Читать книгу Gesammelte Werke: Science-Fiction-Romane + Abenteuerromane + Erzählungen - Dominik Hans - Страница 11
Atlantis
ОглавлениеDas Kohlenschiff »Christian Harlessen« lag fünf Kilometer südlich von Black Island vor Anker. Fünftausend Pferde Maschinenkraft, viertausend Tonnen Wasserverdrängung. Heimathafen Hamburg, Reeder Jacob Jeremias Uhlenkort & Söhne.
Fröstelnd schob sich der Wachtmann, die einzige lebendige Seele auf Deck, an der Reling entlang. Mechanisch ließ er den Blick bisweilen über das Meer gleiten, gelegentlich war Treibeis zu sehen. Noch verwehrte ein dünner Nebelschleier die Sicht.
Ein lichter Schimmer von Osten her kündete das aufsteigende Tagesgestirn. Schärfer blickten seine Augen. Von Minute zu Minute wurde die Luft sichtiger.
Am Vordersteven machte er halt. Sein Blick war nach Norden gerichtet, wo Black Island liegen mußte. Da … er stand … und stand.
Langsam löste er seine Hände aus den Taschen und fuhr sich über die Augen. Dann packten seine Fäuste die Reling. Sie umklammerten sie, als ob sie das starke Stahlrohr zerquetschen wollten. Black Island? … War das die Insel Black Island? Land … das war Land … ja, das war Land … was sich vor ihm ausbreitete.
Seine Lippen bewegten sich, als wollten sie schreien. Die weit geöffneten Augen stierten geradeaus. Doch! Da war Black Island … Da war es ja … aber … aber viel näher! Viel größer … und es wurde … immer größer … immer höher.
Die zerklüfteten Felsspitzen der Insel, im hellen Sonnenschein gegen die schwarzen Wolken im Hintergrund … schienen taumelnd in die Höhe zu streben. Das Vorland, nach allen Seiten wuchs es mit. In immer weiteren Kreisen dehnte sich der Strand, schien auf das Schiff hinzulaufen. Da lösten sich seine Hände … Sie schlugen sich vor das Gesicht, das sich wie zur Flucht abwandte. Er stürzte fort. Ein Schrei wie der eines Menschen aus tiefster, verzweifelter Not gellte über Deck.
»Land! … Land! … Land kommt! Land ahoi!« Der Wachtmeister riß die Luke zum Quartier auf. »Land ahoi!« brüllte er in den Raum.
Die Gestalt des Ersten Steuermanns schob sich die Treppe hinauf.
Bevor er die oberste Stufe erreichte, krallten sich zwei Hände in seine Schultern. Der Schrei gellte ihm in die Ohren.
»Land voraus … Land ahoi! … Land kommt über uns.« Mit einem Ruck schüttelte der Steuermann ihn von sich. »Was? … Was schreist du … Land? … Land ahoi? … Bist du verrückt geworden?«
Seine Augen folgten dem ausgestreckten Arm, der nach Norden zeigte.
»Land ahoi, Steuermann!«
Der Steuermann taumelte zurück.
»Land ahoi!« schrie es von seinen Lippen. »Anker auf! … Anker auf! … Motoren klar!«
Die Deckleute stürzten nach oben.
»Anker auf!« brüllte der Steuermann und lief zur Brücke. Knatternd setzte sich die Motorwinde in Bewegung. Klirrend und rasselnd fuhr die Ankerkette durch die Klüse. Der Maschinentelegraf klang schrillend.
Die Schiffsmotoren sprangen an.
»He, Steuermann! Was ist? … Was soll’s?« Der Kapitän stand auf der Brücke und riß den Steuermann am Arm. Der fuhr herum. »Land!
Kapitän … Land kommt …«
»Land kommt?« murmelten die Lippen des Kapitäns. Sein tief gebräuntes Gesicht war erblaßt. Mit unruhigen Händen hob er das Glas.
Sah, wie das Land da vor ihm wuchs – Black Island … in die Höhe … in die Breite … sah, wie es auf sie zukam … näher … und immer näher.
»Ruder backbord! Hart backbord! Volle Fahrt voraus!«
Der Steuermann schrie es.
»Volle Fahrt voraus!«, der Kapitän rief es nach. Der Schiffsrumpf erzitterte, das Schiff kam in Bewegung. Es gehorchte dem Steuer und floh … floh vor dem wachsenden Land. Voll Grauen hingen die Blicke der Mannschaft an den steigenden Felsen, an dem Land, das sie zu verfolgen schien, das ihre Augen und Sinne verrückt machte.
Bis die Entfernung immer größer wurde, bis das Phantom im Nebel entschwand. Bis die Kehlen wieder frei wurden, die Lippen sich wieder zu bewegen vermochten … zu flüstern, zu sprechen über das Niegesehene … Nieerlebte. »Volle Fahrt voraus!« so fuhren sie … und fuhren, bis sie an der Mole von Wibehafen festmachten. Der Hafenkommandeur sah die verstörten Gesichter und nahm die Mannschaften der Reihe nach vor. Die sahen mit Augen, die in die Ewigkeit blickten. Erzählten von dem gespenstischen Land, das vor ihren Augen aus der See wuchs … und wie sie vor dem flohen. Da ließ er sie. Wandte sich ab und schickte das Regierungsschiff. Das fuhr und kam nach Black Island. Und sie sahen es daliegen. Wie ein Turm über dem Kirchdach lag die alte Insel auf einer neuen, viel größeren, die hier aus den Fluten gestiegen war.
In langsamer Fahrt, immer wieder lotend, umsteuerte das Schiff das neue Land. Tausend Quadratkilometer waren, wo vordem hundert Quadratkilometer aus der See ragten. Sie kamen nach Wibehafen zurück und berichteten, was sie gesehen hauen. Und dann begannen Radiosender und Telegraf zu spielen und meldeten der Welt, was geschehen war.
Überraschend war das Bild, das sich den Augen Walter Uhlenkorts bot, als er in das Riesenrund des Zirkus trat. So überraschend, daß er stehen blieb, ohne den harrenden Logenschließer zu beachten.
Wohl war es in der Sache das gleiche, was er schon in so manchem anderen großen Zirkus der Welt gesehen hatte. In den Logen die beste Gesellschaft, stark durchsetzt mit Offizieren in glänzender Uniform. Im ersten Rang das bessere Bürgerpublikum, in den weiteren Reihen nach oben hin abstufend Mittelstand und schließlich die Galerie zum Brechen überladen …
Wären nur nicht die schwarzen Gesichter des Publikums gewesen.
Eine vieltausendköpfige schwarze Menge, in der die wenigen Weißen fast völlig verschwanden. Gewiß … er konnte hier in Timbuktu, der Haupt- und Residenzstadt des schwarzen Kaisers Augustus Salvator von Zentralafrika, kaum ein anderes Publikum erwarten. Immerhin blieb ein Eindruck, der für sein Europäerauge ans Groteske grenzte. Diese Hypereleganz der nach neuestem amerikanischen Schnitt gekleideten Logenbesucher … die gold- und silberstrotzenden Uniformen der Offiziere … die kostbaren Abendtoiletten der ebenholzfarbenen Damen in den Logen … und dann mit zunehmender Sitzhöhe abnehmende Bekleidung, die schließlich an der Galerie beim Lendenschurz endete … das alles gab ein Bild, das gleichzeitig verblüffend und erheiternd auf ihn wirkte. Minuten verstrichen, bevor er sein Auge von dieser Szenerie lösen konnte.
Die plötzlich einsetzende Lichtflut des Pressedienstes gab seinen Augen eine andere Richtung. An der Decke über der mächtigen Arena erschienen in feurigen Buchstaben die neuesten Nachrichten aus aller Welt. Automatisch las er die leuchtenden Texte.
»Spitzbergen, den 18. März. Jubiläum des zwanzigjährigen Bestandes der Vereinigten Arktischen Kohlengruben. Seit der Eröffnung verzehnfachte Ausbeute. Förderung in der ersten Hälfte des März zum ersten Mal fünfundzwanzig Millionen Tonnen …«
»London, den 18. März, 6 Uhr abends. Aus Anlaß der von Amerika beabsichtigten Großsprengung einer neuen Kanalroute in Panama ist es in mehreren schottischen Städten zu Demonstrationen gekommen …«
»Tschadsee, den 18. März, abends 6 Uhr 20. Die Arbeiten am Kaiser-Augustus-Schacht sind in den letzten Tagen so gefördert worden, daß man am 20. März die bisher nie erreichte Tiefe von 6.Meter anfahren wird.«
Nachdrängendes Publikum nötigte Walter Uhlenkort, seine Blicke wieder dem Boden zuzuwenden. Er schritt den Rundgang weiter entlang zu seiner Loge. Ein Schließer überreichte ihm Theaterglas und Programm. Zwischen zwei schwarzen Gentlemen hindurch, welche die beiden hinteren Plätze der Loge einnahmen, trat er zu dem freien Platz vorn rechts, grüßte mit leichtem Kopfnicken den weißen Nachbarn zur Linken und vertiefte sich mit Interesse in das Programm …
»Grand Circus Webster Brothers
Timbuktu, den 18. März Große Gala- und Eröffnungsvorstellung Auftreten sämtlicher Künstler und Spezialitäten Die berühmtesten Artisten der Welt! Erstklassiges Pferdematerial. Großartige Raubtierdressuren in nie gesehener Vollendung …«
Uhlenkorts Blick zuckte über die einzelnen Nummern des Programms und blieb bei der vierten haften: »Miss Arabella Simson, die beste Schulreiterin der Welt, auf ihrem englischen Vollbluthengst Cohinor …«
Er ließ das Blatt sinken und starrte sinnend in die leere Manege. Die rauschenden Klänge der eben einsetzenden Zirkusmusik rissen ihn aus seinem Nachdenken. Noch einmal wanderten seine Augen über das exotische Publikum des Zuschauerraums. Dann betrachtete er seinen Nachbarn zur Linken. Ein hageres, bartloses Gesicht, tief gebräunt von der afrikanischen Sonne.
Walter Uhlenkort schaute auf seine Uhr und warf einen Blick auf die leere Hofloge.
»Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige … aber hierzulande sind sie noch nicht soweit«, klang es leise in englischer Sprache aus dem Mund seines Nachbarn. »Es scheint so«, gab Uhlenkort mit leisem Lächeln zurück.
»Wird aber wohl nicht mehr lange dauern, taxiere ich, die Diplomatenlogen beginnen sich zu füllen. Da drüben links … der Botschafter des Europäischen Staatenbundes … da tritt er eben ein …
Seine Exzellenz Dührsen, wenn Sie’s interessiert … oder kommen Sie nicht aus dem alten Europa?«
»Richtig geraten …«
Jäh brach die Musik ab, und ebenso jäh verstummte das lebhafte, schwatzende Publikum. Alle Blicke richteten sich auf die Hofloge, in die soeben der Oberhofmarschall getreten war.
Dreimaliges Aufstoßen seines Stabes. Aufpeitschende Rhythmen der afrikanischen Nationalhymne …
Mit einem Ruck erhob sich das Publikum und stimmten die Melodie ein.
Die Türen im Hintergrund der Hofloge flogen auf. Inmitten eines glänzenden militärischen Gefolges trat der Kaiser in die Loge. Schritt nach vorn, blieb an der Brüstung stehen und dankte mit leichtem Kopfneigen für die Ovationen des Publikums. Erst als die Nationalhymne verklungen war, ließ er sich nieder, und das Publikum folgte seinem Beispiel.
»Sankt Pauli is gor nix dagegen«, brummelte Uhlenkorts Nachbar beim Niedersetzen vor sich hin. Diese Worte, die in unverfälschtem Hamburger Dialekt sein Ohr trafen, ließen Uhlenkort den Kopf wenden.
»Auch von Hamburg?«
»… auch?«
Der drehte sich nun voll um und sah Uhlenkort prüfend an. »… auch Hamburg … freut mich riesig. Waterkant hatte ich ungefähr taxiert.
Trifft man sich nicht am Jungfernstieg, dann sieht man sich in Timbuktu.«
Mit freudig blitzenden Augen reichte er Uhlenkort die Rechte, und vergnügt lachend schlug der ein.
»Das nenne ich Glück. Kommt Klaus Tredrup mit drei Tagen Urlaub von dem Höllenschacht am Tschadsee und trifft gleich am ersten Tag einen Landsmann.«
»Meine Freude ist nicht minder groß, einen Hamburger zu treffen, der hier Bescheid zu wissen scheint.«
»So etwas, Herr Nachbar …«
»Uhlenkort.«
»Uhlenkort? Jacob Jeremias Uhlenkort & Söhne? Ah … !«
Lebhafter Beifall unterbrach ihr Gespräch. Sie sahen noch eben eine blonde Panneaureiterin in den Sand springen und mit lächelndem Gesicht und Kußhänden für den Beifall danken.
»Schweinerei, verdammte! Man möchte am liebsten dem ganzen Dreck den Rücken kehren. Müssen die armen Luder hier ihr weißes Fleisch zur Schau stellen … und dann noch mit Kußhänden dafür danken, daß sie Gefallen gefunden haben in den Augen der …«
»Pst! Nicht so laut, Landsmann«, unterbrach ihn Uhlenkort.
Unwillkürlich zuckte Klaus Tredrup zusammen. »Verdammt! Sie haben Recht! Die deutsche Sprache ist hier nicht so unbekannt, wie mancher denkt – und Spione gibt es mehr als genug.«
Ein paar Clowns kugelten in die Arena und entfesselten ein Freudengewieher der schwarzen Zuschauer.
»Noch ein Wort, Herr Uhlenkort. Bleiben Sie noch etwas in Timbuktu?«
Uhlenkort nickte.
»Heute Abend frei?«
Abermals ein zustimmendes Nicken.
»Ausgezeichnet! Verschieben wir unser Palaver bis nach Schluß der Vorstellung.«
»Meinetwegen schon nach der ersten Pause.«
»Recht so! Ich schlage vor beim Obermoser. Da gibt’s ein Pschorr, gut gekühlt und frisch vom Fass.«
Die vierte Nummer des Programms war jetzt an der Reihe. Die Schulreiterin Miss Arabella Simson auf einem wundervollen Vollblut, das ein Stallmeister am Zügel in die Manege führte.
Klaus Tredrup schien von der Reitkunst dieser Dame nicht über die Maßen begeistert zu sein. Mit einer Bemerkung auf den Lippen wandte er sich an seinen Nachbarn und sah, daß dieser seine Brieftasche auf den Knien entfaltet hatte, daß seine Augen zwischen einer kleinen Fotografie und der Schulreiterin hin- und hergingen. Er unterdrückte, was er sagen wollte, und wartete.
Mit jähem Ruck schob Uhlenkort das Bild in die Brieftasche zurück.
»All right, mir soll es recht sein!«
Gerade als die beiden Hamburger sich von ihren Plätzen erhoben, trat ein anderes weißes Paar in eine schräg gegenüberliegende Loge ein. Ein Herr und eine Dame, beide in großer Abendtoilette.
Der Herr, Ende der Dreißiger, eine hoch gewachsene Gestalt, groß und mager, mit einem schmalen, langen Gesicht. Die dünnen, rotblonden Augenbrauen wölbten sich über hellgrauen Augen. Ein nervöses Blinzeln ließ die Augen sich häufig schließen. Um die schmalen, dünnen Lippen lag ein leises Lächeln.
An den Börsen von New York und Chikago kannte man dieses stete Lächeln, und man fürchtete es. Auch Klaus Tredrup wäre nicht so seelenruhig, wie er es jetzt tat, aus dem Zirkus geschritten, wenn er diese Züge noch erkannt, seinen alten Widersacher und Rivalen Guy Rouse hier gesehen hätte.
Aber Guy Rouse sah den Hamburger, drehte sich blitzschnell um und flüsterte dem Logendiener ein Wort zu. Dann eilte er zu seiner Dame, die, unbeirrt von den vielen Gläsern und Blicken, die sich auf sie richteten, an der Brüstung stand, und half ihr aus dem Abendcape. Das Aufsehen, das sie erregte, war wohl berechtigt. Juanita Alameda war in der Tat eine blendende, eine vollkommene Schönheit. Die tadellose Figur mit höchster Eleganz gekleidet.
Als Guy Rouse sich eben setzen wollte, trat ein schwarzer Gentleman in unauffälliger Kleidung an ihn heran. Ein paar geflüsterte Worte von Seiten des Amerikaners, ein kurzes Nicken des Schwarzen, der sich daraufhin sofort wieder entfernte.
Guy Rouse ließ sich nieder und nahm das Opernglas vor die Augen. Er richtete es auf die Vorgänge in der Manege. Aber hinter den Okularen des Glases wandten sich seine Augen scharf zur Seite zu seiner Nachbarin hin. Die schien interessiert den Jockeikünsten dort unten zu folgen.
»Findest du nicht auch, Juanita, daß der Besuch hier außerordentlich lohnt? Man sieht doch recht Interessantes!«
»Wie meinst du das?«
»Nun! Ist denn nicht der Anblick des Zuschauerraums allein den Besuch wert? Sieh nur die Loge des Kultusministers mit Familie. Die Dame neben dem Minister … der tiefe Rückenausschnitt der hellroten Seidenrobe kontrastiert doch recht eigenartig mit der schwarzen Haut …
Das Girl vor ihr, ihre Tochter, hat wenigstens zwei Töpfe Pomade aufgewandt, um ihr Kraushaar zu dieser Glätte zu zwingen; ihr Schmuck genügt übrigens, um zehn Amerikanerinnen aus der Fünften Avenue reichlich zu versorgen … Der junge Gent an ihrer Seite, dem der weiße Kragen die Ohrläppchen wundscheuert, wird demnächst Legationssekretär in Washington; ist ihr Bräutigam. Du wirst Gelegenheit haben, das junge Paar wieder zu sehen. Übrigens trotz seiner Jugend ein kolossal gewandter Bursche. Er hat drüben bei uns in New Orleans seine Studien absolviert. Beherrscht ein halbes Dutzend Sprachen. Findest du nicht auch, daß …«
»Wie meintest du eben? Sagtest du etwas, Guy?«
Er biß sich auf die Lippen, und ein unbestimmter Ausdruck trat in seine Züge.
»Oh! … Ich sagte dir etwas von dem Spaß, den ich hatte, als ich hier eintrat.«
Jetzt wandte sie sich ganz zu ihm hin und sah ihn forschend an.
»Du amüsierst dich?«
Er nickte.
»Gewiß, ich habe mich gefreut!«
»… gefreut?«
»Aber ja! Es macht doch Freude, wenn man einen alten Bekannten wieder sieht.«
»… einen alten Bekannten?«
»Wozu noch die Fragen? Lassen wir das Spiel. Ich bewundere dich. Ich gratuliere dir zu deiner Selbstbeherrschung. Sie war meisterhaft! Nur wer dich so kennt wie ich … so in deinen Augen lesen kann wie ich, konnte bemerken, daß du ihn auch gesehen hast.«
»Wen meinst du?« kam es schwach, fast tonlos von Juanitas Lippen.
»Well! Unseren gemeinsamen Freund, deinen speziellen Jugendfreund … Mr. Tredrup.«
Juanita zerknitterte nervös das Programm. Minutenlang starrte sie geradeaus.
»Was hast du mit ihm vor?«
»Ich? Mit ihm? Ich glaube, du überschätzt mein Interesse an Mr.
Tredrup.« Er lächelte müde und grausam zugleich. »Ja! … Ich schätze, daß dein Interesse an Tredrup … Du weißt … wie du mich kennst, kenne ich dich auch … Wer war der Mann, der hier vorhin zu dir in die Loge trat?«
»Ein Kriminalbeamter! Das letzte Zusammentreffen mit Mr. Tredrup war, wie du weißt, nicht ganz ohne Gefahr für mich. Gefahren gehe ich, wenn es sich machen läßt, aus dem Wege. Ein nochmaliges Zusammentreffen mit ihm könnte wieder gewisse Gefahren mit sich bringen. Für mich … vielleicht auch für ihn. Wie bleiben noch einige Tage hier. Der Herr von der Polizei wird mir Nachricht geben, wie es um Mister Tredrup hier steht.«
»Guy!« Fast flehend hatte es geklungen.
»Bitte, Juanita!«
»Guy! … Ich bitte dich!«
»Du bittest, Juanita? Um was?«
»Schone ihn! Schone sein Leben!«
Er sah geradeaus an ihr vorbei. Das stete Lächeln um seine Lippen war geschwunden.
»Guy!« kam es nochmals dringend, »schone ihn um der Liebe willen …«
»… die du einst für Mr. Tredrup empfandest und vielleicht heute noch …«
»Guy!«
»Oder meinst du die Liebe … unsere Liebe?«
Das alte, harte und lüsterne Lächeln spielte wieder um seinen Mund.
»Oder meinst du unsere Liebe?«
»Guy! Ich weiß, ich gehöre dir … du verfügst über mich, wie es dir gefällt. Du weißt, wie oft ich dir nützlich war … und noch sein werde.
Du weißt auch, daß das glänzende Leben, das ich an deiner Seite führe, daß das nicht … aber …«
»Aber? Juanita! Du beliebtest soeben ›aber‹ zu sagen?«
»Ja! Aber … es gibt Grenzen! Grenzen, wo mein Herz …«
»Dein Herz? Gehört dein Herz nicht mir, Juanita?«
»Guy, hüte dich!«
»Du scherzest, Juanita!«
In diesem Augenblick kam der Kriminalbeamte wieder zurück, trat zu Guy Reuse in die Loge, übergab ihm einen Zettel mit der gewünschten Adresse und flüsterte ihm einige Worte zu.
Sorgfältig barg Rouse den Zettel in seiner Brieftasche. Dann klatschte er mechanisch Beifall, denn soeben erschienen die Mitglieder der Anaconda-Tauchertruppe wieder über der Wasseroberfläche, nachdem sie allerlei Wasserkunststücke gezeigt hatten.
»Köstlich! Köstlich, diese schwarzen Stielaugen, wie sie die weißen Wasserweiblein beinah verschlingen! Allerdings, wunderbare Körper haben diese Taucherinnen! Na, sie werden hier sicherlich hoch bezahlt werden.«
Die Vorführungen der Tauchergruppe waren beendet. In der nun folgenden Pause flammten neue Nachrichten des Pressedienstes an der Decke auf.
»Panama, den 18. März, abends 6 Uhr 45 Min. Ortszeit. Die Minen von Kilometer 60 bis 70 sind geladen. Die Bohrlöcher der Schlußstrecke von Kilometer 70 bis 73 sind mit Erreichung einer Tiefe von 1,5 Kilometer vollendet. Die Ausmeißelung der Sprengkammern auf diesem letzten Teil der Strecke hat begonnen. Die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten ist durchaus für die gleichzeitige Sprengung sämtlicher Minen.«
»Oslo, den 17. März, abends 6 Uhr 30 Min. Ortszeit. Die aus allen Teilen des Landes gesammelten Resolutionen sind soeben an die europäische Zentralregierung in Bern abgegangen. Norwegen verlangt von Bern nochmals energischen Protest gegen gleichzeitige Sprengung aller Panamaminen.«
»Timbuktu, den 18. März, abends 7 Uhr 30 Min. Die Kaiserliche Regierung hat beschlossen, die Anfahrung des sechsten Kilometers im Kaiser-Augustus-Schacht durch einen feierlichen Akt zu begehen.
Seine Majestät allerhöchst wird selbst geruhen, an der bedeutungsvollen Feier teilzunehmen.«
Als die letzte Nachricht erschien, durchbrauste mächtiger Applaus den ganzen großen Zirkus. Aller Blicke richteten sich auf die Hofloge. Es lebe der Kaiser! Als die spontane Kundgebung verrauscht war, begannen die Reihen sich langsam zu leeren. Die große Pause hatte begonnen und lockte einen erheblichen Teil des Publikums in das Foyer.
Guy Rouse wandte sich an Juanita.
»Ich verlasse dich für einen Moment. Ich habe ein paar dringende Fragen an unseren Botschafter zu richten.«
Als Guy Rouse gegangen war, verließ auch Juanita die Loge und trat in den Rundgang, um sich in das Foyer zu begeben. Da erblickte sie den Kriminalbeamten, der vor Kurzem die Adresse Rouse gegeben hatte. Im Augenblick zog sie einen goldenen Bleistift aus der Tasche, schrieb in aller Eile auf die Rückseite des Programms ein paar Worte und winkte dem Beamten gleichzeitig mit den Augen. Dann drehte sie sich zur Loge zurück und ließ dabei wie unabsichtlich den Fächer fallen. Der Kriminalbeamte verstand im Augenblick, sprang hinzu und überreichte ihr den verlorenen Fächer. Während sie ihn entgegennahm, reichte sie dem Beamten das zusammengefaltete Programm.
»Von Mr. Rouse für Mr. Tredrup.«
Kaum hatte der Beamte sie verlassen, als Rouse zurückkam.
Als er Juanita außerhalb der Loge traf, warf er einen mißtrauischen Blick um sich.
»Wo wolltest du hin, Juanita?«
»Ich wollte ins Foyer. Die Luft hier ist entsetzlich … aber das unverschämte und zudringliche Anstarren da draußen ist mir noch mehr zuwider. Ich möchte nach Hause. Mein Kopf schmerzt.«
»Ich habe soeben von unserem Botschafter erfahren, daß der Kaiser den Zirkus verläßt und mich um 9 Uhr 30 im Schloß erwartet. Wir kehren sofort ins Hotel zurück.«
Sie saßen beim Obermoser und waren nicht mehr beim ersten Glas.
»Wie ist’s, Herr Uhlenkort, wollen wir die Kalebassen noch einmal vollaufen lassen?«
Klaus Tredrup, der alte Wittweidaer Studlker, schwenkte seinen leeren Krug nach dem Büfett hin.
»Meine drei Tage sind bald rum. An dem Teufelsloch am Tschadsee gibt’s solchen Stoff nicht!«
Ohne die Antwort abzuwarten, hob er seinen Krug hoch.
»Noch zwei Volle, Herr Obermoser aus Minka!«
Walter Uhlenkort nickte belustigt.
»Der Stoff ist tadellos. Der könnte sich am Stachus in München sehen lassen. Die verwöhnteste Zunge kann damit zufrieden sein.«
Der dicke Obermoser kam und setzte zwei schäumende Krüge vor die beiden hin.
»Wohl bekomm’s! Dös is eaner a Bier! Dös haben’s net glaubt, dos dös in Timbuktu finden täten, Herr Uhlenkort!«
»Na, wie mundet denn das den Schwarzen, Herr Obermoser?« fragte Uhlenkort. »Ich habe da im Vorbeigehen Ihren schwarzen Stammtisch nebenan bewundert.«
»Ja, Herr Uhlenkort«, schmunzelte der dicke Wirt, »das hätt’ ich selber zu Anfang net geglaubt, daß sich die schwarzen Brüder so an den Stoff gewöhnen würden. Ich hatte nur weiße Gäste erwartet. Aber jetzt habe ich hier einen schwarzen Stamm, der ist auf den Geschmack gekommen. Es sind Leutchen dabei, die ihre zehn Maß hintereinander auslecken, und zwar Exportbier, Herr Uhlenkort … Wollen die Herren die neuesten Nachrichten lesen? … Na, das mit dem Teufelsschacht, das wissen Sie ja schon, Herr Tredrup.«
»Was denn?«
»Na, die große Einweihungsfeier.«
»Nein, davon wissen wir ja noch gar nichts! Her mit den Nachrichten.«
Obermoser lief, so schnell es seine Rundlichkeit erlaubte, in den Nebenraum. Durch die offene Tür hörte man das polternde Treiben am schwarzen Stammtisch.
»Wie im Münchner Brauhauskeller«, lachte Uhlenkort.
Der Wirt kam zurück und legte die letzte Abendausgabe des Zentralafrikanischen Reichs- und Staatsanzeigers auf den Tisch.
»Da unten, da können Sie es lesen«, sagte er. Tredrup überflog das Blatt und las die Notiz, daß Seine Majestät entschlossen wären, selbst zur Einweihungsfeier des sechsten Kilometers des Tschadsee-Schachtes nach Mineapolis zu kommen.
»Donnerwetter noch mal! Das ist ja eine nette Überraschung. Dieser Entschluß muß sehr plötzlich gefaßt worden sein. Unser Oberbonze in Mineapolis wußte noch nichts davon, als ich abfuhr. Da mag es ja da unten munter zugehen. Alle Wetter, da werde ich wohl schon morgen telegrafisch zurückgerufen werden.«
Er setzte seinen Krug an und tat einen gewaltigen Zug.
»Dann ist das hier sicherlich nicht mein letzter Krug heute gewesen.
Jetzt ist Tied, Tredrup … Obermoser, noch einen Herr Obermoser!«
»Halt mal! Herr Uhlenkort, jetzt böte sich auch für Sie vielleicht Gelegenheit, an den Schacht zu kommen. Sicherlich werden die europäischen Diplomaten eingeladen werden. Ich sagte Ihnen vorhin, daß man kaum einen Schwarzen, geschweige denn einen Weißen, der nicht direkt mit den Bauten zu tun hat, in die Baustelle einschmuggeln kann. Es heißt hier wie im alten Europa: Das Betreten der Baustelle ist Unbefugten strengstens verboten. Aber wenn Sie in Begleitung Ihres Botschafters hinkommen, ließe sich die Sache am Ende machen.«
»Der Gedanke ist gut, Herr Tredrup. Ich werde mich morgen früh bei unserem Botschafter melden lassen und hoffe bestimmt, auf diese Weise den Bau zu sehen. Wir sind doch in Europa recht neugierig. Sie wissen ja, daß solche Projekte auch bei uns aufgetaucht sind … besonders als sich die Erdölvorkommen dem riesig angestiegenen Bedarf nicht mehr gewachsen zeigten und man zur Ausbeutung der mächtigen Kohlenlager Spitzbergens überging … Aber alle diese Projekte sind ihrer Sinnlosigkeit wegen immer wieder verworfen worden. Das letzte Mal hatte der amerikanische Ingenieur Grimmaud dafür Propaganda gemacht. In Europa hat er kein Glück gehabt, aber Augustus Salvator ist seiner Beredsamkeit unterlegen … wie es scheint … oder sollte er doch mal wieder schlauer gewesen sein als alle anderen?«
»Wie meinen Sie das, Herr Uhlenkort?« Dabei betrachtete er Uhlenkort mit aufmerksamen Blicken.
Der zuckte die Achseln.
»Nun, ich denke mir, daß der Plan, einen tausend Meter weiten Schacht so tief in die Erde einzubringen, daß man die Erdwärme technisch im größten Stile ausnutzen und viele hunderttausend Pferdestärken … nein, Millionen von Pferdestärken damit gewinnen kann, ein Plan, der von den Fachleuten der ganzen Welt als töricht und unmöglich und nicht lohnend verlacht wird – daß ein solcher Plan kaum geeignet ist, einen Mann wie den Kaiser Augustus, einen genialen, scharfsinnigen, überlegenen Mann, zu veranlassen, Staatsgelder im Betrage vieler Milliarden hineinzustecken, um sich schließlich zum Gespött der Welt zu machen.«
»Hallo, Herr Uhlenkort! Wie kommen Sie darauf? Was meinen Sie?«
Uhlenkort schaute prüfend in das Gesicht seines Gegenübers und lächelte leicht.
»Nun, mein lieber Herr Tredrup, ich denke vielleicht genau dasselbe, was Sie auch denken.«
»Deubel noch mal! Können Sie Gedanken lesen? Woher wissen Sie, ob ich denke und was ich denke?«
»Herr Tredrup, zum Diplomaten sind Sie nicht geboren, die verschiedenen Krüge Pschorr nicht zu vergessen. Ihr Gesicht sagt mir, daß Sie was denken, und ich glaube auch zu wissen, was Sie sich denken.«
Einen Augenblick saß Tredrup stumm. Dann tat er einen tiefen Atemzug und rief: »Prost, Herr Uhlenkort! Daß ich nicht zum Diplomaten geboren bin … große Schmeichelei … diese Bande ist mir alles andere als sympathisch … Hol’s der Teufel … aber trotz der verschiedenen Krüge halte ich Sie doch für einen der schlauesten …
Burschen, die unter Gottes Sonne herumlaufen. Denn … was ich vermute, will ich gar nicht sagen. Sie scheinen ja zu wissen. Wird es aber Wahrheit, dann hat der Kaiser Augustus, dieser schwarze Augustus, einen Erfolg, der ihm eine Handvoll starker Trümpfe gibt.
Aber zur Sache! Woher kommt Ihnen dieses Wissen? Oder vielmehr, was wissen Sie denn eigentlich? Wozu wollen wir unter uns Hamburgern noch weiter Versteck spielen?« Statt Antwort zu geben, benetzte Uhlenkort seinen Zeigefinger in dem Untersatz seines Glases und malte auf die Eichenplatte des Tisches die chemische Formel CaCund wischte sie sofort wieder weg, sobald Tredrup einen Blick darauf geworfen hatte.
»Karbid! Damn me! God bless your nose! Ihr Riecher ist nicht schlecht!«
»Ich sagte Ihnen bereits, daß Sie zum Diplomaten keine besonderen Talente haben. Wände haben Ohren! … Überall in der Welt. Sie schreien ein Wort in die Landschaft, Herr Tredrup, das heute vielleicht noch bedeutungslos, morgen, aus Ihrem Mund gesprochen, Verletzung eines Staatsgeheimnisses ist.«
Tredrup schlug sich mit der Hand auf den Mund.
»Die vielen Biere! Sonst hält Klaus Tredrup besser dicht. Sie werden die Bedeutung vielleicht noch höher einschätzen als ich. Sie haben Recht, die Sache ist nicht ganz ungefährlich. Aber heut Abend wollen wir nicht mehr davon sprechen. Nein! Lieber irgendwo anders, in Gottes freier Natur, wo keine Wände und keine Ohren zu fürchten sind. Auf alle Fälle werde ich Ihnen vor meiner Abreise noch Nachricht geben.
Eine Aussprache über diese Frage ist unbedingt notwendig. Auch darüber, wie man den Schwarzen diesen Trumpf aus der Hand nehmen könnte.«
»Wie? Wie meinen Sie das!« rief Uhlenkort erregt. Tredrup warf einen Blick in die Runde und drückte den Finger auf den Mund.
»Nun, Herr Obermoser«, wandte er sich an den eintretenden Wirt, »wollen Sie frischen Anstich melden?«
»Nein, Herr Tredrup«, sagte der Wirt, »es ist jemand draußen, der Sie sprechen möchte.« Bei diesen Worten machte er ein kaum merkliches Zeichen … Polizei.
Tredrup stutzte einen Augenblick, dann ging er mit dem Wirt zur Tür.
Durch die geöffnete Tür trat jener schwarze Gentleman, der mit Guy Rouse und dann später mit Juanita gesprochen hatte. Er murmelte ein paar undeutliche Worte und fragte dann: »Sind Sie Herr Klaus Tredrup?«
»Klaus Tredrup! Sie wünschen?«
»Ich bin beauftragt, Ihnen dieses zu überreichen.« Mit einer leichten Verneigung verließ der Beamte den Raum. Verwundert betrachtete Tredrup den zusammengefalteten Zettel. Ein Zirkusprogramm? Er trat unter die Lampe, entfaltete das Papier und begann zu lesen, was auf der Rückseite geschrieben stand. Es war eine kurze Notiz, in spanischer Sprache geschrieben.
Tredrup wendete das Blatt hin und her. Es zitterte in seiner Hand. Er besah es von allen Seiten, und seine Augen kehrten zu den wenigen Zeilen zurück. Wieder glitten seine Blicke über den Text. Dann ließ er das Blatt sinken und stand starr, wie geistesabwesend. Bilder schienen an ihm vorüber zuziehen. Der Kanal … der Kanal von Panama … das kleine Montegna … Juanita … und da war Guy Rouse … Guy Rouse …
Seine Rechte ballte sich zur Faust. Ein tiefes Atemholen, dann gab er sich einen Ruck. Mit langsamen Schritten kehrte er an seinen Platz zurück.
Uhlenkort hatte mit Staunen und Teilnahme die kurze Szene beobachtet.
»Bekamen Sie eine unangenehme Nachricht, Herr Tredrup?«
Tredrup schob ihm das Blatt zu. Die wenigen auf der Rückseite des Programms gekritzelten Worte lauteten: »Hüte dich! Denke an Montegna!« Ein einfaches J war die Unterschrift.
»Ihnen droht eine Gefahr, Herr Tredrup. Kann ich Ihnen nützlich sein?
Soweit es in meinen Kräften steht, stelle ich mich Ihnen zur Verfügung.«
Tredrup richtete sich auf, wie aus einem schweren Traum erwachend.
»Eine kurze Geschichte … wie sie in der Welt tausendmal passiert. Ich war bei den Arbeiten am Panamakanal tätig. Ich war wie hier Ingenieur … Mineningenieur bei den großen Bohrungen.«
Uhlenkort merkte auf und sah ihn mit gesteigertem Interesse an.
»Sie waren auch bei den großen Bohrungen am Panamakanal mit tätig?«
Tredrup nickte.
»Zwei Jahre war ich da unten und wäre heute noch da, wenn nicht eben diese kleine Geschichte seinerzeit passiert wäre.«
Er schob seinen Krug beiseite und rückte näher an den Tisch heran.
»Ja, da war ich … und da war ein alter Mann, ein Mexikaner … ein Bohrmeister aus meiner Abteilung, und da war dessen Tochter …
Juanita. Auch außerhalb der Arbeitsstunden kam ich häufig mit dem alten Alameda zusammen. Kam auch in sein Häuschen, das ein paar Kilometer von der Kanalstrecke landeinwärts lag und das er mit seiner Tochter Juanita zusammen bewohnte.
Juanita war damals achtzehn Jahre … Was soll ich Ihnen weiter sagen … Schön und rein wie der junge Morgen. Wir liebten uns! … Ja, wir liebten uns …«
Ein kurzes ironisches Lachen verzerrte seinen Mund.
»Liebten uns, bis er kam … er … dieser Rouse. Der große Rouse! … Sie kennen ihn …«
»Mr. Guy Rouse!« Walter Uhlenkort beugte sich weit vornüber …
»Rouse, der Präsident der neuen Kanalgesellschaft?«
»Derselbe … Seine Leidenschaft beschränkt sich nicht auf seine Milliarden allein. Sie kennen ihn? … Seine faszinierende Person! Seine Gabe, sich jedes Wesen gefügig zu machen, das er irgendwie zu gebrauchen gedenkt, versagte auch hier nicht. Wie er es fertig brachte … ? Er brachte es fertig … eines Tages war Juanita verschwunden, ohne ein Lebenszeichen zu hinterlassen. Alle, die sie kannten, waren ratlos. Ihr Vater, der alte Pedro Alameda, war verzweifelt. Man dachte an einen Unglücksfall. Es bot sich damals in den Sprengfeldern des Kanalgebietes mehr als eine Gelegenheit dazu.
Ich allein ahnte sofort, was geschehen war! Die Nachforschungen, die ich im geheimen anstellte, bestätigten es. Sie war ein Opfer von Guy Rouse geworden. Ich versuchte, zu ihm vorzudringen. Es gelang nicht.
Ich stellte ihn auf der Straße, als er in seinen Kraftwagen steigen wollte.
Ich sagte ihm die Wahrheit ins Gesicht. Er leugnete … lächelnd.
Dies Lächeln brachte mich zur Raserei. Ich schlug zu, mitten in das Lächeln hinein. Er taumelte. Ich floh! … Nicht aus Furcht … Juanita wollte ich suchen … Ich fand sie bald, er hatte sie nicht versteckt, wie ich glaubte … nein! Ich fand sie an seiner Seite als große Weltdame.
Seine Geldmacht genügte auch hier, um alle Mäuler verstummen zu lassen. Ich sah sie als seine Begleiterin bei Festen, umschwärmt von einer Schar von Verehrern aus den besten Kreisen … lachend und froh …
Ich gab sie auf … Weg von allem, was an Juanita erinnern konnte … Am Tschadsee konnte man Leute wie mich gebrauchen, und mir kam es gelegen. Ich war der Welt reichlich müde. Die Enttäuschung war zu niederschmetternd gewesen.
Seit drei Jahren sitze ich nun an dem verteufelten Schacht, komme selten mal weg von da, nach Timbuktu meistenteils … glaubte vergessen zu haben, glaubte auch mich vergessen … und jetzt. Da!«
Er schlug auf das Blatt.
Uhlenkort antwortete: »Wenn ich richtig vermute, sind Juanita und Guy Rouse hier in Timbuktu. Sie haben Sie gesehen. Die Warnung kommt von Juanita. Was werden Sie tun?«
»Ich werde … Ich weiß noch nicht! … Erst klaren Kopf … den werde ich morgen früh haben … Gehen wir jetzt?«
»Ich bin bereit! Ich wohne im Hotel Astoria. Und Sie?«
»Nicht weit davon … In dem Millerschen Boardinghouse. Wir haben denselben Weg.«
Draußen empfing sie die Kühle der Nacht. Tredrup zog seinen Hut und strich sich durch das volle Blondhaar. Ihr Weg führte über die breite Esplanade, die sich vom kaiserlichen Schloss nach dem Augustus-Park hinzog. Neue Nachrichten des Pressedienstes. Die Riesenfront des Astoria-Hotels schien in Flammen zu stehen. In allen wichtigen Weltsprachen flackerten die Nachrichten in Leuchtschrift über die Fassade.
»Paris, den 18. März, 8 Uhr abends. Krawalle vor der amerikanischen Botschaft. Polizei vermochte nur mit Mühe die erregte Menge am Eindringen zu verhindern. Deputierte aus der Normandie und der Bretagne halten aufreizende Reden an die Massen. Verlangen Übersendung scharfer Protestnote an die USA wegen der geplanten Sprengungen.«
»Bern, den 18. März, 8 Uhr 25 Min. abends. Die Sitzung des europäischen Parlaments beginnt morgen Vormittag um 9 Uhr.«
»New York, 2 Uhr 30 Min. amerikanischer Zeit. Die Aktien der New Canal Company. fielen an der Nachtbörse um zehn Punkte.«
Das Licht erlosch.
»Na, allerhand Neues.«
»Aber wenig Schönes.«
»Jedenfalls nichts vom Augustus-Schacht. Vielleicht war es eine Ente mit der Feier des sechsten Kilometers. Gute Nacht, Herr Uhlenkort. Es bleibt bei unserer Verabredung.«
»Jawohl, hier oder in Mineapolis!«
Im Arbeitskabinett des Kaisers saßen der amerikanische Botschafter Mr. Bowden und Guy Rouse am Teetisch. Augustus Salvator stand am Schreibtisch, über eine Karte gebeugt, einen kleinen Zirkel in der Hand.
»Der Plan Ihrer Admiralität wäre nicht übel, wenn nicht …«
Bei diesen Worten richtete er sich auf und ging auf die beiden Amerikaner zu.
»… wenn nicht ein Faktor außer acht gelassen wäre, den ich allein und der Chef meines Stabes kennen … immerhin ist der Plan der Beachtung wert. Auch liegt mir an dem guten Willen, den Ihre Regierung meinen Absichten entgegenbringt. Der Krieg mit Südafrika ist unvermeidlich, wird unvermeidlich, meine Herren, wenn – beachten Sie –, ich sage wenn, denn – ich werde ihn zu vermeiden suchen.
Wenn die Südafrikanische Union mir in der Eingeborenenfrage jedoch nicht nachgibt, ich will sagen, nicht entgegenkommt … Die Unterstützung Ihrerseits durch Kaper-U-Boote ist zweifellos nicht bedeutungslos. Die wenigen und leider noch wenig bewehrten Seehäfen meines Landes werden durch euro … feindliche …«
Mit leichtem Hüsteln unterbrach er die Rede »… Blockade lahm gelegt.«
Sein Blick flog über den Botschafter hinweg und blieb auf Guy Rouse ruhen.
Der Amerikaner lag halb zurückgelehnt im Sessel. Jetzt richtete er sich aus seiner nachlässigen Stellung empor.
»Europäische Blockade, Sire? Sollte Europa sich offen an die Seite Südafrikas stellen?«
Der Kaiser nickte mit einer energischen Kopfbewegung.
»Der Friede von Bern war kein Friede. Er beendete nur die offenen Feindseligkeiten. Durch den engen Anschluß Südafrikas an Europa ist der Kriegszustand nur latent geworden. Die Unterstützung seitens Amerikas allein durch Kaper-U-Boote genügt mir nicht. Die von mir bei amerikanischen Werften bestellten U-Kreuzer kommen viel zu langsam zur Ablieferung. Auch die Personalfrage ist nicht einfach. Ich habe in meinem Land nicht genügend technisch ausgebildete Leute. Von meiner Admiralität laufen fortwährend Beschwerden ein, daß unter den angeworbenen Amerikanern viel schlechtes Material ist.
Besonders heikel ist die Kommandantenfrage. Bei dem Überfluß, den Sie drüben an solchen Männern haben, müßte eine energische Einwirkung Ihrerseits besseren Erfolg zeitigen.«
Mr. Rouse zog es vor, nicht zu sagen, was er dachte.
Der Kaiser fuhr fort: »… Können Sie mir da nicht zweckmäßige Vorschläge machen?«
Sein Blick ruhte auf Mr. Bowden. Der richtete sich mit verlegenen Räuspern auf.
»Hm! … Bei der allgemeinen Volksstimmung, Majestät …«
»Volksstimmung! … Was heißt Volksstimmung? Ist Ihre Regierung abhängig von der Volksstimmung?«
Der Botschafter wiegte verlegen den Kopf.
»Was sagen Sie, Mr. Rouse?«
»Sire! Die Regierung trifft ihre Maßnahmen völlig unabhängig von der Volksstimmung. Aber wir haben keinen Einfluß auf die Gesinnung unseres Seeoffizierskorps.«
»Gestatten, Euer Majestät, daß ich mich ganz offen ausspreche. Das Offizierskorps im Ganzen steht einer Unterstützung des schwarzen Afrikas gegen das weiße Europa nicht sympathisch gegenüber …«
Augustus Salvator zog die Brauen zusammen.
»Hm! So, so! Was ist da zu tun?«
Guy Rouse lächelte. »Nur ein Mittel gibt’s! Das Allheilmittel Geld!
Sire, verdoppeln … verdreifachen Sie die Gage, und Sie werden haben, was Sie brauchen.«
»Glauben Sie?« Der Kaiser schaute den Amerikaner prüfend an.
Guy Rouse machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Irgendwer prägte mal im Altertum den Satz, daß ein goldbeladener Esel über die höchsten Mauern kommt. Ich persönlich habe bis jetzt jedes Vorurteil, auch das der Ehrlichkeit, die doch schließlich auch nur ein Vorurteil ist, durch Gold überwunden.«
Der Kaiser lachte.
»Gut, Mr. Rouse! Die nötigen Offiziere und Mannschaften hätte ich sonach. Fehlen jetzt nur noch die Boote! Hilft uns Ihr Mittel auch da?«
»Auch da, Majestät!« erwiderte Guy Rouse mit kalter Miene. »Es bedarf nur der gehörigen Dosis.«
»Daran soll es nicht fehlen! Wem ist das Mittel beizubringen? Welche Wirkung wird es haben?«
Mr. Rouse überlegte mehrere Sekunden. Dann sprach er langsam, sorgfältig jedes Wort abwägend:
»Bei den täglichen großen Fortschritten im U-Boot-Bau dürfte ein großer Teil unserer Staatsflotte veraltet sein. Es liegt im Interesse der Nation« – hier warf er einen kurzen Blick zu dem Botschafter hin –, »das veraltete Material durch neues zu ersetzen. Im Interesse der Staatsfinanzen liegt es, das auszurangierende Material nicht einfach abzuwracken, sondern vorteilhaft zu verwerten. Interessenten, die diese Boote für Handelszwecke umbauen, werden sich wohl finden, aber nicht viel bieten. Euer Majestät würden als Interessent voraussichtlich das Höchstgebot abgeben.«
»Wahrscheinlich!« Der Kaiser nickte. »Was sagen Sie zu dem Vorschlag, Herr Botschafter?« Mr. Bowden wand sich hin und her.
»Ich kann es nicht unterlassen, Euer Majestät nochmals auf die allgemeine Volksstimmung bei uns aufmerksam zu machen, auch auf die voraussichtlich unvermeidbaren außenpolitischen Schwierigkeiten …«
Guy Rouse und Augustus Salvator wechselten einen Blick. Der Amerikaner drehte spielerisch einen kleinen goldenen Schreibstift in den Fingern.
»Die Bedenken Mr. Bowdens sind leicht zu zerstreuen. Die New Canal Company … wird zweifellos in Zukunft auch das Reedereigeschäft betreiben und würde versuchsweise große U-Kreuzer kaufen … Sollte sich das Geschäft nicht als nutzbringend erweisen, würde die Company die Hände wieder herausziehen.«
Die Blicke des Kaisers hafteten an der lächelnden Miene des Amerikaners.
»Sie würden die Boote dann vielleicht sogar mit Aufschlag verkaufen?«
»Majestät! Ich habe die Interessen meiner Gesellschaft zu wahren. Ich bin sicher, daß sich sehr kapitalkräftige Interessenten finden werden, die einen Aufschlag von hundert Prozent nicht scheuen würden!«
»Gut, Mr. Rouse! Sie sind ein kluger Geschäftsmann. Die Stellung als Finanzminister bei mir bleibt Ihnen jederzeit vorbehalten.«
»Ich danke Euerer Majestät für diese Anerkennung. Ließen mich meine Interessen in den Staaten frei, würde es mir eine Ehre sein … Als vorsichtiger Geschäftsmann möchte ich nicht unterlassen, auf den anderen Weg hinzuweisen, auf dem unsere gegenseitigen Handelsbeziehungen sich zeitweise abspielen. Ich meine die Eisenbahnlinien durch die arabischen Nordstaaten.«
»Vorläufig, Mr. Rouse, geht das. Im Kriegsfall würde das Loch bei Gibraltar sehr eng werden. Die Verbindungen über den Atlas sind zu spärlich. Die Verhandlungen mit Südafrika über die vollständige Gleichberechtigung der schwarzen und weißen Rasse schleppen sich ungebührlich lange hin. Sie würden schneller gehen und zu einem guten Abschluß kommen, wenn Ihre Vorschläge, Mr. Rouse, realisiert sein werden. Könnte die Angelegenheit nicht noch beschleunigt werden?«
Mr. Rouse schien zu überlegen, an den Fingern zu rechnen, zu überschlagen.
»Ich denke, Majestät, in vier Monaten bei hundert Prozent, in drei Monaten bei zweihundert Prozent.«
»Sagen wir lieber in zwei Monaten bei zweihundert Prozent!«
Mr. Rouse schien in Gedanken eine neue Berechnung aufzustellen.
»Well! Das Geschäft ist gemacht …«
»Well!« echote der Kaiser. »Sie sind ein guter, außerordentlich guter Geschäftsmann. Die Zeche wird für meine Gegner immer höher.«
Mr. Rouse zuckte die Achseln.
»Business is Business, Majestät!«
Augustus Salvator erhob sich, ein Zeichen, daß die Unterredung beendet sei. Er ging auf den Botschafter zu und drückte ihm die Hand.
Während dieser der Tür zuschritt, verabschiedete sich der Kaiser von Guy Rouse und fügte mit erhobener Stimme hinzu:
»Ich will hoffen, Mr. Rouse, daß Sie mit der Sprengung am Kanal guten Erfolg haben werden …«
Der Amerikaner beugte sich tief über die gebotene Hand.
»Mr. Bowden ist das Klima hier wohl nicht sehr zuträglich«, flüsterte der Kaiser.
»Den Eindruck gewann ich schon zu Beginn der Audienz, Majestät!
Ein Wechsel des Klimas würde ihm unbedingt zuträglich sein …«
Der Kaiser war allein. Langsam ließ er sich an seinem Schreibtisch nieder. Seine Lippen bewegten sich wie im Selbstgespräch. »Ein Schuft!
Schuft erster Klasse … aber nein … Schuft! Das Wort in der gewöhnlichen Bedeutung paßt nicht auf ihn … Er ist der Vertreter des Kapitalismus in Reinkultur, des Kapitalismus, den die Welt zu überwinden begonnen hat. Sein Streben ist darauf gerichtet, die Nation und ihre Seele zu beherrschen, Volk und Regierung zu seinen Werkzeugen zu machen. Unsichtbar für die Massen, unbeeinflußt durch höhere sittliche Gesichtspunkte, versucht er die Geschicke des eigenen Staates, ja anderer Völker rücksichtslos, mitleidslos nur im eigenen egoistischen Interesse zu lenken.
Seine Kontore sind Generalstabszimmer geworden. Seine Wirtschaftsschlachten sind opferreicher als die blutigsten Kämpfe vergangener Zeiten, wenn auch keine amtliche Verlustliste die Zahl der Opfer meldet. Aber er ist blind! Er sieht nicht die Grenzen, die jeder Macht gezogen sind. Der Rückschlag muß kommen … der Zeitpunkt ist nicht fern.
Neues Geld durch Macht! Größere Macht durch Geld! Das ist seine Devise. Ebenso falsch und schädlich wie jene andere: Krieg durch Macht! Neue Macht durch Krieg … Meine Feinde nennen mich den ›Schwarzen Napoleon‹ den gefürchteten und gehaßten. Wie wenige sind es, die mir gerecht werden!
Was war sein Ziel? Was ist meins?
In unersättlicher Machtgier verschlang Napoleon ein Land nach dem anderen, bis er an Rußland erstickte. Was tat ich? Ich kämpfte den Kampf meines Volkes gegen die weißen Beherrscher. Den Kampf um die Freiheit nach jahrhundertelanger Bedrückung. Das war die erste Tat!
Die befreiten Länder habe ich zu einem Reich zusammengerafft, denn nur ein geeintes Volk kann sich behaupten. Das war die zweite Tat!
Die dritte … gleichberechtigt in der ganzen Welt sollen die Schwarzen mit den Weißen sein! Das, das allein veranlaßt den Konflikt mit Südafrika. Die Weißen aus Südafrika vertreiben? Es meinem Reich angliedern? Ich denke nicht daran. Aber die Gleichberechtigung will ich … gutwillig … oder mit Gewalt.
Das ist mein letztes Ziel. Mit ihm stehe oder falle ich. Meine Feinde mögen mich verleumden, wenn nur die Geschichte mir eines Tages gerecht wird.«
Er drückte auf einen Knopf. Der Adjutant erschien. »Den Kriegsminister!«
Am Morgen des folgenden Tages saß Uhlenkort in seinem Hotelzimmer beim Lunch und überflog die ersten Ausgaben der Lokalblätter. Den größten Teil der Spalten beanspruchten die Nachrichten über die bevorstehende Feier am Tschadsee. Jetzt blieb sein Auge auf einer kurzen, gesperrt gedruckte Notiz am Schluß des Blattes hängen:
»Spitzbergen, den 18. März. Amtlich wird bekannt gegeben: Die Insel Black Island, auf 77 Grad 14 Minuten nördlicher Breite, 12 Grad 23 Minuten östlicher Länge, ist am 17. März, morgens gegen 5 Uhr, in aufsteigende Bewegung geraten. In der folgenden Stunde hat sich das Eiland um das Zehnfache vergrößert. Ein in geringer Entfernung vorüberfahrendes Schiff hat den Vorgang zum größten Teil beobachten können. Vulkanausbrüche und Seebeben wurden nicht bemerkt. Die Regierung beabsichtigt, eine Gelehrtenkommission zur Ergründung der rätselhaften Vorgänge dorthin zu entsenden.«
Uhlenkort ließ die Zeitung sinken. Seine Gedanken wanderten. Er wußte wohl, daß Black Island nur fünfzig Kilometer westlich von Spitzbergen lag. Er sah das kleine, unbedeutende Eiland. Er sah ein neues, viel Größeres aus den Eingeweiden der Erde nach oben getrieben werden … Seine Gedanken liefen weiter. Er sah Spitzbergen. Er sah die großen Kohlengruben. Er sah die Schächte wie Nadelstiche, wie Kapillarröhren in den Leib der Erde eindringen, sah sie zerdrückt zusammenbrechen. Alles verschüttend, was Menschenhand in zwei Jahrzehnten dort geschaffen hatte.
Er sprang auf und durchmaß mit großen Schritten das Zimmer.
Seine Gedanken hetzten sich. Bald glaubte er sich durch die Worte »ohne vulkanische Ausbrüche und Seebeben« über die Sorgen hinwegtäuschen zu können. Bald wieder sah er im Geiste die schlimmsten Dinge. Konnte sich nicht, was bei Black Island geschehen, in jeder Stunde mit Spitzbergen wiederholen? Katastrophen von kaum auszudenkender, unbeschreiblicher Größe malten sich vor seinen Augen. Das Gefühl, den kommenden Dingen ohnmächtig gegenüberstehen zu müssen, drückte ihn zu Boden.
Wie hatte die Nachricht in Spitzbergen gewirkt? Wie sah es dort aus?
War der Minenbetrieb eingestellt?
Er nahm die Zeitung wieder auf und las noch einmal die Zeitangabe dieser Nachricht. Also vor sechsunddreißig Stunden war das. Noch keine direkte persönliche Nachricht von der Grubenleitung.
Keine Nachricht von ihm? Ich verstehe nicht. Bleibt nur die Erklärung, daß es gut steht. Er trat zum Tisch und ergriff das Telefon.
»Keine Post für mich?«
»Soeben, Herr Uhlenkort, zwei Telegramme.«
Noch bevor er den Hörer ablegte, warf das pneumatische Rohr zwei Telegramme auf den Schreibtisch. Er riß das Erste auf, warf es zur Seite.
»Nichts!«
Er öffnete das Zweite:
»Spitzbergen, den 18.3. Uhlenkort, Timbuktu. Keine Gefahr. 89.«
Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ er sich in den Schreibtischsessel fallen. Von ihm selbst. Von J. H.! Gott sei Dank! Er ließ das Telegramm fallen und griff nach dem anderen:
»New York, den 17.3. Zentralbüro Pinkerton. Erste Auskunft überholt.
Angefragte nicht Timbuktu, sondern Kapstadt, Zirkus Briggs.«
Er faltete das Telegramm zusammen und zog seine Brieftasche. Dabei fiel sein Auge auf zwei Schriftstücke, die ebenfalls den Kopf »Pinkerton« trugen.
Ein Telegramm: »Angefragte mit Zirkus Webster, Timbuktu.«
Er ließ es fallen. Das zweite Schreiben in engster Typenschrift:
»Angefragte Miss Christie Harlessen kam von Colon am Kanal mittellos nach Milwaukee. Verwandte mütterlicherseits, die sie dort aufsuchen wollte, waren gestorben. Traf dort einen Reiter des Zirkus Webster, der früher auf der Hazienda ihres Vaters am Kanal Cowboy war. Rat- und mittellos, nahm sie dessen Vorschlag an und trat in das Ensemble von Zirkus Webster ein. Ihre außerordentliche Reitkunst, auf der Hazienda des Vaters von Jugend auf erworben, bot die geeignete Grundlage für ihren neuen Beruf. Ihre großartigen Leistungen machten sie in kurzer Zeit zu einer ersten Attraktion des Zirkus. Zirkus Webster ging von Milwaukee nach Philadelphia. Weiter nach Boston. Hat die Absicht, nach Afrika überzusetzen.«
Walter Uhlenkort öffnete ein anderes Fach seiner Brieftasche und entnahm ihm eine kleine Fotografie. Mit einer Miene des Bedauerns und der Teilnahme betrachtete er das Bild.
Ein junges und doch ausdrucksvolles Gesicht. Echter Harlessen-Typ.
Dem Bild der Urahne Harlessen, der schönen Christiane, wie aus dem Gesicht geschnitten.
Armes Mädel! Schlimmes Schicksal für eine Harlessen …
Zirkusreiterin! Eine Tochter des Hauses Harlessen, dessen Chef zurzeit europäischer Staatspräsident ist. Wie konnte das geschehen? Alte Erinnerungen, alte Familiengeschichten gingen Walter Uhlenkort durch den Kopf.
Mit einer Handbewegung verjagte er die Gedanken, werden sehen. Sie ist in Kapstadt. Dort werde ich sie sehen und sprechen, in Kapstadt … aber erst – er warf einen Blick auf die Wanduhr –, erst die Feier in Mineapolis. Es ist Zeit, zu unserem Gesandten zu gehen.
Bern hatte einen großen Tag. Außer den Mitgliedern des europäischen Parlaments und einer Unzahl von Journalisten waren zahlreiche Deputationen aus den nordischen Ländern Europas eingetroffen und überfüllten die Stadt.
Seit elf Uhr vormittags drängte sich eine immer noch wachsende Menge um den Parlamentspalast. Seit gestern nachmittag war das amerikanische Botschaftsgebäude von einem starken Polizeikordon umgeben. Der große Sitzungssaal war vollzählig besetzt, die Tribünen überfüllt. Unter allgemeiner Unaufmerksamkeit der Deputierten und wachsender Ungeduld der Tribünen waren die reichlich gleichgültigen ersten drei Punkte der Tagesordnung erledigt worden.
Die Pause war vorüber, und die Deputierten strömten wieder in den Saal. Unter lautloser Stille und gewaltiger Spannung aller Besucher verkündete der Präsident des Parlaments die Beratung des vierten Punktes der Tagesordnung.
Der Sprecher des Parlaments erhielt danach das Wort.
»Meine Herren! Es liegt folgender Antrag der skandinavischen Staaten und der großbritannischen Inseln vor. Der Antrag wird von allen europäischen Staaten unterstützt. Die unterzeichneten Staaten erheben einmütigen Protest gegen die Art und Weise, in der die New Canal Company die Landenge von Panama zu sprengen beabsichtigt. Die Unterzeichneten verlangen, daß die europäische Zentralregierung bei der Regierung der Vereinigten Staaten von Nordamerika unter Hinweis auf die durch eine gleichzeitige Sprengung aller Minen drohenden Gefahren energisch vorstellig werde. Die europäische Zentralregierung möge dafür Sorge tragen, daß die Sprengung etappenweise erfolgt, wobei die Länge einer Etappe sieben Kilometer nicht überschreiten darf.«
Minutenlang mußte der Sprecher warten, bis der lärmende Beifall abgeebbt war. Dann sprach der Parlamentspräsident.
»Meine Herren, ich erteile dem großbritannischen Deputierten Mr.
Bertie das Wort zur Begründung des Antrags.«
Mr. Bertie, ein Schotte aus der Gegend des Clyde, schon ergraut in Haar und Bart, bestieg die Rednertribüne.
»Meine Herren, ich bin genötigt, Ihnen eine kurze Vorgeschichte der Ereignisse zu geben, die zu der heutigen Sitzung geführt haben. Der Panamakanal in seiner jetzigen Form als Schleusenkanal wurde im Jahre 1910 vollendet.
Schon während des Baues verriet sich die unruhige Natur des Bodens durch zahlreiche Bergrutsche. In manchen Abschnitten – ich denke besonders an den Culebra-Abschnitt – zwangen immer wiederkehrende Felsstürze von wahrhaft gigantischen Ausmaßen zu immer größeren Arbeiten. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wurden die Verhältnisse schlimmer, und in letzter Zeit mußte der Kanal monatelang außer Betrieb gesetzt werden. Die Gründe für diese unerfreulichen Zustände suchte man zunächst in der vulkanischen Beschaffenheit des ganzen Isthmus.
Heute wissen wir, daß diese Gründe viel ernsterer Natur sind. Der lange, dünne Streifen des Isthmus, der die beiden mächtigen, auf einer zähen Unterlage schwimmenden Kontinentalschollen von Nord- und Südamerika verbindet, gleicht einem schwachen Stab, an dessen beiden Enden zwei schwere Lasten wirken. Von einer Isostasie, das heißt von einem Ausgleich der Massen in senkrechter Richtung, kann auf dem Isthmus überhaupt nicht mehr die Rede sein.
Dazu kommen die über alle Vorstellungen gewaltigen waagrechten Kräfte, mit denen die beiden Hälften Amerikas und die tägliche Flutwelle am Isthmus zerren. Die heutige Gestalt der Landenge gibt Ihnen eine schwache Vorstellung dieser enormen Beanspruchung.
Ich möchte bildhaft sagen: Der Isthmus gleicht heute schon einem bis zum Springen gebogenen Stab. Schneidet man einen solchen Stab an, dann zerspringt er.
Die Amerikaner glauben aller Belästigungen ledig zu werden, wenn sie mit modernsten Sprengmitteln eine drei Kilometer breite und wenigstens fünfhundert Meter tiefe Rinne durch den Isthmus sprengen.
Meine Herren, das scheint zunächst nicht mehr als eins der beliebten hemdsärmeligen Radikalmittel zu sein. Aber es ist viel mehr! Es ist der Schnitt, der den Stab zum Springen bringt … bringen muß, wenn die Sprengung über die ganze Isthmusbreite auf einmal erfolgt.
Die meisten von Ihnen, meine Herren, kennen wohl die Einzelheiten des amerikanischen Projekts. Die New Canal Company hat die Mittellinie der neuen Kanalroute mit Schächten von eineinhalb Kilometer Tiefe gespickt. Am unteren Ende eines jeden Schachtes befindet sich eine Sprengkammer, die mit atomarem Sprengstoff geladen ist. Hundertfünfzig solcher Minen sind niedergebracht. Neben jeder dieser Hauptminen befinden sich tausend Meter höher zwei Nebenminen, die die Aufgabe haben, die aus der Tiefe empor geschleuderten Felsmassen im Moment des Aufstiegs seitwärts zu zerstreuen.
Eine gleichzeitige Explosion dieser vierhundertfünfzig Minen, das gleichzeitige Detonieren muß nach der Meinung aller ernsthaften Fachleute den Isthmus in seinen Grundfesten erschüttern. Der Stab wird zerreißen, zersplittern, seine Enden werden auseinanderschnellen – weiter – weiter, werden klaffen, immer weiter klaffen, bis Atlantik und Pazifik sich verschmelzen und der Golfstrom unbehindert seinen Gang nach Westen nimmt.
Tritt das ein – und alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür –, dann stirbt Nordeuropa!«
Der Redner machte eine Pause. Totenstille herrschte im Saale. Der schottische Deputierte fuhr fort:
»Ich will Ihnen nicht die Schreckensbilder an die Wand malen, die Sie alle aus den Tageszeitungen kennen. Ich will nur sagen, die Nullisotherme, die Linie der mittleren Jahrestemperatur von null Grad, wird danach durch London und Berlin gehen. Das heißt, diese Orte würden in Zukunft das Klima haben, das jetzt in Nordisland und Archangelsk herrscht. Alles Land nördlich von London und Berlin würde unrettbar der Vereisung zum Opfer fallen. Die wirtschaftlichen Folgen für Europa würden katastrophal sein. Das alles läßt sich vermeiden, wenn die Amerikaner etappenweise sprengen, wie es in der verlesenen Resolution verlangt wird.
Die etappenweise Sprengung bedeutet zwar einmalige erhöhte Kosten für die New Canal Company, das heißt für die amerikanische Wirtschaft. Aber sie verringert die Gefahr für Europa auf ein Minimum.
Bei dieser Sachlage müssen wir, wir, das heißt Europa, auf der Forderung etappenweise Sprengung mit Nachdruck bestehen.«
Unter brausendem Beifall des Hauses verließ Mr. Bertie die Tribüne.
Der Parlamentspräsident sprach. »Auf der Rednerliste folgt Herr Olaf Larsen, Deputierter für Norwegen.«
Als die lange, hagere Gestalt des Norwegers sich auf die Rednertribüne schob, ging Bewegung durch das Haus. Man kannte seine impulsive Art. Er pflegte kein Blatt vor den Mund zu nehmen.
»Meine Herren, ich kann mich durchaus nicht darauf beschränken, mich den Worten des verehrten Herrn Vorredners voll und ganz anzuschließen. Reden solcher Art sind in diesem Saal schon öfter gehört worden. Ich will Ihnen die ungeschminkte Wahrheit sagen.
Es ist nichts weiter als Spiegelfechterei, wenn sich die New Canal Company hinter ein paar wenige von der allgemeinen Meinung abweichende Gutachten verschanzt. Gutachten zugestutzter Art, bei denen der Dollar wahrscheinlich Pate gestanden hat.
Die kapitalistischen Mächte, die hinter der New Canal Company stehen, wissen – ich scheue mich nicht, das offen auszusprechen –, wissen sehr genau, was sie wollen. Und sie wollen« – seine Faust krachte auf das Rednerpult nieder –, »sie wollen und wünschen nichts sehnlicher, als daß das eintritt, was – wie der Vorredner ausführte – zu befürchten steht: die Vereisung und die Verelendung großer Teile Europas. Gibt es doch keinen besseren Weg, die europäischen Konkurrenten auf dem Weltmarkt endgültig zu vernichten.
Mit anderen Worten gesagt: Dort die kapitalistischen Interessen einiger amerikanischer Großmilliardäre, hier Leben und Sterben von Millionen von Europäern.
Gewiss mag eine etappenweise Sprengung des neuen Kanals der Company die Baukosten um ein paar Prozent steigern. Aber was hat das zu bedeuten gegenüber dem Untergang ganzer europäischer Nationen!
Ich appelliere nicht an das so genannte Weltgewissen.«
Er machte eine wegwerfende Bewegung. »Dies Requisit, das stets versagte, wenn es galt, besonders große Gemeinheiten zu verhindern.
Ich appelliere an den Menschlichkeitssinn und das Freiheitsbewußtsein des amerikanischen Volkes, das sich nicht von einer verbrecherischen Clique machtgieriger Kapitalisten terrorisieren lassen wird.
In zehn Tagen tritt das amerikanische Parlament zusammen. Wie es sich entscheiden wird, das weiß ich nicht. Versagt aber bei ihm unser Appell, dann appelliere ich jetzt schon an den bewaffneten Arm Europas. Können wir das Unheil nicht hindern, so wollen wir’s rächen, solange uns der Atem bleibt. Können wir’s nicht hindern, so sollen sie dessen gedenken. Das ist meine Meinung. Ein Hundsfott, wer anders denkt!«
Ohne der Beifallsstürme zu achten, die ihm von allen Seiten entgegen klangen, ging er auf seinen Platz zurück.
Der Präsident sprach.
»Meine Herren! Der Sprecher des Hauses hat das Wort.«
Der Sprecher nahm das Wort.
»Meine Herren, weitere Anträge sind nicht gestellt, weitere Redner stehen nicht mehr auf der Liste. Ich habe die Ehre, Ihnen, bevor zur Abstimmung über die Resolutionen geschritten wird, ein kurzes Resümee über die wissenschaftlichen Gutachten in der Frage zu geben.
Vor ungefähr fünf Jahren, sobald der genaue Arbeitsplan der New Canal Company bekannt wurde, lief bei dem europäischen Parlament ein Schriftstück ein, das in ausführlicher wissenschaftlicher Weise die Pläne der Company und ihre möglichen Folgen begutachtete. Diese Arbeit stützte sich in der Hauptsache auf die Theorie der Kontinental-Verschiebungen.
Sie wissen aus den Tageszeitungen, daß diese Theorie, die zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts von dem deutschen Gelehrten Wegener aufgestellt wurde, im Laufe der Jahrzehnte durch immer neue Beobachtungen gestützt wurde und heute die Grundlage der Geologie bildet.
Mit mathematischen Deduktionen von zwingender Kraft und genialer Auswertung aller geologischen Erkenntnis wurde in diesem Gutachten der Beweis erbracht, daß die Pläne der Canal Company zur Katastrophe führen müßten.
Leider wurde jenem Schriftstück nicht sofort die ihm gebührende Bedeutung beigelegt. Das wird von der Regierung offen zugegeben.
Jedoch möchte ich zur Entschuldigung sagen, daß das Schriftstück anonym – nur J. H. unterzeichnet – bei uns einlief. Ich möchte hinzufügen, daß der Autor dieser Arbeit auch heute noch völlig unbekannt geblieben ist. Wir waren darauf angewiesen, die Arbeit durch unsere besten Autoritäten auf diesem Gebiet nachprüfen zu lassen.
Begreiflicherweise nahm das geraume Zeit in Anspruch. Das Ergebnis bestand darin, daß die Richtigkeit jener anonymen Arbeit einmütig bestätigt worden ist. Der Dank, der von europäischer Seite, von Seiten der Menschheit dem unbekannten Autor J. H. gebührt, den können wir ihm nicht von Angesicht zu Angesicht abtragen.
Doch sei er an dieser Stelle, aus dem Herzen von Millionen von Europäern kommend, ausgesprochen. Das Geheimnis, mit dem er sich umgeben zu müssen glaubt, wird von uns in vollem Maße geachtet.
Die Schlußsätze seiner Arbeit sind von der überwiegenden Zahl aller Geologen anerkannt worden. Sie lauten wie folgt:
1. Bei einer gleichzeitigen Explosion der benötigten Riesenmenge atomaren Sprengstoffs auf der engsten Stelle des Panama-Isthmus wird der Explosionsdruck zusammen mit dem bereits vorhandenen natürlichen Zerreißungsdruck die Festigkeit der Landenge um Prozent überschreiten. Der Isthmus wird auseinanderreißen, und der Golfstrom wird nach Westen gehen.
2. Bei etappenweise Sprengung von weniger als fünfzehn Minen gleichzeitig wird der Landstreifen nicht über die Bruchgrenze beansprucht. Eine Zerreißung ist nicht mehr wahrscheinlich.
Meine Herren, Sie sehen aus diesen Schlußfolgerungen, daß jede Sprengung ein gewissen Risiko für Europa bedeutet. Unsere heutige Resolution fordert nur das Minimum dessen, was wir zu unserer Sicherheit unbedingt benötigen. Ich möchte dem Hohen Haus noch sagen, daß die Volksstimmung in den Vereinigten Staaten durchaus für uns ist. Ich glaube und hoffe, daß die uns seit langem so befreundete amerikanische Regierung dem Rechnung tragen wird, unbeirrt durch dunkle Einflüsse irgendwelcher Art.«
Eine Stunde später konnte der Sprecher verkünden:
»Der Antrag Skandinavien-England ist einstimmig angenommen worden. Unsere Botschaft wird die Entschließungen unserer Regierung morgen früh in Washington überreichen.«
Die Minenstadt am Tschadsee prangte in reichem Festschmuck. Seit vierundzwanzig Stunden arbeitete der Sonderdienst des afrikanischen Luftverkehrs. Seit den frühen Morgenstunden landeten die Flugzeuge in immer dichterer Folge. Von allen Seiten der Windrose her kamen sie an und wetteiferten mit den Bahnlinien, Tausende und aber Tausende von Gästen heranzubringen. Von Timbuktu her rollten die Züge in Abständen von fünf Minuten in den großen Zentralbahnhof ein. Die neue gewaltige Minenstadt, die hier an Stelle des alten Kuka in wenigen Jahren aus dem Boden gewachsen war und nach der amerikanischen Geburtsstadt des Kaisers Minneapolis, den Namen Mineapolis (Minenstadt) erhalten hatte, war diesem Massenandrang nicht gewachsen. Die große Anzahl der von der kaiserlichen Regierung Geladenen nahm die wenigen Hotels und Unterkunftsstätten im Voraus in Anspruch. Die meisten mußten im Freien bleiben, wo freilich eine gut arbeitende Organisation der Regierung für Erfrischungen aller Art sorgte.
Von zehn Uhr Vormittag an begann sich der Riesenkreis um den Schacht mit Zuschauern zu säumen. Eine von Minute zu Minute wachsende Menge drängte gegen die hölzerne Barriere, an deren Innenseite zum weiteren Schutz des Schachtes ein starker Truppenkordon aufgezogen war. Kurz vor elf Uhr verkündete ein brausendes Rollen die Ankunft des kaiserlichen Hofzugs. Die reservierten Tribünen füllten sich mit dem glänzenden Gefolge des Kaisers.
Punkt elf Uhr betrat Augustus Salvator die Kaiserloge. Mit kurzem militärischem Gruß wandte er sich nach den Diplomatenlogen. Dann ein paar kurze Worte mit dem Chefingenieur des Schachtes, Mr. Grimmaud.
Ein Flugzeug, das bisher den Schacht in großen Kreisen umflogen hatte, fuhr jetzt mit einer scharfen Wendung darauf zu und überquerte ihn.
Eben noch hatte die afrikanische Sonne mitleidslos auf die Köpfe der vielen Tausende niedergebrannt. Jetzt plötzlich bezog sich der Himmel um das Flugzeug herum. Dicker grauer Nebel lag über dem Schacht und verhüllte die Sonne.
Der Kaiser trat an den vorderen Rand der Loge und drückte auf einen Knopf. Das schwache Echo eines Schusses klang. Im gleichen Moment schossen aus dem Schachtdunkel herauf die Strahlen eines Scheinwerfers und malten in leuchtenden Buchstaben die Worte »5.Meter« auf die Nebelwand über dem Schachtmund.
Tobend und Beifall schreiend brandeten die Massen gegen die Barriere. Die Tiefenmessung durch das Echolot, jene Erfindung des alten deutschen Ingenieurs Behm, hatte in Bruchteilen einer Sekunde mit unanfechtbarer Sicherheit bewiesen, daß die Schachttiefe fünftausend Meter erreicht hatte.
Augustus Salvator trat auf den Chefingenieur zu und drückte ihm die Rechte. Dann hielt der Arbeitsminister, an den Kaiser gerichtet, eine kurze Rede, die, von einem Mikrofon aufgefangen, die Riesenmembrane eines akustischen Apparats in der Schachttiefe erregte und wie aus einem gigantischen Schalltrichter aus dem Schacht selbst millionenfach verstärkt in die Höhe drang.
»… Und so wollen Euer Majestät die Gnade haben, den ersten Sprengschuß auf das nächste Tausend zu lösen …«
Tiefe Stille in der Menge. Wieder berührte die Hand des Kaisers einen Hebel. Walter Uhlenkort, der hinter dem europäischen Botschafter stand, hatte das Chronometer gezogen und zählte die Sekunden.
Bei einer Schachttiefe von fünftausend Meter mußte der Schall der Explosion vom Grunde des Schachtes bis zur Mündung sechzehn Sekunden brauchen.
»… dreizehn … vierzehn … fünfzehn …«, murmelten seine Lippen, »… sechzehn …«
Im gleichen Moment drang ein Schall aus dem Schachtmund, ein Schall, der viele in der Runde erbleichen und erzittern ließ.
Die ungeheure Röhre des Schachtes ließ die Schallwellen der Explosion ungeschwächt, verstärkt durch den Widerhall, nach oben kommen. Minutenlang schien ständiger Donner der Schachtmündung zu entquellen. Es dauerte geraume Zeit, bis die Atmosphäre so weit zur Ruhe kam, daß menschliche Stimmen sich wieder vernehmbar machen konnten.
Der Kaiser sprach mit dem Chefingenieur. Man konnte aus den Nachbarlogen bemerken, daß sein Gesicht Züge einer ungewohnten Spannung trug. Man sah ihn auf die Uhr blicken und erregten Schrittes an der Brüstung der Loge hin und her gehen.
Der europäische Botschafter wandte sich zu Uhlenkort um.
»Noch etwas? Das Benehmen des Kaisers zeigt an, daß noch etwas Wichtiges zu erwarten steht. Haben Sie eine Vermutung?«
Uhlenkort zuckte die Achseln. Seine Augen waren starr auf den Kaiser und den Chefingenieur gerichtet, die offensichtlich in gespannter Erwartung, mit dem Blick auf die Uhr, dastanden. Da, ein neuer Klang aus der Tiefe! Ein schwaches Rollen gegenüber dem Getöse der letzten Sprengung. Uhlenkort sah, wie der Kaiser und der Chefingenieur zusammenzuckend aufhorchten … sah, wie der Chefingenieur hinwegeilte.
Allmählich merkte auch das übrige Publikum, daß hier etwas Neues, Unerwartetes, Großes im Gange war. In diesem Augenblick fuhr eine Förderschale von Sohle 1 dicht neben der Kaiserloge zu Tage. Über und über mit Palmenwedeln geschmückt.
Uhlenkort sah, wie der Chefingenieur an die Förderschale lief, dort einer Person irgendetwas aus den Händen riß. Tausende von Augen suchten zu erforschen, was wohl unter jenem weißseidenen Tuch verdeckt sein mochte.
Exzellenz Dührsen wandte sich wieder an Uhlenkort.
»Majestät lassen sich, scheint’s, die Trophäen des letzten Schusses – einige Gesteinsbrocken der sechsten Sohle – präsentieren. Uhlenkort!
Sie machen ja ein Gesicht, als ob Sie glaubten, Majestät hätten da unten das klare Gold geschossen!«
»Ungefähr! Herr Botschafter! Ich glaube, ich fürchte, daß …«
»Was, Sie meinen wirklich!«
»Sie werden sehr bald sehen, vielleicht auch riechen …«, erwiderte Uhlenkort mit einem nicht ganz freien Lächeln.
»Sie sprechen in Rätseln, Herr Uhlenkort.«
»Sehen Sie nach der Kaiserloge! Das Rätsel beginnt sich zu lösen.«
Der Chefingenieur war in die kaiserliche Loge getreten, hatte seine Last auf ein Tischchen gestellt. Jetzt zog er die weiße Hülle zur Seite.
Auf einer silbernen Schüssel lag ein kleiner Berg dunkelgrauer Gesteinsbrocken.
»Ah, das Küree! Die tiefsten, unbekanntesten Eingeweide der Erde!
Was will das werden?«
Der Chefingenieur beugte sich tief über die Schüssel, als ob er den Geruch jenes wunderlichen Gesteins einsaugen wolle. Augustus Salvator griff hinter sich, faßte einen gefüllten Weinkelch und goß ihn mit kurzem Ruck auf das Gestein.
Uhlenkort sah, wie es weiß aufbrodelte, wie das Gestein schäumte und aufbrauste.
»Was ist das?« flüsterte der Botschafter ihm zu.
»CaC2, Herr Botschafter!«
Einen Moment suchte der Botschafter nach Worten.
»Jawohl, Exzellenz, der Kaiser Augustus hat ein natürliches Karbidlager von unbekannten Abmessungen soeben erbohrt. Die Bedeutung dieses Fundes dürfte ungeheuer sein! Für Europa ein Schlag, dem es wehrlos gegenübersteht, augenblicklich wenigstens. Sie werden das bald an der Haltung des Kaisers in außenpolitischen Fragen verspüren.«
Ein Adjutant erschien und bat die Insassen der Loge zum Kaiser. Die diplomatische Vertretung der Welt versammelte sich um Augustus Salvator. Man sah, wie der Kaiser mühsam eine große innere Freude zu verbergen suchte. Dann gewann er die Fassung wieder und sprach mit einem verhaltenen Lächeln, das von einer gewissen Ironie nicht frei war.
»Meine Herren, als ich den ersten Spatenstich zu diesem Schacht tat in der Absicht, eine neue Energiequelle zu erbohren, erregte das in der Welt weniger Bewunderung als Verwunderung. Bis heute sind die Meinungen nicht verstummt, die dies Unternehmen als gelinde gesagt utopisch hinstellten. Das Grab unzähliger Milliarden, wie man den Schacht zu nennen pflegte. Hier der Erfolg!«
Er nahm einige Gesteinsbrocken und reichte sie den Umstehenden.
»Karbid! Meine Herren … reines Karbid, wie Sie sehen. Es war ein Dozent meiner Universität Timbuktu, dem die Ehre gebührt, die günstige, bergmännisch zu erbohrende Lage des natürlichen Karbids an dieser Stelle vorausgesagt zu haben. Ich gedenke heute, an diesem Tage, an erster Stelle dieses Mannes, den ein zu früher Tod von meiner Seite gerissen hat.
Wenn das Geheimnis bis heute gewahrt wurde, so waren dafür Gründe mannigfacher Art maßgebend. Meine Herren, von heute ab steht die Energiewirtschaft Afrikas auf eigenen Füßen.«
Mit einem kurzen Nicken verabschiedete sich der Kaiser. Tiefes Schweigen unter den zurückgebliebenen Diplomaten. Zu unerwartet waren ihnen diese Geschehnisse gekommen. Die Gesichter wurden lang und immer länger. Hier und dort begann ein leises Flüstern, dann ein Summen, Raunen und Rauschen. Uhlenkort wandte sich an den Botschafter.
»Gehen wir, Exzellenz! Es war eine wohl gelungene Vorstellung. Ein überraschtes Publikum wird vorläufig nichts anderes tun können, als den Akteuren zu applaudieren!«
Uhlenkort trat in das dritte Wellblechhaus der fünften Querstraße, zu dessen Entdeckung er bereits seit einer halben Stunde in der weit ausgedehnten Barackenstadt umhergeirrt war.
»Mr. Tredrup?«
Ein kleiner schwarzer Diener öffnete die Tür zu einem halbverdunkelten Raum. Noch bevor Uhlenkorts Augen sich an das Halblicht gewöhnt hatten, erklang eine Stimme hinter einem Bettschirm.
»Scher di rut, du swarten Satan, hebb ich die nich seggt, dat ich slopen will?«
»Na, Gott sei Dank, Mr. Tredrup! Die Snut geit noch. Wenn alles andere so klar ist, so soll’s gut sein.«
»Hallo, Mr. Uhlenkort! Sie sind’s?«
»Jawohl, mein lieber Herr Tredrup! Was machen Sie für Sachen?
Komme ich da von der Feier und muß hören, daß Sie Ihren Kopf hingehalten haben, wo Steine fallen …«
Das elektrische Licht flammte auf. Klaus Tredrup hatte den Schalter erwischt und richtete sich halb auf. Sein Schädel, von einem mächtigen Eisbeutel gekrönt, bot einen Anblick, der Uhlenkort unwillkürlich zum Lachen reizte.
Tredrup stimmte ein.
»Feiner Turban! Komme mir wie ein doppelter Hadschi vor. Freue mich riesig, daß Sie mich besuchen.«
Mit einer kräftigen Geste fegte er ein paar Kleidungsstücke vom nächsten Schemel und machte eine einladende Handbewegung.
»Wo kommen Sie her? Waren Sie dabei, bei dem großen Theater?«
»Jawohl, ich befolgte Ihren Rat. Der Botschafter besorgte mir eine Karte. In seiner Begleitung kam ich hierher und sah diese ganz außergewöhnlich wirkungsvoll in Szene gesetzte Vorstellung.«
»Zweifellos, Herr Uhlenkort. Die Sache war gut inszeniert. Aber jetzt eine Frage, über die ich mir schon verschiedentlich seit unserem Zusammentreffen den Kopf zerbrochen habe. Wie haben Sie, Herr Uhlenkort, wittern können, daß wir hier auf Karbid fündig werden würden? Das ist mir rätselhaft.«
»Herr Tredrup, diese Wissenschaft stammt nicht von mir. Ich bin in erster Linie Kaufmann, kein Geologe. Aber ein Freund, ein Gelehrter, hat mich schon vor langen Monaten darauf aufmerksam gemacht, daß etwas Derartiges zu erwarten sei, sicher kommen müsse, und … Herr Tredrup, die Sache hat mir keine Ruhe mehr gelassen. Ich mußte selbst her, mußte sehen, was hier passiert.«
»So, so. Und ich glaubte schon, Sie wären hauptsächlich einer Zirkusreiterin wegen nach Timbuktu gekommen.«
Uhlenkort machte eine abweisende Bewegung.
»Sie irren. Aber wie sind Sie denn so zeitig hinter das Geheimnis gekommen? Als Sie in Timbuktu davon sprachen, war der Schachtgrund doch noch wenigstens hundert Meter von der Fundstelle entfernt.«
»Allerlei kleine Zeichen, Herr Uhlenkort, aus denen man seine Schlüsse zieht. Eines Tages, auch schon vor Monaten, brauchten wir einen Maschinenteil. Der Chef, Mr. Grimmaud, sagte: In Schuppen werdet ihr das Passende finden. Aber dann ging er selbst zu dem Schuppen mit. Nur er hatte den Schlüssel, schloß selbst auf und auch wieder ab. Und da sah ich … Wissen Sie, Herr Uhlenkort, ich habe mal vor zehn Jahren in einem großen Karbidkraftwerk in Turkestan gearbeitet, da sah ich Karbidkessel in diesem Schuppen, ich kenne die Form der Dinger recht genau.
Hunderte von Karbidkesseln, und da suchte ich mir einen Vers darauf zu machen. Fing an, im Schacht das geschossene Gestein zu prüfen, goß Wasser auf verdächtige Stellen. Sie wissen ja, wie Azetylen riecht. Kurz und gut, seit Wochen war ich mir sicher, daß Seine Schwarze Majestät auf Karbid bohrten. Da gingen mir die Augen auf. Jetzt begriff ich auf einmal, was diese schleierhaften Röhrenanlagen, diese mächtigen Betonbauten in der Nähe des Schachtes zu bedeuten hatten. Ich sage Ihnen, Herr Uhlenkort, alles Weitere ist bereits bis in die letzten Einzelheiten vorbereitet. Der Kaiser wird mit überraschender Schnelligkeit riesenhafte Kraftwerke um den Schacht herum entstehen lassen.«
»Ich fürchte es, Herr Tredrup. Und ich fürchte nach diesem Fund doppelt für das weiße Südafrika und für Europa. Unsere Diplomaten werden die Wirkungen dieses Fundes sehr bald an der veränderten Sprache und Haltung des Kaisers spüren.«
Tredrup zuckte die Achseln.
»Es wird wohl so werden, Herr Uhlenkort. Jeder hat sein Päckchen zu schleppen. Südafrika diesen Kaiser … und ich …« Er griff nach dem turbanartigen Gebilde auf seinem Haupt. »Und ich …«
»Ich suchte Sie vergeblich bei der Feier. Erfuhr von Ihrem Unfall, dachte mir einiges und kam hierher.«
»So, so! Sie dachten sich einiges …«
»Das war Teils Geschoß, möchte ich ebenso falsch wie treffend zitieren, wenn man Teil mit Guy übersetzen darf.«
Jetzt war es Tredrup, der bedeutsam den Finger an den Mund legte.
»Rücken Sie etwas näher, Landsmann. Die Wände sind hier nur zwei Millimeter dick. Sie haben richtig geraten. Ich fuhr gestern früh in den Schacht ein. Sie wissen, daß der Schacht abgestuft gebaut ist. Erst tausend Meter tief und tausend Meter weit. Dann kommt das nächste Stück, wieder tausend Meter tief und neunhundert Meter weit. So geht es in Abschnitten immer je tausend Meter tiefer, wobei der folgende Abschnitt immer hundert Meter enger wird. Die Förderanlagen reichen immer von einer Etappe, das heißt einer Sohle bis zur anderen. Ich war soeben aus der ersten Förderschale getreten und wartete auf das Heraufkommen der Nächsten.
Ich stand da so neben einem mit Grubenholz beladenen Wagen. Da war es plötzlich, als ob der Blitz in den Wagen geschlagen wäre. Es war, als wenn was Dunkles, Graues an mir vorbeisauste, und dann flogen die Hölzer von dem Wagen splitternd und krachend nach allen Seiten … und dann war ich weg … und wurde erst hier wieder munter. Es hatte eine Kollision zwischen einem Stück Grubenholz und meinem Schädel gegeben. Gott sei Dank ist der heil geblieben. Eine tüchtige Beule, das war alles, zur Enttäuschung derjenigen, welche …«
»Sie haben Glück gehabt, mein lieber Tredrup. Diesmal.«
»Diesmal? Ja, ja, es wird bei dem einen Versuch nicht bleiben, so wie ich ihn kenne. Was tun? Darüber zerbreche ich mir den sonst noch gut konservierten Schädel, seitdem ich wieder klar denken kann …«
»Darauf gibt es nur eine Antwort. Das Klima von Mineapolis wird auf die Dauer Ihrer Gesundheit sehr unzuträglich. Schütteln Sie den Staub dieses ungastlichen Ortes von den Füßen!«
»Ausrücken??! Meinen Sie also? Nee, das ist es ja eben, was Klaus Tredrup nicht in den Kopf will …«
»Aber hinein muß, mein lieber Tredrup. Sie würden Ihren Feinden den größten Gefallen tun, wenn Sie sich hier weiteren Attentaten aussetzen wollten. Die Bohrerei ist hier jetzt nach der Auffindung des Karbidlagers zum größten Teil erledigt. Sie sind also abkömmlich. Mit Grimmaud stehen Sie, wie Sie mir sagten, ganz gut. Gehen Sie zu ihm, nehmen Sie Ihre Entlassung und beeilen Sie sich, damit Sie mit mir um ein Uhr wegfliegen können.«
»Gut gesagt, Herr Uhlenkort. Wegfliegen. Aber wohin?«
»Wohin? Erst einmal mit mir nach Kapstadt, wohin mich dringende Angelegenheiten rufen, und dann nach Hamburg.«
»Hm, so, so. Nach Hamburg. Das läßt sich hören. Ich stecke jetzt seit … ja zum Donnerwetter, ich stecke ja seit fünf Jahren ununterbrochen im Betrieb. Höchste Zeit, daß ich mal wieder nach Hamburg komme und mir ein Lüftchen von St. Pauli um die Nase wehen lasse. Gemacht, Herr Uhlenkort! Ich komme via Kapstadt mit nach Hamburg.«
»Und später, Mr. Tredrup, findet sich für einen Mann von Ihren Qualitäten hinreichende Beschäftigung in unseren Spitzbergen-Minen.
Sie wissen vielleicht, daß unser Haus in größerem Maßstab an den Kohlenminen von Spitzbergen beteiligt ist. Wir wollen die Fördertiefe bis auf sechstausend Meter vergrößern. Da wird uns ein Ingenieur, der hier bis zum sechsten Kilometer gebohrt und gesprengt hat, sehr willkommen sein.«
»Well, Herr Uhlenkort. Darüber ließe sich reden. Freilich, bißchen weiter Sprung vom Äquator bis zum Nordpol. Ich werde erst einmal in Hamburg gründlich Station machen … dann meinetwegen.«
Klaus Tredrup hatte seinen Besucher zu spät darauf aufmerksam gemacht, daß die Wände jener Wellblechbaracke kaum zwei Millimeter stark waren. Die Agenten und Spione des Kaisers arbeiteten schnell und sicher …
Ein Adjutant rief Guy Rouse zu einer sofortigen Audienz ins Schloß.
Ohne alle Unschweife ging Augustus Salvator auf sein Ziel los.
»Mr. Rouse, ich weiß, daß Herr Uhlenkort, der hamburgische Großkaufmann, im Begriff steht, von hier nach Kapstadt zu fliegen, um sich mit dem Präsidenten der Südafrikanischen Union zu besprechen. Er hat sich hier dreimal vierundzwanzig Stunden aufgehalten. Der Zweck seines Aufenthalts ist nicht ganz durchsichtig.«
»Ich glaube zu verstehen. Euere Majestät wünschen diese Reise nicht.
Wünschen, daß Herr Uhlenkort …«
»Nein, Mr. Rouse. Sie mißverstehen mich. Das nicht! Aber es interessiert mich außerordentlich, was Herr Uhlenkort mit dem Präsidenten zu besprechen hat. Bisher sind meine Agenten leider noch nicht dazu gelangt, in das Vorzimmer des Präsidenten zu kommen …«
»Euer Majestät, ich erlaube mir zu sagen, daß ich in dieser Beziehung glücklicher war. Meine Agenten sind tatsächlich schon drin.«
»Ich bewundere Sie, Mr. Rouse. Sie sind … es ist außerordentlich … ich würde Sie …«
»Aber selbstverständlich, Euer Majestät. Es wäre unter allen Umständen meine Pflicht gewesen bei den Interessen, die Afrika und Amerika verbinden. Ich garantiere Euer Majestät genauen Bericht, sofort nachdem die Unterredung stattgefunden hat.«
»Ich danke Ihnen, Mr. Rouse.«
Kurz vor ein Uhr mittags betrat Walter Uhlenkort in Begleitung Tredrups den großen Flughafen von Mineapolis. Der Verkehr war hier infolge der Festtage in fieberhaftem Gange. In schneller Folge verließen die großen Düsenmaschinen auf die Minute fahrplanmäßig den Platz nach allen Richtungen der Windrose.
Uhlenkort spürte, wie Klaus Tredrup ihn hinter die Deckung einer großen Fahrplantafel zog und gleichzeitig auf einen soeben angekommenen Kraftwagen deutete. Guy Rouse entstieg diesem Wagen. Uhlenkort sah, wie er zu einer Person im Innern des Wagens sprach … lange und eindringlich sprach, sich dann verabschiedete und das große Amerikaflugzeug bestieg.
Mit geballten Fäusten, verzerrtem Gesicht starrte Tredrup Rouse nach.
Nur bruchstückweise klangen die Worte, die sich durch die zusammen gepreßten Zähne ins Freie rangen, an Uhlenkorts Ohr. Das Amerikaflugzeug startete.
»Unsere Rechnung ist noch nicht beglichen, Mr. Rouse! Eines Tages wird sie ins reine gebracht werden, so wahr ich Klaus Tredrup heiße.
Nur den einen Wunsch hätte ich, dabei zusein, wenn das Schicksal über dich kommt … Aber gehen wir jetzt, Herr Uhlenkort, dort drüben wartet bereits unsere Maschine, gehen wir an Bord.«
Nach einer knappen Viertelstunde befanden sich die beiden Hamburger bereits in voller Südfahrt. Das Flugzeug schoß in bedeutender Höhe über die endlosen Baumwollfelder dahin, welche Bewässerungstechniker des Kaisers Augustus Salvator hier vor zehn Jahren entstehen ließen. Hervorzauberten aus einer Steppe, die bis dahin nicht einmal eine notdürftige Weide bot.
Uhlenkort und Tredrup betrachteten eine geraume Weile von ihren Sitzen aus das Baumwollfeld tief unter sich. Uhlenkort brach das Schweigen.
»Augustus Salvator ist ein Herrscher mit großen Zielen. Diese Fruchtbarmachung hier … das Karbidlager heute früh … es ist erstaunlich!«
»Er denkt und plant auf Jahrzehnte voraus, Herr Uhlenkort. Sahen Sie – Sie haben es wahrscheinlich nicht gesehen – diese immensen Rohranlagen vom Tschadsee nach allen Richtungen hin? Er hat schon genau disponiert, wie er die riesigen Energiemengen nutzen wird, die er hier aus dem Karbid gewinnen kann. Bewässerungsanlagen, die den letzten Fleck der Sahara, soweit sie innerhalb der Grenzen seines Reiches liegt, in blühendes Gefilde verwandeln sollen.«
»Und dann, sobald das geschehen ist, wird er die Grenzen dieses Riesenreiches wieder um ein Stück vorschieben.«
»Vielleicht, Herr Uhlenkort. Augustus Salvator ist jedenfalls ein Mann, dem man – mag man sonst zu ihm stehen, wie man will – die Bewunderung nicht versagen kann. Ein genialer Kopf! Ich sage nicht zuviel. In den Jahren, die ich hier weilte, hatte ich Gelegenheit genug, ihn und sein Werk kennen zu lernen, zu verstehen. Das Schlagwort vom Schwarzen Napoleon stimmt nicht, nicht ganz. Die Schattenseiten des Korsen fehlen. Mag sein, daß er auch aus dessen Geschichte gelernt hat.
Ein Waterloo wird ihm nicht erblühen. Während der Bauarbeiten war es mir mehrfach vergönnt, mit ihm zu sprechen. Mit jeder Unterredung wurde meine Achtung vor seiner Persönlichkeit höher. Ein seltener Mensch, ein Mann, wie ihn die Weltgeschichte nur selten hervorbringt.
Dagegen dieser Rouse!
Das Gegenteil in allem! Wenn auch seine Macht heute vielleicht ebenso groß ist … ein Pirat, ein Freibeuter, der über Leichen geht, Leichen an seinem Weg hinter sich läßt.«
»Sie sind nicht gut auf Rouse zu sprechen, Herr Tredrup, begreiflicherweise. Immerhin, auch der bleibt ein Mann von übernormalen Ausmaßen.«
»Mag sein, Herr Uhlenkort. Es gibt auch überlebensgroße Schufte.
Wie hat der Mensch es fertig gebracht, sich in wenigen Jahren vom einfachen Angestellten zum Präsidenten der New Canal Company. zu entwickeln?«
»Durch seine Tüchtigkeit, Herr Tredrup.«
»Tüchtigkeit … Tüchtigkeit? Na ja, was man in Wallstreet Tüchtigkeit nennt. In dem Sinne war er allerdings riesig tüchtig. Was hat der Mensch nicht alles mit den Aktien der Canal Company und mit denjenigen der mysteriösen Copper Company getrieben? Bald hoch und bald tief. Wie verstand er es, die wichtigsten und gefährlichsten Geheimnisse der Gesellschaft, deren Angestellter er war, zu ergründen und in seiner Gerüchtefabrik auszunützen. Er lenkte den Aktienkurs wie ein guter Kutscher die Pferde. Mit mathematischer Genauigkeit kaufte er, wenn sie am tiefsten – verkaufte er, wenn sie am höchsten standen!
In der Tat, Herr Uhlenkort, verflucht tüchtig ist der Mann … und später die Geschichte mit seinen Territorien am Kanal, wo er die Canal Company gegen die Copper Company und die Copper Company gegen die Canal Company ausspielte …«
Uhlenkort lächelte. »Ich hörte davon, Herr Tredrup. Es scheint allerdings nach unseren Begriffen ein starker Streich gewesen zu sein.«
»Ein starker Streich? Sagen Sie lieber: ein Piratenstück erster Güte. Er hetzte die beiden Gesellschaften aufeinander, verwirrte, schwächte sie.
Hatte durch dunkle Machenschaften plötzlich ein wichtiges Gelände von fünftausend Quadratkilometern in eigenem Besitz, wurde von heute auf morgen Präsident der Canal Company, bezahlte das Gelände mit Kanalaktien, die er für ein Butterbrot, noch dazu auf Kredit, gekauft hatte, ließ sich das Gelände in guten Staatspapieren bezahlen, häufte eine Million auf die andere und wurde, was er heute ist.«
»Und was meinen Sie, Herr Tredrup, was er heute ist?«
»Er ist der Koloß von Wallstreet. Er beherrscht die amerikanische Wirtschaft – die halbe Weltwirtschaft … noch mehr. Kongreß und Senat hat er in raffinierter Weise an seinen tausendfachen Unternehmen beteiligt. Die Politiker der Vereinigten Staaten müssen ihm in ihrem eigenen Interesse zu Willen sein. Vor hundert Jahren sprach man von einer Korruption in den Staaten. Es war schneeweiße Unschuld gegen das, was Rouse jetzt inszeniert hat. Man munkelt sogar, Herr Uhlenkort, daß der erwählte Präsident des amerikanischen Volkes, Austin Parker, von Guy Rouse abhängig ist, der seine Wahl finanziert haben soll.«
Klaus Tredrup war in wütenden Eifer geraten. Wieder glitt ein leichtes, überlegenes Lächeln über Uhlenkorts Züge.
»Bis zu einem gewissen Grad mögen Sie Recht haben. Es ist uns in Europa nicht unbekannt, daß die Rouse-Gruppe erheblichen Einfluß auf die amerikanische Politik ausübt. Immerhin, der Mann hat den Erfolg für sich, den doch schließlich nur der Tüchtige hat.«
»Tüchtig! Tüchtig … Ich wiederhole Ihnen, Herr Uhlenkort, er ist der größte und ausgesiebteste Schuft auf beiden Hemisphären. Wenn mich etwas freut, so ist es die eine Erinnerung, daß ihm Klaus Tredrup doch mal einen Kinnhaken gelangt hat, an den er heute noch denkt.«
»Den er auch niemals vergessen wird, merken Sie wohl, Herr Tredrup.«
Die Unterhaltung der beiden Reisenden fand ihr Ende, da das Flugzeug sich jetzt anschickte, auf den Hafen von Kapstadt hinunterzugehen. Die Passagiere mußten sich für die Zollformalitäten bereitmachen.
In den Wandelgängen des Kongreßgebäudes zu Washington herrschte jenes rege Leben, das wichtigen Sitzungen vorauszugehen pflegt. In größeren und kleineren Gruppen standen die Abgeordneten debattierend beisammen. Immer wieder lösten sich hier und dort einzelne los, um zu einer anderen Gruppe zu treten. Immer wieder schwirrten die Punkte der Tagesordnung durch den Raum. Besonders aber der erste Punkt, der die New Canal Company … anging, und in Verbindung damit der Name Guy Rouse. Wie sollte man heute stimmen? In einer Viertelstunde mußte man sich entscheiden. Die Gruppen in den Wandelgängen begannen sich zu lockern. Die Tische im Lunching Room fanden Gäste.
»Hallo, Miller! Hierher! Illinois zu Ohio!«
Eine lange Gestalt erhob sich hinter dem Bartisch. Zwei Arme wie Windmühlenflügel winkten einem Neuankömmling zu, einer kleinen gebückten Gestalt mit dem gelblichen, grämlichen Gesicht eines gallsüchtigen Hypochonders. Langsam drehte er sich nach dem Rufer um. Die kleinen blinzelnden Augen kniffen sich zusammen. Dann schlurfte er langsam nach dem Tisch hin.
»Auch hier, Teddington?«
Er wollte noch weitersprechen, als die knochige Riesenfaust Teddingtons seine Rechte packte und wie einen Brunnenschwengel auf und nieder pumpte und ihn auf einen Stuhl drückte.
»Auch hier, Mr. Miller?« fragte der Riese zurück. »Wie war es doch mit Ihrer Europareise?«
»Europareise?« knurrte der Grämliche und warf einen schiefen Blick auf den Frager. »Wer will nach Europa?«
»Sie! Sie, mein lieber Miller!«
»Ich? Ich … Wollen Sie mir die fünftausend Dollar geben, die ich für diese Reise brauchte?«
»No, lieber Miller. Selbst wenn ich sie hätte …«
Miller wandte dem Sprecher sein Gesicht zu. Eine Art Lächeln verzerrte es zu einer Grimasse.
»Wenn Sie sie hätten, Teddington, dann würden Sie sich wahrscheinlich die schöne Villa am Ohio River kaufen, auf die Sie schon …«
Die Windmühlenflügel schlugen klatschend auf die langen Schenkel.
»Knock out, Miller! Gut gegeben! Haha …« Er lachte aus vollem Halse, wobei seine lange Gestalt sich in grotesken Windungen krümmte.
»Villa und Europareise … all gone away … in die Ewigkeit!«
»Sie lachen, Teddington. Ich weiß nicht, was da zu lachen ist. Und dieser Affront! Anders kann ich’s nicht bezeichnen.«
»Affront … Gut gesagt, Miller!«
Von neuem lachte Teddington auf.
»Sie scheinen heute Ihren heiteren Tag zu haben, Teddington.« Er nahm ein Glas Wasser und nippte daran.
»Gewiß ist es ein Affront, wenn …«
Er machte eine Pause, als suche er nach Worten, um den Satz zu vollenden.
»Sagen Sie nur, Mr. Miller«, seine Stimme dämpfte sich etwas, »es ist ein Affront, wenn man tagelang von morgens bis abends den Geldbriefträger Guy Rouse erwartet … und er kommt nicht.«
»Er kommt nicht«, echote Miller. »Er glaubt, uns nicht mehr nötig zu haben.«
»Glaubt er nicht? Und ich glaubte niemals fester auf den Geldbriefträger Rouse rechnen zu können als vor dieser Abstimmung über seine Kanalpläne. Weiß der Teufel!«
Eine untersetzte, massige Gestalt stand plötzlich neben ihnen.
Überrascht sahen sie auf. Dann freudiges Erkennen. Zwei Hände streckten sich dem Neuen entgegen.
»Ah! In unsere Mitte, Mr. Struck!« kommandierte Teddington. »Texas mitten unter uns! Trotz der schlechten Zeiten noch dicker geworden!«
»Und Sie noch länger!« erwiderte der Dicke und ließ sich grinsend auf einen Stuhl nieder.
Der eigene Witz schien ihm großes Vergnügen zu machen. Sein stiermassiges Lachen schulterte durch den Raum. Er hielt inne, als er den ostentativ musternden Blick Teddingtons fühlte.
»Was haben Sie denn? … Was bemerken Sie an mir?«
»Ich bemerke, daß Ihnen zu fehlen scheint, was ich eben suchte.«
»Was?« Der Texasmann starrte ihn mit verständnislosen Blicken an.
»Was?«
»Was? Nun! Mehreres. Zum ersten die silbernen Pferdesporen, zum zweiten das herrliche Mexikanerkostüm einschließlich des echten Sombreros – alles in allem: ich vermisse den Don Jose Struckio de la Grande Hacienda!«
Die Faust des Dicken fuhr auf den Tisch, daß die Gläser wackelten.
»Verdammt! Der Schuft … Der Betrüger!«
»Betrüger! Affront!« lachte Teddington. »Eins schöner wie’s andere, ein frecher Betrüger, Gentlemen, nicht wahr?« Wie ein Wiehern klang sein Lachen.
»Wer zuletzt lacht, lacht am besten«, stieß der gallsüchtige Mann aus Illinois heraus. »Wir werden ihm heute die Quittung geben. Er soll’s bereuen!«
»Er soll’s! Nieder mit Rouse, dem ausgebliebenen Geldbriefträger!«
Teddington ergriff sein Glas und goß es in einem Zug hinunter. Die Glocke unterbrach ihr Gespräch. Sie rief die Kongreßmitglieder in den Saal.
»Meine Herren!« Die Stimme des Sprechers schallte durch den Raum.
»Die Tagesordnung unserer heutigen Sitzung umfaßt die folgenden drei Punkte:
Erstens einen Antrag Australiens auf gemeinsam zu treffende Maßnahmen gegen das überhand nehmende Seeräuberunwesen.
Zweitens einen Antrag Europas auf etappenweise Sprengung des neuen Panamakanals und drittens einen Antrag Südafrikas betreffend amerikanische Kriegslieferungen an den Kaiser Augustus.
Wir schreiten zur Behandlung des ersten Punktes. Ich bitte den Herrn Staatssekretär der Marine, seine Ausführungen zu dem Antrag der Australischen Union zu machen.«
Der Staatssekretär erhob sich und sprach:
»Meine Herren! Der Antrag Australiens verdient die größte Aufmerksamkeit von unserer Seite. Im Verlauf der letzten Seekriege wurden von verschiedenen der beteiligten Mächte in höchster Not Kaperbriefe ausgestellt. Es wurden also Privatpersonen, die im Besitze von U-Booten waren, durch einen solchen Brief zu Teilen der legitimen bewaffneten Macht zur See gestempelt. Die Erfolge dieser Maßnahmen waren teilweise sehr groß. Einige Welthandelsflotten wurden stark dezimiert.
Verhältnisse ganz ähnlicher Art zeigten übrigens schon die Kriege am Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts. Und wiederum entwickelte sich ebenso wie damals aus dem gesetzlichen Kapertum ein ungesetzliches Seeräubertum. Nur mit dem kleinen Unterschied gegen damals, daß die modernen Piraten sich ausschließlich der U-Boote bedienen. Das Unwesen hat leider mit der Zeit immer mehr überhand genommen.
Auch Bürger der Vereinigten Staaten sind oft genug in beklagenswerter Weise in Mitleidenschaft gezogen worden.
Die einzelnen Staaten haben schon seit langem versucht, dem Unwesen zu steuern. Aber ein durchschlagender Erfolg war den bisherigen Bemühungen versagt. Der Antrag Australiens zielt dahin, eine große gemeinsame Aktion aller Beteiligten zu veranlassen. Man denkt, durch ein kombiniertes Vorgehen von Luft- und Seestreitkräften die Piraten bis in ihre letzten Schlupfwinkel zu verfolgen, aufzureiben und dem ganzen Unwesen ein Ende zu bereiten. Die Erledigung der Vorfragen dürfte jedoch nicht ganz einfach sein. Denken Sie nur an die prozentuale Beteiligung der einzelnen Staaten, die Kommandantenfrage, die Finanzierung, und Sie werden die Schwierigkeiten erkennen. Diese Präliminarien dürften am besten in einem Parlamentsausschuß erledigt werden, dessen Bildung ich anrege.«
Der Vorschlag des Staatssekretärs fand allgemeine Billigung. Der Sprecher hatte das Wort.
»Meine Herren! Den zweiten Punkt unserer Tagesordnung bildet der bekannte Beschluß des Berner Parlaments. Die Gründe, die Europa zu diesem Schritt bewogen haben, dürften Ihnen allen durch die Presse genügend bekannt sein. Ich eröffne die Diskussion über diese Frage.«
Zwei Stunden lang wechselten sich die Redner auf der Tribüne ab, die für und wider den europäischen Antrag sprachen. Der laute Beifall, der den Reden »Dafür« folgte, sie bei jedem Schlagwort von Humanität, christlicher Nächstenliebe und Menschentum unterbrach, verriet die Stimmung des Hauses schon jetzt zur Genüge. Als letzter sprach Wilkinson, Florida. Seine Rede gipfelte in einem überaus scharfen Angriff auf die Canal Company und ihren Leiter. Aufmerksam folgten die Kongreßmitglieder seinen Ausführungen. Als er die möglichen Folgen einer Ablenkung des Golfstroms für Florida ausmalte, stieg das Interesse noch höher.
»… Kann das amerikanische Volk die Verantwortung tragen, daß blühende, dicht bevölkerte Teile Europas in Eiswüsten verwandelt werden? Daß Armut, Not und Elend Millionen an den Bettelstab bringen, in den Tod jagen … und alles, um dieser Kanalgesellschaft ein paar Milliarden zu ersparen, dieser Gesellschaft, deren Geschäftspraktiken sowieso schon genügend anrüchig sind? Mögen auch die Befürchtungen übertrieben sein. Schon die Möglichkeit muß genügen, um unseren Beschlüssen die Richtung zu geben. Entschlössen wir uns anders, träte das Gefürchtete ein, so wäre das ein schwarzes Blatt in der glorreichen Geschichte Amerikas. Auf Generationen hinaus wäre jede Regierung unseres Landes in den Augen der Welt verächtlich gemacht.
Denken Sie, meine Herren, wie unsere Väter stets für die Ideale der Menschheit gekämpft haben. Wollen wir diesen Prinzipien untreu werden?«
Mit stark erhobener Stimme hatte er die letzten Worte gesprochen.
Lautes Händeklatschen, vermischt mit kräftigen Nein-nein-Rufen gab die Antwort. Die Abstimmung brachte eine überwältigende Majorität für den europäischen Antrag.
Endloser Beifall folgte, als das Resultat verkündet wurde.
»Wir haben’s ihm gut gegeben!« flüsterte Struck seinem Nachbarn Teddington zu. »Das nächste Mal wird er besser an uns denken.«
Teddington zupfte ostentativ an seiner langen Nase. Miller und Struck sahen ihn fragend an.
»Ich glaube, Gentlemen, wir haben eine pyramidale Dummheit gemacht.« Er lachte, während zwei Gesichter neben ihm lang und länger wurden.
»Trösten wir uns! Wir sind nicht die einzigen. Fünfundsiebzig Prozent von unseren ehrenwerten Kollegen waren ebenso dumm.«
Fast gleichzeitig flammte in der siebenten Abendstunde über allen größeren Städten Europas der Lichtpressedienst auf.
»Washington, 1 Uhr nordamerikanischer Zeit: Der Kongreß hat die etappenweise Sprengung des neuen Panamakanals mit großer Mehrheit beschlossen.«
Da waren Millionen von Seelen, denen diese am Himmel leuchtende Botschaft wirklich vom Himmel zu kommen schien. Der schwere Alpdruck, der ihre Sinne und Herzen seit Monaten gefangen hielt, wich einem befreiten Aufatmen.
Alles das, was die Zeitungen, die Presse in jeder Form, über die wahrscheinlichen, für Nordeuropa fürchterlichen Folgen einer Gesamtsprengung und ihre Auswirkungen verbreitet hatte, alles das war schwach gegenüber dem, was als Gerücht in tausendfacher Form von Mund zu Mund lief.
Sparten die Zeitungen schon nicht mit stärksten Farben bei der Ausmalung der Zukunftsbilder, so hatte hier die Phantasie ganz ungehemmtes Spiel.
Da lagen Schottland und Irland unter ewigem Eis. Skandinavien ein neues Sibirien. Die Häfen von Nordeuropa nur noch wenige Monate im Jahr eisfrei. Verminderte Erwerbsmöglichkeiten überall. Die landwirtschaftlichen Betrieben zum Tode verurteilt. Menschenüberfluß, Hunger, Armut, Not, und die Folgen: Auswanderung von Millionen und aber Millionen.
Wie viele hatten schon jetzt ihre alte Heimat verlassen! In Schottland und an den Fjorden Skandinaviens waren die Landgüter spottfeil … kaum verkäuflich geworden. Die industriellen Unternehmungen in jenen Ländern begannen bereits einen Mangel an Arbeitskräften zu spüren.
Das Auswanderungsgeschäft der Flug- und Schiffahrtsgesellschaften blühte wie nie zuvor.
Was in den in erster Linie bedrohten Gegenden zurückblieb, war seines Lebens schon seit langem nicht mehr froh. Die Kunde aus Washington nahm den Druck von den Herzen. Die Straßen und Plätze wogten von dichten Menschenmassen. Die Nachrichten des Lichtpressedienstes, welche die einzelnen Phasen der Sitzung in Washington, Bruchstücke der Reden an den Abendhimmel warfen, weckten immer neue Begeisterung. Europa atmete auf. Das seit Tagen in Bern versammelte Parlament schloß seine Sitzung mit einer glänzenden Rede des Präsidenten. Ein Glückwunschtelegramm flog über den Ozean.
Walter Uhlenkort hatte Audienz bei Mynheer van Teeren, dem Präsidenten der Südafrikanischen Union. Er überbrachte ihm persönlich Empfehlungen seines Oheims Christian Harlessen, des Präsidenten der Vereinigten Europäischen Staaten. Nach kurzer Abschweifung wandte sich das Gespräch den letzten Ereignissen zu.
»Sie kommen von Timbuktu, Herr Uhlenkort? … Nun, was haben Sie da gesehen, und was sagen Sie dazu?«
»Ich sah, was ich leider schon vorher ahnte, vermutete.«
»Sie ahnten … Was haben Sie vermutet?«
»Ich fand bestätigt, was ich fürchtete. Dem Kaiser Augustus gibt diese Entdeckung einen Trumpf stärkster Art in die Hand. Die wissenschaftliche Erschließung dieser natürlichen Energiequelle hat eine ungeheure wirtschaftliche und politische Bedeutung. Mit einer solchen Naturkraft von Millionen von Pferdestärken läßt sich viel anfangen.«
»So ist es, Herr Uhlenkort. Wir wissen’s und fürchten’s. Unser Ministerium hatte gestern Abend eine Sitzung, die sich bis tief in die Nacht hineinzog. Wir haben gesessen und konferiert, sind aber noch zu keiner Stellungnahme, zu keinem Entschluß gekommen. Eine Möglichkeit, den Schlag zu parieren, ließ sich nicht erkennen. Wir sind mehr denn je auf die Hilfe Europas angewiesen.
Es ist mir daher außerordentlich angenehm, daß ich Gelegenheit habe, jetzt mit Ihnen gewissermaßen als mit einem Vertreter Europas Rücksprache zu nehmen. Ich hatte bereits heute früh eine Besprechung mit dem europäischen Botschafter. Er machte uns Hoffnungen, versprach, daß Europa uns nicht im Stich lassen würde, uns noch tatkräftiger als bisher unterstützen wolle.
Es wurden auch Vorschläge gemacht, bei uns große Bohrungen anzulegen, um in unserem Lande vielleicht ähnliche Funde zu machen, ähnliche Energiequellen zu erschließen. Aber das kostet Zeit, sehr viel Zeit, die wir nicht mehr haben, erfordert außerdem Kapitalien, die unser Land unmöglich aufbringen kann. So sind wir leider zu der Ansicht gekommen, daß dieser Weg nicht gangbar ist, selbst wenn uns europäisches Kapital in der nötigen Höhe zur Verfügung gestellt werden könnte. Aber was ist zu tun?
Sie, Herr Uhlenkort, haben dort am Tschadsee alles mit eigenen Augen gesehen. Sie wissen die Tragweite jener Entdeckungen genau abzuschätzen, und Sie haben auch Gelegenheit gehabt, sich hier über unsere Hilfsquellen zu informieren. Wenn Sie wieder nach Europa zurückkommen, so werden Sie Ihrem Oheim, Ihrer Regierung ein genaues Bild der Lage hier geben können.
Die Verwicklungen, in die uns die ultimativ gestellten Forderungen des Kaisers Augustus betreffend die Gleichberechtigung beider Rassen gebracht hat, sind nach dieser Entdeckung am Tschadsee außergewöhnlich schwer. Es ist selbstverständlich, daß wir sie in der Form, in der sie gestellt wurden, nicht annehmen können. Aber es ist sehr schwer, ich möchte fast sagen, ausgeschlossen, sie unter diesen Umständen ganz abzulehnen.«
Der Präsident schwieg, seine Züge sprachen deutlich von den Sorgen, die ihn drückten. Uhlenkort nahm das Wort zur Erwiderung:
»So bliebe also, Herr Präsident, wieder die alte Frage: zu Kreuze kriechen – bedingungslos zu Kreuze kriechen – oder Krieg.«
»So ist es, Herr Uhlenkort. Krieg oder Frieden, die alte, ewige Frage.
Die Entscheidung liegt nicht bei uns, sondern bei Europa. Ist Europa gewillt, unseren Staat, diesen letzten Außenposten der weißen Rasse auf afrikanischem Boden, zu halten und nicht untergehen zu lassen, dann muß es uns mit allen Kräften zur Seite stehen.«
»Das wird es!« Uhlenkort sah dem Präsidenten fest in die Augen.
Dann – als trübe sich sein Blick – schaute er ins Weite.
»Solange es kann.« Die Worte kamen kaum hörbar, für den Präsidenten unhörbar, von seinen Lippen. Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und legte die Hand über die Augen.
»Herr Uhlenkort!« Uhlenkort schaute auf.
»Haben Sie Bedenken, Befürchtungen irgendwelcher Art?«
Uhlenkort ließ die Hand sinken, sah in van Teerens Blicken den Schimmer der Angst. Mit einer starken Bewegung richtete er sich auf.
»Europa wird bis zum letzten Atemzug an der Seite Südafrikas stehen.
Sobald ich zurückgekehrt bin, werde ich alles tun, daß Ihnen jede nötige Hilfe, daß Ihnen insbesondere Mannschaften, Truppen, daß Ihnen das notwendige Menschenmaterial zugeht. Es wird schwere Kämpfe darüber geben. Viele Köpfe, viele Sinne. Das totalitär regierte Kaiserreich Afrika, wo nur einer gebietet, hat es leichter. Ich will, ist nicht, die Auswanderung noch stärker zu fördern. Dies Mittel, so gut es bisher schien, wirkt zu langsam, wo die Lage auf des Messers Schneide steht.
Gewiß, wir haben von Anfang an bei dieser Auswanderung, Wert darauf gelegt, besonders waffengeübte junge Leute hinüberzuschicken, die sich hier mit Hilfe Ihrer Regierung eine Existenz suchen mußten und auch gefunden haben. Aber das genügt jetzt nicht mehr.«
In den Augen des Präsidenten leuchtete es auf.
»Herr Uhlenkort, glauben Sie wirklich, durchsetzen zu können, daß …«
»Ich will es«, unterbrach ihn Uhlenkort. »Es geht ums Leben. Die Lage verlangt die Anwendung der stärksten Mittel. Wir werden Ihnen europäische Soldaten senden, vorläufig – ich sage vorläufig – ohne Ausrüstung … als Auswanderer!«
»Und die diplomatischen Verwicklungen, die sich daraus mit Sicherheit ergeben dürften … schwierige diplomatische Verwicklungen …« Der Präsident sprach es.
Walter Uhlenkort zuckte die Achseln. »Herr Präsident, diplomatische Verwicklungen schwieriger Art entstehen immer nur dann, wenn das Schwert locker sitzt. Wir müssen mit der Möglichkeit einer bewaffneten Auseinandersetzung rechnen.«
Juanita Alameda entstieg dem Kraftwagen und betrat die Vorhalle des Delarey-Hotels in Kapstadt. Einen Augenblick verweilte sie im Vorbeigehen bei dem Portier.
»In einer halben Stunde wird ein Angestellter des Modehauses Princeton & Williams kommen, um mir eine Auswahl vorzulegen.
Lassen Sie ihn in mein Zimmer führen.«
»Sehr wohl, gnädige Frau!«
Eine halbe Stunde später fuhr der Liftboy einen Herrn mit diversen Kartons hinauf und geleitete ihn in Juanitas Wohnzimmer.
»Der Herr von Princeton & Williams!«
Juanita erhob sich vom Schreibtisch.
»Ganz recht. Lassen Sie sehen, was Sie gebracht haben.«
Mit einer tiefen Verbeugung trat der Ankömmling auf die Dame zu.
Doch kaum hatte der Liftboy das Zimmer verlassen, als er sich aufrichtete und mit gedämpfter Stimme sagte: »Bitte, meine Gnädigste?«
Juanita trat dicht an ihn heran und flüsterte ihm kaum hörbar das Schlüsselwort zu. Dann trat sie zurück und sprach wieder mit lauter Stimme.
»Bitte, wollen Sie die Stoffe hier auf diesem Tisch ausbreiten … Hier, ja! … Die Farbe ist doch … Ob es mich kleiden wird?«
»Wir können einen kleinen Versuch machen. Vielleicht darf ich Ihnen den Stoff über die Schulter hängen?«
Etwas umständlich bemühte er sich, die Stoffe über der Figur Juanitas zu drapieren. Bald trat er ein paar Schritte zurück, als wolle er die Wirkung besser beurteilen. Bald stand er wieder unmittelbar neben ihr, zog hier und dort eine Falte zu Recht und sprach.
Sprach laut wie ein eifriger, pflichtbewußter Verkäufer von Princeton & Williams, wenn er entfernt vor ihr stand, und flüsterte unhörbar, wenn er dicht bei ihr die Stoffe zu Recht zog.
Juanita stand, ließ sich behängen und drapieren und schrieb all die Dinge, die ihr zugeflüstert wurden, in ihr Gedächtnis ein wie in eine Schreibtafel. Machte dazwischen laute Bemerkungen, die auf die Anprobe Bezug hatten. Bis nach einer halben Stunde der Angestellte von Princeton & Williams, die Anprobe für beendet hielt und sich anschickte, seine Kartons zusammen zupacken. Da flüsterte sie noch eine Frage. Ohne besonderen Zusammenhang mit dem Bisherigen fragte sie:
»Sind sonst noch Nachrichten?«
Erhielt im gleichen Flüsterton die Antwort.
»Jawohl! Unter Chiffre Omega zusenden: Christie Harlessen, zurzeit als Schulreiterin Kapstadt, Zirkus Briggs.«
»Senden Sie dies selbst weiter!« Und dann wieder laut: »Lassen Sie das Gewählte hier!«
Sie drückte auf einen Knopf. Der Liftboy erschien. Der Herr von Princeton & Williams empfahl sich mit seinen Kartons.
Als er gegangen war, stand Juanita wohl eine Minute regungslos wie eine Bildsäule. Ihre Fäuste ballten sich. Dann ging ein Ruck durch ihren Körper. Sie raffte sich auf. Kaltes Blut, Juanita! Erst die Depesche an den Kaiser! Sie nahm wieder am Schreibtisch Platz und begann, nach dem Gedächtnis niederzuschreiben, was sie gehört, was sie Wort für Wort ein gesogen, sich eingeprägt hatte. Und dann lag es vor ihr, und sie begann, das geschriebene in die Chiffre zu setzen.
Ein Telegramm, welches die Unterredung von Anfang bis zu Ende enthielt, die Uhlenkort vor einer Stunde mit dem Staatspräsidenten gehabt hatte … Maßnahmen gegen die wachsende Übermacht des schwarzen Kaiserreichs. Mitteilungen über eine bedeutend zu verstärkende europäische Einwanderung, hauptsächlich entlassene oder noch zu entlassende europäische Soldaten. Nachrichten über große Lieferungen von Kriegsmitteln.
Dann nahm sie einen Kristallflakon aus ihrem Toilettenkoffer, goß etwas von seinem Inhalt in ein Glas, legte den Entwurf des Telegramms hinein und wartete, bis das Papier sich in der Flüssigkeit völlig auflöste, zu einem Nichts wurde. Und dann brachte sie das Chiffretelegramm selbst zum Hotelsender.
Auf dem Rückweg rief sie den Portier an.
»Einen Logenplatz für die Zirkusvorstellung heute Abend!«
Sie trat wieder in ihr Zimmer. Ruhelos lief sie auf und ab, sang und dachte dabei. Ah! Was kann das sein? Dieser Eisblock! Du glaubtest einmal, er hätte ein Herz … kein Mensch … ein Eisblock … und jetzt … nein … ich werde sehen … und handeln.
Klaus Tredrup trat in Uhlenkorts Zimmer.
»Hallo, Bas! Endlich fertig? Eben sah ich Herrn Rasmussen durch die Vorhalle schreiten. Die Mienen des Herrn schienen mit recht bewölkt.
Er hat auch am Ende Gründe stärkster Art«, fuhr Tredrup fort, als Uhlenkort nichts erwiderte.
»Sitzt da als Leiter der Uhlenkortschen Zinnminen im Aufmarschgelände, fast möchte ich sagen, auf den zukünftigen Schlachtfeldern zwischen Schwarz und Weiß mitten im Hereroland …«
Ein Scherzwort, das auf seinen Lippen schwebte, blieb unausgesprochen als Walter Uhlenkort sich an seinem Schreibtisch umwandte und Tredrup ins Gesicht sah, auf dem tiefe Abspannung lagerte.
»Genug für heute, Herr Uhlenkort! Genug! Ich bin nur ein freier Vogel, dessen ganze Habe in einem hellen Kopf und zwei gesunden Fäusten besteht. Ich kann mich vielleicht nicht so ganz in Ihre Lage versetzen. Aber das glaube ich doch, glaube ich sicher, daß es für heute genug ist. Genug der Arbeit und der Sorgen! Suchen wir irgendeine Zerstreuung! Kapstadt ist nicht arm daran.«
»Sie haben recht, Herr Tredrup«, erwiderte Uhlenkort mit einem schwachen Lächeln. »Ich nehme an, daß Sie den Vergnügungsanzeiger eingehend studiert haben, und bitte um Ihre Vorschläge. Ich füge mich allem.«
»Lachen Sie oder lachen Sie nicht! Ich schlage vor, wir sehen uns ein Zirkusprogramm an, und zwar ganz, nicht nur teilweise, wie neulich in Timbuktu.«
»Zirkus? Schon wieder Zirkus? Sind Sie ein so großer Verehrer der Zirkuskunst, Herr Tredrup?«
»Offen gestanden, ja. Ich weiß Mut und Kräfte zu schätzen, wo immer sie sich zeigen. Die letzten Jahre mußte ich mein Leben größtenteils in Weltgegenden verbringen, wo ein Zirkus nicht einmal dem Namen nach bekannt war. Daher lasse ich die Gelegenheiten, etwas Derartiges zu sehen, nur ungern vorübergehen. So las ich die Nachricht, daß der Zirkus Briggs hier gastiert, mit großem Vergnügen.«
»Zirkus Briggs?« Uhlenkort horchte auf. »Briggs?«
»Jawohl, Herr Uhlenkort.«
Uhlenkort hatte seine Brieftasche gezogen und blickte auf das letzte Telegramm des Pinkerton Office.
»Gut! Sehr gut, Herr Tredrup! Gehen wir in den Zirkus. Wie spät ist es?«
»Eben acht Uhr. Wenn wir uns beeilen, werden wir zu Nummer fünf des Programms noch zurechtkommen. Vier Nummern haben wir ja in Timbuktu gesehen.«
»Richtig, Herr Tredrup.« Uhlenkort lachte. »Und dann gingen wir damals zum Obermoser.«
Ein Kraftwagen brachte sie schnell zum Zirkus.
»Sagt’ ich’s nicht?« rief Tredrup. »Wir treffen es genau. Die fünfte Nummer. Die fliegenden Geschwister am hohen Trapez fangen eben mit ihrem Fliegen an. Gott sei Dank, das Publikum ist hier doch etwas weniger gefärbt. Zwar nach der Galerie zu auch stark Melange. Aber das läßt sich ertragen.«
Mit Interesse folgten beide dem tollkühnen Treiben da oben am Zirkushimmel.
»Allerdings ein glänzendes Beispiel von Mut und Kraft«, sagte Uhlenkort, indem er in den allgemeinen Applaus einstimmte.
»Eiserne Nerven gehören dazu. Eine Sekunde zu früh oder zu spät, und es kostet das Genick oder wenigstens die gesunden Glieder.«
»Was ist jetzt auf dem Programm?« Tredrup hob den Zettel und las.
»Flores de Tejada, aus New York, als Gast. Dressuren der Hohen Schule auf ihrem schottischen Hengst Pompejus. Danach als Parforcereiterin auf ihrer mexikanischen Stute Patty.«
Ein Zucken flog über Uhlenkorts Gesicht. Wenn ihm das Pinkerton Office recht berichtet hatte, mußte es Christie Harlessen sein, die sich hinter dem Künstlernamen Flores de Tejada verbarg.
Ein Schweigen der Erwartung war über der Menge. Nur die Klänge der Musik rauschten durch den weiten Zirkusraum. Da öffnete sich der Vorhang. Von einem Stallmeister geleitet, der den Hengst am Zügel führte, ritt die Künstlerin in die Manege.
Händeklatschen begrüßte sie. In der Tat boten Pferd und Reiterin ein Bild außergewöhnlicher Schönheit. Der edle Bau des Vollbluthengstes erregte die Bewunderung aller Kenner. Die jugendlich graziöse Mädchengestalt in ihrer energischen, kraftbewußten Haltung schien wie verwachsen mit dem edlen Tier.
Uhlenkort riß das Glas an die Augen. Während die Reiterin in der Mitte der Manege hielt und sich nach allen Seiten verneigte, hatte er Gelegenheit, ihre Züge genau zu studieren. Sie ist’s! Kein Zweifel … die blonden Haare … die blauen Augen … der schmale, rassige Kopf … echter Harlessen-Typ.
Die einsetzende Musik riß ihn aus seinen Gedanken. Die Reiterin trabte an, die Vorführung der Hohen Schule begann.
Je weiter sie gedieh, desto mehr steigerten sich Staunen und Bewunderung. Kein Zögern! Kein Versagen! Mit unübertrefflicher Sicherheit wurden alle Figuren zu Ende geführt.
Stürmischer Beifall lohnte diese Leistung höchster Reitkunst. In der Mitte der Manege hielt die Künstlerin und dankte für den Applaus. Ihr Antlitz strahlte in sieghafter Schönheit.
Der leise konventionelle Zug, den er hinter der strahlenden Freude zu sehen glaubte, ließ ihn schärfer aufmerken. Diese Augen … die blauen Harlessen-Augen … schienen nicht daran teilzuhaben.
Klaus Tredrup teilte seine Aufmerksamkeit verstohlen zwischen der Manege und seinem Nachbarn. Das außergewöhnliche Interesse, das Herr Uhlenkort in Firma Jacob Jeremias Uhlenkort & Söhne der Schulreiterin da unten zuwandte, gab seiner Neugierde reichlich Stoff.
Ein hübsches Mädel; ohne Zweifel! Sollte er sie von früher her kennen? … Ausgeschlossen! … Sonst hätte er doch nicht die Fotografie zum Vergleich herangezogen.
Weiß der Teufel! Was steckt dahinter? Etwas Besonderes muß es doch sein, sonst würde er seine Teilnahme hier nicht so offenkundig zeigen.
Die Reiterin hatte die Manege verlassen. Ein paar Clowns kugelten über den Sand. Die Stalldiener bauten am Ausgang der Arena eine Hürde auf.
Die Musik brach kurze Zeit ab und ging dann in einen wilden Galopp über. Alle Augen richteten sich gespannt auf den Eingangstunnel.
Und dann … ein buntes Etwas flitzte durch die Manege. Die Füße der Fuchsstute schienen kaum den Erdboden zu berühren.
»Eh! Eh!« Kurz wie ein Peitschenhieb klang’s. Wie ein dunkler Schatten huschte es über die Hürde. Schon sprangen die Stalldiener hinzu und legten zu höherem Sprung die Hürde auf.
Mit fieberhafter Erregung sah das Publikum die Jagd immer schneller, immer wilder vorüberbrausen. Ein Sprung immer höher als der andere … immer höher türmte sich die Hürde.
Die Musik brach ab. Die Stute wendete im leichten Galopp um das Hindernis und verschwand im Tunnel. Todesstille … Mit verhaltenem Atem erwartete das Publikum den letzten, höchsten Sprung.
Da … man hörte das Schnauben des heranstürmenden Pferdes … man vernahm das aufreizende Eh! Eh! Jetzt! Da war sie …
Ein kleiner Rosenstrauß, von voreiliger Hand geschleudert, flog vor den Füßen des Tieres in den Sand. Ein kurzes, kaum merkliches Stutzen des Pferdes … ein sausender Gertenhieb … Das Pferd hob sich zum Sprung – eine Zehntelsekunde zu spät. Die Vorderhufe stießen gegen die Hürde. Krachend brach das Gerüst zusammen. Der Oberkörper der Reiterin schlug nach vorn. Sie überschlug sich … fiel dicht neben dem Pferd zur Erde. Ein Schrei ging durch das weite Rund. Aufregung, Tumult im ganzen Raum.
Walter Uhlenkort sprang auf und stürmte in die Manege. Stand am Ausgang und wurde von den Bediensteten aufgehalten. Man achtete seiner dringenden Bitten nicht.
»Gedulden Sie sich, Herr! Der Arzt ist bei der Dame. Die Direktion wird sofort Mitteilung geben.«
Kein Protest half. Es blieb ihm nichts übrig, als in der Nähe des Ausganges zu warten.
In der Tat nur wenige Minuten. Am Arm des Direktors trat sie an den Manegenrand. Das stereotype Künstlerinnenlächeln auf dem bleichen Gesicht.
Mit lauter Stimme verkündete der Direktor, daß der Unfall ohne Folgen geblieben sei. Señorita de Tejada werde am folgenden Abend wieder wie gewohnt in der Vorstellung auftreten.
Ein Orkan des Beifalls erfüllte das Haus. Ein Blumenregen fiel in die Manege. Schon sprangen wieder Clowns mit lustigen Sätzen auf den Sand. Nur ein leises Murmeln in den Rängen zeugte von der abebbenden Erregung.
Walter Uhlenkort kehrte langsam in seine Loge zurück. Noch ganz benommen von dem eben Geschehenen, setzte er sich mechanisch auf seinen Platz. Erst nach Minuten bemerkte er, daß der Platz neben ihm leer war.
Wo war Tredrup geblieben?
Tredrup sah den Rosenstrauß durch die Arena fliegen. In Bruchteilen einer Sekunde begriff er, was geschehen war. Seine scharfen Blicke fuhren von dem niederfallenden Strauß zurück, dahin, von wo er gekommen war. Schräg vor sich sah er in einer Loge eine weibliche Gestalt, deren Arm soeben zurücksank. Er sah das Stutzen des Pferdes … und den Sturz. Er sah, wie die ungeschickte Werferin von der nächsten Umgebung mit Ausdrücken des Unwillens und Tadels bedacht wurde. Sah, wie diese sich unter allen Anzeichen der Bestürzung und Verlegenheit erhob, um den Zirkus zu verlassen. Sie trat aus der Loge in den Kreisgang, wandte dabei ihr Antlitz den höheren Reihen zu. Ein eisiger Schreck fuhr durch Tredrups Glieder.
Juanita war’s … Juanita!
Wie kam Juanita hierher? Sie war die Ungeschickte … sie. Tausend Gedanken stürmten auf ihn ein. Verwirrend … betäubend.
Mechanisch erhob er sich und folgte der Enteilenden. Verlor sie kurze Zeit aus den Augen. Sah sie dann über den freien Platz vor dem Zirkus auf den Nationalpark zuschreiten. Er folgte ihr. Widerstrebend und doch gezwungen. Als sie in das Dunkel eines Seitenweges einbog, beschleunigte er seine Schritte.
»Juanita!«
Die Gestalt blieb vor ihm stehen und drehte sich mit jähem Ruck um.
»Was ist? Was … was wollen Sie? Wer sind Sie?«
Er sah ihre Hand in die Tasche gleiten. Hörte ein leichtes Knacken.
»Nicht nötig, Juanita. Gut Freund!«
»Gut Freund?« Wie ein bitteres Lachen klang das Wort. »Wer sind Sie?«
»Du erkennst meine Stimme nicht wieder? Ja, ja … früher sprach sie in anderen Tönen zu dir.«
»Klaus … du? Du bist es, Klaus?«
»Ich bin es.«
»Was willst du von mir? Warum verfolgst du mich?«
»Verfolgen? Verfolge ich dich?« Tonlos kam es von seinen Lippen.
»Ja! Ich verfolge dich … ich folgte dir, Juanita.«
Tief atmend stand er vor ihr.
»Warum? Was willst du von mir? Wo sahst du mich? Sind unsere Wege nicht geschieden … auf ewig?«
»Unsere Wege sind geschieden, Juanita! Du hast Recht! Geschieden seit jenem Tage – und doch folgte ich dir jetzt, als ich sah … im Zirkus sah …«
Mit kurzem Schritt war Juanita auf ihn zugetreten.
»Du warst dort? Und?«
»Ja, Juanita. Ich war dort. Ich kam erst spät. Ich sah dich nicht. Nicht eher, als bis du …«
»Was sahst du?«
»Ich sah, wie du den Rosenstrauß dem Pferd vor die Füße schleudertest, daß es den Sprung verfehlte und seine Reiterin unter sich begrub.«
»Das sahst du?«
»Ja, das sah ich.«
»Und was weiter? Folgst du mir deshalb?«
»Deshalb? Ich weiß nicht … Ich weiß nur, daß ein Schreck mich faßte, als diese Hand die deine war.«
»Was sagst du? Was willst du damit sagen?«
Er fühlte, wie ihre Finger sich in seinen Arm gruben.
»Nichts, Juanita! Ich will nichts sagen. Als ich dich erkannte, da war es mir, als ob ich dir folgen … als ob ich dich sprechen müßte.«
»Du sprichst in Rätseln, Klaus. Was soll das alles?«
Er fühlte, wie ihr Gesicht im Dunkeln sich an das seine heran schob.
Er fühlte ihren warmen Atem, der sich stoßweise aus der Brust rang.
»Was das soll? Ich weiß es … nicht, Juanita.«
Dann, mit einer brüsken Bewegung, schleuderte er ihre Hände ab.
»Juanita! War das Absicht? Wolltest du das?«
»Klaus! Bist du wahnsinnig oder trunken? Was sagst du da?«
»Antworte! Du! War das … ?«
Die Fäuste geballt, stand er vor ihr.
»Antworte! Du!«
»Du bist wahnsinnig, Klaus! Was kümmert mich die Fremde. Geh weg! Laß mich! Was kümmere ich dich? Was kümmerst du mich?«
»Juanita!« Es war ein Ton aus tiefstem Herzensgrund. »Juanita! Du!
Ich bitte dich … Ich bitte dich bei allem, was uns einst verband.«
Ihre Hand hob sich leise … bittend … abwehrend.
»Klaus! Was ist dir! Was denkst du?«
»Ich weiß nicht, was ich denke, Juanita. Ich fürchtete …«
»Was fürchtetest du, Klaus?«
»Für dich fürchtete ich, für dich.«
»Klaus!« Es war der Ton … jener alte, vertraute Klang. Seine starke Gestalt fiel zusammen, griff, wie nach einer Stütze suchend, nach ihrem Arm.
»Juanita! Ich weiß, du schicktest mir jene Warnung, die das verglommene Feuer wieder anschürte.«
»Klaus!« Sie legte ihre Hand auf die seine. »Klaus, du bist krank! Ich hörte von dem Unfall, der dich traf. War froh, als ich hörte, daß du vom Schacht weggegangen bist. Wärst du doch meiner Warnung gleich gefolgt. Du bist krank, Klaus! Ich fühle, wie dein Arm zittert. Wir werden jetzt zurückgehen. Ich werde dich begleiten, bis …«
»Nein, Juanita! Nein! Ich bin nicht krank. Der Unfall dort … keine Bedeutung. Und doch!« Er faßte sie mit beiden Händen an den Schultern. »Du! Sage mir, was tatest du eben? Sag es mir! War das Absicht? Wolltest du das?«
Seine Finger krampften sich in das weiche Fleisch ihrer Schultern, daß sie ächzend niedersank.
»Klaus! Klaus! Du tust mir weh. Was tat ich, daß …«
Sie war auf die Knie gesunken. Ein leises Wimmern kam aus ihrem Munde. Er kämpfte gegen den Drang, sich hinunterzubeugen, sie an sich zu reißen.
»War es Absicht?« Er schrie es. »Sage es! Sage nein! Oder ich muß verzweifeln.«
Tredrup beugte sich hinab und legte seine Hand um ihr Haupt.
»Juanita! Sage es! Sage es …«
Und dann fühlte er, wie ihr Haupt sich emporhob. Wie ein Hauch klang es.
»Nein, Klaus!«
»Nein?! O Gott, ich danke dir! Juanita!«
Er riß sie in die Höhe und hielt sie in den Armen.
»Nein! Juanita! Wie danke ich dir für dies kleine Wort. Wenn du wüßtest, was es für mich bedeutet.«
Minuten verrannen. Er spürte am Beben ihrer Schultern die Bewegung, die in ihr stürmte. Er fühlte, wie die Erregung matter wurde, wie sie sich immer schwerer an seine Brust legte, die Arme seinen Nacken umschlangen. Er stand und vergaß … vergaß alles. Eine weiche Hand strich über sein Gesicht. Ein Kuß brannte auf seinen Lippen. Ein verzehrender Brand kam über ihn. Sein Arm preßte sie an sich. Und dann war sie ihm entglitten.
Ein leiser Hauch: »Klaus, Klaus, du …«, drang an sein Ohr. Ein leichter Schritt verhallte im Dunkel des Weges, und dann war er allein.
Die Sirenen heulten über der Grubenstadt Wibehafen: Zweite Schicht!
Doch was war? Die Menge, die die Schächte umlagerte, dachte nicht an Einfahren. Sie brandete hin und her. Wirre Reden … gestikulierende Arme … laute Drohworte. Die Menschenmenge wuchs mit jeder Minute.
Alles, was von der ersten Schicht zu Tage fuhr, gesellte sich dazu. Ein Arbeiter sprang auf eine Lore. Die Massen drängten sich um ihn. Seine laute, gellende Stimme drang weit über den Zechenplatz.
»Kameraden! Keine Stunde länger hier! Lügner, die da drüben …« Er deutete mit der Faust nach dem Direktionsgebäude. »Wir wußten es besser, von Anfang an. Der Einbruch auf Sohle vier hat bewiesen, daß wir Recht hatten. Was mit Black Island geschah, wird sich hier wiederholen. Spitzbergen wird sich heben. Die Schächte werden zerquetscht werden, die Sohlen zusammenbrechen – ein Grab für die tausend Kameraden, die da drinstecken! Weg von hier! Wie sich die Gelegenheit bietet!«
Tosendes Beifallsgebrüll von allen Seiten verschlang die letzten Worte.
»Zu Schiff! Zu Schiff!« schrie die Menge.
Im Verwaltungsgebäude waren die Direktoren versammelt. Blässe lag auf mehr als einem Gesicht. Das Erwartete war eingetreten.
Die Tür öffnete sich. Der Chefingenieur trat herein. Mit einem Ruck wandten sich alle Köpfe ihm entgegen. Er genoß das unbegrenzte Vertrauen der Belegschaft. Sein Eingreifen allein konnte in letzter Stunde noch eine Wendung zum Guten bringen.
Von allen Seiten flogen ihm Fragen entgegen. Ein Kopfschütteln ließ sie verstummen.
»Unmöglich, meine Herren! Keine Macht der Erde, kein Gott bringt die Leute wieder in den Schacht. Das natürliche Einbrechen des Hangenden auf Sohle vier hat ihnen den letzten Rest der Besinnung geraubt.«
Die Bestimmtheit, mit der diese Worte gesagt wurden, ließ jede weitere Frage verstummen. Der Chefingenieur sprach weiter.
»Es heißt sich in das Unabänderliche fügen, meine Herren, und unsere Hoffnung auf eine vielleicht recht ferne Zukunft zu richten. Meine einzige Sorge ist, daß bis dahin die Notstandsarbeiten fortgeführt werden. Ich hoffe, daß es mir gelingen wird, das dazu nötige Personal halten zu können.
Das wäre die Lage, soweit sie uns betrifft. Es wäre noch die Frage zu erledigen, wie dem zu erwartenden Ansturm auf die einlaufenden Schiffe am besten zu begegnen ist. Bei der Kopflosigkeit der Leute ist zu erwarten, daß sie die ersten ankommenden Schiffe in Massen stürmen werden. Es könnten sich da Szenen abspielen, die zum Chaos führen. Es wird unsere Aufgabe sein, die Flucht zu organisieren.«
Murmeln … Fragen … Sprechen … die Abneigung war deutlich zu merken.
»Jawohl, meine Herren! Unsere Sache ist es …« Die Worte, mit Schärfe gesprochen, ließen alle verstummen. »Ich werde die Aufgabe übernehmen und auch die Verantwortung tragen. Mit Hilfe der Besonnenen werde ich den Abtransport organisieren. – Noch einmal, meine Herren«, der Chefingenieur wandte sich zum Gehen, »fügen wir uns in das Unabänderliche. Der Sturm wird sich legen … früher oder später …«
Als der Chefingenieur aus dem Verwaltungsgebäude auf den Zechenplatz trat, sah er noch eben den Redner von der Lore springen.
Sah die Massen in Bewegung geraten und dem Ausgang zudrängen.
Sein Auge suchte nach älteren, ihm vertrauten Leuten, mit denen er dem Chaos steuern könnte.
Da! Was war das? Eine neue Gestalt auf jenem Wagen. Der Chefingenieur kniff die Brauen zusammen. Er? Der von da drüben?
Vom alten Leuchtturm … Was wollte der?
Der Chefingenieur schüttelte den Kopf. Dafür? Oder dagegen? Was hat der Mann vor? Er sah von der erhöhten Steintreppe aus, wie die Massen in nächster Nähe des neuen Redners sich wandten, zurückwandten, wie die Köpfe sich zu ihm hoben. Sah, wie der Blick des Mannes über den Zechenplatz schweifte. Glaubte auch selbst davon getroffen zu sein … glaubte auch selbst eine Wirkung zu verspüren … unerklärlich … rätselhaft … bannend … zwingend.
Und dann sah er, wie die Massen sich immer dichter um die Lore zusammenkeilten. Sah, wie der da oben die Lippen öffnete. Sah, wie vom Zechentor her ein Rückstrom kam, sah geballte Fäuste sich heben und sich senken. Sah, wie die an seinem Munde hingen und seinen Worten folgten … und Stille eintrat … und er auch zu hören begann und er auch stand und lauschte.
Was war das? Was geschah hier? War es wirklich jener von da drüben? Ja, er war’s! Ein Mensch … war’s ein Mensch? Er hielt die Augen zu. Seine Gehörnerven spannten sich zum äußersten. Und er hörte alles, was jener wundersame Mensch da oben sprach. Sein Kopf senkte sich immer tiefer. Die Töne, die von da oben kamen, drangen tief in sein Innerstes ein. Verwirrend … betäubend … beruhigend. Er fühlte sich mit allen Fasern des Seins gezogen … gepackt. Er fühlte einen Willen, stärker, als er ihn je gefühlt, der ihn zwang … fesselte … willenlos machte. Und er stand und hörte …
Der Redner schien geendet zu haben. Die Stimme da oben verstummte. Der Chefingenieur hob den Kopf, richtete seine Augen auf die Gestalt des Redners. Sah, wie jener die Rechte ausstreckte … zum Schachtturm wies.
»Und nun geht an eure Arbeit!«
Kein gebieterischer Ton … kein Befehl … einfach, ruhig … fast gelassen klangen die Worte. Der Chefingenieur stand einen Augenblick starr. Was? Noch immer die Gestalt da oben auf dem Wagen. Die Rechte nach dem Zechenhaus deutend. Die Blicke langsam im Kreise über die Gesichter der Belegschaft gleitend. Eine kurze Spanne tiefster Stille und Ruhe. Dann wandten sich die Köpfe. Die Massen gerieten in Bewegung. Da … dort … überall lösten sich einzelne Gruppen und strebten dem Förderturm zu.
Am nächsten Morgen saß Uhlenkort in der Halle seines Hotels beim Lunch. Eine kurze, fast überall gleichlautende Notiz in allen Zeitungen: Unfall im Zirkus Briggs. Er legte die Blätter zur Seite und sah nach der Uhr. Noch immer nichts von Tredrup … Was war da los? Er ließ den Portier holen und fragte ihn.
»Mr. Tredrup ist erst gegen Mitternacht ins Hotel zurückgekommen und wird vermutlich noch auf seinem Zimmer sein.«
Wieder verging eine Zeit, da sah er Tredrup die große Treppe hinab kommen. Schon von weitem fiel ihm dessen Aussehen auf. War dies verfallene, übernächtige Gesicht mit den unruhigen, fiebrig glänzenden Augen das des stets heiteren, blühenden Klaus Tredrup?
Mit Besorgnis und Unruhe reichte er ihm die Hand. »Was ist Ihnen, Herr Tredrup? Sind Sie krank?«
»Ich krank? Nein, Herr Uhlenkort. Nicht im geringsten.«
Ein kurzes, stoßweises Lachen begleitete seine Worte.
»Ich bitte Sie, Herr Tredrup, verstehen Sie meine Teilnahme nicht falsch. Ihr Aussehen straft Sie Lügen. Sie sind krank. Diese Veränderung von gestern auf heute ist nicht anders zu erklären … oder hängt das noch mit dem Unfall in Mineapolis zusammen?«
»Dieselbe Frage …« Tredrup brach kurz ab. Er stürzte eine Tasse Tee hinunter und griff nach den Zeitungen.
»Übrigens …« Er wandte sich Uhlenkort zu. »Wir haben mit unseren Zirkusbesuchen ausgesuchtes Pech! Meinen Sie nicht auch?«
Uhlenkort nickte. Sein Auge ruhte mit Sorge auf den so veränderten, nervösen Zügen Tredrups.
»Immerhin brachten wir es bis zur sechsten Nummer des Programms«, sagte Tredrup. »Vielleicht haben wir das nächste Mal mehr Glück.«
»Herr Tredrup, ich bitte Sie! Lassen Sie die Scherze. Sie versuchen vergeblich, mich über die Sorge um Sie hinwegzutäuschen. Ich will nicht indiskret sein. Wenn Sie es für besser halten, zu schweigen, so schweigen Sie. – Ich selbst möchte Ihnen kurze Mitteilungen über mein Verhalten am gestrigen Abend im Zirkus geben. Sind Sie bereit und imstande, mich anzuhören?«
»Oh, gewiß, Herr Uhlenkort. Mein Interesse ist groß … vielleicht größer als …«
Er rückte seinen Sessel näher an den Uhlenkorts heran.
»So hören Sie mir zu, Herr Tredrup. Es ist eine lange Geschichte, die ich Ihnen erzählen werde, aber ihr Ende wird schließlich in den Zirkus von Kapstadt führen. War davor etwa fünfzig Jahren ein Sohn aus dem Hause Harlessen – Sie kennen sicher die Hamburger Firma und vielleicht auch die Familie – nach Amerika ausgewandert. Die Familien Uhlenkort und Harlessen sind von Großvaters Seite her verschwägert.
Die Ursachen, weshalb jener Harlessen nach Amerika auswanderte, lagen in pekuniären Differenzen mit seinem Vater. In Differenzen von einer Schwere immerhin, daß – um mich jener Worte zu bedienen – das Tischtuch zwischen beiden zerschnitten wurde.
Jener Harlessen kam nach mancherlei Irrfahrten nach Mittelamerika und kaufte sich in der Nähe des Kanals eine Farm. Seine Frau starb früh.
Eine Tochter wuchs ihm auf. Christie Harlessen. Es ist die Schulreiterin, die wir gestern sahen …«
Klaus Tredrup fuhr auf. »Flores de Tejada ist Christie Harlessen?«
Uhlenkort nickte.
»Ein tragisches Schicksal liegt über dem Mädchen, das ich übrigens gestern Abend zum ersten Male sah. Von den Landenteignungen am Panamakanal wurde auch ihr Vater betroffen. Und nun beginnt eine Reihe von dunklen Ereignissen, deren Aufklärung mir bis jetzt noch nicht gelungen ist. Als erstes nenne ich das: Es wurde die durchaus nicht kleine Entschädigungssumme entgegen sonstigen Gepflogenheiten in bar bezahlt.
Am Abend vor der Abreise von der Besitzung kamen Vater und Tochter von einem Abschiedsbesuch zu Pferde zurück. Ich erzähle es Ihnen so, wie es mir von Leuten am Kanal berichtet wurde, als ich vor etwa drei Wochen da unten war.
Jetzt der andere höchst sonderbare Punkt. Der einzige Diener, der noch auf der Farm war, ist verschwunden … Christie bringt die Pferde selbst in den Stall, während ihr Vater in das Haus tritt. Während sie noch mit den Pferden beschäftigt ist, hört sie aus dem Hause einen Schrei. Die Stimme ihres Vaters. Sie läuft in das Haus. In dem dunklen Flur – es war nach Sonnenuntergang – stürzt ein Mann an ihr vorbei. Sie eilt in das Zimmer des Vaters. Findet ihn, aus einer schweren Wunde am Hinterkopf blutend, am Boden liegen. Die gepackten Koffer im Zimmer sind aufgebrochen und durchwühlt, Geld und Wertsachen geraubt. Der Vater stirbt, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Christie verläßt die Farm.
Soweit gingen die Mitteilungen, die mir da unten gemacht wurden. In den Staaten wandte ich mich an das Pinkerton Office. Die Auskunft lautete: Christie Harlessen aus Not Zirkusreiterin geworden.
Vor meiner Abreise nach Timbuktu bekam ich die weitere Nachricht, daß sie zurzeit hier sei. Der Zufall war mir günstig. Ich hatte ja ohnehin die Absicht hierher zufahren.«
»Sie nannten es Zufall, Herr Uhlenkort …« Tredrup sagte es wie traumverloren.
»Gewiß, Herr Tredrup, ein Zufall wollte es so … oder wollen Sie das für ein Geschick, für eine höhere Fügung halten?«
Tredrup zuckte kurz mit den Achseln. Sein Blick ging zur Seite.
»Zufall … Fügung … was weiß ich?«
»Aber, Herr Tredrup.« Uhlenkort sagte es lachend. »Ich erkenne Sie nicht wieder. Sie, Herr Klaus Tredrup, belieben über Schicksal und Zufall zu philosophieren. Sie, der Mann der nackten Tatsachen. Sollte Ihnen gestern Abend auch so ein mystischer Zufall passiert sein?
Beinahe müßte ich es denken.«
»Wenn Sie das denken, Herr Uhlenkort, so denken Sie nicht falsch.«
Er stützte das abgewandte Gesicht in die Hand. Sein Auge schweifte ruhelos durch den Raum. Uhlenkort stutzte. Dieser sonderbare Ton.
»Verzeihung, Herr Tredrup, wenn ich etwas berührte, was …«
»Nichts zu sagen, Herr Uhlenkort.« Tredrup lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Man glaubt allen Wind der Welt um die Nase verspürt zu haben, und dann … Zufall oder Fügung.« Seine Worte gingen in einem Murmeln unter.
»Lassen wir das.« Mit einem kurzen Ruck richtete er sich auf, als wolle er alles abschütteln.
»Der Unfall im Zirkus gestern ist ja, Gott sei Dank, gut verlaufen. Es hatte Sie anscheinend mächtig gepackt. Sie turnten da mit einer beträchtlichen Fixigkeit in die Manege hinunter.«
Uhlenkort lachte.
»Ich glaube gern, daß Sie sich da amüsiert haben. Aber das war doch schließlich zu erklären.«
»Ganz gewiß. Gewiß, Herr Uhlenkort. Es ist nicht zu leugnen, daß Fräulein Harlessen eins der schönsten Mädchen ist, das mir je vor Augen kam. Ich wundere mich, daß Sie nicht längst auf dem Wege sind, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.«
»Ich warte nur auf die passende Zeit.« Uhlenkort blickte auf die Uhr.
»Ich glaube, es jetzt tun zu dürfen.«
»Viel Glück, Herr Uhlenkort. Sie treffen mich hier wieder.«
»Geh, Betty. Es hat geklingelt. Es wird der Doktor sein.« Die Dienerin kam zurück.
»Nein, Fräulein Harlessen. Ein fremder Herr. Hier ist seine Karte.«
Christie richtete sich ein wenig von dem Ruhebett auf. Sie nahm die Karte und las: Walter Uhlenkort, Hamburg. Langsam ließ sie sich wieder zurück gleiten. Ihre Augen schlossen sich.
Hamburg … Uhlenkort … Harlessen … Die Verbindung der drei Namen … Was lag darin. Sie sann und vergaß, vergaß Zeit und Raum …
»Soll ich den Herrn abweisen, Fräulein Harlessen?« Die Stimme riß sie aus dem Sinnen.
»Uhlenkort aus Hamburg? Nein … lassen Sie den Herrn gehen!« Sie deckte die Augen mit der Hand. »Nein, Betty, führen Sie den Herrn ins Nebenzimmer.«
Sie stützte den Arm auf das Ruhebett und hob langsam den Oberkörper in die Höhe. Ihre Miene verriet, daß die Bewegung ihr Schmerzen bereitete. Sie schritt dem Nebenraum zu. Im Türrahmen blieb sie stehen und schaute prüfend auf die hohe Mannesgestalt, die sich vor ihr verneigte.
»Herr Uhlenkort? Sie wünschen von mir?«
»Gnädiges Fräulein, Fräulein Harlessen. Ich bitte, die Störung zu verzeihen. Ich nehme an, daß mein Name Ihnen nicht unbekannt ist.
Harlessen und Uhlenkort stehen seit Menschenaltern in engen verwandtschaftlichen Beziehungen … Sie wissen …«
»Ich weiß, Herr Uhlenkort. Wollen Sie bitte Platz nehmen. Was führt Sie zu mir?«
Während sie ihm gegenüber Platz nahm, sah er, wie sie mit Mühe einen Schmerz zu verbergen suchte.
»Fräulein Harlessen, ich war gestern Abend zufälligerweise Zeuge Ihres Unfalls. Ich sehe soeben, er scheint doch nicht so glücklich verlaufen zu sein, wie man mir sagte. Sie fühlen sich nicht wohl? Sie haben Schmerzen? Ich bin besorgt.«
Die unverhohlene Teilnahme, die aus seinen Worten sprach, schien den abweisenden Zug ihrer Mienen zu mildern.
»Dank für Ihre Teilnahme, Herr Uhlenkort. Doch das dürfte wohl kaum der Grund sein, weswegen Sie zu mir kommen.«
»Nein … und doch ja, Fräulein Harlessen. Gewiß! Einer fremden …
Dame gegenüber …«
»Oh, sagen Sie nur Zirkuskünstlerin.«
Uhlenkort richtete seinen vollen Blick auf sie. »Ich glaube nicht, Fräulein Harlessen, Ihnen den geringsten Grund gegeben zu haben …«
»Gut, Herr Uhlenkort, gut! Also noch einmal: Was führt Sie zu mir?
Lassen wir den Sturz beiseite.«
»Ich komme zu Ihnen, Fräulein Harlessen, als Ihr Verwandter … oder wenn Sie wollen, als Beauftragter Ihres Oheims, des europäischen Staatspräsidenten.«
»Ah! Man weiß auch in Hamburg von meiner Existenz? Interessant!
Ich vermute, daß das Interesse nicht älter ist als ein halbes Jahr?«
»Ich verstehe nicht, Fräulein Harlessen.«
»Nun, ein halbes Jahr ist es her, daß ich Schulreiterin bin, Zirkuskünstlerin …«
»Und?«
»Und von da ab wird wohl das Interesse datieren?«
»Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstehe, Fräulein Harlessen. Sie unterstellen Beweggründe … ?«
»Oh, Herr Uhlenkort, glauben Sie nicht, daß ich, die Amerikanerin von da unten her, so ganz unvertraut mit den europäischen Sitten und Gewohnheiten bin. Mein Vater war ein Deutscher und blieb es bis zum letzten Augenblick. Er erzählte mir viel von Deutschland und vom alten Hamburg …«
Sie wandte das Gesicht und brach ab. »Was wissen Sie von meinem Vater … und …«
»Fräulein Harlessen! Ich sehe mit Bedauern, daß die Unterredung Sie anstrengt. Der gestrige Unfall hat Ihre Nerven stark angegriffen.«
»Oh, meine Nerven sind in bestem Zustand, Herr Uhlenkort. Ein Sturz vom Gaul, es war nicht der erste … Er wäre schon längst vergessen, wenn …«
Sie hob leicht die Schulter, und ein weher Zug ging um ihren Mund.
»Fräulein Harlessen! Eine andere Frage. Hat der Arzt Sie bereits genauer untersucht?«
»Nein! Ich sagte doch schon, daß ich den Arzt erwartete, als ich Ihre Ankunft vernahm. Doch wozu immer wieder abschweifen. Sie kommen zu mir als Verwandter, wie Sie sagen, oder etwa als Bevollmächtigter des Hauses Harlessen?«
»Jawohl, Fräulein Harlessen! Ein ausdrücklicher Auftrag wurde mir zwar nicht gegeben. Aber ich handle im Sinne der Familie Harlessen …«
»… der es wohl nicht angenehm ist – ich kenne, wie ich bereits sagte, die Ansichten der Alten Welt – daß eine Nichte des europäischen Staatspräsidenten als Zirkusreiterin ihr Brot verdient.«
Uhlenkort wollte sie unterbrechen, doch sie fuhr fort: »Noch eine Frage, Herr Uhlenkort. Dann mögen Sie ungestört sprechen. Kamen Sie meinethalben nach Kapstadt? Und woher wußten Sie, daß ich hier bin?
Ich glaubte, mich unter meinem Künstlernamen, es ist der Name unserer alten Farm, vor den Augen der Welt genügend verborgen zu haben.«
Uhlenkort zögerte. »Ich kam nach Kapstadt, weil mich dringende Geschäfte hierher riefen. Aber ich war kurz vorher benachrichtigt worden, daß Sie hier im Zirkus aufträten.«
»Von wem, bitte?«
»Vom Pinkerton Office!«
Eine leichte Röte huschte über Christies Gesicht.
»Interessant! Und wie kamen Sie dazu?«
»Ich will nicht weit ausholen. Ich könnte Ihnen sonst erzählen von jenen Zeiten, wo …«
»Gut, lassen wir das, Herr Uhlenkort«, unterbrach ihn Christie. »Ich kenne jene Zeiten zur Genüge.«
»Wenn Sie damit, Fräulein Harlessen, die Zeiten meinen, in denen sich jene unliebsamen Vorkommnisse abspielten, die zu einem Bruche Ihres Vaters mit der Familie Harlessen führten, so sind Sie gewiß auf falschem Wege. Ich meine die Jahre, die darauf folgten. Damals, als die Firma Harlessen wieder die alte geworden war. Als man vergeben … vergessen hatte. Als man alle Beziehungen in Bewegung setzte, um nach dem Verbleib Ihres Vaters zu forschen.«
»Ist das wahr? Tat man das?«
»Man tat es, bis man die Aussichtslosigkeit erkannt hatte.«
Der harte Zug um Christies Lippen wurde weicher.
»Gut, ich will es glauben. Doch wie war das mit dem Pinkerton Office?«
»Ich kam vor einiger Zeit auf einer geschäftlichen Reise in die Kanalzone. Ein Zufall ließ mich dort den Namen Harlessen hören. Ich erfuhr von dem tragischen Tod Ihres Vaters und von Ihrer Abreise nach Milwaukee. Da mich dringende Geschäfte nach Europa zurückriefen, beauftragte ich das Pinkerton Office, weitere Nachforschungen anzustellen.«
Er richtete seinen Blick auf das junge Mädchen, das zurückgesunken in dem Fauteuil lag. Die Augen halb geschlossen, schien sie über seine Worte nachzudenken.
»Und welchen Zweck verfolgten Sie mit Ihrem Besuch? Nehmen wir an, der Sturz wäre gestern Abend nicht geschehen.«
Uhlenkorts Blick glitt voll Teilnahme über die schlanke junge Gestalt.
»Ich kam hierher, Fräulein Harlessen, um Sie zu bitten, einen Beruf, dessen Gefährlichkeit der gestrige Abend wieder bewiesen hat, aufzugeben und in die alte Heimat zurückzukehren.«
»Heimat? Das Wort hörte ich so oft aus dem Munde meines Vaters …
Ich verstand es nie ganz, der Begriff war mir fremd. Ich weiß nur, wie oft ihm die Tränen kamen, wenn das Wort fiel. Meine Heimat … wo ist sie? Wir zogen in den Staaten von Stadt zu Stadt, bis wir am Kanal ansässig wurden. Hamburg ist sicher nicht meine Heimat. Wie soll ich dahin zurückkehren, wo ich doch nie gewesen bin? Meine Heimat ist der Zirkus! Die Zirkuswelt …«
Er machte eine abweisende Bewegung.
»Fräulein Harlessen, ich kann es nicht glauben. Sie sprachen in der Erregung des Augenblicks. Ihr Gesicht, Ihre Augen – alles verrät das Harlessensche Blut. Das läßt sich nicht verleugnen. Es ist unmöglich, Fräulein Harlessen, daß Sie sich auf die Dauer in dieser Umgebung wohl fühlen können. Ich bin erstaunt, daß Sie diesen Beruf ergriffen haben. Wie kamen Sie zu diesem Entschluß?«
»Oh, sehr einfach. Ich kam nach Milwaukee und fand von meinen Verwandten mütterlicherseits niemanden mehr vor.
Meine Mittel waren zu Ende. Ich traf einen früheren Cowboy unserer Farm, der Zirkusreiter geworden war, schilderte ihm meine Lage und folgte seinem Rat, Zirkusreiterin zu werden. Wir gingen zum Direktor.
Er erlaubte, daß ich ihm vorreiten durfte. Ich gefiel ihm. Das Engagement war perfekt. Sie sehen …«
»Das war ein ebenso schneller wie energischer Entschluß, Fräulein Harlessen. Aber ich glaube, es hätten sich für Sie doch noch andere Möglichkeiten geboten, zum Beispiel …«
Ein leichtes Lächeln huschte über das Gesicht von Christie Harlessen.
»Glauben Sie wirklich, Herr Uhlenkort, daß ich mich etwa als Gesellschafterin in einer Milliardärsfamilie oder als Gouvernante von ungezogenen Kindern besser ausnehmen würde?«
Sie lehnte sich halb belustigt, halb entrüstet zurück.
»Gut! Lassen wir das, Fräulein Harlessen, das, was geschehen. Ich wollte Sie bitten, diesen gefahrvollen Beruf aufzugeben und mit mir nach Hamburg zurückzufahren, die Lösung Ihres Vertrages würde ich übernehmen.«
»Und was soll ich in Hamburg?«
»In Hamburg würden Sie von Ihren Verwandten mit offenen Herzen empfangen werden.«
»Und was weiter … was dann?«
»Sie würden als Tochter des Hauses Harlessen leben, alle Vorzüge genießen, die damit verbunden sind.«
»Die arme Verwandte! Das Aschenbrödel aus dem Märchen? Nicht mein Geschmack! Ich ziehe es vor, auf eigenen Füßen zu stehen.«
»Ah«, versetzte Uhlenkort mit einiger Schärfe. »Sie wollen lieber weiter durch die Welt ziehen?«
»Warum nicht? Nehmen Sie an, Herr Uhlenkort, Sie haben ein American Girl vom reinsten Wasser vor sich.«
Uhlenkorts Miene verdüsterte sich. »Ich dachte, ich hätte eine Tochter des Hauses Harlessen aus Hamburg vor mir. Wenn ich mich da täuschte.
ich bitte um Verzeihung.« Er erhob sich. »Noch etwas! Fräulein Harlessen, ich glaube, Sie dahin verstanden zu haben, daß das Gefühl der materiellen Unabhängigkeit Ihre Entschlüsse leitet.«
Christie zuckte die Achseln.
»Bei Ihrer Weigerung sind Sie da von einer falschen Annahme ausgegangen. Sie würden keineswegs das Aschenbrödel aus dem Märchen sein.«
»Sondern?« Christie richtete sich fragend auf.
»Ihr Vater hat nie aufgehört, Angehöriger der Familie Harlessen zu sein, das heißt in diesem Falle Teilhaber der Firma Harlessen.«
»Ah, ich verstehe, Herr Uhlenkort! Aber …« Uhlenkort trat näher auf sie zu.
»Allerdings, Fräulein Harlessen, es ist, wie ich Ihnen sagte. Zu einem gewissen Teil, dessen Höhe ich nicht genau angeben kann, sind Sie Erbin oder Teilhaberin der Firma.«
Einen Augenblick schaute Christie prüfend auf die hohe, ernste Männergestalt, die da vor ihr stand, in das offene, klare Gesicht, aus dem reine Teilnahme sprach. Sie schien unsicher zu werden. Dann, mit plötzlichem Entschluß reckte sie sich auf. Ihre Hand streckte sie ihm entgegen.
»Ich danke Ihnen, Herr Uhlenkort, für Ihre Teilnahme und Ihr Interesse. Auch wenn ein derartiger Anspruch meinerseits, vielleicht rechtlich begründet wäre …
Ich kenne meines Vaters Schuld … Ich weiß, was daraus für die Firma Harlessen entstand … und ich weiß, daß ich keinen Anspruch habe. Ich verzichte.«
»Fräulein Harlessen, wissen Sie auch, worauf Sie verzichten?«
»Wie hoch die Summe ist, ist einerlei. Mag sie hoch oder niedrig sein.
Nochmals meinen Dank, Herr Uhlenkort.«
Uhlenkort ergriff die dargebotene Hand und beugte sich darüber. Seine Augen hingen an dem blassen, jungen, schönen Antlitz.
»Eine Harlessen sind Sie doch, Fräulein Christie. Ich gehe, aber ich gehe in der Hoffnung, daß Sie eines Tages anders denken werden.«
»Sie hoffen, daß der Harlessensche Dickkopf – ich verstehe wohl, Ihre Gedanken zu lesen – eines Tages sich bessern könnte.«
Uhlenkort lachte.
»Meine Hoffnung wird größer, wenn ich Sie höre.«
»Oh, ich warne Sie! Hoffen Sie nicht zuviel. Es wird vielleicht noch mancher Tropfen Wasser die Elbe hinunterfließen.«
Wieder beugte sich Uhlenkort über die Hand und drückte einen langen Kuss auf die schmalen Finger.
»Wir werden uns wieder sehen!«
Uhlenkort war gegangen. Gedankenverloren schaute Christie Harlessen ins Weite. Dann stützte sie den Arm auf und wollte sich erheben. Mit einem Wehlaut sank sie zurück. Ihre Hand griff zum Herzen. Was war das? Der Arzt, den die Zofe in den Raum führte, fand sie in tiefer Ohnmacht.
Bei Montegna am Panamakanal. Eine Lichtung im tropischen Urwald.
Nur mit Mühe halten Axt und Feuerbrand die gerodete Fläche von der üppigen, immer wieder anstürmenden Vegetation frei.
Hier liegt das Hauptquartier der New Canal Company. Das große Verwaltungsgebäude, in massivem Betonguß errichtet.
In diesem Hause waltet James Smith, der Chefingenieur der New Canal Company, der Herr über hunderttausend Menschen und Millionen Pferdestärken. Von hier aus laufen die Befehle zu den hundert Etappen der neuen Kanalstraße. Von hier aus wird disponiert über Menschen, über Maschinen und über Sprengstoffe, die unerhörte Kräfte bergen.
James Smith ist der Herrscher dieses industriellen Königreichs. Der absolute Herrscher. Als einfacher Bohringenieur hatte er seine Laufbahn begonnen. Ein außergewöhnliches Organisationstalent, eine vor nichts zurückschreckende Energie, ein Kopf voll genialer technischer Ideen hatten ihn in schnellen Sprüngen zur höchsten Stellung emporsteigen lassen. James Smith saß an seinem mit Karten und Plänen bedeckten Arbeitstisch. Neben ihm lag ein Schreiben der New Canal Company, das ihm offiziell vom Beschluß des amerikanischen Parlaments Mitteilung machte.
»Etappenweise Sprengung«, murmelten seine Lippen. »Gut, gut … eine geheime Last fällt mir vom Herzen. Offen habe ich es nie zugegeben. Nicht zugeben dürfen, daß ich die Bedenken jener gegnerischen Gutachter teilte. Wie mag er diesen Beschluß aufnehmen? Sein Gesicht hätte ich sehen mögen.«
Der Chefingenieur beugte sich über einen großen Plan, der die Lage aller Minen und die Leitungsführung zu ihnen enthielt. Sein Finger folgte den roten Linien, die von jeder Mine zum Direktionsgebäude führten. Seine Augen glitten auf eine Skizze daneben.
»Hier die neuen Schaltungen für Einzelsprengungen in halbstündigen Abständen.«
Befriedigt lehnte er sich in einen Sessel zurück.
»Gut so! Das Schema ist in Ordnung. Kostet zwar einige Milliarden mehr. Es wird schon wieder hereinkommen. Aber er … er … Das wird ein harter Schlag für ihn gewesen sein. Ich wundere mich, daß er gar nichts von sich hören läßt, daß er nicht schon längst hier ist.«
Er! Einen Moment bedeckte James Smith die Augen mit der Hand.
»Ein Rätsel … ein Rätsel, und ich glaubte ihn doch zur Genüge zu kennen.«
Seine Hand sank herunter. Seine Augen weiteten sich, als sähen sie kommende Dinge. Er sprang auf und durchmaß erregt den Raum.
Nein! Nein! Er ist nicht einer, der sich so leicht von seinen Plänen abbringen läßt. Er führt etwas im Schilde. Nichts Gutes! Ja … wäre es möglich?
Er ging zum Schreibtisch und ergriff das Schaltungsschema. Mit einem düsteren Ausdruck ließ er es wieder sinken.
Ja! Es wäre möglich … man kann Nebenschaltungen machen … unsichtbare … unauffindbare … mit keinen Mitteln nachzuweisende.
Sinnend schritt er auf und ab. Ja! So ginge es.
»Ich werde die schärfste Kontrolle anordnen. Kein Unberufener darf sich den Leitungen nähern. Der Schaltraum muß unter ständiger Aufsicht bleiben. Die Türen werden verschlossen und plombiert, sobald die Schaltung fertig ist.«
Von Norden her kam eine Jacht herangebraust, eine große, schnelle Privatjacht. Ein Diener trat in die luxuriöse Kabine.
»Land in Sicht, Mr. Rouse!« meldete er und verschwand.
»Ah, Juanita, kommst du mit zum Bug, wo wir freie Aussicht nach allen Seiten haben?«
»Danke, Guy. In den paar Wochen seit meinem letzten Hier sein wird sich nicht allzu viel verändert haben.«
Blauer Ozean unter ihnen.
»Da hinten taucht das Festland auf. Nun, wie du willst. Übrigens, um zu unserem Gespräch zurückzukehren … Kaiser Augustus schrieb einen äußerst schmeichelhaften Brief an mich, worin er auch deiner gedenkt.
Die Nachrichten, die du ihm von Kapstadt sandtest, waren ihm natürlich sehr wertvoll. Ich sehe schon die diplomatischen Verwicklungen beginnen, bevor jene getarnte Auswanderung in Fluß kommt.«
»Du sprichst von dem Dank des Kaisers für das Chiffretelegramm.
Den müßte ich eigentlich ablehnen. Denn das Verdienst gebührt doch deinen Agenten dort unten. Ich war, ich muß es gestehen, nicht wenig verblüfft, als der Agent mir die inhaltsschwere Unterredung Wort für Wort meldete.«
Ein kaltes Lächeln glitt über die Züge von Guy Rouse.
»Gold öffnet alle Türen! Der Satz gilt, solange es Menschen gibt. Wo ist der, der dem Glanz des Goldes nicht unterliegt?«
»Glaubst du wirklich, daß alle Menschen … ?«
»Alle? Nein, überall gibt es so genannte Idealisten, Menschen, die nach meiner Auffassung nicht normal sind, die dem Zauber des blinkenden Goldes nicht unterliegen. Aber diese Leute haben nichts zu bedeuten. Stimmen des Predigers in der Wüste. Sie rennen sich den Kopf an den Mauern der Wirklichkeit ein. Und doch …«, sein Mund verzog sich zu einem Grinsen, »… sollte es mir einen ungeheuren Spaß machen, derartige Typen mal zu versuchen. Weißt du, Juanita, wie in der biblischen Sage Freund Satanas ihn mal versuchte?«
»Guy!« Juanita fuhr zurück. »Du gehst zu weit … du lästerst.«
Guy Rouse machte ein markiert erstauntes Gesicht.
»Sind doch noch einige Reste uralten Kinderglaubens in dir, Juanita?
Ich dachte …«
»Guy! Laß das!« Eine tiefe Falte schob sich zwischen ihre Brauen.
»Jeder Mensch hat eine Seele, die …« Sie erhob sich und trat zum Kabinenfenster.
»Juanita! Ich staune«, klang es hinter ihrem Rücken. »Wenn ich dich recht verstand – und ich verstehe doch wohl – wolltest du sagen, die geheime Falten birgt, tief verborgen … Wolltest du das nicht sagen?«
Juanita ließ den Fenstergriff los und drehte sich langsam um. Ein prüfender Blick traf das Gesicht von Guy Rouse.
»Ja, das wollte ich sagen! Du errietest es richtig. Versteckte Falten sind in jeder Seele, in jeder, auch in deiner.«
»Auch in meiner? Hm!«
Guy Rouse versenkte seinen Blick in ihren, als wolle er darin lesen.
»Und du glaubst einen Blick da hineingetan zu haben?« Sein Blick bekam etwas Drohendes, das Juanita erschrecken ließ.
»Ich?«
Ein Jachtmatrose trat in den Raum und meldete: »Der Kanal, Mr.
Rouse!«
Das Eintreten, so kurz die Unterbrechung auch war, lenkte Guy Rouses Augen von ihr ab und gab ihr die volle Sicherheit wieder. »Ich werde mit dir nach vorn gehen …«
»Gewiß, Juanita.« Es war wieder jenes alte, fatale Lächeln in seinen Mienen, das Juanita so fürchtete und verabscheute.
»Für Seelen bietet doch der Anblick der alten Heimat immer etwas Erhebendes. Nicht zu vergessen, daß wir gleich jenen Ort erreichen werden, wo wir uns zuerst sahen.«
Er legte seinen Arm auf den ihren und schritt aus dem Raum. Das leise Zucken ihres Armes schien seine gute Laune zu erhöhen. Lüstern und grausam wurde sein Lächeln. Immer wieder neuen Genuß bereitete es ihm, diese Feuerseele zu reizen und zu bändigen.
»Wie gefiel es dir sonst in Kapstadt?« fragte er beiläufig im Hinaustreten. »Sahst du nichts Neues, Interessantes?«
Juanita machte den Arm frei und trat durch die Tür.
»Die kurze Zeit dort war vollständig ausgefüllt mit deinen Angelegenheiten. Ich blieb nur bis zum nächsten Morgen. Am Abend besuchte ich den Zirkus.«
Sekundenlang verschwand das Lächeln vom Gesicht von Guy Rouse.
»Und du amüsiertest dich?« Sein Mund lächelte wieder.
»Nein, ich langweilte mich und ging bald wieder zum Hotel zurück …«
»Ah! Da liegen ja schon die Verwaltungsgebäude. Schade! An Montegna sind wir vorbeigefahren, ohne es zu sehen … Deine Rolle bei meiner Unterredung mit James Smith kennst du?«
Juanita nickte.
»Hoffentlich spielst du sie gut.«
Ohne den Kopf zu wenden, schritt Juanita an ihm vorbei, das Gesicht fahl, blaß, die Lippen aufeinander gepreßt, die Augen die einer gefesselten Tigerin.
Er sah es nicht. Er lachte laut, als dann die lachende Antwort kam.
»Ich werde sie spielen, wie … wie neulich die große Sängerin in der Metropolitan Opera die Delila spielte.«
Guy Rouse trat in das Kabinett von James Smith. Er schüttelte dem Chefingenieur die Hand.
»Um gleich auf das Wichtigste zu kommen, Mr. Smith, Sie hörten von den Beschlüssen des Kongresses?«
Der Chefingenieur nickte zustimmend. »Sie wissen vielleicht auch, daß die Stimmung der Länder hinter diesem Beschluß steht?«
»In der Tat, Mr. Rouse, die öffentliche Meinung in den Staaten gibt den Beschlüssen des Kongresses vollständig recht!«
Guy Rouse lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Stimmung der Länder … Öffentliche Meinung, Mr. Smith … ah, bah! Wir wissen doch, wie die öffentliche Meinung gemacht wird. Vielleicht hätte ich die öffentliche Meinung in den Staaten dahin bringen können, ganz etwas anderes zu meinen, vielleicht, vielleicht auch nicht, aber warum? Die Sache hätte die Company jedenfalls Millionen gekostet, viele Millionen, die wir uns sparen können. Sie kennen doch die Gutachten, Mister Smith? Viele Gutachter haben gesagt, daß die Explosion sich durch den Gesteinsdruck von der ersten gesprengten Etappe weiter fortpflanzen könne.«
»Mr. Rouse, ich kenne diese Gutachten einiger überängstlicher Gelehrter, aber ich glaube nicht daran; es ist ausgeschlossen, so gut wie ausgeschlossen.«
»So gut wie ausgeschlossen … also Sie geben doch zu, daß eine entfernte Möglichkeit besteht.«
»Gott, ja, Mr. Rouse, eine entfernte Möglichkeit! Gewiß! Es kann auch einer auf ebener Straße fallen und sich das Genick brechen.«
»Es ist mir sehr angenehm, Mr. Smith, daß Sie diese Möglichkeit nicht von der Hand weisen. Es wäre also, wenn … eventuell mit dieser Möglichkeit als Entschuldigung zu rechnen.«
Der Chefingenieur blickte ihn fragend an. Guy Rouse fuhr wie im Selbstgespräch fort.
»Die mir noch aus dem Dispositionsfonds zur Verfügung stehende Summe – mein Schwarzbuch – hat noch den Betrag von fünf Millionen Dollar frei. Mit dieser Summe hätte man die öffentliche Meinung, wie ich schon sagte, bearbeiten können, aber ich dachte, auch ohnedies …«
»Ich verstehe nicht, Mr. Rouse.«
»Nun, spielen wir mit offenen Karten. Der Beschluß unseres Parlaments ist nun mal da. Ich für meine Person glaube unter keinen Umständen, daß das Gutachten dieses mysteriösen J. H. irgendetwas auf sich hat. Ich habe mich eingehend damit beschäftigt. Unsinn! Solcher überspannter Ideen halber soll unsere Gesellschaft fünf Milliarden Dollar zum Teufel jagen. Das wäre doch über die Maßen dumm. Es bleibt das Vernünftigste, mit einem Male die ganze Kanallänge zu sprengen.«
Smith trat betroffen ein paar Schritte zurück.
»Gegen den Befehl des Kongresses? Mr. Rouse! Unmöglich!«
Guy Rouse lächelte.
»Unmöglich? Sie selbst sagten ja vorher, daß eine Beeinflussung der Nachbarminen, eine Explosion der anderen Minen, nicht ganz von der Hand zu weisen wäre. Nehmen wir an, es träte etwas Derartiges ein, das heißt, für die Augen der Welt.«
»Ja, aber …«
»Der Eintritt dieser Möglichkeit, Mr. Smith, würde unserer Gesellschaft fünf Milliarden Dollar ersparen. Und dieser Schaden wäre mit einem Aufwand von fünf Millionen Dollar abzuwenden.«
»Ich verstehe nicht, Mr. Rouse.«
»Nun gut, Mr. Smith, lassen wir das Versteckenspielen. Ich sage Ihnen ganz klar und deutlich: Ich kann mich nicht damit abfinden, daß wir etappenweise sprengen sollen. Ich will, daß im ganzen gesprengt wird.«
»Mr. Rouse!« Der Chefingenieur sprang auf und lief unruhig im Raume hin und her. »Mr. Rouse, es … geht nicht … es ist …«
»Mr. Smith, das will ich, und ich bedarf dazu Ihrer Hilfe, Ihrer Person.«
»Niemals! Niemals, Mr. Rouse. Suchen Sie sich einen anderen, der …
Ich werde auf keinen Fall Ihren Anordnungen Folge leisten und mich gegen den Beschluß der Regierung stellen.«
»Sie wollen sich an einen Befehl halten, dessen …«
»Jawohl! Eine derartige Verantwortung, eine Verantwortung von einer solchen Größe … kein einzelner Mensch kann sie tragen, nicht einmal das ganze große amerikanische Volk könnte sie auf sich nehmen.
Unmöglich!«
»Mr. Smith, es wird selbstverständlich nach außen hin dem Beschluß des amerikanischen Parlaments Folge geleistet. Es tritt nur durch einen bedauerlichen Zufall jenes Ereignis der Beeinflussung der Nachbarminen ein, welches ja einige Gutachter …«
»Trotzdem, Mr. Rouse, ich gebe meine Hand dazu nicht her. Tritt das ein, was J. H. voraussagte, dann würde die Verantwortung dafür nach Ihnen auch auf mir ruhen. Meine Kraft reicht nicht aus, um diese Verantwortung zu tragen.«
»So … Sie sagen, Ihre Kraft reicht dafür nicht aus …«
Er zog ein Scheckbuch aus seiner Tasche und schrieb einen Scheck aus, schob das Blatt dann dem Chefingenieur zu. Ein Scheck für James Smith, lautend auf eine Million Dollar.
»Würde Ihre Kraft auch dann nicht ausreichen, eine solche Verantwortung … wenn überhaupt von Verantwortung die Rede sein kann, denn es tritt ja überhaupt nur das ein, was überängstliche Gutachter befürchten.«
»Nein! Mr. Rouse, ich bin erstaunt, daß Sie etwas Derartiges wagen.«
»Was wage ich, Mr. Smith?«
Eine leichte Röte flog über das Gesicht des Chefingenieurs.
»Ich weiß, Mr. Rouse, das Sie gewohnt sind, Hindernisse, die Ihnen in den Weg treten, zu überwinden, indem Sie Schecks schreiben. Und ich weiß auch, daß ich nicht dafür …« er deutete auf den Scheck … »mich von Ihnen kaufen lasse.«
»Ach so, Mr. Smith.«
Guy Rouse nahm den Scheck, riß ihn in viele kleine Teile und warf diese zur Erde. Dann nahm er das Scheckbuch von neuem und schrieb einen zweiten Scheck, während James Smith erregt hin und her lief.
»Mr. Smith!«
Der Chefingenieur trat an den Tisch heran. Guy Rouse hielt den zweiten Scheck hin. Zwei Millionen Dollar, las James Smith. Blässe und Röte wechselten auf seinen Zügen. Einen Augenblick stand er starr.
Dann zerriß er das Papier, zerknüllte es und warf es zu Boden.
»Nein! Niemals, Mr. Rouse! Noch einmal, ich bin nicht käuflich!
Suchen Sie sich einen anderen für mich! Entheben Sie mich meines Postens!«
Das kalte Lächeln um die Lippen des Präsidenten verschärfte sich.
»Nein, mein lieber Mr. Smith, das geht leider nicht. Ich persönlich würde Sie mit dem größten Vergnügen entlassen. Aber die Folge! Wenn ich Sie wenige Tage vorher, sozusagen fünf Minuten vor zwölf, entlasse und engagiere mir einen anderen, der nach unseren Wünschen sprengt, dann wird die öffentliche Meinung sich erst recht das Maul zerreißen.
Sie sehen, Mr. Smith, das geht nicht. Es bleibt kein anderer Weg. Sie werden’s machen!«
Minutenlang saß Guy in tiefem Sinnen, die Augen halb geschlossen, die Lippen fest aufeinander gepreßt. Er schien zu überlegen, seine Miene verdüsterte sich. Kein Ausweg … kein Ausweg …
Seine Augen flogen verstohlen über das Gesicht von James Smith.
Seine Hand griff mechanisch in die Tasche nach dem Scheckbuch.
Wieder riß er ein Blatt heraus. Er griff zum Schreibstift, und nun schrieb er mit festen Zügen.
»Fünf Millionen Dollar, Mr. Smith. Lebenslängliche Stellung als Vizepräsident der New Canal Company … mit einem Jahresgehalt von einer Million Dollar.«
Der Chefingenieur war stehen geblieben. Seine Augen wanderten zwischen dem Gesicht des Präsidenten und dem Scheck hin und her.
Er überlegte. Fünf Millionen Dollar auf einen Schlag … Vizepräsident der New Canal Company.! Seine Lippen bebten. Man sah, wie es ihn gepackt hatte und schüttelte. Mit einer kurzen Bewegung wandte er sich ab und lief von neuem hin und her.
Das alte Lächeln erschien wieder auf den Lippen von Guy Rouse.
»Das Eisen ist heiß«, murmelte er leise. Seine Hand suchte unter der Kante des Tisches nach einem Knopf. Er drückte. Seine Augen richteten sich auf die Tür. Eine Falte der Ungeduld grub sich in seine Stirn.
Er sah, wie James Smith stehen blieb, wie er den Mund öffnete zu einer … Abweisung?
Die Tür flog auf.
»Ah! Guy, du hier? Zwei Herren aus New York kamen soeben an, die dich zu sprechen wünschen.«
»Ach, sofort. Bitte um Entschuldigung. Vielleicht leistest du Mr.
Smith einen Augenblick Gesellschaft. Ich glaube nicht, daß meine Abwesenheit lange dauern wird.«
Jetzt wandte sich Juanita mit blitzenden Augen dem Chefingenieur zu.
»Ah, guten Tag, Mr. Smith, wie geht es Ihnen? Ich sehe mit Bedauern, daß Ihr Aussehen nicht das alte, gute, gesunde ist. Nun, ich verstehe, die Aufregungen und Anstrengungen der letzten Wochen. Wie ich hörte, mußten Sie Ihre Arbeiten im höchsten Maße forcieren … das hat Sie arg mitgenommen. Sie sehen blaß aus, Mr. Smith. Sie fühlen sich nicht wohl.«
Der Chefingenieur zwang sich zu einem Lächeln und beugte sich über Juanitas Hand.
»Ihre Teilnahme, Miss Alameda, berührt mich tief.«
Er strich sich mit der Hand über die Stirn.
»Gewiß, Miss Alameda, es waren Wochen der größten Anspannung für Geist und Körper. Doch bitte, wollen Sie nicht Platz nehmen. Ich vergesse ganz, ich bitte um Entschuldigung. Ich bin …«
»Oh, gewiß, ich sehe, Mr. Smith, Sie müßten ausspannen. Es dauert ja nicht mehr lange, und der Kanal wird gesprengt sein. Dann werden Sie Zeit haben, hier fortzugehen. Sie werden reisen … oh, Sie werden Erholung finden. Bitte, nehmen Sie doch Platz, Mr. Smith. Hier auf diesem Fauteuil zu meiner Seite … und plaudern wir, bis Mr. Rouse wieder hier ist.«
Und James Smith tat es … und hörte, wie sie zu ihm sprach … fühlte, wie sich eine Hand auf seinen Arm legte … fühlte, wie ein Fluidum unbegreiflicher Art auf ihn überging. Er saß mit halbgeschlossenen Augen. Das leise Rascheln eines Papiers … Worte … schmeichelnd, lockend … und Delila schor Samson das Haar.
Die kaiserliche Standarte, der rote Löwe auf schwarzem Grunde, wehte vom Turm des Augustus-Schachtes.
»Der Kaiser ist hier«, raunte es von Mund zu Mund. Mit kleinem Gefolge schritt er unter Führung des Chefingenieurs Grimmaud durch die Anlagen, immer wieder stehen bleibend, fragend …
Jetzt wandte er sich zu dem Chef der Genietruppen. Jetzt zu dem Chefingenieur. Lobend … tadelnd … Es schien, als ob er sich nie mit etwas anderem als mit diesen Arbeiten beschäftigt hätte. So schritt er durch die von Zauberhand über Nacht geschaffenen Riesenanlagen.
Anlagen, die schon jetzt unter Benutzung von Hunderttausenden von Tonnen Karbid Millionen von Pferdestärken erzeugten. Ein Kesselsystem von verwirrender Ausdehnung. Riesenhafte Gasturbinen.
Elektrische Generatoren von bisher nie gesehenen Ausmaßen. Ein dichtes Spinnennetz von Hochspannungsdrähten, das sich nach allen Himmelsrichtungen hin verzweigte. Am östlichen Rande hielten sie an.
Ein Riesenwalzwerk war hier entstanden. Doch kein Laut drang aus der mächtigen Halle.
»Immer noch nicht in Betrieb!« sagte der Kaiser.
»Sobald die Motoren angekommen sind, Majestät.«
Die Stirn des Kaisers verfinsterte sich.
»Sie müßten längst hier sein«, fuhr Grimmaud fort, »wenn …«
»… nicht Europa Lieferant wäre«, vollendete der Kaiser.
»Sie schwimmen, Majestät. Das Transportschiff ist unterwegs.«
»Es wird länger schwimmen, als uns lieb ist.«
Augustus machte ein paar Schritte zu dem leeren Gebäude hin, hielt an und drehte sich um, wandte sich zu seinem Adjutanten.
»Diese Maschinen werden von morgen ab in den Kongowerken gebaut. Befehl geht heute ab!«
»Majestät!« wagte Grimmaud einzuwerfen. »So leicht dürfte das nicht sein.«
Ohne Grimmaud zu antworten, wiederholte der Kaiser den Befehl an den Adjutanten. Dann zu Grimmaud: »Zurück zum Verwaltungsgebäude!«
Um einen Tisch, der mit Karten und Plänen dicht bedeckt war, nahmen sie Platz. Der Kaiser wandte sich an Grimmaud.
»Ich bin zufrieden, Herr Chefingenieur. Sie haben mehr geleistet, als ich erwartete. Wie steht es mit der Gesundheit der Leute, die im Schacht arbeiten?«
»Auch in dieser Beziehung kann ich Euere Majestät nur Günstiges berichten. Durch unsere eigenen Konstrukteure haben wir im Laufe der Jahre des Schachtbaues die Bewetterungsfrage von Grund auf studiert, mit jedem Kilometer neue Erfahrungen gesammelt. So waren wir in der Lage, auch nach der Erbohrung der Karbidlager tadellos zu bewettern.
Die hohe Erdwärme und die Ventilatoren machen uns keine Schwierigkeiten. Wir arbeiten unter Tag in vier Schichten.«
»Wie arbeitet Ihr Regenschutz? Der Wolkenbruch der vorigen Woche machte mir Sorge.«
»Majestät! Auch hier haben sich unsere Sicherheitsbauten vollauf bewährt. Wasserschwierigkeiten haben wir nicht.«
»Gut! Herr Grimmaud … sehr gut. Das Wasser ist Ihr ärgster Feind.
Vergessen Sie das niemals! Keine Maßnahme darf hier versäumt werden. – Hiermit, Herr Chefingenieur, komme ich zu dem eigentlichen Zweck meines Besuches.«
Der Kaiser ergriff einen Rotstift und fuhr auf einer geologischen Schichtenkarte die Schachttiefe ab. Hier und dort hielt der Rotstift an und machte ein Kreuz.
»Hier Ihre verwundbaren Stellen, Herr Grimmaud! In dem ersten Kilometer haben Sie mehrere wasserführende Schichten. Auf Kilometer vier haben Sie eine starke Wasserader im zerklüfteten Gebirge. Diese Stelle scheint mir besonders gefährdet.«
Der Kaiser hielt inne. Grimmaud sah ihn an, erstaunt, fragend.
»Ich sehe an Ihrem Gesicht, Herr Grimmaud, daß Sie eine Frage auf dem Herzen haben. Bitte, Herr Grimmaud!«
»Euere Majestät sagten soeben gefährdet. Ich verstehe Euere Majestät nicht. Ich kann Euer Majestät versichern, daß die Schachtmauerung an diesen Stellen mit einer Sorgfalt gemacht worden ist, daß an keinen Wassereinbruch zu denken ist.«
»Herr Grimmaud, Sie sind zweifellos ein hervorragender Ingenieur.
Politische oder diplomatische Fragen kümmern Sie weniger. Sie sehen hinter der Anerkennung, die unser Werk in der ganzen Welt findet, nicht den Neid, den Hass, der sich leicht zu Taten verdichten könnte.
Besonders leicht dann, wenn politische Hochspannung herrscht. Daß die aber augenblicklich vorhanden ist, dürfte auch Ihnen nicht verborgen sein.«
Auf Grimmaud’s Gesicht lag tiefer Ernst. Er schüttelte langsam den Kopf.
»Ich verstehe, Euere Majestät denken an ein Attentat auf den Schacht.
Euere Majestät meinen, es könnte jemand die Wasseradern anschneiden … Wasser in unsere Karbidgänge da unten! Die Folgen wären nicht auszudenken! Aber ich glaube, Euer Majestät versichern zu können, daß diese Befürchtungen grundlos sind. Nein! Die Mauerung ist zehn Meter Eisenbeton … mit Sprengpatronen auch kräftigster Art ist da nichts zu machen!«
Der Kaiser schaute prüfend in das Gesicht Grimmaud’s. Er kannte ihn als einen unbedingt zuverlässigen, tüchtigen Menschen. Keine Spur eines Zweifels war auf dessen Miene sichtbar. Er wandte sich an den Genieoffizier.
»Was meinen Sie dazu?«
»Ich kann nur wiederholen, was ich Euer Majestät schon in Timbuktu versicherte. Ich halte es auch für ausgeschlossen.«
Der Kaiser blieb ernst.
»Ich verlasse mich darauf, ich muß mich auf Sie verlassen, meine Herren. Die Befürchtungen kamen mir – lächeln Sie ruhig, meine Herren – vorgestern Nacht im Traum. Aberglauben! Und doch, welcher Mensch ist ganz frei davon.
Der Traum! Es war fürchterlich. Ich sah, wie von verbrecherischer Hand die Schachtwand geöffnet wurde, sah, wie ein Riesenstrom kochenden Wassers sich in die Grubengänge ergoß, wie eine Verbrecherhand den Brand in das aufsteigende Gas schleuderte, sah, wie eine Riesenfackel emporloderte, höher und immer höher, der Sonne entgegen, sie erreichte … mit ihr verschmolz … sah, wie die Sonne zerschmolz, ein Feuerstrom vom Himmel zur Erde niederging, alles verbrennend, alles vernichtend …«
Der Kaiser lehnte sich schweratmend zurück und deckte die Augen mit der Hand. Man sah, wie ihn das grässliche Traumbild wieder ganz gepackt hatte und peinigte. Drückende Stille …
Grimmaud brach das Schweigen.
»Die Befürchtungen Euer Majestät sind grundlos. Es gibt keine Möglichkeit, daß sich das je verwirklichen könnte. Niemand außer Euer Majestät kann mehr Interesse an dem Schacht haben als ich … der ich die Pläne entwarf und durchführte. Keine Mutter kann eine größere Liebe und Sorge um ihr Kind haben als ich um den Schacht. Ein Attentat in der Weise ist völlig ausgeschlossen. Ich wiederhole es.«
Der Kaiser blickte auf. Er reichte Grimmaud die Hand.
»Mein Vertrauen zu Ihnen, lieber Grimmaud, ist groß, riesengroß … ich glaube, das des Öfteren bewiesen zu haben. Ich werde daran … ich werde an Ihre Worte denken, wenn sie mich wieder packen, die Erinnerungen an den Traum. Immerhin, wir wollen die Zahl der geheimen Polizeiagenten unter der Belegschaft verdoppeln, die Fremdenkontrolle in Mineapolis verschärfen. Ich betone: Der Attentäter braucht nicht von Kapstadt zu kommen. Er kann auch von Europa, er kann auch von Amerika kommen. Überall gibt es Leute, die …«
Klaus Tredrup kam über den Glockengießerwall hergeschlendert. Vor dem Gebäude des »Hamburgischen Kuriers« blieb er stehen, nahm die unvermeidliche Pfeife aus dem linken Mundwinkel, klopfte sie sorgfältig aus und ließ das altgediente Gebrauchsstück in der Jackentasche verschwinden. Dann trat er in das Gebäude und fuhr in den zweiten Stock zu den Redaktionen hinauf. Hier angekommen, wollte er dem Botenmeister, wie er es in diesen Wochen schon so oft getan hatte, ein Manuskript übergeben. Aber heute hatte dieser eine Bestellung für ihn.
»Herr Tredrup, der Chefredakteur wünscht Sie zu sprechen.«
»Hm … so … na, denn man tau, Klaus!« Eine Minute später saß er dem Redaktionsgewaltigen in dessen Arbeitszimmer gegenüber.
»Herr Tredrup, Wahrheit und Dichtung zusammen machen den Journalisten. Das haben Sie ja auch richtig erkannt. Ein Journalist sind Sie. Aber hinter das Geheimnis der Mischung sind Sie noch nicht gekommen. Es ist wie die Kunst, eine Bowle zu mischen. Von dem und dem und dem was … Das Ganze muß schmecken … und bekommen.
Das war bei Ihren letzten Artikeln nicht mehr der Fall. Die Zahl der Leser, die protestieren, wurde immer größer. Das C. T. unter Ihren Arbeiten wurde von der Konkurrenz schon ironisch identifiziert mit dem J. H … jenem J. H …«
»J. H.? Ist das …« Klaus Tredrup schaute den Chefredakteur verständnislos an. »… ist das etwa ein Vorgänger von mir?«
»Vorgänger, Herr Tredrup!? Unter uns gesagt … die Ehre wäre etwas groß … für Sie!«
»Wieso? Was? Was?«
»Erinnern Sie sich nicht?«
»Woran?«
»An jenes Gutachten, das vor fünf Jahren …«
»Ach so! Ja, ja … J. H.! Ja, das. Hm! Und da vergleicht man mich wirklich mit ihm?«
Er strich sich lachend über die Magengegend.
»Hm, hm! Eine große Ehre für mich … aber den J. H. hätte ich für längst vergessen gehalten. Fünf Jahre sind es her, daß …«
»… daß sämtliche Redaktionen der Welt sich den Kopf zerbrechen, Tag und Nacht, über die eine Frage: ›Wer ist J. H.?‹«
»Nun, das kann ich Ihnen sagen.«
»Was? Was? Sie wissen?«
»Nun, das ist eben ein Mann, der … hm!« Der Chefredakteur war in höchster Spannung aufgesprungen und starrte den Sprecher an. »… der die Ehre nicht voll zu schätzen weiß, von der Geburt bis zum letzten … nun, sagen wir mal, Räuspern … in einer verehrlichen Presse verewigt zu werden …«
»Herr Tredrup!«
»Herr Doktor … Ich habe die Ehre … Der edle Lord geht fort zu Schiff nach Spitzbergen …«
Er war im Begriff, die Tür zu schließen. Aber mit einem Tigersatz war auch der Chefredakteur an der Tür.
»Herr Tredrup! Wohin? Nach Spitzbergen?«
»In der Tat, Herr Doktor, nach Spitzbergen.«
»Einen Augenblick bitte! Wollen Sie wieder Platz nehmen!«
Tredrup setzte sich.
»Jawohl, mein Herr! Meister Tredrup geht nach Spitzbergen … aber nicht als Journalist, sondern wieder als ehrlicher Ingenieur, als Bohringenieur der Firma Jacob Jeremias Uhlenkort & Söhne … Ihnen gesagt, Herr Chefredakteur.«
»Außerordentlich interessant, Herr Tredrup. Lassen wir alles vorher Gesprochene! Sie kennen doch die letzten Nachrichten aus Spitzbergen?«
»Keine Ahnung, Herr Doktor.«
»Na ja. Aber Sie kennen doch Spitzbergen?«
»Keine Ahnung, Herr Chefredakteur. Bin noch nie dort gewesen.
Weiß gerade nur, daß es da oben eine Insel Spitzbergen gibt.«
»Aber Sie wissen doch, wo es liegt. Und Sie wissen vielleicht auch, daß fünfzig Knoten westlich davon auf dem siebenundsiebzigsten Breitengrad Black Island liegt?«
»Herr Doktor, es dürfte, niedrig gerechnet, wenigstens hundert Inseln in der Welt geben, die auf den Namen Black Island hören.«
»Glaube ich Ihnen gern, Herr Tredrup, ohne jede Nachprüfung. Aber hier handelt es sich um jenes Black Island auf siebenundsiebzig Grad acht Minuten nördlicher Breite und zwölf Grad vierzehn Minuten östlicher Länge von Greenwich.«
Tredrup legte die Hand an die Stirn.
»Ah! So. Richtig! Ich erinnere mich, richtig! Wenn ich nicht gleich im Bilde war, Herr Doktor, so muß ich Ihnen sagen, damals, als die wundersame Mär durch die Welt eilte, durchlebte ich gerade Momente, Momente, Herr Doktor, die, wenn ich sie in wohl gebauten Feuilletons Ihren Lesern vorsetzen würde, von diesen vielleicht auch nur für eine Bowle aus Essenzen gehalten würden … Was Neues von Black Island, Herr Doktor?«
»Aber ja! Hier das Neueste.« Er griff nach einer noch druckfeuchten Fahne.
»Erscheint heute im Mittagsblatt. Black Island wieder um hundert Meter gestiegen, Herr Tredrup.«
»Hm! Noch mal … na ja, Herr Doktor. Aber das ist schließlich nichts besonders Verwunderliches. Das hat man schon tausendmal in der Südsee gesehen. Da steigen die Inseln auf und ab wie die Pfannkuchen im heißen Fett. Allerdings, gesehen hat es selten einer. Es ist eine brenzlige Sache, wenn man nahe dabeisitzt. Ohne Seebeben und etwas Feuerwerk pflegt das gewöhnlich nicht abzugehen. Wie weit waren denn die Leute davon entfernt, als die Insel sich hob?«
»Beim ersten Mal kaum fünf Kilometer, Herr Tredrup.«
»A la bonne heure! Alle Wetter! Aus solcher Nähe … das ist ja wirklich wunderbar. Und beim zweiten Mal?«
»Beim zweiten Mal waren Augenzeugen nicht zugegen. Erst nach vierundzwanzig Stunden stellte ein Walfänger die neuerliche Steigung fest. Ist das nicht rätselhaft?«
»Rätselhaft! Was sagen denn die Herren Schriftgelehrten dazu?«
»Nun, eben … rätselhaft!«
»Das ist gerade nicht viel. Und Sie meinen, Herr Doktor, die Nuß zu knacken, das wäre etwas für Klaus Tredrup?«
»Ungefähr meine ich das so, Herr Tredrup. Wenn Sie jetzt nach Spitzbergen gehen, so besuchen Sie Black Island und schicken uns Artikel von … der richtigen Mischung.«
»Ansehen werde ich mir dieses merkwürdige Eiland jedenfalls, Herr Doktor. Ob ich Ihnen Artikel darüber senden werde … senden kann, weiß ich noch nicht.«
»Aber ich bitte dringend darum, Herr Tredrup.«
»Vielleicht, Herr Doktor … vielleicht … vielleicht auch nicht. Ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen.«
Klaus Tredrup trat aus dem Gebäude wieder ins Freie. Mit stillvergnügtem Lächeln stopfte er die Pfeife und setzte den Tabak in Brand. Vergnügt sah er den blauen Rauchwölkchen nach. Dann vergrub er behaglich die Hände in den Rocktaschen und schlenderte über die Straße. Seine Lippen bewegten sich im Selbstgespräch.
»Wieder mal eine Etappe deines Lebens beendet. Kurz, aber vergnügt!
Klaus! Klaus! Nun bist du auch Journalist gewesen. Na … Schwamm drüber! Jetzt hin zu Uhlenkort, den Vertrag machen! Dann weiter nach Spitzbergen!
Aber … Black Island … Black Island …«
Immer wieder kam der Name von seinen Lippen, »’ne Sache! Das Black Island, ’ne Sache für Klaus Tredrups Nase … von der in drei Weltteilen die Sage geht … vielleicht nicht mit Unrecht, daß sie sehr wißbegierig und neugierig sei.«
»Bitte, Herr Tredrup!« Das alte Faktotum des Hauses Uhlenkort öffnete die Tür zum Chefzimmer.
»Herr Tredrup!« rief er durch den Spalt und ließ den Besucher eintreten. Tredrup kam ins Zimmer. Es war leer. Aus dem Nebenraum hörte er die Stimme Uhlenkorts am Telefon. Ein längeres Gespräch, wie es schien. Er ließ sich in einen Klubsessel fallen und horchte nach dem Nebenzimmer. Na! Vorläufig kein Schluß abzusehen.
Hm! Da auf dem Schreibtisch der »Hamburgische Kurier« … mal her damit! Er beugte sich über den Tisch und ergriff das Blatt. Banausen, ihr! Die Ehre, Klaus Tredrup zu eurem Mitarbeiter zu rechnen, wußtet ihr nicht zu schätzen. Möge es euch leid tun! Er wandte die Seiten des Blattes. Olle Kamellen! murrte er und schob das Blatt verächtlich zurück.
Da … sein Blick blieb auf einem Blatt haften, das unter der Zeitung gelegen hatte. Gleichgültig glitt sein Auge darüber hinweg. Die Unterschrift. H … Er prallte zurück. Sekundenlang. Tausend Gedanken durcheilten sein Gehirn. J. H … J. H … Wie Magnetpole zogen ihn die beiden Buchstaben an. Er wehrte sich … Er kämpfte. Langsam, wie von einer unwiderstehlichen Macht gezogen, beugte er sich immer mehr nach vorn.
Bei Gott! J. H.! Seine Augen blickten über das Papier nach oben.
»Spitzbergen, den …
Lieber Walter! …«
Fieberhaft eilten seine Blicke über das Folgende … Black Island …
Wie ein Schlag durchzuckte es ihn. Seine Augen öffneten sich unnatürlich weit.
Black Island … Er suchte das Wort wieder … Experiment! … Der Beweis?
Sekundenlang saß er so. Die Stimme Uhlenkorts im Nebenraum riß ihn auf. Mit hastiger, zitternder Hand schob er das Zeitungsblatt über den Brief, wie es gelegen. Tief aufatmend lehnte er sich in den Klubsessel zurück. Unter Anstrengung brachte er ein vernehmliches Gähnen hervor.
»Sie hier, Herr Tredrup?«
»Jawohl, Herr Uhlenkort.« Langsam nahm er die Hand vom Munde.
»In diesem Augenblick führte mich Ihr Faktotum herein. Dem einladenden Klubsessel konnte ich nicht widerstehen … Halb zog er mich, halb sank ich hin … und gähnte … Wie geht es Ihnen, Herr Uhlenkort?«
Seine Augen hingen an den halb abgewandten Zügen Uhlenkorts.
Der griff anscheinend zerstreut nach der Zeitung, besah sie einen Augenblick und reichte sie dann Tredrup.
»Ich will hier nur ein paar Papiere zusammenpacken. Vielleicht sehen Sie währenddessen in die Spalten Ihres Leibblattes.«
»Danke! Danke, Herr Uhlenkort. Schon beim Morgenkaffee bis auf die Annoncen verdaut.«
»Nun, es dauert nur einen Augenblick.«
Uhlenkort ergriff den Brief und einige andere Papiere, sortierte sie und legte den Brief in seine Brieftasche.
»Was Neues, Herr Tredrup?«
»Ja, Herr Uhlenkort. Ich habe die Journalisterei satt. Auf die Dauer Journalist! Nee! Nichts für mich. Ich bin jetzt bereit, den Vertrag so, wie Sie ihn vorschlugen, abzuschließen.«
Uhlenkort lachte. »Gut, Herr Tredrup.« Er wandte sich zu einem Schrank und holte ein Schriftstück hervor, legte es vor Tredrup auf den Tisch.
»Der Vertrag liegt hier, braucht nur noch die Unterschrift.«
Die Feder fuhr über das Papier. Da stand in markigen Buchstaben: Klaus Tredrup.
»Bitte, Herr Uhlenkort.«
Uhlenkort nahm die Feder und setzte seinen Namen daneben. »Die Schrift wie der Mann!« sagte er lachend. »Wie meinen Sie das?«
»Na! Klaus Tredrup, wie er steht und geht. Für einen Graphologen ein Kinderspiel.«
Tredrup lachte mehr innerlich als äußerlich.
»Wenn es Ihnen paßt, Herr Tredrup, können Sie schon morgen fahren.
Ein Fünfzigtausend-Tonnen-U-Boot fährt morgen Mittag da hinauf.«
»U-Boot! Famos! Fünfzigtausend Tonnen, das ist prima! Zu meiner U-Boot-Zeit gab es solche großen Dinger noch nicht. Ich werde eine interessante Fahrt machen. Wahrscheinlich mehr in der Maschine als in der Kajüte stecken … aber weshalb U-Boot, Herr Uhlenkort?«
»Nun, das hat seine Gründe. Eis … und sonst noch allerlei.«
»All right, Herr Uhlenkort. Ich fahre morgen mit. Vielleicht sehe ich Sie da oben mal wieder.«
»Kann sein … kann nicht sein.«
Uhlenkorts Blick ruhte einen Augenblick forschend auf Tredrups Zügen. Das lachende, fröhliche Gesicht gab ihm keine Antwort. Tredrup wandte sich um, um zu gehen.
»Einen Augenblick noch, Herr Uhlenkort. Wissen Sie schon das Neueste?«
Uhlenkort zuckte die Achseln. »Neues passiert jede Stunde … jede Minute.«
»Nein, etwas Neues, was uns direkt oder indirekt angeht.«
»Sie machen mich neugierig, bitte.«
»Ich komme soeben vom Redaktionsgebäude des ›Hamburgischen Kuriers‹, wo ich mich verabschiedete. Da teilte mir der Chefredakteur noch die Nachricht mit, daß Black Island …«
Er hielt einen Augenblick inne und sah Uhlenkort gerade ins Gesicht.
Aber dessen Miene zeigte keine Veränderung.
»… daß Black Island wieder um hundert Meter gestiegen ist.«
»Ah, richtig. Ich vergaß davon zu sprechen. Ein Telegramm der Grubenleitung brachte mir schon heute morgen die Nachricht.«
»Ach so, gewiß! Hätte ich mir denken können. Ich werde dort die erste sich bietende Gelegenheit benützen, um dieser Insel, diesem Black Island, einen Besuch abzustatten.«
»Tun Sie das, Herr Tredrup. Vielleicht haben Sie Glück und ergründen das Rätsel von Black Island. Gute Fahrt!«
Simmons Brothers … Transportgesellschaft … Land … Luft …
Wasser … nach allen Teilen der Welt. In Riesenbuchstaben glänzte die Inschrift von dem stattlichen Bürohaus in der Coolidge Street in New York. Die Uhr schlug sieben. Ein Schwarm von Angestellten ergoß sich aus dem Gebäude, um nach allen Seiten auseinander zufließen, in den Schächten der Untergrundbahnen zu verschwinden.
»Guten Abend, Miss Harlessen.«
»Guten Abend, Miss Tailor.«
Zwei junge Mädchen, die der Menschenstrom aus dem Hause bis hierher getragen hatte, trennten sich. Christie Harlessen nahm den Superexpreß, der sie nach der 46sten Straße brachte. Sie schlug den Weg zu ihrer Wohnung ein.
»Miss Harlessen!«
Eine Männerstimme traf ihr Ohr. Sie blieb stehen, wandte sich um.
»Ah! Mr. Rouse?«
»Sie sind erstaunt, mich hier zu sehen, Miss Harlessen. Ein Zufall führte mich in dies entlegene Viertel. Ein glücklicher Zufall, der mich Sie hier treffen ließ. Wie kommen Sie hierher?«
»Ich wohne hier, Mr. Rouse.«
»Sie wohnen hier? In dieser Vorstadt? Sind Sie schon lange in New York? Sie verließen damals Tejada und verschwanden, ohne Ihren Freunden jemals ein Lebenszeichen zu geben. Wie ist es Ihnen seitdem ergangen? Was treiben Sie seitdem in New York? Viele Fragen auf einmal, Miss Harlessen. Aber mein Interesse an Ihnen ist so groß …«
»Ich bin, um es kurz zu sagen, im Hause Simmons Brothers als Angestellte tätig.«
»Oh, Miss Harlessen, das erweckt mein tiefstes Bedauern.«
»Warum bedauern Sie mich? Ich sehe durchaus keinen Grund.«
»Aber, Miss Harlessen! Ein Wechsel der Lebensführung, der doch – ich bitte um Entschuldigung – mit solchem Abstieg verbunden ist, dürfte doch in Wahrheit bedauerlich sein. Blieb Ihnen kein anderer Ausweg nach jenem abscheulichen Verbrechen in Tejada? Hatten Sie keine Freunde und Verwandten, die Ihnen halfen? Warum wandten Sie sich nicht an mich?«
Christie streifte ihn mit einem leichten Seitenblick.
»Warum an Sie, Mr. Rouse?«
»Oh! Eine Frage, die mich kränken muß, Miss Harlessen! Waren wir nicht in Tejada, wo ich so häufig weilte, einander so vertraut geworden?
Bestand schließlich nicht eine moralische Verpflichtung der Canal Company, für die Folgen dieses Unglücks aufzukommen?«
»Ich wüßte nicht, Mr. Rouse.«
Rouse schien den Doppelsinn dieser Worte zu überhören.
»Und doch war es damals mein erster Gedanke, nach Tejada zu eilen und Ihnen Hilfe anzubieten. Leider waren Sie verschwunden … unauffindbar. Warum taten Sie das? Dachten Sie so gering von den alten Freunden? Von mir?«
Rouse war im Gehen näher zu ihr getreten, so daß seine Schulter die ihre streifte.
»Lassen Sie … lassen Sie die Erinnerungen an Tejada, Mr. Rouse!«
Ein zitternder Unterton lag in Christies kühl abweisenden Worten.
»Miss Harlessen!«
Christie schien den Ruf zu überhören. Sie beschleunigte ihre Schritte, um die heller erleuchtete Hauptstraße zu erreichen.
»Sie weisen meine Hilfe ab, Miss Harlessen? Zweifeln Sie an … ?
Wenn Sie wüßten, wie sehr Ihr Schicksal mich interessiert. Der Gedanke, Sie in einer solchen untergeordneten Stellung zu wissen, ist mir unerträglich.«
»Sie machen sich unnötige Sorgen um meine Person, Mr. Rouse. Ich bedarf Ihrer nicht …«
»Ich bitte Sie, ich beschwöre Sie, Miss Harlessen, weisen Sie mich nicht ab! Ihre Kühle ist verletzend. Ich ertrage es nicht!«
Die verhaltene Leidenschaft, die aus seinen Worten klang, steigerte ihre Unruhe. Nur mit Mühe zwang sie sich zu einer Antwort.
»Mr. Rouse! Nehmen Sie an, mein Selbständigkeitsgefühl wäre so groß, daß trockenes Brot, selbst verdient, mir besser schmeckt als … noch einmal! Ich bedarf fremder Hilfe nicht.«
»Fremd? Miss Christie! Bin ich Ihnen ein Fremder? Bin ich Ihnen so gleichgültig, Christie?«
Sie hörte die Worte dicht an ihr Ohr klingen. Sie fühlte, wie ein Arm sich in ihren legen wollte. Mit einer brüsken Bewegung streifte sie ihn ab. Fast laufend erreichte sie die Hauptstraße.
»Reizen Sie mich nicht, Christie!« stieß er keuchend hervor. »Ich lasse Sie nicht. Wissen Sie jetzt auch, daß ich Sie von Tejada aus auf Schritt und Tritt beobachten ließ? Daß meine Leute mich ständig über Sie auf dem Laufenden hielten? Glauben Sie, ein Mann wie ich täte das umsonst? Bedenken Sie, was Sie verschmähen! Ich bin Guy Rouse! Der Sie zur Seinen wünscht …«
»Nie! Mein letztes Wort!« stieß es aus ihrem Munde. Sie trat in die helle Hauptstraße.
»Das letzte Wort werde ich sprechen!« klang es hinter ihr her.
Klaus Tredrup schritt über den Zechenhof. Zwei Nachtschichten unter Tage gaben ihm für vierundzwanzig Stunden freie Zeit. Am Zechentor stieß er auf den Chefingenieur. Nach kurzer Begrüßung schlugen sie den Weg zur Stadt ein. »Wie gefällt es Ihnen bei uns, Herr Tredrup? Sie sind allerdings erst drei Tage im Betrieb.«
»Nun … ganz gut. Soweit ich es bisher übersehen kann, werde ich die Mutter Erde hier mit demselben Vergnügen bearbeiten wie früher an den verschiedensten anderen Stellen. Ich hoffe, wir schlagen schon morgen das nächste Flöz an. Die Verhältnisse in Wibehafen sind ja erfreulich großstädtisch. Ich bin sehr überrascht. Man kommt hier auf seine Kosten.«
»Und wie kommen Sie mit Ihren Leuten aus?« fragte der Chefingenieur. »Die rekrutieren sich aus ganz Europa.«
»Sehr gut! Überraschend gut! Ruhige, vernünftige Leute. Beinahe zu ruhig.«
»Wie meinen Sie das?«
Einen Augenblick zögerte Tredrup. Schließlich kam es etwas abgerissen aus seinem Munde: »Wenn ich von mir auf andere schließe, dann wundere ich mich über die Ruhe.«
»Warum?«
»Black Island … Kurz vor meiner Abreise erfuhr ich, daß es da wieder gespukt hat. Die Gedankenverbindung Black Island-Spitzbergen liegt doch nahe … sehr nahe. Nicht nur für den Laien, sondern erst recht für den Bergbaumenschen.«
Der Chefingenieur nickte.
»Sie haben recht!« Nach einer Pause fuhr er fort: »Wir haben hier oben im Bergbau viel Schweres durchmachen müssen … Aber das Schwerste war das Auftauchen von Black Island … Das Rätsel von Black Island. Wie viele Kommissionen von Gelehrten, von Geologen waren schon hier. Keiner ist es gelungen, das Rätsel zu lösen.
Jeder Versuch scheiterte an der Macht der nackten Tatsachen. Ein Vorgang, wie er bisher nie gesehen, nie beobachtet wurde, hat sich vollzogen. Die kühnste Phantasie versagt demgegenüber. Rätsel …
Rätsel.
Mein erster Gedanke war der: Was wird unsere Belegschaft tun?
Flucht? Selbstverständlich Flucht von hier. Und so kam es … wäre es gekommen, wenn nicht ein neues Rätsel … ein Mann unter der versammelten Belegschaft erschienen wäre, der … ja was … ?
Er stand plötzlich da auf irgendeinem umgestürzten Wagen. Sein Auge flog über den ganzen Zechenplatz und zwang die Leute zu seinen Füßen, zwang sie, auf seine Lippen zu schauen, die Worte sprachen …
Ich hörte die Worte, ich war dabei. Was sprach er? Was war es, was die Tausende, was auch mich zwang, an seinen Lippen zu hängen?«
Der Chefingenieur war stehen geblieben. Er strich sich über die Stirn.
»Ich weiß es nicht. Ich hörte es … sah es, was geschah. Ein Rätsel … ein Rätsel, größer als das von Black Island war das.
Als er seine letzten Worte gesprochen hatte: ›Nun geht an eure Arbeit … ‹, nie bis an mein Lebensende werde ich das vergessen. Es geschah. Die zweite Schicht fuhr ein. Stumm, willenlos, wie wenn eine höhere Macht sie gepackt hätte … sie trieb. Ein Rätsel, größer als das von Black Island, war es für mich.
Sie wissen von jenem zweiten Auftauchen von Black Island. Wieder fürchtete ich … Nichts geschah. Als ob Black Island auf der anderen Seite am Südpol läge.«
Tredrup war stumm. Immer wieder glitt sein Blick von der Seite her verstohlen über seinen Begleiter. Sein skeptischer Geist wehrte sich gegen das, was sein Ohr aufnahm. Er hatte in diesen letzten Tagen schon mancherlei über jenen mysteriösen Vorgang zu hören bekommen.
Das gleiche nun aus dem Mund des Chefingenieurs, eines hoch gebildeten, streng wissenschaftlichen Mannes … selbst das vermochte seine Zweifel nicht zu zerstreuen.
»Jener Mann, von dem Sie sprachen, er wohnt da unten an der Südspitze in dem alten Leuchtturm? Was ist er? Wie heißt er? Was treibt er hier?«
Der Chefingenieur zuckte die Achseln.
»Er treibt wissenschaftliche Studien. Geologe … Physiker … Näheres weiß niemand.«
»Und wie heißt er? Wo stammt er her?«
»Wo er herkommt? Ich weiß nicht … augenscheinlich ein Deutscher.
Aber er spricht viele Sprachen ebenso gut wie Deutsch. Sein Name?
Beim Volk heißt er nur ›Der vom Leuchtturm‹. Er heißt – das weiß ich durch Herrn Uhlenkort, der ihn kennt – Johannes Harte.«
»Johannes Harte«, murmelten die Lippen Tredrups nach.
»Das ist ja eine interessante Persönlichkeit. Ich brenne darauf, den Mann kennen zu lernen. Können Sie mir da einen Rat geben?«
»Er lebt in dem alten Leuchtturm wie ein Einsiedler. Ein invalider Matrose und dessen Frau führen ihm die Wirtschaft. Selten, daß er sichtbar wird. Und wenn, dann fährt er in seinem Motorboot auf die See hinaus. Sein Faktotum und Fischer Klasen, der seine Hütte neben dem Leuchtturm hat, führen das Boot. Diese Fahrten nehmen oft Tage in Anspruch. Was macht er auf diesen Fahrten? fragen Sie … Studien …
Versuche …«
Tredrup verhielt unwillkürlich den Schritt. Zuviel auf einmal! Das war’s! War’s, kein Zweifel. Er ging wieder neben dem Chefingenieur her, zitternd vor Erregung.
Des Rätsels Lösung?
Er atmete tief. Mit Gewalt bezwang er sich.
»Allerdings … sonderbare Sache das.«
Er zwang seine Lippen zu einem Lächeln.
»Mysteriös, Herr Chefingenieur! Höchst mysteriös. Suggestion, nichts anderes! Suggestion ganz einfach! Und doch, was da drüben im alten Land … hier im kalten Norden?
Wo alles kühl … kühl die Köpfe, die Sinne. Es paßt so wenig hierher.
Der Mann, seine suggestive Macht, die Menschen, die ihr unterliegen.
Johannes Harte? Ein Deutscher, wie Sie sagten. Ein Deutscher? Ein Naturschauspiel war’s, rätselhaft … ja, rätselhaft.« Der Chefingenieur wandte sich zu ihm um.
»Herr Tredrup, was ist Ihnen? Diese Erregung! Ja, wären Sie hier gewesen, als es geschah. Wie kann das, was ich Ihnen erzählte, Sie so bewegen … Sie sind übernächtigt. Sie hatten zwei Nachtschichten. Nicht angenehm gleich zum Anfang, aber es ließ sich nicht vermeiden. Nun, Sie haben ja jetzt vierundzwanzig Stunden für sich zum Ruhen. Die Genüsse der Großstadt Wibehafen werden Ihnen Ablenkung geben.«
Der Chefingenieur verabschiedete sich. Mechanisch lenkte Klaus Tredrup seine Schritte zu seiner Wohnung. Seine Gedanken gingen sprunghaft. War’s die Lösung? Jenes Rätsels … jenes Welträtsels? Er stand vor der Tür seines Hauses. Sein Hirn arbeitete wie im Fieber.
Er blieb stehen … ein Ruck … Er wendete der Südspitze zu. Und dann stand er vor dem alten Turm, vor dem verwitterten, gedrungenen Bau, und sein Auge ging hinüber nach Nordwesten, wo sich die gigantische Masse des neuen Turmes erhob. Der Weg führte bergab zum Strand. Da lagen auf halber Höhe die Fischerkaten. Unten am Strand die Boote. An Gerüsten die großen Netze.
Klasen hieß der, der mit ihm fuhr. Er blieb stehen. Sein Auge irrte über die Hütten dahin.
Weitergehen? Sollte er das? Das Glück schien ihm heute günstig zu sein.
Er ging …
Eine Alte kam ihm entgegen, mühsam die Höhe hinaufklimmend.
»Wohnt hier der Fischer Klasen?« Die Frau stand still.
»Klasen? Ja! Da unten im letzten Haus. Sie wollen zu ihm? Schlechte Zeit heute. Seine Frau ist krank. Ich komme von ihr.«
Wieder zögerte Tredrup. Wieder zog es ihn weiter, bis er vor jener Hütte stand.
Er trat ein … er sprach mit dem Fischer und ging wieder hinaus.
Gelungen! Er würde fahren. An dessen Statt fahren, der bei seiner kranken Frau blieb. Auf See fahren … mit ihm … mit H …
Das bleiche Licht der Mitternachtssonne spielte um das graue Turmmassiv. Tredrups Schulter stemmte sich gegen das Motorboot, half es mit vom Strande abrücken.
»Ab!« Er sprang hinein.
Der Motor ging an. Der Bootsmann überließ ihm den Griff und ging ans Steuer. Das Boot kam in Fahrt. Schneller, immer schneller schoß es Süd zu Südost durch die grüne Flut.
»Volle Kraft voraus!« schrie der Steuermann.
Tredrup befolgte den Befehl.
Stunden vergingen. Sie fuhren … sie fuhren Süd zu Südost … phantastisch die Schnelligkeit. Tredrup stand am Motor, die Hand am Griff. Sein Herz pochte im Takt der Maschine.
Da vorn am Stern … da saß er … der aus dem Leuchtturm, Johannes Harte. Das Gesicht in der Richtung der Fahrt. Tredrups Gedanken gingen zurück. An den Bootssteg. Johannes Harte trat aus der Pforte des Turmes. Stieg die schmale Treppe hinab, kam auf den Bootssteg, stieg ein. Ein Mensch … ein Mann … Was war das für ein Mann?
Wie hatte seine Phantasie gearbeitet in der Erwartung, diesen rätselhaften Menschen zu sehen? Welche Bilder waren es, die er von ihm gemacht hatte?
Und dann hatte er ihn gesehen … gesehen so ganz anders … anders … ja wie?
Eine schlanke hohe Gestalt. Ein schmales bleiches Gesicht. Eine hohe, sich weit vorwölbende Stirn. Langes, lockiges Blondhaar darüber.
Aber die Augen … die Augen! Was waren das für Augen? Nur mit leichtem Seitenblick streiften sie ihn … und doch, was waren das für Augen? Wie war seine ganze gesammelte Willenskraft, sich das Bild dieses Menschen tief einzuprägen, vor einem leichten Blick dieser Augen zerstoben! Sein ganzes Wesen fühlte sich gefangen. Wie ein Gefangener war er ihm gefolgt, wie der Sklave seinem Herrn.
Die rauhen Rufe des Bootsmanns erst hatten ihn aus seiner Betäubung gerissen. Klar zur Abfahrt! hatte der Bootsmann geschrieen.
Der Mann vom Leuchtturm hatte sich am Stern niedergelassen, denen im Boot den Rücken zugewandt. Da hatte Tredrup aufgeatmet, wie befreit von den Fesseln jenes Blickes.
Und sie fuhren … und fuhren. Wie ein Vogel schoß das Boot über die leichte See dahin. Stille über den Wassern … Stille im All. Nichts als das leise Rauschen der Wogen, die der scharfe Kiel durchschnitt.
Im Norden! Ein heller Schein über der Kimme. Dann ein Rot …
Orange … Gelb … ein Nordlicht. Ein Farbenwunder in majestätischer Größe erstand da.
Er blickte zu jenem Manne hin, wie dieser sich wendete, wie seine Augen an diesem Schauspiel hingen, sich daran weideten. Klaus Tredrup schaute zur Kimmung, wo der dunkel glühende Sonnenball einzutauchen schien. Mechanisch sah er auf seine Uhr. Die Mitternachtsstunde nahte … war da.
Der Mann am Stern war aufgestanden, ging zur Kajüte und kam wieder herauf. Unter dem Arm trug er einen Apparat, einen leichten Kasten, wie es schien. Am Stern setzte er sich nieder, zog einen weiten Mantel um die Schultern. In dessen seidigem Glänze spielten die Lichter des Himmels. Er wandte sein Gesicht der Sonne zu und schaute lange hinein. Dann senkte er sein Haupt. Die Hände zogen den Mantel dichter zusammen, ergriffen etwas. Und wie der Bug sich hob und senkte, glänzte das in den matten Sonnenstrahlen.
Tredrup stand still. Seine Hände umkrampften den Motorhebel. Seine Augen bohrten sich durch das Dämmerlicht zu dem Glitzernden hin.
Ha … ein Tokschor? Er griff sich an die Stirn. Hatte er richtig gesehen? Ein Tokschor in jenes Mannes Händen? Ja! Er hatte richtig gesehen.
Die schmalen Finger spielten an dem Knopf der Gebetsmühle. Die Augen starrten auf die Blätter in dem Gehäuse. Die Lippen bewegten sich, als wenn sie läsen … beteten … Tredrup starrte. Seine Hand fuhr zum Herzen. Was war das? Was sollte das? Sein Geist zwang sich zur stärksten Willenskraft. Seine Zähne schlugen aufeinander wie im Fieber.
Und … dann … der da oben griff nach dem Apparat, nahm ihn zwischen die Knie. Sein Körper senkte sich darüber. Seine Hände legten sich an dessen Seiten. Sie bewegten Hebel.
Schrauben … die Augen des Mannes gingen in die Ferne, als suchten sie eine Richtung im Süden, gingen wieder herunter zu jenem Apparat.
Und dann … dann war es Tredrup, als führe ihm eine Hand über die Stirn, über die Augen … minutenlang. Und dann sah er wieder auf … und war auf einem Schiff … einem ganz anderen … einem ganz fremdartigen Schiff.
Ein Schiff, eine Kogge, kam von Hamburg, der jungen, aufblühenden Siedlung an der Elbmündung. Vier Wochen schon waren sie unterwegs.
Mit Rudern und Segeln hatten sie mit dem Nordost gerungen, bis sie um das Nordkap bei Skagen herum waren.
Kostbare Last hatten sie an Bord. Fränkische Tuche … burgundische Weine … levantinische Spezereien, Tauschhandel damit zu treiben gegen die Güter des Ostens, die köstlichen Rauhwaren, den begehrten Bernstein … Und sie fuhren durch den Belt, wo Sturm den Sturm jagte …
und beteten zu dem neuen Christengott, der ihnen gnädig war …
Und sie kamen am Boskamp vorbei, wo noch heidnische Feuer rauchten. Und sie fuhren weiter, bis sie hinkamen zu dem Ziel der Fahrt, nach Jumneta, und die Anker fallen ließen.
Da lag es an der äußersten Nordspitze der langen Insel, wo der westliche Oderarm das Meer erreicht. Von hohem Hügel her grüßte die wallumgürtete Wikingerfeste, die trutzige Jomsburg, zu ihren Füßen die reiche Slawenstadt Vineta.
Und sie gingen an Land und staunten über die Größe und den Reichtum der Stadt. Slawen und Sachsen … Nordmänner und Franken …
ein Gemisch aller Völker und Zungen.
Ihre Augen konnten sich nicht satt sehen an den Herrlichkeiten der Meerkönigin Vineta. An die zwei Wochen blieben sie hier und tauschten ihre Waren gegen die Erzeugnisse des Ostens. Und dann lichteten sie wieder die Anker und fuhren nach Westen.
Noch hatten sie die letzten Spitzen der Türme in Sicht, da kam es von Norden herangefahren. Der alte Schiffsführer sah es beizeiten, so daß sie sich ducken konnten, verkriechen in den Buchten der Rugischen Küste. Sie sprangen an Land, schleppten die Kogge an den Strand, banden sie an Klippen und Bäumen fest.
Kaum war es geschehen, da brauste es vom Norden heran. Die Welt wollte untergehen. Turmhoch schäumte das Meer unter Sturmesgewalt.
Und dann … entsetzt starrten ihre Augen über die Landzunge nach Osten. Da kam es heran wie eine Mauer. Hoch getürmt wie eine Riesenwand kam das Meer, stürmte vorbei vor ihren Augen … raste nach Süden. Das Land da unten verschwand in wirbelndem Gischt.
Darüber hinweg die kochende See! Noch einmal grüßten die Türme der Jomsburg … dann …
Lastende Stille … und dann kam es zurückgefahren … mit schwächerer Kraft … nach Norden hin. Und als sie wieder nach Süden sahen, suchten ihre Blicke vergeblich die glänzende Stadt, in der sie eben geweilt. An einem kahlen grauen Sandrücken brachen sich die abebbenden Fluten des Meeres …
Und dann … die Nacht verging unter Schrecken und Schaudern. Der Morgen kam, und eine ruhige stille See glänzte in der ersten Dämmerung. Da machten sie los und fuhren zurück nach Hamburg …
Und als der Kiel am Elbstrand über heimatlichen Boden knirschte, sprangen sie an Land und knieten nieder …
»An Land! An Land, Herr Tredrup!«
Tredrup zuckte zusammen. Er fühlte, wie ein Fuß ihn anstieß. Mit einem Schrei warf er sich empor. Seine Augen starrten im Kreis umher.
»Was war das? Wo bin ich?«
Er fuhr sich mit den Fäusten in die Augen und rieb sie, als ob er ein Schreckensbild heraus reiben wollte. Da stand der alte Bootsmann. Der breite, zahnlose Mund lachte.
»Sie haben geträumt, Herr Tredrup. Wir sind zu Hause. Hier ist der Leuchtturm.«
Mit einem Ruck stand Tredrup auf den Füßen. Seine Augen flogen von dem Alten hinüber zum Leuchtturm, gingen weiter zu den Schachttürmen. Er holte tief Atem.
»Geträumt? Habe ich geträumt, Bootsmann?«
»Na ja!« lachte der. »Sie schlafen schon die halbe Fahrt. Gewiß haben Sie geträumt. Was ist Ihnen?«
Tredrup stand. Er schüttelte den Kopf. Seine Hände bewegten sich wie hilflos fragend.
»Ja … ja … ich habe geträumt. Ein Traum … fürchterlich … war über mich gefallen. Und nun sind wir zu Hause … ja, zu Hause.«
Mit zitternden Knien betrat er den Bootssteg, klomm er den Uferhang empor … und kam nach Wibehafen …
»Herr Tredrup! In einer Stunde beginnt die neue Schicht.«
Er erwachte … sah um sich. Er lag in seinem Bett. Um ihn herum die vertraute Umgebung. Er stand auf, hängte sich die Kleider um und riß das Fenster auf. Die kühle, frische Luft, die ihm entgegenschlug, legte sich wohltuend um seine Schläfen. Ein paar Mal schöpfte er tief Atem.
Die Tür ging auf. Seine Wirtin trat herein, auf den Händen das Kaffeetablett. Er setzte sich an den Tisch. Seine Augen überflogen die Morgenzeitung. Die erste Überschrift: Vineta!
Er taumelte zurück, als hätte ihn ein Schlag getroffen. Wieder ergriff er das Blatt. Immer größer werdend starrten seine Augen auf die Nachricht, die da stand.
»In der gestrigen Nacht ist der Meeresgrund an der Nordspitze von Usedom in einer Ausdehnung von zwei Quadratmeilen zutage gestiegen. Die Stätte, wo einst Vineta lag, ist wieder erstanden.«
Christie Harlessen hatte schon ihre Wohnung betreten. Sie ließ sich an dem einladenden Teetisch nieder und strich sich mit einer müden Bewegung über die Stirn. Die Tätigkeit bei Simmons Brothers war doch zu manchen Zeiten anstrengender, als sie anfangs gedacht und gespürt hatte. Wie anders doch das freie, abwechslungsreiche Leben in Tejada … selbst im Zirkus. Die Eintönigkeit im Büro war allein schon ermüdend … und doch, was tun. Jener Sturz, der ihr die weitere Ausübung dieses Berufes unmöglich machte, hatte sie ihn nicht zeitweise für eine Schicksalsfügung gehalten?
Die Unterredung mit Walter Uhlenkort in Kapstadt! Wie oft erinnerte sie sich daran! Etwas Neues, ihr bis dahin kaum Bewußtes schien seitdem in ihr Denken und Fühlen getreten.
War’s das Harlessenblut, das sich in ihr regte? Wie hatte Walter Uhlenkort gesprochen?
»Sie sind eine echte Harlessen!« Hätte sie ihm damals folgen sollen? … Hamburg?
Die Türglocke klang. Sie hörte eine Männerstimme, hörte ihre Wirtin etwas antworten und auf ihre Tür zukommen. War er es? Mr. Rouse?
Der kurze Gedanke trieb sie empor.
»Miss Harlessen, Besuch für Sie! Mr. Uhlenkort aus Hamburg.«
»Herr Uhlenkort?« Befreiung … Überraschung lag in den Worten.
»Bitte, führen Sie den Herrn zu mir!« Sie folgte der Frau und öffnete die Zimmertür.
»Bitte, Herr Uhlenkort!« Sie schüttelte dem Eintretenden kräftig die Hand. »Willkommen in meinem Heim!«
Uhlenkort stand einen Augenblick und hielt ihre Hand fest in der seinen.
»Dank für Ihre freundliche Begrüßung, Fräulein Christie. Ich … ich …«
»Sie erwarteten eine andere Begrüßung, Herr Uhlenkort.«
Sie lachten beide.
»Ich gestehe, Fräulein Christie, nach meinem letzten Besuch in Kapstadt …«
»… waren Sie auf das Schlimmste gefaßt.«
»Beinahe. Meine Freude ist eine doppelte. Der gute Empfang und dann … ich sehe, daß Sie sich wohl befinden. Sie sind wieder gänzlich hergestellt?«
Christie nickte. »Gänzlich? Dann wäre ich vielleicht nicht hier.«
»So leiden Sie immer noch unter den Folgen des Sturzes?«
Mit Besorgnis blickten seine Augen über die schlanke Gestalt, die anscheinend in blühender Gesundheit vor ihm stand.
»Nein und ja«, erwiderte sie. »Es genügt nicht allein, völlig gesund zu sein, um die Hohe Schule zu reiten. Ich bin es. Aber es fehlt die volle Kraft der Zügelhand, ohne die es nun einmal nicht geht.«
»Dank für die Worte, Fräulein Christie. Ich freue mich. Doch …« Er wies auf den gedeckten Teetisch. »Ich störe Sie bei Ihrer Mahlzeit.«
»Durchaus nicht. Machen Sie mir die Freude, den Tee mit mir zusammen zu nehmen!«
Sie saßen sich am Tisch gegenüber.
»Sie müssen vorlieb nehmen, Herr Uhlenkort. Die Tischplatte biegt sich nicht unter der Last. Hätte ich bestimmt gewußt, daß Sie kommen …«
Uhlenkort blickte fragend auf.
»Bestimmt? Fräulein Christie, wie meinen Sie das?«
»Oh!« Eine leichte Röte glitt über ihr Gesicht. Sie klappte sich mit der Hand auf den Mund.
»Ah! Sie haben mich wohl gesehen, als ich heute morgen bei Simmons Brothers war, obgleich Sie so vertieft in Ihre Manuskripte blickten.«
»Ja, ich sah Sie.«
»Sie sahen mich und haben mich – wenn auch nicht bestimmt – erwartet. Das wollten Sie sagen, Fräulein Christie?«
»Ja, Sie hatten es leicht, Gedanken zu lesen … überhaupt wohl leicht, meinen Aufenthalt festzustellen.«
»Wie meinen Sie das, Fräulein Christie?«
»Ich vermute wohl nicht mit Unrecht, Herr Uhlenkort, daß Ihr Wissen aus dem Pinkerton Office stammt.«
»Richtig geraten, Fräulein Christie! Weshalb hinter dem Berge halten.
Sie mögen gehen, wohin Sie wollen, ich werde stets wissen, wo Sie sind.«
»Warum diese Mühe, Herr Uhlenkort?«
»Weil Sie zu uns gehören, Christie. Sie sind eine Harlessen.«
»Sie sind aber doch ein Uhlenkort.«
»Harlessen und Uhlenkort gehören zusammen.«
Der Ernst, mit dem er die Worte sprach, ließ sie schweigen. Sie fühlte seinen Blick voll auf sich ruhen. Fühlte, wie ihr Herz bei diesen Worten mitklang.
»Dann weiß ich wohl, weswegen Sie hierher kommen.« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, suchte nach Worten und stieß es dann heraus:
»Sie kommen wieder, das verirrte Schaf zurückzuholen.«
»Christie! Warum so bitter? Fassen Sie meine Worte so auf? Können Sie sich nicht denken, daß ich aus persönlichen Gründen ein Interesse habe, mich um Sie zu kümmern? Ich verließ Sie damals in Kapstadt in einer schlimmen Lage … auf dem Krankenbett. Wäre es nicht widersinnig, wenn ich Sie danach verlassen hätte? Ich war froh, als ich erfuhr, daß Sie hier in Stellung waren. Als ich hörte, daß Sie aus dem gefährlichen Beruf heraus seien.«
»Nun … und wennschon.«
»Christie, wie kamen Sie dazu?«
»Sie wissen es ja! Und schließlich, wen geht’s denn was an?«
»Christie, können Sie sich nicht denken, daß mein Herz …«
Christie wandte ihm das Gesicht zu und sah ihm in die Augen. Ihre Blicke senkten sich ineinander.
»Ich glaube Ihnen, Herr Uhlenkort. Ich will Ihnen glauben, trotz allem, was mir geschehen ist … meinem Vater geschehen ist.«
»Ihrem Vater, Christie? Wieder der alte Vorwurf! Warum quälen Sie mich? Ich versichere Ihnen, daß man sich in Hamburg die größte Mühe gab, ihn zu finden. Ihn trotz aller Bemühungen nicht zu finden vermochte. Bis ich an den Kanal kam, unglücklicherweise zu spät kam.
Eine Woche früher, und ich hätte ihn lebend getroffen, und alles wäre anders geworden.«
»Anders geworden? Vergessen Sie nicht, auch mein Vater war ein Harlessen.«
»Und doch hätte er in diesem Falle die Hand, die sich ihm von Hamburg entgegenstreckte, nicht zurückgewiesen.«
»Sie sagen das, Herr Uhlenkort.«
»Jawohl, Christie! Ich behaupte das, weil ich weiß, daß er eben ein Harlessen war. Sie sagten mir ja, wie oft er an Hamburg gedacht … wie oft er Ihnen davon erzählt hat.
Ich hätte es auch gewußt, ohne daß Sie es mir berichtet hätten. Gerade weil er ein Harlessen war, fühlte er die Vereinsamung. Wie sehr er die Bitternis, in der Fremde zu leben, empfand, wird er Ihnen nicht offenbart haben. Ich aber sage es Ihnen, nie … nie konnte er sich in der Fremde glücklich fühlen. Die zerrissenen Bande …«
Er war aufgesprungen und durchmaß mit heftigen Schritten den kleinen Raum. In Christies Zügen wechselten jagend Blässe und Röte.
Mit einem Ruck blieb er plötzlich vor ihr stehen.
»Und du! Christie, du … du willst es nicht sagen … und doch, du … du fühlst dich auch als eine Harlessen, fühlst, daß du zu uns gehörst, zu uns hingehörst nach Hamburg …«
Schweigen lastete in dem kleinen Raum. Es drängte sie, ihm die Hand zu reichen. Es schrie in ihr: Ja! Ja! Du hast recht! Ja! Ja!
Sie kämpfte mit sich … Ihr Herz schlug, als wollte es bersten … und sie bezwang sich …
»Herr Uhlenkort!«
Der Klang seines Namens schien ihn aufzuwecken. Er strich sich über die Augen.
»Ach! Verzeihung, Fräulein Christie … Was sprach ich? Ich …
Verzeihung … mein Herz floß über. Ich konnte nicht anders.«
Er streckte ihr die Hand entgegen. Er fühlte, wie ihre Finger sich leicht hineinlegten und darüber glitten. Dann ging er zu seinem Platz zurück.
»Ich vergaß … vergaß schon damals in Kapstadt, Sie nach den rätselhaften Umständen jenes Verbrechens in Tejada zu fragen. Ihr Vermögen wurde damals geraubt. Haben die Nachforschungen der Polizei, der Behörden gar nichts ergeben?«
»Nichts, Herr Uhlenkort. Man hat mich verschiedene Male vorgeladen. Man hat auch einige Leute verhaftet. Aber ihre Unschuld erwies sich bald. Es bleibt ein Rätsel, ein Geheimnis, dessen Dunkel wohl niemals gelichtet werden wird.«
»Niemals? Was an mir liegt, soll geschehen, um das Rätsel zu lösen.
Wäre es auch nur, um dem Verbrecher seinen Raub abzujagen. Die Verbindung mit dem Pinkerton Office hat mich auf den Gedanken gebracht, die Pinkertons auf die Spur des Verbrechens zu setzen.«
Noch einmal ließ er sich von Christie die Umstände der Tat, soweit sie bekannt waren, berichten. Sah, wie Christie Harlessen durch die Erzählung von neuem ergriffen, wie ihr Bericht immer matter und tonloser wurde.
»Nur noch eine Frage, Fräulein Christie, dann wollen wir dies dunkle Thema verlassen. Haben Sie selbst irgendeinen Verdacht, einen leisen Verdacht? Vielleicht auf irgend jemand …«
Er schaute Christie voll an. Sah, wie sie überlegte, wie ihre Augen hin und her gingen, wie sie kämpfte, zögerte.
»Ich habe keinen Verdacht. Habe auch niemals einen Verdacht gehabt … irgendein Landstreicher … ein entlassener Arbeiter … wer hätte sonst am Kanal noch … Doch warum noch weitere Nachforschungen nach dem unbekannten Täter anstellen? Sein Raub …«
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich werde leben. Ich finde mein Brot selber.«
Uhlenkort erhob sich. Auch Christie war aufgestanden.
»Warum wollen Sie so plötzlich gehen, Herr Uhlenkort?«
»Fräulein Christie … ja, Fräulein Christie … Sie sagten, Sie werden leben. Ich sehe, daß Ihre Willensstärke, Ihr Selbständigkeitsgefühl größer sind als meine Überredungskraft. In Ihren Worten: Ich werde leben, drückte es sich nur zu deutlich aus. Sie sollten auch für mich gelten.«
»Herr Uhlenkort!«
»Fräulein Harlessen?«
Christies Blick ging zur Erde. Sie trat einen kleinen Schritt zurück.
Das versöhnende Wort auf ihren Lippen erstickte unter dieser Anrede.
»Herr Uhlenkort, noch einen Augenblick, ich habe Ihnen noch eine Nachricht zu geben, die Ihre Niederlassung in Valparaiso betrifft.«
Sie holte von ihrem Schreibtisch ein verschlossenes Kuvert und überreichte es ihm.
»Ich war im Begriff, nach Hamburg zu telegrafieren, als Sie heute Mittag zu Simmons Brothers kamen. Als ich Sie sah, änderte ich meine Absicht. Hier ist der Brief, den ich Ihnen, wären Sie nicht zu mir gekommen, in Ihr Hotel geschickt hätte.«
Uhlenkort ergriff das Kuvert.
»Eine Nachricht, die unsere Firma interessiert?«
Sie war hinter den Teetisch getreten und machte sich dort zu schaffen.
»Vielleicht war es überflüssig, was ich tat. Sie werden es zu Hause lesen.«
»Zu Hause? Im Hotel? Nein … !«
Er riß den Umschlag auf und überflog die Zeilen.
»Fräulein Christie?« Er trat erregt auf sie zu. »Ist das wahr … was Sie uns hier mitteilen?« Christie sah kurz auf.
»Warum sollte ich Ihnen ein Märchen berichten?«
»Christie! Ich beschwöre Sie! Sind Sie sich der Tragweite dieser Nachricht bewußt? Ipton & Co. vor dem Bankrott? Unser Vertreter im Bunde mit den Inhabern … Ein Betrug beabsichtigt, der uns zehn Millionen kosten würde? Und Sie wissen es? Sagen Sie, wie Sie zu der Erkenntnis gekommen sind!«
Christie zuckte die Achseln. »Ich weiß es. Ein glücklicher Zufall. Ich glaubte, Ihrer Firma einen Dienst erweisen zu: können. Vielleicht war es auch das Harlessensche Blut …« vollendete sie mit Ironie.
»Christie! Christie! Alles, was Sie sprechen und tun, ja! Das ist Harlessenblut. Nie und nimmer war das ein bloßer Zufall, der Sie hiervon in Kenntnis setzte. So offen werden diese Herrschaften ihre Karten nicht spielen. Die Aufdeckung dieser Schurkerei ist Ihr Werk, Ihr Verdienst. Um wie Sie mir das geben, das ist …«
Er ergriff ihre Rechte und hielt sie trotz ihres leisen Widerstrebens fest.
»Christie … Christie Harlessen! Warum quälen wir uns!«
Er zog einen Stuhl heran und setzte sich neben sie.
»Christie, lassen Sie uns jetzt ganz sachlich reden. Alles Persönliche beiseite. Sie schreiben mir hier, daß unser Vertreter in Valparaiso die große Kobaltlieferung an Ipton & Co. trotz unseres telegrafischen Widerrufes doch zur Ausführung bringt, daß die Dampfer dafür, von Simmons Brothers gechartert, bereits in Valparaiso gelandet sind. Sie wissen auch, daß Ipton & Co. kurz vor dem Konkurs stehen … kurz, daß ein Komplott gegen uns im Gange ist, das uns unberechenbaren Schaden bringen muß.«
»Ganz recht, Herr Uhlenkort. Das wollte ich Sie wissen lassen.«
»Wieder der Ton, Christie, der so ganz anders klingt, als … Ihr Herz spricht.«
»Mein Herz? Ja! Wir wollen doch sachlich bleiben. Ich denke, jetzt handelt es sich doch darum, was zu tun ist. Fahren Sie nicht sofort dorthin?«
»Gewiß, ich muß es und … doch …«
»Warum zögern Sie? Gibt es jetzt etwas Wichtigeres für das Haus Harlessen?«
Uhlenkort starrte mit zusammengezogenen Brauen vor sich hin.
»Wichtiger? Was ist jetzt wichtiger? Wüßte ich es … Der Weg nach Süden oder der nach Norden? Nach Norden?«
»Sie könnten einen anderen schicken. Mit Vollmachten versehen.«
»Einen anderen?« Uhlenkort strich sich über die Stirn.
»… ja, könnte ich den ersten besten nehmen. Aber hier! Den Schurken wird nicht so leicht beizukommen sein. Sie würden dem, den ich schicke, Hindernisse in den Weg werfen. Ehe er sie überwunden hat, wäre es doch geschehen … wäre es zu spät! Gewiß habe ich hier in New York Verbindungen. Wen könnte ich da wählen? Wer wäre der energische, vertrauenswürdige Mann, dem ich die Sache … ?«
»Und wäre es eine Frau?«
»Eine Frau!« Er drehte sich nach ihr um und sah ihr fragend ins Gesicht.
»Eine Frau? Wie? Sie, Christie? Sie wollten? Sie wären bereit, diese nicht leichte Mission zu übernehmen?«
Christie nickte.
Er sprang auf und durchmaß den Raum. Dann blieb er kurz vor ihr stehen. Die Zweifel, die in ihm kämpften, prägten sich auf seinen Zügen aus. Christie sah es.
»Sie haben kein Vertrauen. Ich sehe es.«
»Vertrauen? Christie. Zu keinem Menschen in der Welt hätte ich mehr Vertrauen als zu Ihnen.«
Eine tiefe Röte überzog ihr Gesicht.
»Aber das ist eine Aufgabe, welche die Tatkraft eines Mannes von der größten Energie verlangt … und …«
»Tatkraft und Energie? Was wissen Sie von meinem Lebensweg mehr, als was Ihnen das Pinkerton Office sagte. Es gab da mehr als einmal Situationen, an denen ein Mann vielleicht gescheitert wäre. Meine Kräfte werden sich bei einem Werk verdoppeln, das ich unternehme … für die Firmen Harlessen und Uhlenkort.«
Er trat dicht vor sie hin. Seine Hände legten sich auf ihre Schultern.
»Christie! Ja! Du wirst es tun. Dir wird es gelingen. Ich glaube an dich! Und dann wirst du zurückkehren … zurück zu uns nach Hamburg.«
Unter dem Vorsitz des Staatschefs Harlessen waren die europäischen Ministerpräsidenten in Bern versammelt. Sorge lag auf allen Gesichtern.
Wohl hatte der Beschluß des amerikanischen Kongresses die drückende Atmosphäre, die über Europa lagerte, gereinigt. Die Panik, die Europa ergriffen hatte, war gewichen. Die Führenden aber waren damit der Sorge nicht ledig geworden. Walter Uhlenkort war es, der sie auf verborgene Gefahren aufmerksam gemacht hatte.
Er hatte eine Reihe von Verdachtsmomenten gegen die Canal Company. und gegen deren Leiter Guy Rouse vorgebracht, die, nur den Regierungsmitgliedern bekannt, diese mit neuer großer Sorge erfüllten.
Uhlenkort, der Hamburger Kaufmann, Kaufmann und Diplomat im Nebenberuf? Nein und doch ja. Seine umfassende Welterkenntnis, durch jahrelangen Aufenthalt im Auslande erworben, seine großen persönlichen Beziehungen in allen Teilen der Welt, sein kaufmännischer Weitblick, seine rücksichtslose Energie, wo es Nottat, hatten ihm einen Namen in der Weltwirtschaft erworben, in der Weltwirtschaft, die sich jetzt enger als je mit der Weltpolitik verband. Die europäische Außenpolitik hatte schon öfter als einmal den Nutzen seiner Informationen verspürt.
Seine Beziehungen zu dieser Politik waren im Laufe der Zeit immer enger geworden. Mehrfach war ihm eine amtliche Stelle angeboten worden, doch hatte er stets abgelehnt. Abgelehnt mit dem Hinweis, daß er in seiner unabhängigen Stellung dem Staat mehr nützen könne.
Er blieb der freie Kaufmann, aber er war in steter enger Verbindung mit den politischen Geschäften. Eine Stellung, die ihm ohne ausgesprochene Vollmachten eine gewisse Handlungsfreiheit gab. Eine Stellung, die bei den Eifersüchteleien der europäischen Staaten sogar offen oder versteckt manchen Protest veranlaßte, die aber durch die glückliche Hand, die er in so vielen schwierigen Situationen zeigte, immer mehr gekräftigt wurde.
Als Vertrauensmann des Europäischen Staatenbundes hatte man ihn nach Washington gesandt. In Gemeinschaft mit Vertretern der amerikanischen Regierung sollte er die von dieser angeordneten Sicherheitsmaßregeln noch einmal nachprüfen.
Um drei Uhr wurde er erwartet. Die Uhr schlug drei. Uhlenkort trat in den Raum. Nach kurzer Begrüßung seines Oheims und der Versammlung stattete er seinen Bericht ab. Die Mienen der Zuhörer begannen sich zu entspannen. Die umfassenden Vorsichts- und Kontrollmaßregeln, welche die amerikanische Regierung angeordnet und durchgeführt hatte, wirkten beruhigend.
Er fuhr fort: »Formell und äußerlich ist alles in bester Ordnung …«
Hier machte er eine Pause. Fragend ruhten die Blicke der Versammlung auf ihm.
»Ich sagte soeben: formell und äußerlich. Anders, meine Herren, ist es mit meiner persönlichen Auffassung der Sachlage.«
Seine Miene verfinsterte sich, seine Stirn krauste sich.
»Trotz allem, ich komme von jenem Verdacht nicht los …«
Im Augenblick umschwirrte ihn ein Fragengewirr.
»Es ist die Persönlichkeit des Leiters der Gesellschaft, es ist jener Mr.
Rouse, der mich nicht aufatmen läßt. Seine sprichwörtliche Skrupellosigkeit … diese geradezu zur Schau getragene Indifferenz bei den Kongreßberatungen … Die Äußerung des Kapitäns Wesserton, der mit mir die Kontrollreise machte – er ist mir seit langem persönlich bekannt und machte mir seine Mitteilungen unter vier Augen im Vertrauen –, daß die besten Meßmethoden raffinierte Nebenschaltungen nicht aufdecken könnten … das alles, meine Herren, läßt mich nicht zur Ruhe kommen.«
Die Spannung der Versammlung machte sich gewaltsam Luft.
Stimmengewirr. Erregte Fragen und Ausrufe. Für und wider. Gelassen, mit leichtem Achselzucken ließ Uhlenkort die Flut abebben.
»Den Vorwurf des Pessimismus, den mir manche von Ihnen gemacht haben, will ich gern auf mich nehmen, ich bin auch bereit, Mr. Rouse alles abzubitten, wenn …«
Eine Stunde später saß der Staatspräsident mit seinem Neffen zusammen. Noch einmal hatten sie die Lage besprochen. Dann hatte Uhlenkort über sein Zusammentreffen mit Christie berichtet.
Die Affäre in Valparaiso … die Abreise Christies dorthin mit weitgehenden Vollmachten. Ruhig hatte er die erregten Einwendungen seines Oheims angehört. Mit den Worten: Sie ist eine Harlessen, eine echte Harlessen, hatte er den Oheim schließlich gewonnen und war schließlich mit den Worten gegangen: »Deine Telegramme erreichen mich für die nächsten Tage in Spitzbergen.«
Der Tag der Sprengung war gekommen. Um elf Uhr vormittags sollte der elektrische Funke, von Washington ausgesandt, die Minen zur Explosion bringen. Es lag in der Natur des amerikanischen Volkes, daß ein solches Ereignis auch äußerlich feierlichen Ausdruck fand.
Was da geschehen konnte, war geschehen.
Zuerst der Akt der Sprengung selbst. Nach jenem geschichtlichen Vorbild der Sprengung des Höllentors im New Yorker Hafen sollte er vor sich gehen. Ein Drücken eines Kontaktknopfes durch den Repräsentanten der amerikanischen Nation, den Staatspräsidenten, sollte die Sprengung bewirken.
Die Betätigung des Kontaktes mußte die Gewalt der Explosion entfesseln. Die feierliche Handlung sollte im Hause der New Canal Company in Washington vor sich gehen. Der Staatspräsident Parker mit den übrigen Mitgliedern der Regierung war zu diesem Zweck in der zehnten Vormittagsstunde vom Weißen Haus herübergekommen.
Eine ungeheure Spannung lag über ganz Amerika … über der ganzen Welt. Der große Hauptsender der New Canal Company war in den letzten Wochen um hundert Kilometer von der Kanaltrasse weg nach Westen verlegt worden. Aber Hunderte von Leitungen führten von ihm bis zur eigentlichen Sprengzone und waren dort mit ebenso vielen Mikrofonen verbunden. Der Donner der Explosion mußte die Membranen dieser Apparate erschüttern, mußte auf diesem Wege die große Sendestation steuern. Die Millionen Radio- und Fernsehgeräte der Welt waren in der kritischen Zeit auf die Wellenlänge der Kanalstation eingestellt. In allen Städten, an allen Verkehrspunkten waren Riesenlautsprecher aufgestellt.
In allen Großstädten war von elf Uhr fünfundfünfzig Minuten bis zwölf Uhr fünf Minuten eine Verkehrspause angeordnet, um Unfälle zu vermeiden.
Ein Moment, wahrhaft historisch! Denn tatsächlich mußte diesmal das ganze Erdenrund gleichzeitig Zeuge eines weltbewegenden Vorgangs werden.
In den Staaten war die Erregung besonders groß. Sie stieg von Stunde zu Stunde. Schon lange vor dem Beginn der Verkehrspause ruhten alle Hände. Je näher die bedeutungsvolle Minute heranrückte, desto mehr verstummte jegliches Geräusch … jeder Alltagslärm. Alle Sinne waren auf das Kommende gerichtet.
»Noch fünf Minuten!« Der Staatssekretär des Äußeren hatte es mit einem Blick auf die astronomische Uhr gesagt. Einen Augenblick schwieg alles. Die Augen flogen zu dem Präsidenten, der in ein Gespräch mit Guy Rouse vertieft war. Er drehte sich um.
»Ja! Jawohl! Meine Herren … es ist soweit …«
Geleitet von Guy Rouse trat er zu dem Tisch unter der Uhr. Ein kleiner goldener Knopf harrte dort des Druckes. Alle Augen hingen an den Zeigern der Uhr. Elf Uhr neunundfünfzig Minuten. Die Blicke folgten dem Sekundenzeiger. Alle Anwesenden drängten zusammen.
Fünfundfünfzig Sekunden … neunundfünfzig Sekunden …
Guy Rouse nickte dem Präsidenten zu. Ein Zucken ging durch Austin Parkers Gestalt. Seine Augen flogen zu Guy Rouse. Eine Sekunde des Zögerns. Die Hand fuhr zum Knopf.
Ein Druck darauf!
Mit kurzem Aufatmen trat er zurück. Ehe noch ein Menschenwort die Stille gebrochen, erfüllte ein brüllender Schrei den Raum. Der Lautsprecher heulte auf, überschrie sie, ließ alle zusammenfahren.
Tobendes Krachen unaufhörlich! Machtlos jede Menschenstimme dagegen.
Unbeschreiblich die Szenen, die das Krachen der Explosion auf Straßen und Plätzen auslöste. In das Heulen der Sirenen, in den Klang der Glocken, die von allen Türmen schwangen, mischte sich das Jubeln und Schreien der Menge. Im Wettstreit damit das Brüllen von Tausenden und aber Tausenden von Lautsprechern.
Die Fernsehgeräte zeigten nur eine ungeheure Staubwolke, so daß zunächst niemand wußte, was tatsächlich geschehen war. Ein Hexensabbat … ein dämonischer Chor aller Töne, deren Menschen- und Naturstimmen fähig sind. Nur langsam ebbte die Flut ab. Stunden vergingen, bis das Leben wieder den gewohnten Gang zeigte.
Die Morgensonne des fünften April lag strahlend auf den Wäldern und Bergen der Landenge von Panama. Der Morgen jenes bedeutungsvollen Tages, an dem menschliche Tatkraft und menschlicher Erfindungsgeist dem Weltverkehr einen neuen Weg eröffnen wollten, die Fluten zweier Weltmeere in breiter Front zusammenströmen sollten.
Die Patrouillenflugzeuge der nordamerikanischen Wehrmacht umsäumten die ganze Kanalroute von Panama im Südosten bis nach Colon im Nordwesten. Seit den frühesten Morgenstunden waren über der fünfundsiebzig Kilometer langen Kanallinie fünfhundert Regierungs-Flugzeuge stationiert und hatten von Stunde zu Stunde einen immer schwereren Stand gegen die allmählich unabsehbar werdende Menge der Flugzeuge, die aus allen Teilen der Welt hier zusammenkamen.
Da waren die gigantischen Passagiermaschinen von New York, Chikago und San Francisco, von denen jedes einzelne mehrere tausend Schaulustige an Bord hatte, die nach Hunderten zählenden Flugzeuge der südamerikanischen Verkehrslinien, die heute sämtlich nur das eine Ziel hatten: den Kanal.
Indes, diese großen, dem öffentlichen Verkehr dienenden Flugzeuge machten den Wachmaschinen am wenigsten Arbeit. Ihre Kapitäne hielten sich mehr an die vorsichtigen Weisungen ihrer Fluggesellschaften als an die stürmischen und oft recht unvernünftigen Wünsche der Passagiere. So folgten sie auch strikt den Anordnungen der Regierungsflugzeuge, fünfzehn Kilometer seitlich von der Kanalroute in wenigstens acht Kilometer Höhe zu bleiben.
Viel schlimmer waren die so überaus zahlreichen Privatflugzeuge mit Foto-, Film- und Fernsehreportern der ganzen Welt an Bord. Die kümmerten sich um keine Anordnung irgendwelcher Stellen und schlugen den Patrouillenflugzeugen bei jeder Gelegenheit ein Schnippchen. Eben von einer Stelle verjagt, tauchten sie wenige Minuten später schon wieder mitten in der Gefahrenzone auf, nur darauf bedacht, möglichst viel zu sehen, zu erhaschen und aufzunehmen.
Nach dem bekannt gegebenen Programm sollte die Sprengung in der Mitte des Isthmus einsetzen und dann etappenweise nach beiden Seiten weitergehen, so daß in hundertfünfzig Minuten alle Etappen von Panama bis Colon gesprengt sein mußten. Auf dieses Programm beriefen sich die Reporter und Fotografen. Auf keine Weise wollten sie sich beibringen lassen, daß schon jetzt die ganze Strecke der Kanaltrasse freizuhalten sei. Es bedurfte der schärfsten Maßnahmen seitens der Wachflugzeuge, um die befohlenen Absperrungsmaßregeln durchzusetzen. Erst als der Führer der Patrouillenflugzeuge sich zum Äußersten entschloß und zu feuern begann … erst blind, dann scharf … als ein paar Reportermaschinen flügellahm beidrehten und niedergehen mußten … erst als die allzu Neugierigen begriffen, daß sie gar nichts sehen und ihre Maschinen verlieren würden, wenn sie den Anordnungen der Regierungs-Flugzeuge nicht Folge leisteten … erst dann gelang es, Ordnung in die Massen zu bringen.
In dichten Bändern zogen sich nun die Luftfahrzeuge zu beiden Seiten der Kanaltrasse im vorgeschriebenen Abstand von einem bis zum anderen Ozean. In weiten Halbkreisen lagen viele Hunderte von Wasser- und Luftfahrzeugen vor Panama und Colon auf der See.
Die Stunden verrannen darüber. und immer näher rückte die bedeutungsvolle Minute heran, in der Austin Parker in Washington auf den Knopf drücken sollte, in der das Feuer in die Minen fliegen mußte, die hier kilometertief in den Eingeweiden des Urwald bewachsenen Isthmus steckten.
Einen vorzüglichen Ausblick hatten die Passagiere der »Empire Company«, des größten New Yorker Flugzeugs, das in zwölf Kilometer Höhe östlich von der Kanalroute stand. Von Bord der »Empire Company.« aus sah man im Norden den tiefblauen Spiegel des Karibischen Meeres, im Süden die Azurfluten der Bay von Panama.
Zwischen beiden Meeren den Isthmus. Wälder von tropischem Grün, dazwischen die roten und grauen Zacken der Höhen von Culebra. Und dann die Überreste des alten Kanals. Wasserstreifen, unterbrochen von Felsstürzen, über die stellenweise schon wieder der Urwald hinwegwucherte: die Trümmer der großen Gatunschleuse, die im Anfang des Jahrhunderts als Weltwunder gepriesen wurde. Wo sich damals der große Stausee hinter den Schleusen ausdehnte, stand jetzt ein üppiger Palmenwald.
Sah man, wie erbarmungslos der vulkanische Boden des Isthmus dem alten Kanal im Laufe der letzten Jahrzehnte mitgespielt hatte, so konnte man es den Amerikanern kaum verdenken, daß sie hier ganze Arbeit machen und einen neuen Kanal schaffen wollten, der gegen alle unterirdischen Kräfte gefeit sein sollte.
Der Zeiger rückte weiter. Fünf Minuten vor zwölf. Die Passagiere der »Empire Company.« drängten sich an die Fenster, verglichen die Uhren, starrten wie hypnotisiert auf die Mitte der Landenge.
Vier Minuten vor zwölf … drei Minuten vor zwölf … Ein letztes Mal jagten die Patrouillenmaschinen die Fronten der Luftflotte entlang.
Eine Minute vor zwölf … dreißig Sekunden vor zwölf.
Ein Sturmstoß faßte die »Empire Company.« und warf das riesige Flugzeug wie ein dürres Lindenblatt hin und her. Ein Sturmstoß wirbelte die ganze gewaltige Flotte zu beiden Seiten der Sprengung wie einen Haufen welker Blätter durcheinander. Patrouillenmaschinen stürzten ab.
Wer sich an Bord der »Empire Company.« nicht an Griffen festgeklammert hielt, wurde zu Boden geschleudert.
Diejenigen, die noch sehen konnten … sahen, wie die ganze Trasse von Colon bis Panama sich gleichzeitig hob … wie die Urwälder dort unten wie wilde See wogten … wie die Erde zubersten schien. Feurig rot flammte es einen Moment auf der ganzen Linie aus den wogenden, steigenden Wäldern. Das Land schien Land in den Äther zu speien. Bis in Meilenhöhe wurde das zerrissene Eingeweide des Isthmus empor geworfen, ein grausiges Gemenge zerschmetterter Felsmassen und zerfetzten Urwaldes.
Breit und fächerförmig fiel die gehobene Masse wieder nach beiden Seiten zurück, eine mächtige Rinne an der Stelle zurücklassend, an der sie aufgestiegen war. Und im Niederstürzen eine Staubwolke verbreitend, die den Blicken der Schaulustigen alles Weitere verhüllte … selbst wenn sie noch fähig gewesen wären, weiter zu schauen.
Denn jetzt erreichte der erste Donner der Explosion die Höhe der Flugzeuge. Ein Schall, dessen Art und Wirkung sich nicht mit Worten wiedergeben läßt. Vierundsiebzig Sekunden nach zwölf Uhr erreichte der Donner die »Empire Company«. Man hatte sich an Bord vorgesehen. Die Passagiere hatten Watte in den Ohren und starrten mit offenem Munde auf die Vorgänge in der Tiefe.
Aber trotz dieser Vorsichtsmaßregeln war die Wirkung der enormen Schallwellen fürchterlich. Alle entsetzten sich … erschraken bis ins innerste Mark. Fast alle erblaßten, und viele stürzten besinnungslos zu Boden. Denn dieser schmetternde, nervenzermalmende Explosionsdonner hörte nicht auf. Mit beinahe unverminderter Stärke hielt er nach dem ersten Einsetzen minutenlang an. Von der ganzen Länge der Kanaltrasse über eine Entfernung von beinahe zehn Meilen her drang der gräßliche Ton zu den einzelnen Flugzeugen, zermarterte viele Minuten lang die Nerven der Insassen.
Bis er endlich nachließ, nur noch grollte wie ein abziehendes Gewitter … leiser und leiser wurde, bis er endlich verstummte … bis die Herzen und Sinne der Zuschauer wieder freier wurden. Und dann erkannten sie, was geschehen. Zehntausende hatten im gleichen Moment den gleichen Gedanken.
Bei Gott, es ist alles auf einmal gesprengt! Der ganze Isthmus ist auf einmal in die Luft geflogen! Wie wird das enden? Wie wird das werden?
Noch versperrte die ungeheure, von Panama bis Colon reichende Staubwolke jede Sicht. Nur das war sicher … war allen, die das gigantische Schauspiel mit angesehen hatten, unumstößlich klar: Mit einem Schlage waren alle Minen von Panama bis Colon aufgeflogen.
Ein neuer Ton drang in die Lüfte. Ein fernes Rauschen und Brausen zuerst. Immer gewaltiger, dann … zischend und donnernd zuletzt.
Der Niagara … Nein! Nein, viel lauter, viel gewaltiger. So sprachen diejenigen unter den Passagieren, die einmal an den Fällen gewesen waren, das gewaltige Schauspiel des Stromes gesehen hatten, der sich dort in tausend Meter Breite fünfzig Meter in die Tiefe stürzt. O nein … nein, nein! Viel schlimmer … viel fürchterlicher als der Niagara.
Ein Sturmwind schien gleichzeitig von beiden Meeren her auf den Isthmus loszufahren. Er zerfetzte die dunstige Staubwolke, schuf freie Sicht – und sie sahen. Da lag die ungeheure Rinne, die von der Gewalt des Sprengstoffes mit einem Schlage in den Leib der Landenge gerissen war. Über die ganze Länge ziemlich gleichmäßig drei Kilometer breit, in der Mitte mehrere hundert Meter tief.
Jetzt begriff auch mehr als einer unter den Zuschauern, welchen Vorteil die Sprengung mit einem Schlage für sich hatte. Wären die Minen hintereinander gesprengt worden, so hätte jede Etappe einen Trichter ausgeworfen. Das Kanalbett hätte eine zusammenhängende Reihe derartiger Trichter gebildet und hätte noch mancher Baggerarbeit bedurft, um ein vollständiges Kanalbett zu schaffen. Dadurch aber, daß der atomare Sprengstoff die ganze Masse mit einem Schlage auswarf, war dieses überall gleich breite und gleich tiefe Kanalbett entstanden.
Fast wie mit der Reißfeder gezogen nahm es sich für die Passagiere der »Empire Company.« aus.
Ein ungeheurer Graben, in den von beiden Seiten her die See mit der hundertfachen Gewalt der Niagarafälle hineinbrach. Das waren die Quellen dieses neuen, brausenden Donners. Zwei schäumende, strudelnde Wasserwände, die von Panama und von Colon her mit Fluggeschwindigkeit in die Rinne hineinjagten. Sturm lief vor ihnen her.
Bäume, von der ersten Explosion verschont, zerbrachen wie Glas.
Felsbrocken von der Größe eines Hauses kamen in Bewegung, liefen wie die Kegelkugeln daher, bis sie von den dahinjagenden Wassermassen ergriffen, überschüttet und verschlungen wurden.
Glasig grün und schäumend weiß jagte die See den einbrechenden Frontwellen nach. Es waren Wetten abgeschlossen worden … viele Wetten … hohe Wetten, wer zuerst den neuen Kanal befahren würde.
Keiner von den Wettern gewann. Ein anderes, unbeteiligtes Fahrzeug vollbrachte die Tat … wider den Willen seines Führers und seiner Besatzung. Eine große Jacht lag in der Bucht von Panama vor Anker.
Diese packte der Strom der in den Kanal einbrechenden See. Einen Augenblick strafften sich die Ankertrossen, spannten sich, klangen hell auf und zerrissen. Das weiße Schiff lief mit dem Strom … lief schnell und immer schneller und schoß in die Rinne hinein … Wie ein Pfeil schoß es dahin … und langsam … langsam, aber unaufhaltsam, kam es der brechenden Frontwand immer näher.
Die Passagiere auf der »Empire Company.« hielten den Atem an. Auf die Minute ließ sich voraussagen, wann die vorströmenden Wasser die hilflose Jacht bis an die vor ihr herjagende Frontwelle herangezogen haben würden … wann das Schiff vierhundert Meter tief auf den nackten Fels des noch ungefüllten Kanalbettes hinabgeschleudert und in Atome zerschmettert werden würde … Da trafen die Frontwellen, die von Colon und von Panama her vier Meilen in sechzehn Minuten zurückgelegt hatten, zusammen …
Kochende See bis zum Himmel! Ein Wasserberg türmte sich auf, stieg hoch über das umgebende Land, überflutete in unhemmbarem Schwall weite Uferflächen … und dann stand die See. Atlantik und Pazifik standen gegeneinander wie zwei Ringer, die in mächtigem Ansprung aufeinander gestoßen sind und nun ihre Kräfte messen.
Das Tosen und Brausen der Wassermassen klang ab. Ruhig wurde die Luft, und ruhig, scheinbar ruhig auch die See. In breitem, blinkendem Spiegel füllte sie das neue Kanalbett der ganzen Breite und Länge nach.
Die Zuschauer in den Lüften hätten keine Bewegung mehr gemerkt, wenn nicht jene Jacht, dieses im letzten Augenblick dem Rachen des Todes entgangene Fahrzeug, in mäßiger Fahrt auf Colon zu durch den neuen Kanal getrieben wäre.
Die Flut im Atlantik gewann die Oberhand und erzeugte eine merkliche Strömung von Panama nach Colon.
Die in den Lüften sahen die Fahrt der geretteten Jacht, und nun stürzte es sich von allen Seiten her auf die Fläche des neuen Kanals.
Flugzeuge … große und kleine Schiffe … in wenigen Minuten war die Wasserfläche bedeckt, und alle Versuche der Patrouillenboote, es zu hindern, waren vergeblich.
Man sah ja, es war alles gut gegangen … Trotz der Sprengung der ganzen Kanallinie in einer einzigen Etappe war nichts passiert. Alle Bedenken der Sachverständigen waren grundlos gewesen. Der Kanal war da, der alte Isthmus, seit Jahrtausenden von Erdbeben und Vulkanausbrüchen mißhandelt, hatte auch diese letzte Mißhandlung, die gleichzeitige Explosion der Masse atomaren Sprengstoffs, ertragen, und die Zuschauer waren bei diesem Schauspiel voll auf ihre Kosten gekommen … mehr jedenfalls, als wenn man etappenweise gesprengt hätte.
Das donnernde Dröhnen aus dem Fernsehgerät war verklungen, der Bildschirm zeigte eine undurchdringliche Staubwolke, die sich nur ganz langsam verzog. Der gemarterte Apparat hatte hergegeben, was die überanstrengten Röhren herzugeben vermochten, und es war zweifellos eine menschenfreundliche Tat, daß ein Ingenieur der Kanalgesellschaft auf einen Wink von Guy Rouse abschaltete und Ruhe im Saale schuf.
Noch stand Austin Parker, der Präsident der Union, benommen von diesem Dröhnen und Tosen, das doch nur einen winzigen Teil jenes Donners darstellte, den die Sprengung am Isthmus erzeugt haben mußte.
Guy Rouse trat auf den Präsidenten zu und reichte ihm Selbst ein Glas Sekt, hielt ein anderes in der Hand, erhob es und sprach zum Präsidenten, zu den Staatssekretären, zu den Herren der New Canal Company.
»Herr Präsident! Meine Herren! Ich erhebe mein Glas und bitte Sie, mit mir anzustoßen und zu trinken auf das glückliche Gelingen unseres Werkes … jenes großen, die Völker, Länder und Ozeane verbindenden Werkes, dessen erste Etappe nun glücklich vollendet ist. Wir haben den Donner der Explosion hier vernommen und die gewaltige Sprengwolke gesehen. Mit Lichtgeschwindigkeit sind Klang und Bild zu uns gekommen und haben uns erzählt, daß der Sprengstoff seine Arbeit begonnen, auf der ersten Etappe vollendet hat. Nach diesem ersten Schritt habe ich keinen Zweifel mehr, daß auch die Sprengung der weiteren Etappen glatt verlaufen wird. Auf das Wohl des neuen Kanals, meine Herren!«
Mr. Rouse brachte sein Glas an die Lippen und veranlaßte durch sein Beispiel die anderen Herren, das gleiche zu tun.
Guy Rouse sprach weiter:
»Herr Präsident! Meine Herren! Die Sprengung der anderen Etappen nimmt, wie Sie wissen, geraume Zeit in Anspruch. Darf ich Sie bitten, auf einen kleinen Imbiß Gäste der New Canal Company zu sein.«
Noch während er sprach, öffneten sich geräuschlos die Flügel-Türen zum neben liegenden Raum. Eine weiß gedeckte Tafel im Schmuck von Kristall und Silber. Die auserlesensten Delikatessen der Jahreszeit. Nach den Aufregungen der letzten Viertelstunde kam seine Einladung nicht unangebracht.
Man setzte sich, man griff zu und suchte die durcheinander gewirbelten Nerven mit körperlicher Stärkung wieder in Ordnung zu bringen.
»Gott sei Dank«, sagte der durch seinen Sarkasmus bekannte Staatssekretär des Äußeren. »Gott sei Dank, daß der Fernseher schon beim ersten Mal in Stücke gegangen ist. Wir verzichten auf das Vergnügen, einen anderen hinzustellen und den Skandal noch einmal zu hören.«
Das kalte Lächeln um Guy Rouses Lippen verschärfte sich.
»Ganz meiner Meinung, Herr Staatssekretär, auf Ihr Wohl!«
Auch die Züge des Präsidenten Parker gewannen allmählich die alte Ruhe wieder.
Da schrillte das Telefon.
»Mitteilung aus dem Weißen Hause für den Herrn Staatspräsidenten.
Nachricht von den Patrouillenflugzeugen …
An die Regierung:
Die ganze Kanaltrasse auf einmal gesprengt, von Colon bis Panama alles in die Luft geflogen!«
Starr wurden die Gesichter der Regierungsmitglieder. Totenblässe überzog die Züge Austin Parkers. Es dauerte Minuten, bis er sich sammelte und wieder sprechen konnte.
»Unmöglich … Wie konnte das geschehen! Undenkbar … unglaublich … Die Folgen werden … können entsetzlich sein … ich lehne jede Verantwortung ab. Wie konnte das geschehen, Mr. Rouse?«
Guy Rouse war aufgesprungen und trat auf den Präsidenten zu. Fest und laut klangen seine Worte durch den Raum: »Herr Präsident! Die Sprengung ist gemäß den Befehlen der Regierung angeordnet und ausgeführt worden. Zeugen dafür sind vorhanden. In erster Linie der Chefingenieur Smith, der den Befehl erhalten hat. Ich schlage vor, ihn hierher kommen zu lassen. Die einzige Erklärung, die ich für das sonst unerklärliche Vorkommnis habe, ist die, daß der Druck der explodierenden Minen auch die Nachbaretappen zur Explosion gebracht hat.
Sie erinnern sich, meine Herren, daß einige Sachverständige auch derartige Befürchtungen ausgesprochen haben, die wir – ich möchte jetzt sagen leider – als zu abwegig unbeachtet ließen. Wie lautete die Nachricht? Die ganze Trasse auf einmal gesprengt! Ich sehe in diesen Worten keinen Grund zur Beunruhigung. Die Nachricht besagt nur, daß die Sprengung auf einmal erfolgt ist. Kein Wort davon, daß die schlimme Befürchtung, die man an die gleichzeitige Sprengung knüpfte, eingetreten ist.«
Er machte eine wegwerfende Bewegung.
»Jene lächerlichen Befürchtungen europäischer Gelehrter! Die nächsten Minuten werden uns Gelegenheit geben. Warten wir es ab!«
Ein gedrücktes Schweigen, anstatt einer Antwort. Der Präsident stand in flüsternder Unterhaltung mit dem Staatssekretär des Äußeren.
Niemand schien die Sorglosigkeit von Guy Rouse zu teilen.
Minuten vergingen. Der lastende Druck erreichte den Höhepunkt. Die Nerven aller zum äußersten gespannt. Die nächste Nachricht? Da! Ein neues Signal. Fernsprechnachricht, direkt vom Kanal an die Gesellschaft:
»Alles gut verlaufen! Kanal gefüllt! Befürchtetes nicht eingetreten!«
Das alte Lächeln war wieder auf Guy Rouses Gesicht, gab seinem Antlitz das Gepräge zufriedener Heiterkeit. Er sprang auf, wollte sprechen.
Ein neues Signal! Telefonnachricht an die Regierung von den Patrouillenflugzeugen. Die gleiche Nachricht, die soeben von der Kanalverwaltung gekommen war.
Strahlendes Lächeln lag jetzt auf seinem Gesicht. Er ergriff sein Glas und erhob sich.
»Meine Herren! Da haben wir’s! Unnötig alle Angst und Sorgen! Im Gegenteil! Ich weiß nicht, ob ich den Zufall, der hier gewaltet hat, glücklich oder unglücklich nennen soll. Dem amerikanischen Volke, der amerikanischen Volkswirtschaft sind große Kosten – etwa fünf Milliarden Dollar – erspart worden. Diese europäischen Befürchtungen, daß der Mückenstich unserer Sprengung den ganzen Isthmus zerreißen könnte, sind durch die Ereignisse widerlegt, sind hinfällig. Glänzend gerechtfertigt stehen unsere amerikanischen Gutachter da.
Meine Herren, ich trinke auf den glücklichen Zufall und seine glücklichen Folgen. Ein Werk von weltgeschichtlicher Bedeutung ist geschaffen!«
Uhlenkorts Hand tastete an die Mauer des alten Leuchtturms, klammerte sich an die verwitterten Quadern. Beruhigung schien von den kalten Steinen auszustrahlen, auf ihn überzugehen.
Kaum drei Stunden war es her, daß das Flugzeug, in dem er nach Spitzbergen kam, die Nachricht auffing: Die ganze Kanaltrasse auf einmal gesprengt. Von Colon bis Panama alles in die Luft geflogen.
Da war er aufgesprungen, von Schrecken, von Entsetzen gepackt, war in den Empfangsraum geeilt, hatte in höchster Erregung der weiteren Meldungen geharrt. Bis dann die zweite, die erlösende Nachricht kam: Alles gut verlaufen. Das Befürchtete war nicht eingetreten.
Erlösend? War diese Nachricht wirklich erlösend? Einen Augenblick ja! Dann waren die Zweifel gekommen. Was hatte er gesagt? Er, zu dem er jetzt eilte? Er, vor dessen Heim er jetzt stand? Die eine Hand an den Quadern, die andere an dem Eisengeländer, stieg er die Stufen zu der Eingangspforte empor wie ein müder, kranker Mann. Der alte Invalide wies ihn den Turm hinauf zur Laterne. Ein langer Weg über zweihundert Stufen. Und dann stand er oben, stieß die Tür zurück. Sein Blick flog suchend durch das Gewirr der Apparate und Instrumente, die den Raum füllten.
Da saß der, den er suchte, ihm halb den Rücken kehrend. »Du bist es?
Ich erwartete dich. Eine kleine Weile, und ich bin fertig.«
Uhlenkort stand an der Tür. Seine Blicke hingen an der gebeugten, zusammen gekrümmten Gestalt. Als wäre es ein Zauber, der von dieser ausging, fühlte er sein Herz leichter werden. leichter mit jedem Pulsschlag. Und dann richtete der Mann sich auf, wandte sich ihm zu, sah ihn einen kurzen Moment an. Diese Augen … zwingend … bannend … befreiend … erlösend. Die schmale weiße Hand ausgestreckt, trat er auf ihn zu.
»Walter! Du kommst. Ich wußte es. Ich freue mich.«
Ihre Hände lagen ineinander, und unter dem leisen Druck dieser Hand fühlte Uhlenkort, wie der letzte Rest der quälenden Spannungen von ihm wich. Fest umklammerten seine Finger die des anderen.
»Johannes! Ja, ich komme zu dir, schwere Sorge im Herzen. Und jetzt, da ich bei dir bin, dich sehe, deine Hand fühle, schwindet die Last … diese fürchterliche Last …«
Sie saßen sich an dem großen Fenster gegenüber, das freien Blick nach Süden gab.
»Der Kanal ist auf einmal gesprengt. Du hörtest es vor drei Stunden.
Was du befürchtetest, es ist geschehen …«
»… der Schurkenstreich Rouses!« vollendete Uhlenkort.
»Er wird nicht lange mit der Ausrede warten lassen, es wäre durch blinden Zufall geschehen. Die dunkle Ahnung, die ich immer hatte, sie wurde stärker, immer stärker, je näher wir der Sprengung kamen. Trieb mich hierher … zu dir, noch bevor es geschehen.«
»Du …« Seine Hand fuhr dem anderen entgegen. »Du, sag es mir …
Was wird nun kommen? Auch die andere Kunde vernahm ich, daß alles gut verlaufen sei, daß das Befürchtete nicht eingetreten ist. Wie mögen da Millionen von Menschen aufgejubelt haben, welche die erste Nachricht in Todesangst versetzte. Auch ich … ich, der ich an dich glaube … ich hörte die Nachricht, versuchte, mich an sie zu klammern, mich durch sie zu befreien … und vermochte es nicht.«
Und als ob die Sorgen und Qualen der letzten Stunden wieder auf ihn einstürmten, sank er zurück und deckte die Augen mit der Hand.
»Johannes! Ich verzweifle … Sag es mir! Was wird nun kommen?«
Jener saß und starrte durch die Scheiben über die weite, graue Fläche des Nordmeeres. Seine Blicke schienen, gelöst vom Körper, in weiter Ferne zu suchen … zu fragen. Die Strahlen des roten Sonnenballes brachen sich in den gewölbten Scheiben, warfen einen flackernden Schein auf das Gesicht des Mannes. Minuten verrannen. Zeitlos – wunschlos schien alles um Uhlenkort zu werden.
Da fühlte er, wie eine Hand sich auf seine Schulter legte, wie ein Kopf sich zu seinem Ohr neigte, wie ein Mund zu ihm sprach.
Er hörte die Worte, die so schrecklich waren und ihn doch nicht zu treffen schienen, die so Fürchterliches vor seinem Auge malten und doch sein Herz still ließen. Und Uhlenkort stand neben ihm, an jenem blitzenden Instrument, an dem der Mann vorher gesessen, als er eintrat.
Der beugte sich darüber, bewegte Hebel, Schrauben und Schalter und warf einen Blick auf die große Uhr.
An der Nordwand blitzte es kurz über eine dunkle Fläche. Wieder beugte sich das Haupt des Mannes zu dem Tisch. Die Lippen murmelten leise Worte. Das Instrument drehte sich leicht zur Seite.
»Jetzt! Du wirst hier sehen, was dort geschieht, und doch an mich glauben!«
Dann war es, als ob das Dunkel des Raumes ihn verschlungen hätte.
Uhlenkort stand allein und starrte auf die Wand, die Mattscheibe, auf die ihn J. H. gewiesen. Ein bleicher Schimmer flog darüber, wurde heller und immer heller, zeigte Farben, zeigte Konturen. Blaue Flächen … grüne Wälder … fahrende Schiffe … dahin ziehende Flugzeuge.
»Der Kanal!« Uhlenkort schrie es. »Der Kanal!«
In der Sekunde, in der das Bild erstand, hatte sein Auge es begriffen.
Seine Blicke flogen über die Fläche hin. Da war es. Das Bild, das er im Geiste trug, seitdem er jene erste Kunde vernahm. Die beiden Ozeane links und rechts. Das breite, glitzernde Band, das von dem einen zum anderen ging. Die Felsen und Berge. Die Wälder und Hänge an den Seiten.
Wie Nußschalen groß die Schiffe, die aneinander vorbei von Ozean zu Ozean strebten. Das lachende Spiel der Flugzeuge, die zum Wasserspiegel hinuntergingen, schwammen und mit triefendem Kiel wieder empor flogen. Und dann … das Bild verschob sich. Nur der nördliche Teil des Kanals mit der Küste bei Colon lag vor ihm. Größer, jetzt deutlich, fast greifbar sah er das Bild. Ein großes Schiff bog um die Küste, fuhr in den neuen Kanal. Die Passagiere jubelten, schwenkten Tücher. In der Maiensonne strahlten die Fluten, leuchteten die grünen Wälder zu beiden Seiten des Kanals.
Da! Bei Colon war es, dicht an der Mündung des Kanals. Ein Schwanken, ein Zittern ging durch das Land. Es bebte … es hob sich.
Verschwunden war das Schiff. Ein dichter weißer Nebel …
Wasserdampf verbarg es. Zu bersten schien die Erde. Himmelhoch flogen gewaltige Felsmassen empor. Unendliche Mengen von Land und Gestein, gemischt mit siedendheißem Wasserdampf … und jetzt feurige Lohe aus den dichten Dampfnebeln. Ein Vulkan hatte sich aufgetan, spie und schleuderte unablässig Land, Dampf und Wasser zum Himmel.
In wilder Flucht retteten sich die Schiffe, die dem wahnwitzigen, unausdenkbaren Ausbruch der Naturkräfte entronnen waren. Sie flohen nach Süden den Kanal entlang. Sie flohen nach Norden in die Karibische See.
Das Bild verschob sich. Und dann … Schrie er … oder war’s sein Herz?
Ein neuer Ausbruch … ein neuer Vulkan. Da, wo die hohen Berge von Culebra an den Kanal herantraten. Und jetzt, nach dem Höllenschauspiel des zweiten ein dritter, ein noch gewaltigerer Ausbruch in dem Südende des Kanals. Ein Ausbruch, der die Stadt Panama in wenigen Sekunden hinwegfegte, in eine Masse fliegender Steintrümmer verwandelte.
Und dann schienen diese drei Ausbruchstellen zu einer einzigen zusammenzuschmelzen. Eine Feuer speiende, unendliche Dämpfe ausstoßende Spalte war dort, wo vor Kurzem die Fluten des neuen Kanals von Ozean zu Ozean gingen. Wasser und Feuer waren zusammengetroffen, kämpften, schufen Dampf, höchstgespannten Wasserdampf in unendlichen Mengen und von unendlicher Sprengkraft.
Der Isthmus zerriß. Zerriß bis in die tiefsten Tiefen des Grundes. Breit und immer breiter klaffte der ungeheure Spalt, aus dem Feuer und Dampf in wildem Durcheinander zum Himmel stiegen. Weiß wallender Wasserdampf, grauer Qualm dazwischen, dunkel und immer dunkler.
Verschwunden war der lachende Himmel.
Die Finsternis der Nacht lag über dem reißenden und berstenden Isthmus. Finsternis, nur durchbrochen von dem zuckenden Feuer-Streifen von Colon bis Panama.
Uhlenkort stand starr, alle Kräfte des Körpers und Geistes zum Zerreißen gespannt. Seine Augen hingen an den Bildern des Schreckens.
Vergessen war alles, was der andere ihm weiter gesagt. Er fühlte, wie seine Kräfte schwanden, je weiter das Unglück vorschritt, wie seine Knie ins Wanken gerieten, wie er schwankte, wie eine unsichtbare Hand ihn auffing.
Er lag auf einem Ruhebett. Eine Hand strich über seine gequälten Augen. Die Lider schlossen sich. Doch sein Geist blieb wach, sah ohne Wand … ohne leuchtende Mattscheibe, was weiter geschah … in den nächsten Stunden und Tagen.
Der Isthmus riß, riß immer weiter auseinander. Wie schwingende Federn vibrierten die beiden auseinander gerissenen Enden, zitterten unter dem Kampf der unterirdischen Mächte.
Riesengewalten zerrten und rüttelten an dem gemarterten Leibe des Isthmus. Er bebte und spie Feuer von Nicaragua bis Columbia. Und immer neue Massen schleuderte die unterirdische Gewalt zum Himmel empor.
Wie wilde See wellte das Land. Berge fielen um. Wälder stürzten wie Kornhalme unter der Sense des Schnitters. Flußtäler verschwanden, ihr Wasser hierhin und dorthin ergießend. Riesenspalten rissen auf.
Menschen zu Tausenden verwundet, erschlagen … die Überlebenden in sinnloser Flucht umherirrend. Immer breiter wurde die Feuer speiende Spalte. Schon längst kein Kanal mehr. Eine breite, mächtige Bahn jetzt, in der das Seewasser kochte und immer wieder mit Feuer vermischt zum Himmel empor geworfen wurde. Bis endlich die Nacht wich, bis die dunklen Wolken sich verteilten, bis es lichter wurde. Und dann war es ihm, als ob sein Auge über Welten und Meere ging. Der Golfstrom! Da kam er her aus den Breiten des Südens. Er sah ihn an der brasilianischen Küste entlang gleiten, sah ihn hineinfließen in den Golf von Mexiko, den Golf, der ihm den Namen gab, sah ihn sich scharf nach Osten zurückwenden … nein, jetzt brach er sich, bog ab … nein, er folgte der alten Westrichtung, die jetzt kein Hindernis mehr sperrte.
Die Wasser des Stromes stockten, stauten sich, wie sich besinnend, und fuhren durch die offene Sperre in das ihnen bereitete neue Bett.
Er sah sie den Weg nach Westen nehmen, Wärme und Leben in das stille Weltmeer tragen. Seine Sinne wollten schwinden. Sein Auge ging nach Norden. Hinauf zu den lachenden Fluren Schottlands, zu den grünen Wäldern Norwegens und nach Spitzbergen. Er sah sie erstarren, veröden in Frost und Eis. Zusammensinken in Trümmer … menschenleer. Stätten des Todes, des Grauens. Hamburg, die Heimat!
Ein Schrei … sein Herz stieß ihn aus.
Und dann waren es wieder die kühlen, linden Hände, die ihn umfingen, über seine heiße Stirn gingen, ihn befreiten von den Schreckensbildern. Er wachte auf. Seine Hände hielten die des anderen umklammert, zogen sich hoch an ihnen. Seine Augen sahen dessen Augen.
»Johannes! Du! Was war das? War’s Traum, war’s …«
Er fühlte, wie der sich neben ihn setzte, wie dessen Hand seine umfasste.
»Es war Wirklichkeit, was du sahest. Es war das, was kommen wird, kommen muß. Die nächsten Stunden, Tage, sie werden es bringen, wenn … wenn …«
Als ob eine fremde Hand ihm den Mund verschlossen, brach er jäh ab.
Seine Hand suchte Uhlenkorts Hand.
Langsam sprach er weiter.
»Du sahst es und glaubst doch an mich. An meine Mission, die ein Schicksal mir gab. Ein Schicksal, das es auch wollte, daß deine Augen mehr sahen. Das dir einen Teil der Last, einen kleinen Teil der Last auflud.«
»Johannes! Was wird geschehen? Was wird folgen? Wie wird sich das Schicksal der Millionen gestalten, die das Unheil trifft? Schrecken …
Verzweiflung … Untergang für viele Tausende … Ist es unvermeidlich?«
»Das Schicksal will es. Das Schicksal, dasselbe Schicksal, das Rettung bringt für …«
Die Massen, die sich auf Straßen und Plätzen der amerikanischen Städte vor den Lautsprechern und Fernsehgeräten drängten, begannen sich zu zerstreuen. Noch spiegelte sich in Worten und Gebärden die Erregung der letzten Stunden wider.
Der ungeheure Knall der Explosionen, der, tausend Membranen zerbrechend, den Jubel von Millionen hervorrief. Die Schreckensnachricht: Alles auf einmal in die Luft geflogen! Und dann zuletzt: Alles in Ordnung! Die Ozeane vereint. Die ersten Schiffe auf der Fahrt durch den neuen Kanal.
Immer weitere Nachrichten waren in den nächsten Stunden gefolgt.
Aber sie vermochten nichts Besonderes mehr zu bringen. Das Straßenbild gewann das alte Aussehen. Da, um die vierte Stunde! Im Nu stauten sich die Mengen.
Was war es, was die Lautsprecher schrieen?
»Vulkanausbruch bei Colon! Colon zerstört! Kanal gesperrt!
Ungeheure Todesopfer!«
Mit bleichen Gesichtern, stumm hörte die Menge die Nachrichten, die sich überstürzten, immer neue, größere Schrecken meldeten. Die Menschenmasse wuchs von Minute zu Minute. Gesperrt war jeder Verkehr. Neue Nachrichten:
»Riesenvulkan bei Culebra … Der ganze Kanal ein Feuer speiender Schlund … Panama verschlungen … Der ganze Isthmus in Bewegung geraten … zerstört …«
Die Fernsehbilder zeigten Verwüstungen unfaßbaren Ausmaßes. Dann nur noch abgerissene, verstümmelte Nachrichten. dann Schweigen.
Die Menge stand und wich nicht. Allmählich ein Summen, ein Brausen. Die Lippen gewannen die Sprache zurück. Immer wieder der Name der Kanalgesellschaft und ihres Präsidenten. Ein einziger Schrei der Verwünschungen zuletzt.
Und Fragen dann … Der Golfstrom? Europa? Was?
Wie in den Staaten geschah es auf der ganzen Erde. Hunderte von Millionen hörten es, das Ungeheure, hörten und entsetzten sich.
J. H … Der magische Mann, die mystische Gestalt … jetzt war sie überall.
In einem stillen Seitental der Sierra Nevada lag der fürstliche Sommersitz Rouses. In einem kühlen Nordzimmer, geschützt vor den glühenden Strahlen der kalifornischen Sonne, lag Juanita auf einem Ruhebett. Das Antlitz noch bleicher als sonst. Die umschatteten Augen halbgeschlossen. Die schmalen weißen Hände ruhelos auf der Seidendecke, die ihre Gestalt einhüllte.
Ein leichtes Hüsteln kam ab und zu von ihren Lippen. Die Ärzte hatten sie hierher geschickt, obwohl Rouse widerstrebte. Die Krankheit, von der sie sprachen, war ihm nichts als eine vorübergehende Unpäßlichkeit, verursacht durch die anstrengenden Reisen der letzten Wochen. Juanita wußte es besser. In Kapstadt, da geschah es zum ersten Male, als sie nach jene Zusammentreffen mit Tredrup allein in ihrem Zimmer war.
Ein ungekanntes Schwächegefühl hatte sie taumeln lassen. Ein heftiger Schmerz hatte ihre Brust zusammengekrampft. Stundenlang hatte sie gelegen, bis der Anfall überwunden war.
Am nächsten Morgen war sie abgereist. Die frische Seeluft über dem Atlantik hatte ihr die alte Spannkraft wiedergegeben … scheinbar … es war wiedergekommen … stärker. Bis sie nach der Rückkunft von Montegna in ihrem Heim zusammenbrach. Und nun war sie hier, nur mit Widerstreben von Guy Rouse freigegeben.
Wie lange würde sie hier bleiben können? Wie lange würde er sie hier lassen? Nur zu deutlich hatte er ihr gezeigt, wie schwer er sie entbehrte.
Er? Sein Herz? Nein! Sein Geist, dessen Werkzeug sie war …
Willenlos?!
Was war es, was sie an ihn fesselte? Liebe? Hass? Der Rausch, in den er sie damals versetzte, war nur allzu rasch verflogen. Bald mußte sie fühlen, daß er gesättigt war, daß seine Augen nach anderer Schönheit suchten. Ihr Stolz hatte sich aufgebäumt. Fliehen? Wohin? Montegna war ihr verschlossen. Er erriet ihre Gedanken, wie er es auch verstand, in den verborgensten Falten ihrer Seele zu lesen. Und er wollte sie nicht verlieren. Nur zu gut hatte er erkannt, wie nützlich, wie wertvoll dies an Körper und Geist gleich hervorragende Geschöpf ihm bei seinen Plänen war. Als er sah, daß das glänzende Leben allein sie nicht an seiner Seite halten konnte, änderte er sein Verhalten.
Sein faszinierendes Wesen, dem alles unterlag, was mit ihm in Berührung kam, zwang auch sie. Vergeblich rang sie immer wieder dagegen. Sie blieb bei ihm … blieb, schwankend zwischen Neigung und Hass. Wie oft hatte sie in Stunden, wo sie fern von ihm war, geglaubt, sich von ihm lösen zu können. Immer wieder hatte diese rätselhafte Macht, die von ihm ausging, sie besiegt.
Jahre des Kämpfens waren es, bis sie resignierte, bis sie aufgab, bis sie sein willenloses Werkzeug war. Selten nur noch ein kurzes Rebellieren, wenn ihr Stolz allzu sehr getreten wurde, wenn allzu kraß das Unsaubere seiner Pläne ihr ins Bewußtsein trat.
Ein Rätsel, die Macht dieses Mannes … ein Rätsel ihr Herz. Die Hände der Liegenden preßten sich an die Stirn, als müßte sie sie finden, die Lösung. Im Fluge zogen die Jahre vor ihren Sinnen vorbei.