Tafel des Fernsehers war das Haus von jeder Seite und in allen Details sichtbar. Silvester Bursfeld ließ den Strahler arbeiten. Er unterhielt das Gewehrfeuer, solange noch eine Patrone vorhanden war. Dann kam das Ende.

Erik Truwor hatte sich entschlossen, sein Vaterhaus zu opfern. Als die Tür unter den Axthieben der Stürmenden einbrach, gab er selbst aus dem großen Strahler die volle Konzentration in das Brennstofflager des Hauses. Zehnmillionen Kilowatt in zehntausend Kilogramm Benzol. Das Truworhaus wurde in einer Sekunde zum feuerspeienden Berg.

Erik Truwor verfolgte das Schauspiel auf der Mattscheibe des Fernsehers. Sein Gesicht blieb unbeweglich, wie aus Stein gemeißelt.

Als die Mauern zusammenstürzten, wandte er den Blick von der Platte ab.

»Sie wähnen uns dort begraben. Ihr Glaube gibt uns die Ruhe für die letzten Vorbereitungen.«

Der Rapid Flyer stand in der Höhle. Als Dr. Glossin mit dem Obersten sprach, als Oberst Trotter seine Brandwunden im Tornea kühlte, trug R. F. c. 1 die Freunde nordwärts davon. Langsam, in niedrigem Flug. Vorsichtig die Deckung der Berge und Föhren nehmend. Ungesehen und ungehört.

Erst als sie in sicherer Weite waren, stieg der Flieger zu größeren Höhen empor und nahm reinen Nordkurs. Über offene See und schweres Packeis. Über Länder und über weite Eisflächen.

Nach dreistündiger Fahrt senkte sich das Schiff. Stieß durch Nebel und Wolken und ruhte auf der Eisfläche, die wie eine ungeheure massive Kuppe den nördlichen Pol unserer Erde umgibt.

Sie landeten inmitten der endlosen Eiswüste und fanden dennoch ein wohnliches Heim. Silvester sah es mit Staunen.

Erik Truwor hatte den halben Monat, den Silvester nach seiner Vermählung abwesend war, nicht ungenutzt gelassen.

Er hatte sich hier ein Schloß geschaffen. Einen Eispalast im wahren Sinne des Wortes. Aus der flachen verschneiten Eiswüste erhob sich blaugrünlich schimmernd ein Eisberg hundert Meter empor. Ein massiver Eisblock, bis Erik Truwor kam und den Strahler spielen ließ. Da fraß die entfesselte Energie das Eis mit gieriger Zunge. Gänge bildeten sich. Säle und Kammern entstanden, während das Schmelzwasser in Strömen ins Freie lief.

Dann waren die Tage gekommen, an denen der alte Schäfer Idegran auf der Torneaheide der Wodanshöhle in immer weiterem Bogen aus dem Wege ging. Es fauchte in der Höhle. Es schwirrte in den Lüften. Erik Truwor hielt seinen Umzug wie der wilde Jäger. Vollgepackt mit Lebensmitteln und Brennstoffen, mit Apparaten und Werkzeugen fuhr der Rapid Flyer zwischen dem Eisschloß am Pol und dem Haus am Tornea hin und her. Es war nur noch eine leere Schale, die Oberst Trotter mit seinen Leuten belagerte.

Silvester sah das neue Heim zum erstenmal. Sie traten in das Innere des Berges, und eine wohlige Wärme umfing sie. Ein kleiner Strahler machte gerade so viel Energie frei, daß die Luft in den Räumen gut erwärmt war, aber das Eis der Wände noch nicht schmolz.

Erik Truwor ließ sich im großen Wohngemach auf einen Sessel nieder.

»Hier bin ich, hier bleibe ich! Hier findet uns niemand. Die Schiffe, die über den Pol gehen, fliegen hoch. Auch aus nächster Nähe würden sie nur den Eisberg sehen.«

Atma lag bewegungslos auf einem Diwan. Er ruhte, meditierte, wie er es stets tat, wenn seine Kraft, seine telepathische Willensmacht nicht verlangt wurden. Silvester brauchte viele Stunden, um durch alle Räume zu schreiten. Er sah das Laboratorium und die neuen großen Strahler. Er versenkte sich in die Verbesserungen, die Erik Truwor während seiner Abwesenheit angebracht hatte, und dann sah er die Teile der Telephonanlage. Sie waren noch nicht zusammengebaut.

Seine Gedanken flogen zu Jane. Sie würde diesen Nachmittag vergeblich auf seinen Anruf warten. Er würde ihr Bild sehen. Der Fernseher gestattete es zu jeder Zeit. Doch er würde nicht mit ihr sprechen können. Sie würde warten … würde in Sorge sein. Um so mehr, wenn wenn irgendwoher die Nachricht von Linnais, vom Untergang des Hauses zu ihr käme.

Er erschrak bei dem Gedanken und trat an den großen Strahler. Er richtete ihn und schaltete die Energie ein. Das Bild erschien auf der Scheibe. Ein Flußlauf. Industriewerke, Häuser. Jetzt die charakteristische Gestalt des Rattinger Tors von Düsseldorf. Nun die Straße, das Termölensche Haus …

Er verzehnfachte die Vergrößerung und regulierte mit den Mikrometerschrauben.

Die Küche … Frau Luise Termölen … die gute Stube … dort Jane. Ihr gegenüber eine andere Gestalt.

Silvester Bursfeld brachte die Vergrößerung noch einmal auf das Zehnfache. Jetzt standen die Figuren fast in Lebensgröße vor ihm. Jane blaß, erschreckt, dem Umsinken nahe. Ihr gegenüber Dr. Glossin.

Silvester ließ das Bild stehen und lief in das Gemach, in welchem Atma lag.

Der Inder kam und sah das Bild. Eine Veränderung war eingetreten. Jane lag regungslos am Boden. Ein Zeitungsblatt neben ihr. Dr. Glossin bemühte sich um die Eingesunkene, richtete sie auf, sprach auf sie ein.

Soma Atma stand in kataleptischer Starre. Seine Pupillen verengten sich bis zum Verschwinden. Seine Seele verließ den Körper und ging auf die Wanderung.

Das Bild auf der Mattscheibe veränderte sich. Silvester sah, wie das Blut seinem Weib in die Wangen zurückkehrte. Sie erhob sich. Aufrecht stand sie da, lächelte spöttisch und deutete mit einer verächtlichen Handbewegung auf das Zeitungsblatt, und dann verließ Dr. Glossin mit allen Zeichen der Enttäuschung und des Mißmutes den Raum.

Es dauerte lange, bis der Inder sich aus dem Krampfe löste. Dann sprach er, ruhig und leidenschaftslos wie immer: »Dein Weib weiß, daß du lebst.«

Er kehrte in seinen Raum zurück und versank wieder in das stille Vorsichhinstarren, Ruhen und Sinnen, in dem er Tage und Wochen verbringen konnte.

Die Arbeit rief. Erik Truwor hatte Verbesserungen vorgeschlagen, die sich auf eine noch genauere Einstellung bezogen. Silvester Bursfeld hatte von seiner Hochzeitsreise eine ganz neue Idee mitgebracht. Eine Zielvorrichtung, die es gestatten mußte, mit dem Strahler auch gegen bewegte Ziele zu operieren, während er volle Energie im Raum auslöste.

Das hielt Silvester jetzt für das Wichtigste, und Erik Truwor stimmte ihm bei. Mit den vorhandenen Einrichtungen ließ sich die Energiemenge wohl haarscharf auf jeden Punkt der Erdoberfläche einstellen. Aber es war noch nicht möglich, die Einstellung mit voller Sicherheit bewegten Zielen folgen zu lassen, während die Energie wirkte. Erik Truwor verlangte, daß man mit dem großen Strahler auch schnellfliegende Ziele fassen könne, während er auf irgendeinem Punkt der Erde zehn Millionen Kilowatt brodeln ließ.

Eine Änderung der Schaltung war dazu notwendig. Der Energiestrom, der vom Ziel reflektiert wurde und das Bild auf der Mattscheibe erzeugte, mußte von der Hauptenergie abgezweigt werden. Widerstände waren einzubauen, die diesen Nebenstrom automatisch so schwach hielten, daß er das Bild nicht sprengte, die Mattscheibe nicht fraß. Es bedurfte mancher Tage, um die neuen Ideen praktisch auszuführen.

Erik Truwor war die treibende Kraft. Er stand vor dem Amboß, das Antlitz von der Glut des Feuers gerötet, und schmiedete die für den Neubau nötigen Stücke. Die Funken umsprühten ihn, während er den Hammer schwang und das glühende Eisen formte. Als Schlosser, Dreher und Mechaniker in einer Person arbeitete Silvester. Er feilte, schnitt und schliff und hörte dabei die Worte Erik Truwors.

Wie ein Prophet sprach Erik Truwor von der Zukunft, die er nach seinem Willen formen wollte.

»Von Mitternacht kommt die Macht.« Öfter als einmal fiel das Wort von seinen Lippen, während er einem Schmiedestück mit wuchtigen Hieben die letzte Form gab. Machtgefühl klang aus den Schlägen, mit denen er den Hammer auf den Amboß schmetterte, daß es weithin durch die Eishallen dröhnte.

Silvester hörte nur mit halbem Ohr hin. Er war unruhig bei der Arbeit, und seine Gedanken weilten in weiter Ferne. Wohl hatten ihn die Worte Atmas vorübergehend beruhigt. Doch zufrieden würde er erst sein, wenn Ätherschwingungen und Elektronenbewegungen Janes Bild wieder bis an den Pol führten und seine Stimme über Spitzbergen und Skandinavien bis in das stille Gemach nach Düsseldorf brächten. Er lechzte danach, sein junges Weib zu sehen, mit ihr zu sprechen, und arbeitete hastig und freudlos an dem Neubau, zu dessen schneller Ausführung Erik Truwor ihn zwang. Die Ruhestunden während der langen hellen Polnacht benutzte er, um auf dem Gipfel des Berges die Antennen für die drahtlose Station zu ziehen.

Nur eine schwere seelische Erschütterung kann den Riegel zerbrechen. Dr. Glossin wußte es. Darum hatte er Jane das Zeitungsblatt mit der Nachricht über die Katastrophe von Linnais gegeben. Im letzten Moment, als der Riegel wankte, als er brechen wollte, hatte Atma eingegriffen. Seiner Kraft war es gelungen, die Verriegelung noch einmal zu halten und zu schließen. Aber sie hatte durch den schweren Angriff Glossins eine Beschädigung erlitten. Ein zweiter unvermuteter Stoß konnte sie leicht sprengen.

Einstweilen war Jane beruhigt. In jenem Moment, als sie unter dem niederschmetternden Eindruck der Nachricht von Linnais halb ohnmächtig in den Armen Glossins hing, war es plötzlich wie eine feste und unumstößliche Gewißheit durch ihre Seele gegangen: Silvester lebt. Er ist mit seinen Freunden geborgen. Ich werde bald von ihm hören. Es war die telepathische Beeinflussung des Inders, die ihr diese Zuversicht gab, die sie instand setzte, die Worte Glossins zu belächeln, ihm ihre andere bessere Überzeugung entgegenzuhalten.

Dr. Glossin hatte das Haus Termölen verlassen. Niedergeschlagen, innerlich zerrissen. Er fühlte alle seine Stützen wankend werden.

Seitdem sich Cyrus Stonard mit dem Gedanken des Krieges gegen das britische Weltreich trug, lag in Glossins Unterbewußtsein das Empfinden, daß der Präsident-Diktator um seine Herrschaft, vielleicht sogar um seinen Kopf spielte. Es blieb ihm selbst verborgen und unbewußt, bis der leidenschaftliche Ausbruch des Diktators es ans Licht rief. Jetzt empfand er es von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde deutlicher. Der Stern Cyrus Stonards war im Sinken. Es war Zeit, sich von ihm zu trennen. Für einen Charakter wie Glossin aber war die Trennung gleichbedeutend mit Verrat, mit dem Übergang zur anderen Partei.

Er dachte nicht mehr daran, den Auftrag Cyrus Stonards zu erfüllen. Mochte der Diktator die drei selber fangen, wenn er sie haben wollte. Aber Jane wollte und mußte er unter allen Umständen in seine Gewalt, auf seine Seite bringen, koste es, was es wolle. Es war ihm nicht geglückt, den Riegel im ersten Ansturm zu sprengen. Kein Wunder, wenn eine hypnotische Kraft wie diejenige Atmas ihn gefügt hatte. Aber Dr. Glossin wußte auch, daß jeder Angriff die Verriegelung schwächte, daß sie doch eines Tages brechen mußte, wenn sie nicht ständig erneuert wurde. Er beschloß, vorläufig in Düsseldorf zu bleiben, das Haus, in welchem Jane wohnte, zu beobachten, die nächste Gelegenheit abzupassen und auszunutzen.

Die vierte Nachmittagsstunde kam heran, die Zeit, zu welcher Silvester mit Jane zu sprechen pflegte. Wie gewöhnlich setzte sie sich an den Apparat und hielt den Hörer erwartungsvoll an das Ohr.

Nur noch Sekunden, dann mußte die Stimme Silvesters zu ihr dringen. Dann würde sie aus seinem eigenen Munde hören wie der Brand in Linnais verlaufen war und wo er sich jetzt mit seinen Freunden befand.

Jane saß und harrte auf die erlösenden Worte. Wartete, während die Sekunden sich zu Minuten häuften und aus den Minuten Viertelstunden wurden.

Der Apparat blieb stumm. Nur das leichte Rauschen der Elektronenverstärker war an der Telephonmembrane zu hören.

Jane saß und wartete. Sie konnte es ja nicht wissen, daß Silvester in diesem Augenblick den Strahler am Pol richtete, ihr Bild auf die Mattscheibe brachte. Sie harren sah und hundertmal den Umstand verwünschte, daß die Antennen für die telephonische Verbindung noch nicht gespannt waren. Sie wußte nur, daß sie hier vergeblich auf Silvesters Stimme harrte, und Zweifel begannen ihr zum Herzen zu steigen.

Die Worte Glossins kamen ihr in den Sinn. Sollte es doch wahr sein, daß …? Sollte die Zeitung nicht gelogen haben, die ihr Glossin damals gab?

Die zweite Erschütterung, die den Riegel sprengen konnte, vielleicht schon sprengen mußte, kam ohne das Zutun Glossins. Kam, weil sechshundert Meilen entfernt in Schnee und Eis ein paar Drähte nicht rechtzeitig gespannt worden waren.

Die Minuten verrannen. Die Uhr hub zum Schlage an und verkündete die fünfte Stunde. Die Zeit, für welche Jane nach der Verabredung die Elektronenlampen brennen, ihren Apparat in der Empfangsstellung stehen lassen sollte, war vorüber.

Das war ihr klar, Silvester war nicht da … Es war ihm irgend etwas zugestoßen … Er war …

Sie dachte das Wort nicht zu Ende. Von einem plötzlichen Impuls getrieben, sprang sie auf und faßte einen Entschluß. Einen übereilten und unsinnigen. Aber sie hatte in diesen Minuten nur noch das eine Gefühl, daß sie fort müsse. Silvester zu suchen, bis sie ihn gefunden habe.

Vorsichtig öffnete sie die Tür zu dem Zimmer der alten Termölen. Die hatten ihr Nachmittagsschläfchen noch nicht beendet. Leise machte sie die Tür wieder zu. Hastig füllten ihre zitternden Hände eine kleine Ledertasche mit dem Notwendigsten. Ein paar Zeilen an die Alten. Daß sie ginge, ihren Gatten zu suchen.

An der Tür blieb sie stehen und umfaßte mit einem langen Blick noch einmal den schlichten Raum, in dem sie die letzte glückliche Stunde mit Silvester verlebt hatte. Da stand ja noch der Elektronenempfänger, mit dem sie jederzeit und überall seine Stimme hören konnte, wenn er sie rief. Sie eilte darauf zu und hing den Apparat über ihre Schulter. Lautlos und ungesehen verließ sie die Wohnung. Aber nicht ungesehen das Haus.

Dr. Glossin sah sie auf die Straße treten. Er folgte ihr. Erst in die Uferbahn, dann in das Flugschiff. Sorgfältig darauf achtend, daß er selbst nicht von ihr gesehen werde. Eifrig darauf bedacht, sie nicht aus den Augen zu verlieren.

Der telenergetische Strahler Silvesters arbeitete mit einer besonderen, von ihm zum erstenmal in reiner und konzentrierter Form dargestellten Art der Energie, mit der Formenergie. Sein Apparat enthielt, in besonderer Art gespeichert, einen verhältnismäßig nur geringen Vorrat dieser Energieform.

Um trotzdem die gewaltigen Leistungen des Strahlers zu erklären, muß man sich zwei Umstände vor Augen halten. Erstens die automatische Selbsterneuerung der Formenergie. Eine keimfähige Eichel besitzt nur unmeßbar geringe Mengen von Formenergie. Diese winzige Menge reicht aus, um aus vorhandenen Stoffen und einfacher Sonnenstrahlung einen großen Eichbaum entstehen zu lassen. Danach aber ist die ursprünglich vorhandene Menge der Formenergie keineswegs erschöpft. Im Gegenteil, sie erfährt automatisch eine Vergrößerung, denn der aus der ersten Eichel erwachsene Baum bringt neue Eicheln in großer Menge hervor.

Nach dem gleichen Grundsatz erfuhr der in dem Strahler gespeicherte Vorrat an Formenergie durch das Arbeiten des Apparats keine Schwächung, sondern er blieb dauernd auf gleichbleibender Höhe.

Zweitens muß immer wieder betont werden, daß der Strahler auf die überall im Raum vorhandene physikalische Energie nur auslösend wirkte, wie etwa der Fingerdruck gegen einen Flintenhahn auf die in der Gewehrpatrone vorhandene chemische Energie. Nur die Größe und Formgebung der strahlenden Elemente begrenzten die Wirkungen, die mit dem Apparat zu erreichen waren. Den letzten großen Strahler hatte Silvester auf eine Höchstleistung von 10 Millionen Kilowatt oder 13 Millionen Pferdestärken bemessen. Das war eine Leistung von imposanter Stärke, eine Energiemenge, die sich im Laufe von Stunden und Tagen ins Riesenhafte häufen konnte. Es war geboten, vorsichtig mit Maschinen von solcher Leistungsfähigkeit umzugehen, Sorge zu tragen, daß die Wucht ihres Angriffes sich nicht auf unbeabsichtigte Ziele richtete.

Es konnte nichts passieren, solange der Strahler richtig bedient wurde, solange die wenigen und einfachen Vorschriften seiner Handhabung beachtet wurden. Doch um sie zu beachten, mußte man seine Sinne beisammen haben. Man durfte nicht kopflos vor Schreck und Aufregung sein, wie es Silvester war, als er in der sechsten Stunde des vierten Tages. den die drei am Pol zubrachten, vom Strahler forteilte.

Um die vierte Stunde dieses Tages hatte Silvester den Strahler gerichtet, die neue Telephonanlage eingeschaltet und wollte Jane von seiner Rettung Mitteilung machen. Er stellte den Strahler auf das bekannte Ziel und brachte das Bild von Janes Zimmer in Düsseldorf auf die Mattscheibe. Jeder Gegenstand des fernen Raumes wurde sichtbar. Nur den Empfangsapparat konnte er nicht finden, den er Jane bei seinem Abschied übergeben hatte, und Jane selbst war nicht da.

Silvester suchte. Er ließ den Strahler Zoll für Zoll vorrücken und verfolgte mit wachsender Aufregung und Sorge das Bild auf der Scheibe, jeden Raum im Hause Termölen. Er sah jedes der ihm so wohlvertrauten Zimmer. Er erblickte den alten Herrn und Frau Luise. Er sah, wie sie bekümmert schienen und eifrig miteinander sprachen. Er verfolgte die Spuren Janes auf der Straße. Die Bilder aller der Wege und Orte, die er während seines Aufenthalts in Düsseldorf mit ihr betreten hatte zogen auf der Scheibe vorüber. Er suchte in steigender Verwirrung und Angst, bis er nach stundenlangem Bemühen die Nachforschung entmutigt aufgeben mußte.

Atma! war sein Gedanke. Atma mußte ihm helfen. Atma besaß wohl die Mittel und Kräfte, um wiederzufinden, was er selbst mit seiner wunderbaren Entdeckung nicht zu finden vermochte. So ließ er den Strahler und lief durch Gänge und Höhlen, bis er auf Atma traf. Er fand ihn im Gespräch mit Erik Truwor. Worte und Sätze schlugen an sein Ohr, auf die er in seiner Erregung kaum achtete.

»Zwinge, ohne zu verwunden! Gebrauche die Macht, ohne zu töten!«

»Wenn es geht, Atma. Ich will nicht morden. Doch soll ich die Macht nicht anwenden, weil Widerstrebende zu Tode kommen könnten?«

»Nein! Mit der Macht wurde uns die Pflicht, sie zu gebrauchen. Über den Gebrauch sind wir Rechenschaft schuldig. Die Größe der Macht erlaubt uns, ohne Tötung auszukommen.«

Ein zwingender Wille ging von der Gestalt des Inders aus. Seine ruhige, gleichbleibende Sprache wirkte auch auf Silvester. Bekümmert und aufgeregt war er in das Gemach getreten. Von dem einzigen Gedanken getrieben, von Atma Hilfe zu erbitten. Jetzt vergaß er seine Sorgen und Wünsche und geriet in dessen Bann. Er ließ sich nieder, um das Ende der Erörterungen abzuwarten. Atma betrachtete ihn einen kurzen Moment, und der Ausdruck eines tiefen Mitleids flog über sein bronzefarbenes Antlitz.

»Jane ist nicht bedroht.«

Atma sprach mit halblauter Stimme, Erik Truwor schien es kaum zu hören. Silvester empfand die Worte wie lindernden Balsam.

»Jane ist nicht bedroht.« Unhörbar wiederholte er die tröstenden Worte unzählige Male für sich selber und sank dabei immer mehr auf seinem Sessel zusammen. Eine Reaktion kam über ihn. Erst jetzt fühlte er die Anstrengungen der letzten Tage. Während der Tagesstunden in der Werkstatt. Des Nachts mit dem Bau der Antenne beschäftigt. Nur wenige spärliche Ruhestunden dazwischen. Sein Herz schlug matter, eine bleierne Müdigkeit überkam ihn, während er automatisch die Worte wiederholte: »Jane ist nicht bedroht.«

Seine Gedanken begannen zu wandern. Was für ein Leben führte er doch. Abenteuerlich, vom Schicksal gekennzeichnet und verfolgt von Anfang an. Nur einmal war sein Lebensschiff in ruhiges Fahrwasser gekommen. Damals in Trenton, als er friedlich seinem Beruf in den Staatswerken nachgehen konnte. Als ihm das Haus Harte zur zweiten Heimat wurde, als ihm ein zartes Liebesglück erblühte. Welcher Dämon hatte ihn damals getrieben, der Erfindung nachzujagen, dieser Entdeckung, die schon seinen Vater Freiheit und Leben gekostet. War nicht Unheil unlösbar mit dem Problem verbunden? Brachte der Versuch, es zu lösen, nicht Tod und Verderben auf jeden, der sich damit abgab?

Wie glücklich hätte sich sein Leben ohne diese Erfindung gestaltet. Jetzt könnte er auch in Trenton mit Jane verbunden sein, dort an ihrer Seite ruhig leben. Gewiß, nur als ein Dutzendmensch, als einfacher Ingenieur der Werke, ein winziges Rädchen in einem riesigen Getriebe.

Den Ehrgeiz hätte er begraben müssen. Aber dafür hätte er ein bescheidenes Glück gewonnen. Das Leben an der Seite Janes. Niemand hätte es dort gewagt, hätte es wagen können, ihn so kurze Zeit nach der Vereinigung wieder von der Seite seines Weibes fortzureißen. Wieviel Schmerzliches wäre ihm erspart geblieben. Die Verhaftung und Verurteilung. Die schweren Tage in Sing-Sing.

Er hob den Kopf, und sein Blick traf sich mit dem von Atma. Es schien, als ob der Inder jeden Gedanken hinter der Stirn Silvesters gelesen hätte. Er schüttelte verneinend das Haupt, und Silvester ergriff den Sinn.

Es wäre ihm nicht erspart geblieben! Auch wenn er nie an die große, gefährliche Erfindung gedacht hätte, würden feindliche Gewalten ihn aus einem stillen Glück gerissen haben. Dann war es wohl Schickung, der niemand zu entgehen vermag.

Die Lehren von Pankong Tzo wurden wieder in ihm lebendig: Wir sind alle auf das Rad des Lebens gebunden und müssen seinen Drehungen willenlos folgen. Nur um ein Geringes können wir in jedem der vielen Leben, zu denen wir verurteilt sind, unsere Stellung auf dem Rade verändern.

Traumartig verschwommen jagten die Gedanken durch sein Gehirn. Wie im Traum hörte er die Stimme Erik Truwors:

»Ich brauche dich, Atma. Wenn ich die Macht anwende, sollst du als mein … als unser Botschafter zu den Menschen gehen und ihnen meinen Willen kundtun.«

Der Inder neigte zustimmend das Haupt.

»Ich werde gehen, wenn es an der Zeit ist. Tsongkapa sagt: ›Gehe zu den Menschen, ihnen die Neuordnung der Dinge zu verkünden‹ …«

Ein dumpfes Krachen unterbrach die Worte. Ein Schüttern und Beben gingen durch die Eishöhlen. Wie wenn die Schollen schweren Packeises im Sturm knirschend gegeneinandergepreßt werden. Der Boden, auf dem sie standen, schwankte.

»Der Strahler …!«

Atma sprach es, bevor noch Erik Truwor oder Silvester ein Wort fanden.

»Wo steht der große Strahler?«

»Im unteren Gange.«

»Nach oben damit! Von unten kommt das Wasser.«

Der Inder eilte schon dem unteren Gange zu. Erik Truwor und Silvester folgten ihm. Über die breiten Eisstufen ging der Weg nach dem untersten Gang, der zu den Werkstätten und Laboratoriumsräumen führte. Zu gewöhnlicher Zeit ein leichter und bequemer Weg. Jetzt nur mit Vorsicht zu beschreiten. Der ganze Berg schien sich um etwa dreißig Grad gedreht zu haben, und in dieser schrägen Lage war der Abstieg über die glatten Stufen äußerst beschwerlich.

Auf einem Treppenabsatz stand der kleine Strahler, den sie schon aus Amerika mitgebracht hatten.

Jetzt war das Laboratorium erreicht. Doch schon bis zur halben Höhe überflutet. Mit einem Sprung warf sich Erik Truwor in das eisige Wasser, drang bis zu dem großen Strahler vor und trieb mit einem einzigen Faustschlag die beiden Regulierhebel auf ihre Nullstellungen. Er wollte den Strahler packen und die Stufen hinauf aus dem Laboratorium schleppen. Es war zu spät. Von Sekunde zu Sekunde stiegen die gurgelnden Wasser höher, während das Knirschen brechenden Eises den Berg erzittern ließ. Schon fand der Fuß keinen Halt mehr auf dem Boden. Nur noch schwimmend erreichte Erik Truwor die Stufe der Treppe.

Das Wasser stieg. Stufe auf Stufe kam es herauf, Stufe um Stufe mußten die drei Freunde sich zurückziehen. Dabei fühlten sie einen Druck auf der Brust, ein Brausen in den Ohren, ein Ziehen in den Gelenken, Zeichen, daß die Luft sich unter dem Druck des steigenden Wassers komprimierte. Die Erscheinung gab den Beweis, daß der Berg mit den Höhleneingängen unter den Wasserspiegel geraten war und daß die eingeschlossene Luft sich jetzt in den oberen Teilen der ausgeschmolzenen Räume verdichtete.

Auf dem Treppenabsatz ergriff Atma den kleinen Strahler und hing ihn sich um.

Jetzt schien der Berg zur Ruhe gekommen zu sein. Noch fünf bis sechs Stufen wurden von dem langsam und immer langsamer steigenden Wasser überschwemmt. Dann stand die Flut.

In dem oberen Wohnraum machten sie Rast.

»Gefangen! Elend gefangen und in der Falle eingeschlossen wie Ratten. Beinahe auch schon ersäuft wie Ratten.«

Erik Truwor stieß die Worte hervor, während er die geballte Faust auf die Tischplatte fallen ließ.

Schweigend ging Atma in den Nebenraum und kehrte mit dem Arm voller Kleidungsstücke zurück.

»Du bist kalt und naß, Erik!«

Erik Truwor stand auf und ergriff das Bündel. Es war nicht angebracht, in den nassen Kleidern zu bleiben. Er ging in das Nebengemach und ließ Atma und Silvester allein.

Was war geschehen? Während Erik Truwor die Kleidung wechselte, suchte sich Silvester die Vorgänge zu rekonstruieren. Als er den Strahler verließ, wollte er ihn abstellen und den Zielpunkt von Düsseldorf fortnehmen. Die Bedienungsvorschrift war einfach. Erst den Energieschalter in die Ruhestellung, dann den Zielschalter. In seiner Erregung und Verwirrung hatte Silvester zwei Fehler begangen. Er hatte den Zielschalter nicht in die Ruhestellung auf ein unendlich entferntes Ziel gerückt, sondern in der verkehrten Richtung auf das nächst mögliche Ziel. Aus Sicherheitsgründen war die kleinste Zielentfernung des großen Strahlers auf hundert Meter bemessen. Denn wenn es möglich gewesen wäre, den Schalter auf den absoluten Nullpunkt zu bringen, dann mußte ja die Energie sich im Strahler selber konzentrieren, mußte den Apparat und nach menschlicher Voraussicht auch den, der ihn bediente, momentan in Atome auflösen.

Silvester hatte beim Fortgehen den Zielhebel falsch herumgestellt, und er hatte dem ersten Versehen ein zweites hinzugefügt, indem er auch den Energiehebel auf volle Leistung rückte. Der zweite Fehler war eine logische Folge des ersten. Beide Hebel waren in der gleichen Richtung auf die Ruhestellung zu bringen. Täuschte man sich bei der Richtung des ersten, war es sehr naheliegend, daß auch der zweite falsch geschaltet wurde.

Der Strahler hatte vom Pol aus die Richtung geradlinig auf Düsseldorf. Die Ziellinie schnitt als mathematische Gerade schräg nach unten gerichtet in den Erdball ein. Durch die falsche Bedienung hatten 10 Millionen Kilowatt in Form von Wärmeenergie schräg unterhalb des Eisberges, nur 100 Meter von ihm entfernt, im massiven Poleis gearbeitet. Mit dem Effekt natürlich, daß das Eis zu schmelzen begann, daß sich unter dem Eisberg ein größer und immer größer werdender, mit Wasser gefüllter Raum bildete. Bis die schwache Eisdecke den Berg nicht mehr zu tragen vermochte. Bis sie auf der Seite des Berges, auf die der Strahler gerichtet war, krachend und knirschend zu Bruche ging und der Berg sich halb schräg nach unten in den geschmolzenen Pfuhl wälzte.

Gesammelte Werke: Science-Fiction-Romane + Abenteuerromane + Erzählungen

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