Читать книгу Gesammelte Werke: Science-Fiction-Romane + Abenteuerromane + Erzählungen - Dominik Hans - Страница 8

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Der Berg war nach dem Brechen des Eises um beinahe dreißig Grad gekippt. Dann war er mit der Unterkante auf den Grund dieses so plötzlich entstandenen Sees aufgestoßen und zur Ruhe gekommen. Alle Eingänge des Baues waren dabei tief unter den Wasserspiegel geraten.

Erik Truwor kam zu den beiden Freunden zurück. Er traf Silvester in leisem Gespräch mit Atma. Die blassen, abgespannten Züge Silvesters verrieten seelisches Leiden. Das Bewußtsein daß er durch seine Unvorsichtigkeit das Unglück verursacht hatte, lastete schwer auf ihm. Mit gedämpfter Stimme erläuterte er dem Inder die Möglichkeiten und Mittel, durch die man sich befreien, vielleicht sogar die alte Lage dies Berges wieder herstellen könne.

Atma lauschte aufmerksam seinen Worten, saß an seiner Seite und hatte Silvesters Rechte zwischen seinen Händen.

Erik Truwor ließ sich schweigend an dem Tisch nieder. Er verharrte in seinem Schweigen, aber seine Miene verriet, wie es in ihm kochte. Immer tiefer, immer steiler gruben sich die Falten in seine Stirn. Verachtung und Abweisung spielten um seine Lippen.

Silvester glaubte jetzt, die richtige Lösung gefunden zu haben. Man mußte den Berg so weit ausschmelzen, daß er frei schwamm und schwimmend sich in seine alte Lage zurückhob. Der Einfluß Atmas übte seine Wirkung auf Silvester. Er wurde ruhiger und eifriger. Eine leichte Röte überhauchte sein Antlitz, während er mit Bleistift und Papier die jetzige Lage des Berges skizzierte und entwarf, wie man mit der Ausschmelzung Schritt um Schritt vorgehen müsse.

Dröhnend fielen die Worte Erik Truwors in diese Erklärung: »Wie lange dauert das? – Wie viele Tage und Wochen gehen uns dadurch verloren? Ich sitze hier in der Falle, abgeschnitten von der Welt … unfähig, zu erfahren, was draußen vorgeht … unfähig, meine Macht wirken zu lassen, meinen Befehlen die Ausführung zu erzwingen …

Eine schöne Macht, die von Weiberdienst und Weiberlaunen abhängig ist … Der Welt Befehle geben … zum Spott der Welt werden wir dabei …«

Silvester erblaßte. Er zuckte zusammen, als ob jedes einzelne dieser Worte ihn körperlich traf.

»Verzeihe mir, Erik. Es war meine Schuld. Aber ich sehe schon den sicheren Weg zur Rettung.«

»Den Weg zur Rettung? … Als ob es sich darum handelte … Ich weiß, daß wir nicht verloren sind, solange wir auch nur den kleinen Strahler bei der Hand haben. In zehn Minuten können wir uns einen Weg ins Freie brennen. Mag der Eisberg dann stehenbleiben oder noch tiefer fallen. Irgendein Flugschiff können wir uns auch mit dem kleinen Strahler heranholen und bewohntes Gebiet erreichen. Aber unsere Einrichtung ist verloren. Meine Pläne erfahren einen Aufschub von Monaten …«

Erik Truwor sprang erregt auf.

»In der Zwischenzeit verlernt die Welt die Furcht vor mir …«

Ein Zucken durchlief den Körper Silvesters.

Atma erhob sich und trat auf Erik Truwor zu. Sein Gesicht suchte den flirrend ins Weite gerichteten Blick Erik Truwors, bis er ihn gefunden hatte.

»Wer gab dir die Macht?«

Minuten verstrichen, bis die Antwort von den Lippen des Gefragten kam.

»Der Strahler!«

»Wer schuf den Strahler?«

Noch einmal eine lange Pause.

Dann kam zögernd und etwas beschämt die Antwort: »Silvester … du hast recht, Atma. Silvester gab uns die Macht. Wir dürfen ihm nicht zürnen, wenn sie jetzt durch sein Versehen gelähmt wurde.«

»Ich habe ihm nie gezürnt.«

Der Inder sagte es in seiner ruhigen Weise und fuhr fort, bevor Erik Truwor etwas darauf erwidern konnte: »Es ist nicht Zeit zum Streiten, sondern zum Handeln. Dein Plan, Erik, den Berg einfach zu verlassen, entsprang dem Zorn. Silvester weiß besseren Rat. Den Plan, den Berg zu heben, von hier aus die Mission zu erfüllen.«

Die Worte Atmas trafen das Richtige und Notwendige. Auch Erik Truwor konnte sich ihnen nicht entziehen.

Es galt, die augenblicklichen Lebensmöglichkeiten zu überschlagen.

Der Luftvorrat in den Höhlen mußte nach oberflächlicher Rechnung für wenigstens eine Woche langen. Im obersten Gange befanden sich Lebensmittel für mehrere Wochen. Durch einen glücklichen Zufall war dort auch ein Lager von allerlei Werkzeugen und Hilfsmaschinen untergebracht.

Die Lage war ernst, aber für den Augenblick wenigstens nicht verzweifelt.

Doch doppelt und dreifach hatte Atma recht, als er auf die Notwendigkeit eiligen Handelns hinwies. Die Wiederherstellung des alten Zustandes mußte jetzt ihre Hauptsorge sein.

Es war, als ob das Schicksal sie narren wolle. Eben noch Gebieter der Welt, Pläne schmiedend, wie sie der Welt ihren Willen kundtun und aufzwingen könnten. Und jetzt die Mittel für die Rettung des Lebens beratend. Es galt den Kampf gegen eine Million Kubikmeter Eis. Gegen diese gigantische Frostmasse, in deren Mitte sie eingeschlossen waren wie in einer Grabkammer der pharaonischen Pyramiden.

Jane hatte das Flugschiff der Linie Köln–Stockholm betreten. Dr. Glossin stand unter der Menge auf dem Flugplatz und hielt sich hinter einem Verkaufsstand für Zeitungen und Erfrischungen verborgen. Das Schiff wurde gut besetzt. Es zählte mehr als 120 Passagiere, die über die Aluminiumtreppe den Rumpf betraten. Die Aussichten, während der Fahrt von Jane nicht erblickt zu werden, waren nicht schlecht.

Erst im letzten Moment, als die Bedienungsmannschaft schon die Treppe abrücken wollte, trat er aus seinem Schlupfwinkel heraus und eilte als Letzter in das Schiff. Gleich danach wurde die Tür verschraubt, die Maschinen gingen an, und das Schiff verließ den Platz.

Dr. Glossin sah, daß der Korridor, der den Rumpf des Schiffes der Länge nach durchzog, beinahe menschenleer war, und eilte in die Raucherkabine. Hier wußte er sich in Sicherheit und konnte bis zur Landung in Stockholm bestimmt ungesehen bleiben.

Erst jetzt kam er dazu, sich sein Abenteuer und die möglichen Folgen in Ruhe zu überlegen. Wie kam Jane dazu, so plötzlich das Haus in Düsseldorf zu verlassen und nach Stockholm zu fahren? Auf den Gedanken, daß sie kopflos und ohne festes Ziel in die Welt hinausfuhr, kam er nicht.

Silvester mußte sie gerufen haben. Sicherlich hatte sie Nachricht von Silvester erhalten und fuhr jetzt den dreien nach. Durch diese Annahme gewann das Unternehmen aber plötzlich ein ernstes Gesicht. Silvester würde Jane am Flugplatz bei der Ankunft erwarten. Vielleicht schon in Stockholm. Vielleicht in Haparanda oder sonstwo.

In jedem Fall mußte unvermeidlich irgendwo der Moment kommen, in welchem Silvester an das landende Flugschiff herantrat, um Jane in Empfang zu nehmen. Wo Silvester war, da waren sehr wahrscheinlich auch die beiden anderen in nächster Nähe. Der Doktor verspürte ein kaltes Gefühl zwischen den Schultern, als er den Gedanken zu Ende dachte. Er zog einen kleinen Handspiegel aus der Tasche und betrachtete sorgfältig sein Antlitz. Und nickte zufrieden. Die Veränderungen, die er schon in Düsseldorf an seinem Äußern vorgenommen hatte, erfüllten ihren Zweck. Beruhigt steckte er den Spiegel wieder weg.

Nicht umsonst war er lange Jahre in die Schule politischer Verschwörungen und Intrigen gegangen. Genötigt gewesen, bald unter dieser, bald unter jener Maske aufzutreten. Die Veränderung des Äußern war meisterhaft. Nicht nach der Art plumper Anfänger mit künstlichen Bärten und Perücken, die jeder Polizeibeamte auf den ersten Blick erkennt. Nur eine leichte Färbung des Haares, eine andere Frisur und eine Garderobe nach europäischem Schnitt, die sich von der amerikanischen Tracht bemerkenswert unterschied. Dazu seine Fähigkeit, den Ausdruck des Gesichts, das Spiel seiner Züge willkürlich zu verändern. Aus dem Dr. Glossin aus Neuyork war irgendein beliebiger und gleichgültiger europäischer Geschäftsreisender geworden.

Leuten gegenüber, die ihn nur oberflächlich kannten, mußte die Veränderung sicheren Schutz gewähren. Ob sie den prüfenden Blicken Janes standhalten würde, war ihm nicht so außer Zweifel. Daß Silvester, daß Atma sie mit einem Blick durchschauen würden, war ihm gewiß. Aber er rechnete damit, daß sie in der Freude des Wiedersehens auf die Mitreisenden wenig achten würden.

Das Schiff landete in dem Flughafen von Stockholm. Dr. Glossin blieb an seinem Fenster sitzen. Er beobachtete die Passagiere, die das Schiff verließen, die Leute, die sie hier erwarteten. Jane verließ das Schiff. Sie wurde von niemand erwartet, schien auch selbst nichts Derartiges zu erwarten. Nach einer kurzen Frage an einen Beamten wandte sie sich dem Schiff Stockholm–Haparanda zu, das auf dem Nachbargleis zur Abfahrt bereitstand. Glossin folgte ihr. Er nahm auch in dem zweiten Schiff wieder den Platz in der Rauchkabine.

Jane fuhr nach Haparanda. Es war der direkte Weg nach Linnais. Die letzten Zweifel schwanden ihm, daß die drei sich noch in der Nähe von Linnais verborgen hielten, daß Jane auf einen Ruf ihres Gatten an den Torneaelf fuhr. Er sah sie in Haparanda das Schiff verlassen und zur Eisenbahn gehen. Es war so, wie er vermutete. Sie nahm eine Karte nach Linnais. Er tat das gleiche und fuhr, nur durch eine Wagenwand von ihr getrennt, weiter nach Norden.

Nun stand Jane auf dem Bahnsteig in Linnais. Wieder allein! Niemand war hier, um sie in Empfang zu nehmen. Der Doktor wurde in seiner Überzeugung schwankend. Was hielt den Gatten ab, seiner jungen Frau wenigstens die paar Kilometer entgegenzufahren, die er jetzt noch höchstens von ihr entfernt sein konnte?

Dr. Glossin sah Jane über den Platz vor dem Bahnhof gehen, mit dem Führer eines Karriols verhandeln, sah sie davonfahren. Sollte Jane ihm im letzten Augenblick entgehen? Sollte das Karriol sie, den Strom entlang, zu irgendeinem neuen unauffindbaren Schlupfwinkel der drei führen? Sollte er hier in Linnais unverrichtetersache zurückkehren müssen? Nein und abermals nein. Er mußte Jane folgen, mußte erkunden, wo sie hin ging, wo sie blieb. Ein zweiter Wagen war schnell gefunden. Er gab dem Führer nur den Auftrag, dem ersten Wagen in einigem Abstande zu folgen.

Die Fahrt ging die Uferstraße, am Torneafluß aufwärts, entlang.

Das landschaftliche Bild war schön, doch Dr. Glossin sah nur die Gegend, in der er seine letzte Niederlage im Kampfe gegen die drei erlitten hatte. Und er sah vor sich die schlanke Gestalt Janes, nach der er in sehnender Gier verlangte, der er jetzt zu folgen entschlossen war, auch wenn der Weg ihn in den Bannkreis des Inders und des Feuer und Tod speienden Strahlers bringen sollte.

Das Karriol vor ihm hielt auf der Landstraße. Er sah, wie der Wagen umkehrte und leer nach Linnais zurückfuhr. Jane war ausgestiegen und hatte einen Weg den Bergabhang hinauf eingeschlagen. Er ließ den eigenen Wagen bis dorthin vorfahren, hieß ihn warten, auch wenn es Stunden dauern sollte, und folgte der Entschwundenen den Berg hinauf. Hin und wieder sah er ihr Kleid durch die Büsche schimmern. Der Weg führte in leichten Serpentinen zum Truworhaus.

Nun stand er am Waldrande, hatte freien Ausblick auf die Brandstätte. Und sah Jane niedergesunken an der von der Wut des Feuers geschwärzten und verglasten Trümmerstätte knien. Sie hatte die kleine Handtasche und den Telephonapparat fallen lassen und strich mit zitternden Händen über die Steintrümmer.

Das Haus, in dem sie den glücklichsten Tag ihres Lebens, ihren Hochzeitstag, verbracht hatte, eine wüste, brandgeschwärzte Ruine. Die blühenden Gartenanlagen vom Feuer zerfressen. Ihr Gatte verschwunden. Keine Nachricht von ihm.

Die Erschütterung war zu groß. Mit einem Aufschrei fiel sie ohnmächtig nieder. Jetzt brach der Riegel.

Dr. Glossin sah sie fallen und rührte sich nicht von seinem Platze. Jeden Augenblick erwartete er die Gestalt Silvesters, die des Inders auftauchen zu sehen. Vielleicht den Gefährlichsten der drei, Erik Truwor.

Minuten verstrichen. Nichts regte sich. Da begann er langsam die Wahrheit zu ahnen, zu vermuten und schließlich zu erkennen. Jane war aus eigenem Antrieb von Düsseldorf fortgegangen. Sie war an den Ort gegangen, den sie als das Heim der drei kannte, und sie war niedergebrochen, als sie es verwüstet und zerstört wiedersah. Niemand erwartete sie hier. Hilflos lag sie hier im Walde, seinem Verlangen schutzlos preisgegeben.

Er trat aus dem Walde und näherte sich dem Trümmerhaufen. Eine ungeheure Glut mußte hier gewirkt haben. Die Granitblöcke, aus denen die Zyklopenmauern des Truworhauses bestanden hatten, waren zu einer zusammenhängenden glasartigen Masse verschmolzen. Kein einfaches Feuer wäre imstande gewesen, das Urgestein zu schmelzen. Hier mußte die telenergetische Konzentration gewütet haben. Unzählige Tausende von Kilowatt mußten in diesem Gestein zur Entladung gekommen sein.

Dr. Glossin näherte sich Jane. Er wollte sie aufheben, den Berg hinunterbringen, als sein Blick auf den Telephonapparat fiel. Es reizte ihn, die Apparatur zu versuchen. Mit einem Griff schaltete er die Elektronenlampen ein.

Und er vernahm Worte einer wohlbekannten Stimme, Silvesters Stimme.

Es war in der vierten Nachmittagsstunde. Silvester hatte die Antennen am Pol gespannt und suchte Jane. Er suchte sie auf dem Bilde der Mattscheibe und konnte sie nicht finden. Während er mit dem Strahler die Straßen Düsseldorfs absuchte, sprach er Worte der Verzweiflung und der Liebe. Worte, die für Jane bestimmt waren und von Glossin gehört wurden.

»Jane, mein Lieb, wo bist du? Ich kann dich nicht sehen. Dein Zimmer ist leer … Ich suche dich … Alle Straßen, alle Plätze der Stadt ziehen auf dem Bilde vor mir vorüber. Nur du bist nicht da …

Ich weiß nicht, wo du bist. Vielleicht hörst du meine Stimme. Ich will dich suchen, bis ich dich gefunden habe. Die ganze Welt will ich durchsuchen …«

Glossin erschrak. Wie weit war die entsetzliche Erfindung gediehen! Sie konnten die ganze Welt im Bilde bei sich betrachten. Silvester suchte in Düsseldorf. Er brauchte nur in Linnais zu suchen, und er sah seinen alten Feind und hatte die Macht – Glossin zweifelte keinen Augenblick daran – ihn zu Staub und Asche zu verbrennen. Er schleuderte das Telephon von sich, als ob er glühendes Eisen gegriffen hätte.

Weg von hier. So schnell wie möglich weg von diesem Platze, der in der nächsten Sekunde von den dreien gesehen werden konnte.

Er stürzte sich auf Jane. Die hypnotische Verriegelung war gebrochen. Jane war seinem Einfluß wieder preisgegeben. Er ließ seine stärksten Künste spielen. Er strich ihr mit den Händen über Stirn und Schläfen. Mit äußerster Gewalt zwang er sie in seinen Bann. Mit seiner Hilfe und auf seinen Befehl erhob sie sich. Auf seinen Befehl hatte sie alles vergessen, was geschehen war …

In scharfem Trab brachte das Karriol sie nach Linnais. Das Gefährt war nur für einen Passagier bestimmt. Er mußte sie während der Fahrt eng an sich ziehen. Hier vollendete er die hypnotische Beeinflussung …

Als Jane in Linnais aus dem Wagen stieg, war sie eine ruhige junge Dame, die mit ihrem Oheim reiste. Wie weggewischt war die Erinnerung an Silvester, an das Truworhaus, an alles Böse, was Glossin ihr jemals zugefügt hatte.

Während die Bahn sie nach Haparanda brachte, während sie im Flugschiff nach Stockholm flogen, faßte Glossin seine letzten Entschlüsse.

Die Erfindung, die gefährliche Erfindung, welche die Macht über die Welt in die Hand eines einzigen Menschen legte, war vollendet. Nach den Worten, die er im Telephon gehört hatte, war kein Zweifel mehr daran erlaubt.

Cyrus Stonard kam mit seinem Entschluß zum Kriege zu spät. Die drei lebten nicht nur, sie besaßen auch die Macht, das Vabanquespiel des Diktators zu durchkreuzen.

Es war Zeit, sich von Cyrus Stonard zu trennen, zu den Engländern überzugehen. Dazu war es notwendig, nach London zu gehen. Aber England war im Kriege. Aller Luftverkehr war eingestellt. Die Linie Stockholm–London lag still. Nur der Hornissenschwarm von hunderttausend Kriegsflugschiffen schwärmte um die englische Küste, bereit, jedes Fahrzeug, das sich England auf dem Luftwege nähern sollte, zu vernichten.

Wer nach England wollte, mußte den Bahntunnel zwischen Calais und Dover benutzen. Die alte Linie Stockholm–London war seit einigen Tagen auf Stockholm–Calais umgelegt worden.

Das Schiff brachte Glossin und Jane in wenigen Stunden nach Calais. Seine Räder setzten bei der Landung auf ein Gleis auf, neben dem der Zug nach London stand. Nur ein Drahtgitter trennte den Flugsteig vom Bahnsteig. Aber es war nicht ganz einfach, das Gitter zu durchschreiten. Jenseit desselben, wo der Zug stand, begann praktisch bereits England. England, das sich in einem schweren Kriege befand. Die Paßkontrolle war scharf. Es drängten sich viele zu den Türen, aber mehr als einer wurde zurückgewiesen.

Dr. Glossin hatte Zeit. Er stand, Jane leicht untergefaßt, ruhig auf dem Bahnsteig und betrachtete die Umgebung.

Die See war von hier aus nicht zu erblicken. Sie lag drei Kilometer entfernt. Außerdem versperrten die gewaltigen Hochbassins den Blick in dieser Richtung. Jene Bassins, die stets mit Seewasser gefüllt waren, die sich in gleicher Ausführung auch auf der englischen Seite des Kanals befanden und deren Aufgabe es war, den Tunnel in wenigen Minuten vollaufen zu lassen. Für den Fall nämlich, daß etwa zwischen England und Frankreich kriegerische Verwicklungen entstanden, daß Truppen von der einen oder anderen Seite her durch den Tunnel in das Land des Gegners zu marschieren versuchten. Dr. Glossin betrachtete die Anlagen überlegen lächelnd. Sie waren veraltet. Man führte den Krieg heute auf andere Weise.

Er dachte an die Pestbomben, an die falschen Banknoten. Die Zeit verstrich darüber. Jetzt war es freier an den Toren des Zaunes geworden. Er zog seine Brieftasche heraus und suchte unter allerlei Papieren. Mit einem Kartenblatt in der Hand, Jane am Arm, schritt er durch die Sperre. Die englischen Beamten warfen nur einen kurzen Blick auf das Papier und gaben ihm in achtungsvoller Haltung den Weg frei. Sie kannten die Unterschrift des Premierministers Lord Gashford.

Fünf Minuten später glitt der Zug aus dem Bahnhof, tauchte in das Dunkel des Tunnels, durchrollte die dreißig Kilometer unter dem Meer in ebenso vielen Minuten und eilte dann durch die Fluren von Canterbury auf London zu.

In einem großen Hotel in London nahm ein älterer Herr in Gesellschaft einer jungen Dame Wohnung. Als Dr. Glossin aus Aberdeen mit Nichte. Die Ausweise über seine eigene Person, die er dem revidierenden Beamten vorlegte, waren so vorzüglich, daß man der Behauptung, seine Nichte habe ihre Papiere verloren, ohne weiteres Glauben schenkte.

Durch die Straßen Londons schwirrten dunkle Gerüchte. Schlechte Nachrichten. In Afrika sollten die neuen englischen Industriestädte in der Gegend des Kilimandscharo von einem übermächtigen amerikanischen Geschwader vernichtet worden sein. Ein Vorstoß auf die Straße von Bab el Mandeb sollte den englischen U-Panzern schwere Verluste durch Lufttorpedos gebracht haben. Andere Gerüchte erzählten von englischen Niederlagen in der Australischen See und auf der Reede von Kapstadt.

Im Gebäude des Kriegsministeriums hatten sich die Mitglieder der englischen Regierung zu einer Besprechung der Lage versammelt. Dort lagen die authentischen Depeschen von den verschiedenen Kriegsschauplätzen vor und waren geeignet, dem Kabinett sorgenvolle Stunden zu bereiten.

Es hatte wirklich ein schwerer Angriff amerikanischer Luftstreitkräfte auf die junge angloafrikanische Kriegsindustrie stattgefunden. Flugschiffe in enormer Zahl waren plötzlich von der Ostküste her vorgestoßen, hatten die verhältnismäßig schwachen englischen Abwehrlinien durchbrochen und ihre Lufttorpedos auf die Industriewerke gesetzt. Derartige Angriffe waren schließlich möglich. Aber unerklärlich blieb es, wo die enormen Munitionsmengen herkamen. Dem Kabinett lagen die Depeschen verschiedener englischer Flugschifführer vor. Depeschen, die diese, pflichtgetreu bis zum Tode, zum Teil noch abgesandt hatten, während ihre Schiffe bereits brennend in die Tiefe stürzten.

Sir Vincent Rushbrook hielt die letzten Depeschen von A. V. 317 in der Hand und las: »43 Grad östlicher Länge, 2 Grad südlicher Breite. Amerikanische Schiffe steuern nach Torpedoabwurf zur See. Verschwinden plötzlich im Wasser. Verdacht auf unterseeischen Stützpunkt. A. V. 317.«

Eine zweite Depesche war von demselben Flugschiff zehn Minuten später gegeben worden: »Unterwasserstation entdeckt 42 Grad 13 Min. östlicher Länge …«

Hier brach die Depesche ab. Aus den Meldungen anderer Schiffe wußte man, daß A. V. 317 um diese Zeit brennend abgestürzt war.

Der Premier Lord Gashford versuchte es, die Fragen und Gedanken zu formulieren, die jedes Mitglied des Kabinetts beschäftigten.

»Warum greift Cyrus Stonard uns nicht in England an? Wir hielten Afrika für den sichersten Teil des Reiches. Unsere Agenten hatten uns einen amerikanischen Angriffsplan besorgt, der einen direkten Angriff auf die Inseln von Westen her vorsah. Der Meridian von Island bildete danach ungefähr die Frontlinie der amerikanischen Kräfte. Was konnte den Diktator veranlassen, diesen so lange vorbereiteten Plan aufzugeben, die britischen Inseln unbehelligt zu lassen, uns in Afrika anzufallen?«

Sir Vincent Rushbrook war, immer noch die beiden Depeschen von A. V. 317 in der Hand, an den Globus getreten.

»Es sieht so aus, als ob die Amerikaner einen Flottenstützpunkt etwa auf dem Äquator an der afrikanischen Ostküste angelegt haben. Ist es der Fall, dann, meine Herren, hat sich Cyrus Stonard im Brennpunkt unserer Macht festgesetzt. Von dieser Stelle aus …« – der Admiral ergriff einen kleinen Zirkel und demonstrierte damit auf dem Globus – »bedroht er in gleicher Weise unsere afrikanischen Besitzungen, den See- und Luftweg nach Indien und Indien selbst. Die letzte Depesche von A. V. 317 ist leider verstümmelt. Aber wir kennen den Längengrad. Sehr weit vom Äquator kann die Station nicht sein. Ihre Zerstörung halte ich für das Allernotwendigste. Sie muß allen anderen Kriegshandlungen vorausgehen. Unsere Luftstreitkräfte auf dem Meridian von Island sind dort durch den geänderten amerikanischen Plan größtenteils entbehrlich. Ich möchte ihnen den Befehl geben, den Meridian 42 Grad 13 Min. abzusuchen. Ein Unterwasserstützpunkt ist immer zu finden. Haben sie ihn gefunden, dann ist er auch vernichtet.«

Der Admiral schwieg. Er erwartete die Zustimmung des Kabinetts zu der unter Umständen so folgenschweren Maßnahme, die Verteidigungslinie über den Meridian von Island zu schwächen.

Lord Horace Maitland sprach: »Sie fragen, warum Cyrus Stonard seinen Angriffsplan geändert hat, warum er unsere Inseln meidet und auf der südlichen Halbkugel Krieg führt. Ich will es versuchen, Ihnen den Grund kurz und klar anzugeben. Er tut es, weil das Unternehmen des Obersten Trotter mißglückt ist. Weil der Bericht über den Erfolg seiner Expedition unrichtig ist. Weil die Macht, zu deren Vernichtung England und Amerika sich trafen, noch existiert, und weil Cyrus Stonard diese Macht fürchtet.«

Lord Maitland hatte seine Rede leise und tonlos begonnen. Von Satz zu Satz hatte sich seine Stimme gehoben. Jetzt schwieg er.

Die Wirkung seiner Worte auf die Mitglieder des Kabinetts war körperlich greifbar. Sir Vincent Rushbrook ließ den Unterkiefer hängen und starrte den Sprecher mit offenem Mund an. Lord Gashford verlor die überlegene Ruhe und sprang auf. Der Kriegsminister versuchte, den ihm unterstellten Oberst Trotter zu verteidigen. Lord Horace allein behielt seinen Platz und fuhr mit einer ruhigen, überzeugenden und schließlich alle Hörer zwingenden Stimme fort: »Meine Herren, ich habe bereits einmal meiner Meinung über die wenig glückliche Wahl des Obersten Trotter für diese Expedition Ausdruck gegeben. Er ist getäuscht worden, und die Amerikaner haben es wahrscheinlich gewußt. Nach dem, was ich von amerikanischer Seite über die drei in Linnais hörte, halte ich es für ausgeschlossen, daß sie sich von einem alten Troupier wie dem Obersten Trotter einfach in ihrem Hause verbrennen lassen. Sein Bericht klang zwar ganz plausibel. Aber mich hat er nicht überzeugt und die Herren Dr. Glossin und Cyrus Stonard wohl auch nicht.«

Sir Vincent Rushbrook hatte während der Worte von Lord Horace Gelegenheit gefunden, seinen Unterkiefer wieder zuzuklappen. Die Färbung seines Gesichtes war vom Roten ins Blaurote gestiegen. Jetzt brach er los: »Kann ein Mensch mit fünf gesunden Sinnen nur einen Augenblick glauben, daß drei einzelne schwache Menschen einer Weltmacht gefährlich werden können? Cyrus Stonard sollte mir leid tun, wenn er sich von solchen Hirngespinsten plagen ließe.«

Lord Horace hatte den cholerischen Admiral ruhig ausreden lassen. Nun fuhr er selbst unbewegt fort: »Cyrus Stonard ist besser informiert als wir. Durch den Doktor Glossin. Glossin ist der einzige, der die Erfindung von ihren Anfängen her kennt. Der weiß viel besser als wir, wie weit die drei jetzt mit der Erfindung gekommen sein dürften, wie weit sie damit wirken können und wie weit nicht. Den Beweis dafür gibt mir der veränderte amerikanische Kriegsplan. Die gegen die britischen Inseln gerichteten Streitkräfte sind zurückgezogen. Der Diktator fürchtet, die drei könnten ihm hier in den Arm fallen. Darum verlegt er den Angriff in die südliche Hemisphäre, wo er sich vor der Macht der drei noch sicher fühlt …«

Lord Gashford unterbrach ihn. »Wenn Sie recht hätten, so wäre mir das Vorgehen des Diktators erst recht unerklärlich. Wie kann er sich in einen Krieg mit uns einlassen, wenn er die Macht der drei wirklich fürchtet?«

»Die Erklärung dafür ist in dem Wesen des Diktators zu suchen. Cyrus Stonard ist zweifellos der größte Staatsmann des zwanzigsten Jahrhunderts. Seit George Washington hat er am meisten für die amerikanische Union getan. Hätte er nicht den Ehrgeiz besessen, Diktator zu werden und zu bleiben, hätte er wie Washington gehandelt, er würde in der Geschichte neben und über Washington stehen.

Ehrgeiz und Machthunger haben ihn verblendet. Er hält das amerikanische Volk, das an eine hundertfünfzigjährige Freiheit gewöhnt war, weiter unter einem schrankenlosen Absolutismus. Aber er sitzt auf einem Vulkan. Er braucht ständig neue Erfolge. Bleiben die aus, so ist's mit seiner Diktatur vorbei. Die Geschichte lehrt es uns hundertfach. Er spielt va banque und muß va banque spielen. Das amerikanische Freiheitsgefühl hat den Druck nur ertragen, solange die Schmach der japanischen Niederlage in frischer Erinnerung war und solange Cyrus Stonard die Macht und den Reichtum Amerikas ständig gehoben hat. Selbst dann nur widerwillig. Einen Stillstand in seinen äußeren Erfolgen verträgt seine Herrschaft nicht.

Nach seinem Siege über Japan bleibt England als einziger Rivale übrig. Wer die Persönlichkeit Cyrus Stonards kennt, mußte sich klar darüber sein, daß er es versuchen würde, diesen letzten Rivalen niederzuschlagen. Dann war der Gipfel erreicht. Amerika beherrschte die Welt. Cyrus Stonard beherrschte Amerika.

Da stellt sich zwischen uns und ihn die geheimnisvolle Macht. Über deren Ziele möchte ich noch schweigen, weil ich nicht klar sehe. Er bringt es fertig, uns als Werkzeug zur Vernichtung dieser Macht zu benutzen. Der Streich ist mißlungen. Zum mindesten nicht sicher gelungen. Aber Cyrus Stonard kann nicht mehr zurück. Er schlägt los, wo er glaubt, nicht gehindert zu sein. Hätte er jetzt, nach monatelanger Kriegsvorbereitung, Frieden gehalten, wäre es um seine Herrschaft geschehen.

Er ist in den Krieg gegangen wie ein Feldherr, der am Erfolg zweifelt, aber lieber an der Spitze seiner Garden fallen als zurückweichen will. Cyrus Stonard steht auf der Grenze von Genie und Wahnsinn. Er hat die Grenze wohl schon nach der schlimmen Seite hin überschritten.«

Die Worte Lord Maitlands hatten die Mitglieder des Kabinetts in ihren Bann geschlagen. Die Gestalt des Diktators stand in ihrer Größe, aber auch mit ihren Schwächen und Leiden vor ihnen. Eine Frage des Kriegsministers führte die Mitglieder wieder in die reale Welt zurück.

»Was sollen wir jetzt tun? Sollen wir uns nicht wehren? Sollen wir uns auf eine geheimnisvolle Macht verlassen, deren Existenz doch zum mindesten, ich will sagen, persönliche Ansichtssache ist? Es wäre Englands und seiner Geschichte nicht würdig, wenn wir uns in der vagen Hoffnung auf eine übernatürliche Hilfe davon abhalten ließen, alles Notwendige für die Sicherheit des Reiches zu tun.«

Sir Vincent Rushbrook sprach: »Unsere Islandflotte muß sich in geschlossenem Angriff sofort auf Neuyork stürzen. Wir werden die Fünfzehnmillionenstadt in Asche legen. Das wird dem Diktator seine Gelüste auf Afrika und Indien am schnellsten austreiben.«

Lord Horace nahm noch einmal das Wort: »Ich befinde mich hier in einer eigenartigen Lage. Ich habe mich mit diesen Fragen doch vielleicht mehr beschäftigt als ein anderes Mitglied des Kabinetts. Ich sage Ihnen heute … denken Sie an meine Worte, meine Herren … Wir werden das Eingreifen der Macht in kürzester Zeit zu fühlen bekommen. Ich halte es für richtig, daß wir uns nur auf die Verteidigung beschränken.«

Die Worte des Lords Maitland vermochten das Kabinett nicht umzustimmen. Die letzten Depeschen über einen amerikanischen Angriff auf Indien ließen jede abwartende Haltung als schädlich erscheinen. Indien war die empfindlichste Stelle des britischen Weltreiches. Wer Indien anzutasten wagte, mußte niedergeschlagen werden.

Der englische Premier gab seinem Sekretär gemessenen Auftrag. »Ich erwarte den Vierten Lord der Admiralität. Jeder andere Besuch hat zu warten.«

Der Sekretär wunderte sich nicht über den Befehl. Die Stellung des Lords Maitland im englischen Kabinett hatte sich in den letzten Wochen beträchtlich gehoben. Seine genauen Kenntnisse der amerikanischen Verhältnisse machten ihn zu einem wichtigen Mitglied des Kabinetts. Darüber hinaus fand der alternde Lord Gashford in ihm eine wertvolle Hilfe. Eine Persönlichkeit, die Entschlußkraft mit der abgeklärten Ruhe des gereiften Mannes verband. Einen Mitarbeiter, der für sich selbst gar nichts erstrebte … wenigstens nichts zu erstreben schien und ganz in den Fragen der großen Politik aufging.

Lord Gashford hatte über die Ausführungen Lord Maitlands in der letzten Kabinettssitzung nachgedacht. Als Lord Horace in sein Arbeitzimmer eintrat, ging er ihm entgegen. »Ihre Ansichten über die Beweggründe des amerikanischen Diktators sind richtig. Wenn seine Handlungen überhaupt logischen Gründen entspringen, können sie nur so erklärt werden, wie Sie es neulich taten. Ich möchte in Ihrer Gegenwart einen Besuch empfangen, dessen Absichten mir nicht klar sind. Dr. Glossin hat sich bei mir melden lassen.«

Lord Horace konnte sein Erstaunen nicht verbergen.

»Dr. Glossin hier? Sollte das ein Friedensfühler sein?«

Dr. Glossin wurde von dem Sekretär in das Gemach geführt. Er kam mit der Unbefangenheit des vielgereisten Weltmannes. Begrüßte Lord Horace herzlich als einen alten Bekannten, ohne sich durch die Gegenwart des Premierministers geniert zu fühlen. Er erkundigte sich eingehend nach dem Befinden der Lady Diana und führte die Konversation mit einer Leichtigkeit, als befände er sich auf einem Fünfuhrtee und nicht bei den leitenden Ministern eines Weltreiches. Die beiden Engländer gingen auf die Tonart ein, obwohl sie innerlich vor Begierde brannten, dem Zwecke der Unterredung näherzukommen. Lord Horace schob dem Doktor Zigarren und Feuerzeug hin. Glossin bediente sich mit einer Gemächlichkeit, die den englischen Staatsmännern hart an die Nerven ging.

Dr. Glossin hatte zweifellos viel Zeit. Aber schließlich hatten die Engländer noch mehr. Sie warteten ruhig, bis er das Schweigen brach.

»Meine Herren, ich halte diesen Krieg für einen Wahnsinn. Nur der maßlose Ehrgeiz eines Mannes treibt zwei sprach- und stammgleiche Völker in den Kampf.«

Die Engländer sprachen kein Wort. Nur ein leichtes Nicken verriet ihre Zustimmung. Der Doktor fuhr fort: »Ich möchte die Lage durch einen Vergleich erklären. Die Welt gehört einer großen Firma, den Englishspeakers. Die Firma hat zwei Geschäftsinhaber. Es sind heute zwei feindliche Brüder, die zum Schaden des Hauses gegeneinander arbeiten. Die Firma kann nur gedeihen, wenn ihre Leiter einig sind und einig handeln. Müßte nicht der eine der Inhaber die Führung haben?«

Dr. Glossin schwieg und wandte dem Brande seiner Zigarre sehr eingehende Aufmerksamkeit zu.

»Die feindlichen Brüder sind wohl in diesem Gleichnis England und Amerika?«

Dr. Glossin bejahte die Frage Lord Gashfords durch ein leichtes Nicken.

Der Premier sprach weiter: »Welcher von den beiden wird dem anderen weichen?«

Glossin hatte wieder mit der Zigarre zu tun, bevor er die Antwort formulierte. Langsam, sorgfältig Wort für Wort wägend.

»Im Geschäftsleben würde es der sein, der die geringere Erfahrung hat … der weniger tüchtige … meistens wohl der jüngere.«

Lord Horace unterbrach ihn.

»Glauben Sie, daß Cyrus Stonard jemals freiwillig weichen würde?«

»Wenn nicht freiwillig, dann gezwungen!«

»Das hieße Stonard stürzen! Freiwillig wird er nie nachgeben.«

»Deswegen bin ich hier!«

Das Wort war heraus. Seine Wirkung auf den Premier war unverkennbar. Lord Horace blieb äußerlich unverändert. Nur sein Gehirn arbeitete fieberhaft und schmiedete lange Schlußketten … Er weiß, daß die geheimnisvolle Macht wirkt. Daß es vielleicht schon in nächster Zeit, vielleicht in wenigen Tagen nur noch eines leisen Anstoßes bedürfen wird, um den Diktator zu stürzen. Er wechselt beizeiten die Fahne … Immerhin, seine Arbeit kann England nützlich sein …

Lord Gashford fragte mit leicht vibrierender Stimme: »Wie sollte es geschehen?«

»Das wird meine Sache sein!«

»Sie wollen das vollbringen? Und wenn es Ihnen gelänge, was hat England dafür zu zahlen?«

»Nichts!«

»Und was verlangen Sie dafür?«

»Englands Freundschaft!«

Lord Gashford reichte dem Doktor die Hand.

»Deren können Sie versichert sein. Für die Ausführung stehen Ihnen unsere Mittel zur Verfügung. Lord Maitland wird die Einzelheiten mit Ihnen besprechen.«

Sie hatten diese Besprechung im Stadthause von Lord Horace. Dr. Glossin verlangte von der englischen Regierung für sein Unternehmen keine materiellen Mittel. Nur ein paar Einführungsschreiben an einige amerikanische Vereinigungen. Das war alles. Lord Horace geriet in Zweifel, ob es dem Doktor jemals gelingen könne, mit solchen bescheidenen, fast kindlich anmutenden Hilfsmitteln einem Manne wie Cyrus Stonard gefährlich zu werden. »Das wäre alles, Herr Doktor?«

»Alles, mein Lord.«

»So wünsche ich Ihnen um der anglosächsischen Welt willen den besten Erfolg.«

»Ich danke Ihnen. Noch eine persönliche Bitte. In meiner Begleitung befindet sich hier in London meine Nichte, Miß Jane Harte. Mein Aufenthalt in den Staaten könnte längere Zeit dauern. In der Voraussicht kommender Umwälzungen und Unruhen habe ich sie hierhergebracht. Ich bin ihr einziger Verwandter. Sie hängt an mir, ist meine einzige Freude, hat außer mir niemand in der Welt. Wenn ich wüßte, daß sie in Ihrem Hause … bei Ihnen … bei Lady Diana einen Anhalt findet, wäre ich Ihnen mehr zu Dank verpflichtet, als ich es Ihnen in Worten ausdrücken kann.«

»Ich werde die junge Dame als Gast in mein Haus nehmen. Sie soll in sicherer Hut bei uns bleiben, bis Sie, Herr Doktor, aus den Staaten zurück sind.«

Der Doktor ergriff die Hand Lord Maitlands.

»Ich danke Ihnen, mein Lord. Ich bedauere es, Lady Diana nicht persönlich meine Empfehlung übermitteln zu können …«

Dr. Glossin ging, den Mann zu verraten, durch den er zwanzig Jahre mächtig und reich gewesen war.

Seit jener Stunde, in der Diana die Todesnachricht Erik Truwors empfing, in der sie in der Fülle überströmender Gefühle ihre ganze Vergangenheit vor Lord Horace bloßlegte, war das Verhältnis der Gatten ein anderes geworden. Lady Diana zog sich nach Maitland Castle zurück. Lord Horace blieb in London, um sich mit verdoppeltem Eifer den Regierungsgeschäften zu widmen. Nicht nur die Sorge um das Land trieb ihn dazu, sondern wohl ebenso stark das Verlangen, sich durch angestrengte Arbeit zu betäuben, durch rastlose Tätigkeit der quälenden Gedanken ledig zu werden, die ihn seit jener Unterredung nicht loslassen wollten.

Mit dem Toten hatte er bald abgeschlossen. Was Diana getan, um dem Jugendgespielen, dem Manne, dessen Gattin sie werden sollte und fast war, den Abschied vom Leben leicht zu machen, das hatte er mit der abgeklärten Ruhe des gereiften Mannes verstehen und verzeihen gelernt.

Die Unruhe und Qual schuf ihm der andere. Der Lebende – den Diana noch für tot hielt. Und zu dessen Vernichtung sie doch ihre Hand geboten hatte.

War dieser Haß echt? Konnte solcher Haß echt sein?

War es nicht nur in Haß verkehrte Liebe, die wieder Liebe werden konnte?

Erik Truwor lebte!

Wie würde Diana die Nachricht von seiner Rettung aufnehmen?

Er bangte vor der kommenden Stunde und sehnte sie doch herbei.

Die Nachricht, daß sie nach London kommen solle, erreichte Diana um die vierte Nachmittagsstunde in Maitland Castle. Der Diener, der ihr die Botschaft überbracht, hatte längst den Raum verlassen. Diana saß immer noch regungslos und hielt das Papier in den Händen. Das Faksimile des chemischen Fernschreibers zeigte die charakteristischen Schriftzüge ihres Gatten. Nur wenige Worte.

»Ich bitte Dich, umgehend nach London zu kommen.«

Was bedeutete diese Botschaft? Horace rief sie … rief sie … warum?

Ihre Brust wogte im Widerstreit der anstürmenden Gefühle. Seit jenem Tage der Aussprache hatte sie Horace nicht wieder gesehen. In stillschweigender Übereinkunft hatte sie sich einer freiwilligen Verbannung unterworfen.

Ihre hellsichtigen Frauenaugen erkannten wohl, daß ein Mann, auch wenn er die Großherzigkeit ihres Gatten besaß, nicht so leicht und schnell über das hinwegkommen konnte, was sie ihm in ihrer Seelennot offenbarte. Deshalb hatte sie gewartet. Von Tag zu Tag … geduldig. Doch je länger sie warten mußte, desto schlimmer fraß die Pein des Wartens an ihr. Ihre Liebe zu Horace war so stark und rein, daß ihr nicht einen Augenblick der Gedanke kam, ganz andere Ängste und Sorgen könnten ihres Gatten Herz beschweren. Hätte sie es gewußt, wie leicht wäre es ihr gewesen, seinen Argwohn zu zerstreuen.

In windender Fahrt trug die schnelle Maschine Diana Maitland, ihre Zweifel, ihre Hoffnungen und Wünsche nach London.

Ohne sich erst in ihre eigenen Räume zu begeben, betrat sie das Arbeitzimmer ihres Gatten. Lautlos schlossen sich die schweren Portieren hinter ihr. Der schwellende indische Teppich dämpfte ihren Schritt.

Lord Horace saß am Schreibtisch, das Gesicht dem Fenster zugewandt.

Diana umfaßte seine Gestalt mit ihren Blicken.

Was dachte er? …

Wie wird er ihr entgegentreten? …

Der erste Gruß. Wie wird er sein?

Tonlos formten ihre Lippen das eine Wort: »Horace!«

Der Hauch drang nicht an sein Ohr.

»Horace!« Rauh und gepreßt tönte der Name durch den Raum.

»Diana!« … Lord Horace war aufgesprungen. Die Gatten standen sich gegenüber. Ihre Blicke begegneten sich und wichen einander aus.

Dianas Herz krampfte sich zusammen. Was sie erhoffte, was sie ersehnte … es war es nicht. Ihre Augen wurden still. Ein konventionelles Lächeln spielte um den Mund, als sie sagte: »Du hast mich rufen lassen, Horace.« Ihre Hände berührten sich, und doch verspürte keine den Druck der anderen.

»Ich danke dir für dein Kommen, Diana. Eine Bitte, die uns beide betrifft und mir besonders am Herzen liegt, trieb mich, dich zu rufen. Ich hatte heute vormittag eine Unterredung mit Dr. Glossin.«

Diana horchte auf.

»Dr. Glossin? Wie kommt der hierher? Es ist doch Krieg. Als Friedensunterhändler? … In Stonards Mission?«

»Nein!«

»Nicht? Weshalb ist er hier?«

»Um Cyrus Stonard zu verraten!«

»Ah …!«

Lady Diana hatte in der Erregung des Gespräches bis jetzt noch nicht die Zeit gefunden, sich zu setzen. Lord Horace rollte ihr einen Sessel herbei.

»Ah! … Das versöhnt mich mit ihm. Welches Glück, wenn dieser Bruderkrieg vermieden wird! Dieser sinnlose Kampf, der Hunderttausende Englisch sprechender Frauen zu Witwen, ihre Kinder zu Waisen macht. Wenn das dem Doktor gelingt, wenn er das schafft, soll ihm vieles, nein, alles verziehen sein.«

Lord Horace wiegte nachdenklich das Haupt.

»Ja, Diana … nicht ganz so, wie du denkst.«

»Wie meinst du?«

»Der Krieg würde auch ohne das alles in allernächster Zeit beendet sein!«

»Wodurch?«

»Durch die geheimnisvolle Macht der drei in Linnais!«

Diana Maitland sank in ihren Sessel zurück. Sie erblaßte, während ihre Augen sich zu unnatürlicher Weite öffneten.

»Die drei in Linnais? … Sind die nicht tot?«

»Wir dachten es … Wir hofften es.«

»Sie leben?«

»Sie leben! Sie haben es deutlich bewiesen. Unsere Stationen müssen ihre Befehle funken.«

»Und die sind? … Die lauten?«

»Wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen. Die Macht warnt vor dem Kriege.«

Lord Horace unterbrach seine Rede. Er sah, wie die Augen seiner Gattin sich schlossen und ein frohes Lächeln ihren Mund umspielte. In diesem Augenblick sah sie aus wie ein glückliches Kind, dem ein Lieblingswunsch erfüllt wurde. Er sah es und dachte: Erik Truwor!

Lady Diana sprach wie eine Träumende, wie eine Seherin.

»Ah! … die drei in Linnais … Sie leben … leben und handeln zum Segen der Welt!«

»Zum Segen?«

»Ist es kein Segen, wenn der Krieg vermieden wird? Sinnloses Morden … Totschlag und Raub …«

»Auf den ersten Blick vielleicht. Aber die Folgen werden nicht ausbleiben. Wie wird sich das für die Zukunft auswirken?«

»Die Welt wird ein Paradies sein!«

»Glaubst du?«

»Gewiß selbstverständlich!«

»Ich nicht … Ich glaube es nicht … kann es nicht glauben …«

»Was?«

»… kann es nicht glauben, daß ein Mann, dem ein Zufall … ein Schicksal solche Macht in die Hände gegeben hat, daß der …«

»Daß der …«

»Daß der die Macht nicht mißbraucht!«

»Mißbrauchen? Mißbraucht?«

»Mißbraucht, um die in seine Hand gegebene Menschheit zu knechten. Um sich zum Herrscher der Welt zu machen.« Lord Horace sprach die letzten Worte trübe und sinnend vor sich hin.

»Du fürchtest, daß … daß … nein! Erik Truwor? Nein!«

In der Erregung des Zwiegesprächs waren sie aufgesprungen und standen sich hochatmend gegenüber.

»Niemals! Niemals!« Diana wiederholte es mit wachsender Überzeugung.

»Dann wäre er ein Gott!«

Die Erregung Dianas löste sich in einem harten, stolzen Lachen.

»Ein Gott? … Nein! Ein Mann ist er! Ein Mann!«

»Und wir?« Resignation klang aus den beiden kurzen Worten. Diana legte ihm die Hände auf die Schultern.

»Ihr … ihr … Horace .. ihr seid Politiker .. eure Gedanken gehen nicht über die Grenzen eurer Interessen. Er … er überschaut Reiche! Ihr arbeitet für die Zeit. Er denkt an die Ewigkeit!«

»Du kennst ihn, ich kenne ihn nicht. Du standest ihm nahe. … Du bist ein Weib … Wir Männer sehen die Dinge nüchterner. Ich sage dir, es wird kein Paradies auf Erden, aber es wird schweres Unheil für die ganze Welt daraus entstehen.«

»Wenn er ein Mensch wäre wie ihr. Aber er ist der ideale Mensch. Der vollkommene Mann. Er wird die Macht … die wunderbare Macht nur zum Wohl der Menschheit, zum Glück der Welt verwenden … Ja, ich kenne ihn. Er geht mit reinem Herzen an die große Aufgabe. Er erstrebt nichts für sich, alles für die Menschheit. Er ist Erik Truwor. Das Wort sagt mir alles.«

Lord Horace sprach nicht aus, was er in diesem Augenblick dachte. Daß auch ihm das eine Wort, der eine Name nur allzuviel sage.

Mit müder Gebärde winkte er ab.

»Laß es gut sein, Diana. Was hilft Streiten? Das Geschick wird sich schneller erfüllen, als uns allen lieb ist.

Zurück zu dem Zweck unserer Unterhaltung. Dr. Glossin ließ seine Nichte Miß Jane Harte bei seiner Abreise allein in London zurück. Ich versprach ihm, sie bei uns aufzunehmen, bis er zurückkommt.

Das junge Mädchen ist hier im Hause. Ich will gehen und es holen.«

Erik Truwor faßte das Ergebnis der Untersuchung zusammen. Der Eisberg war mit seiner Basis halb schräg nach unten in das Wasser gefallen und hatte dann wieder Halt gefunden. Es war natürlich auch mit Hilfe des kleinen Strahlers leicht möglich, einen Ausgang aus dem Eise ins Freie zu schmelzen.

Aber sie befanden sich in einer komprimierten Atmosphäre. Die Luft in der Eishöhle war auf das Doppelte des gewöhnlichen Luftdrucks zusammengepreßt. In ihren Lungen hatte der hohe Druck sich ausgeglichen. Schafften sie der Luft plötzlich einen Ausgang ins Freie, so mußte die schnelle Druckverminderung sie töten. Die zusammengepreßte Luft in ihrem Innern hätte ihre Lungen zerrissen, ihre Leiber zerfetzt.

Doch auch ein langsames Ablassen der Druckluft gewährte keine Sicherheit. Sie wußten ja nicht, bis zu welcher Höhe der Wasserspiegel draußen den Berg umgab. Wie tief der Berg in den geschmolzenen See eingesunken war. Es konnte geschehen, daß das Wasser beim Ablassen der Luft schließlich die Decke des höchsten Raumes erreichte. Dann wurden sie ertränkt wie die Mäuse in der Falle.

Das Mittel, allen diesen Schwierigkeiten zu entgehen, hatte der Geist Silvesters entdeckt.

»Wir müssen den Berg ausschmelzen. Der ganze massive Kern muß als Schmelzwasser in die Tiefe gehen. Nur eine leichte äußere Schale darf stehenbleiben. Leichte Fußböden und Wände, die der Schale Halt geben. Dann wird er sich heben, wird leicht auf dem Wasser schwimmen …«

Der Plan war gut, aber die Frage der Luftbeschaffung machte Schwierigkeiten. Die wenige Luft, die in den vorhandenen Gängen eingeschlossen war, würde niemals genügen, das ganze Innere des ausgeschmolzenen Berges zu füllen.

Sie mußten also mit Vorsicht eine Rohrverbindung mit der Außenwelt herstellen, mußten die Luftpumpe mit vieler Mühe aus einem halb überfluteten Gange herbeischaffen und von außen her Luft in das Innere pumpen, als das große Schmelzen begann, als Tausende von Tonnen Schmelzwasser in die Tiefe flossen und der massive Eisriese von Stunde zu Stunde immer mehr die lockere Struktur einer Bienenwabe annahm.

Aber sie spürten auch den Erfolg. Der Berg hob sich. Sie merkten es daran, daß er wieder in die wagerechte Lage kam und daß die unteren überfluteten Gänge allmählich vom Wasser frei wurden.

Sie arbeiteten ohne Unterlaß. Silvester war Tag und Nacht tätig. Die Vorwürfe Erik Truwors brannten ihm schwer auf der Seele. Er wollte mit Hingabe seiner ganzen Kraft wieder gutmachen, was durch sein Versehen verdorben war, und mutete sich mehr zu, als sein geschwächter Organismus auf die Dauer aushalten konnte.

Bis die mißhandelte Natur sich rächte. Atma sprang hinzu, als Silvester neben dem Strahler, mit dem er die neuen Höhlen und Zellen in den Berg schnitt, zu Boden taumelte. Es bedurfte aller Künste des Inders, um das aussetzende Herz des Erschöpften zum Weiterschlagen zu zwingen und die schwere Ohnmacht in einen wohltätigen Schlaf zu verwandeln.

Freilich hatte Silvester Grund zu Eile und Anstrengung. Der Berg mußte gehoben, in seine endgültige Lage gebracht sein, bevor die Polarkälte ihre Wirkung tat, bevor die Oberfläche dieses durch einen so unglücklichen Zufall entstandenen Sees sich wieder mit einer schweren Eiskruste überzog. Denn fror der See, so war der Berg fest eingekittet, alle Versuche, ihn zu heben, wurden vergeblich.

Endlich war es gelungen. In hundert Stunden hatten sie das Werk getan. Nun hieß es warten und sich gedulden, bis das eintrat, was sie vorher so sehr zu fürchten hatten. Erst nachdem der gehobene Berg festgefroren war, konnten sie es wagen, seine Außenwand zu durchbrechen, durften sie die Tür dieses gigantischen Gefängnisses sprengen. Sie rechneten, daß wenigstens noch einmal fünfzig Stunden verstreichen müßten, bevor das frisch gebildete Eis den erleichterten Berg tragen würde.

Die Laune des Schicksals schenkte dem Präsident-Diktator noch einmal eine Frist. Krieg und Kriegsgeschrei erfüllten noch einmal die Welt. Von einer sinnlosen und lächerlichen Kleinigkeit hing es ab, wie lange der Vernichtungskampf zweier Weltreiche anhalten sollte. Einfach davon, wie schnell oder wie langsam sich in der arktischen Eiswüste auf einem Tümpel von mäßiger Größe eine tragfähige Eisfläche bilden würde.

Fünfzig Stunden, in denen die Insassen des Berges nichts anderes tun konnten, als tatenlos zu warten. Abgeschnitten von der Welt, ohne Kunde von dem, was draußen vorging.

Atma saß am Lager Silvesters. Er zwang ihn, sich wohltätiger Ruhe hinzugeben, seinem armen mißhandelten Herzen, das immer noch unruhig und unregelmässig gegen die Rippen pochte, Erholung zu gönnen.

Erik Truwor war allein, eine Beute quälender Gedanken, die sich nicht verjagen ließen.

Was war in den Tagen ihrer Gefangenschaft geschehen? Hatten die ersten Warnungen der Macht genügt, oder war der Krieg doch ausgebrochen?

Besaß die Menschheit so viel Einsicht, der sinnlosen Zerstörung aus eigener Kraft Einhalt zu gebieten?

War das der Fall, dann würde er das Werk so ausführen können, wie er es geplant hatte.

Aber wenn sie ihm nicht gehorchten? Wenn sie in diesen Tagen seiner erzwungenen Untätigkeit übereinander herfielen?

War das nicht der Beweis dafür, daß sie noch nicht zur Selbstregierung reif waren, daß sie einen Selbstherrscher brauchten, zu ihrem Glücke gezwungen werden mußten?

Wer sollte sie dann zwingen? Die Träger der Macht. Drei Köpfe, drei Sinne!

Nur einer konnte der Herr sein. Wer sollte es sein?

Silvester, der stille Gelehrte, der Forscher?

Oder Atma? Der Schüler des Buddha Gautama und des Tsongkapa?

Nein und nochmals nein! Nur er selbst konnte es sein. Der Nachfahr des alten Herrengeschlechtes, dem eine zweifache Prophezeiung noch einmal die Herrschaft versprach.

Die Wucht der Gedanken riß Erik Truwor empor. Er sprang auf und irrte durch die Eisklüfte des gehöhlten Berges.

Er war von der Vorsehung auserwählt. Ihm hatte das Schicksal die unendliche Macht in die Hand gegeben. Er brauchte Gehilfen, treu ergebene Paladine, um sie auszuüben. Dazu hatte das Geschick ihm die Freunde an die Seite gestellt. So war die Weissagung von Pankong Tzo zu deuten. Dem Herrscher die Macht, seinen Paladinen das Wissen und den Willen.

So mochte es einem Cäsar zumute gewesen sein, ehe er den Rubikon überschritt, so einem Napoleon, als er den Sturm auf Italien wagte, so einem Stonard, als er gegen die Gelben im Westen der Union losbrach.

Das Schicksal rief ihn. Das Schicksal hatte Ungeheures mit ihm vor, wenn … wenn in diesen Tagen der Kampf ausgebrochen war. Mit kaum zu bändigender Ungeduld erwartete er die Stunde der Befreiung aus dem eisigen Gefängnis.

Nur dem Wunsch ihres Gatten folgend, hatte Diana Maitland Jane in ihr Haus in Maitland Castle aufgenommen. Widerstrebend zuerst, hatte sie sie dann liebgewonnen. Wenn dies junge Mädchen eine Verwandte des Dr. Glossin war, so hatte sie jedenfalls nichts von den zweifelhaften Eigenschaften ihres Oheims geerbt.

Mochte Dr. Glossin auch tausendmal gelogen haben, diesmal hatte er die Wahrheit gesprochen, als er sagte, daß Jane einsam und hilfsbedürftig sei. Lady Diana erkannte es mit dem geübten Blick der gereiften und lebenserfahrenen Frau.

Sie nahm sich vor, der Verlassenen eine mütterliche Freundin zu sein. In Maitland Castle während dieser Tage politischer Hochspannung und kriegerischer Verwickelungen selbst vereinsamt, zog sie sie in ihre Gesellschaft und hatte sie den größten Teil des Tages um sich. Dabei aber mußte sie die Entdeckung machen, daß die Seele des jungen Menschenkindes Rätsel barg.

Lady Diana fand, daß in den Erinnerungen Janes Lücken klafften. Was sie erzählte, erzählte sie schlicht und einfach, ohne Widersprüche. Aber plötzlich, an bestimmten Stellen, stockte die Erzählung, brach die Erinnerung ab, und es war Diana nicht möglich, die Lücken zu überbrücken.

Dazu der häufige Wechsel der Stimmung. Eben noch heiter, fast ausgelassen. Dann wieder still, grübelnd, nachdenklich, zerstreut. Wechselnde Stimmungen, schwankende Abneigungen und Sympathien, die sich bei den gemeinschaftlichen Mahlzeiten sogar in der Wahl der Speisen äußerten.

Diana Maitland hatte sich gesprächsweise mit ihrer Beschließerin über Jane unterhalten. Die sonderbaren Andeutungen der Alten gingen ihr nicht aus dem Sinn.

Jane machte sich an einem Tischchen zu schaffen, das in einem der großen erkerartig ausgebauten Bogenfenster stand. Sie hatte den Tischkasten aufgezogen, kramte in verschiedenen Kleinigkeiten, die dort lagen, schien irgend etwas zu suchen. Diana sah, wie sie ein Garnknäuel und ein Buch herausnahm, die Gegenstände zerfahren und unsicher auf den Tisch legte und dann ein Zeitungsblatt aus dem Kasten holte. Ein altes Blatt, mehrfach geknifft, eine Notiz darauf mit Buntstift angestrichen.

Die Sonne fiel durch das Erkerfenster und wob goldene Reflexe um die schweren blonden Flechten Janes. In dieser Beleuchtung, die ihre zarte Schönheit noch hob, wirkte sie unwahrscheinlich ätherisch, wie eine der Gestalten auf den bunten Stichen von Gainsborough. Diana Maitland betrachtete das Bild mit Wohlgefallen.

Jane saß leicht vorgebeugt an dem Tischchen. Ihre Blicke ruhten auf dem Zeitungsblatt. Der zerstreute, träumerische Zug, den Diana in den letzten Tagen so oft an ihr beobachtet hatte, lag auf ihrem Antlitz. Jetzt straffte sich ihre Miene. Ihr Auge haftete auf einem Punkt des Blattes, während sie angestrengt nachzudenken schien. Als ob sie etwas suche, eine Erinnerung, ein Wort, einen Namen, auf den sie nicht kommen könne. Es sah aus, als ob dies angestrengte Sinnen ihr körperliche Pein bereite.

Diana Maitland sah die Wandlung und rief sie an: »Was ist Ihnen, Jane?«

Wie geistesabwesend ließ Jane das Zeitungsblatt sinken und fuhr sich über die Stirn.

»Linnais … Linnais …«

»Jane, was haben Sie? Was ist Ihnen Linnais?«

Als Diana das Wort Linnais aussprach, erhob sich Jane wie eine Schlafwandlerin. Suchend, stockend brachte sie einzelne Worte hervor.

»Linnais … Brand … Ruinen … alles tot …«

Sekundenlang stand Diana in starrem Staunen.

»Nein, Jane … Sie leben!«

»Leben … Linnais … leben … Hochzeit … meine Hochzeit … Kirche … Atma … Erik Truwor …«

Diana Maitland sank schwer atmend in ihren Sessel zurück. Ihre Augen hingen an den Lippen Janes, die weiterflüsterten:

»… meine Hochzeit …«

»Mit Erik Truwor?«

»Nein … nein … mit …«

»Mit …«

»Mit … mit …«

Jane suchte und konnte den Namen ihres Gatten nicht finden. In ängstlichem Grübeln krauste sich ihre Stirn.

»Mit Logg Sar?«

»Silvester …!« Wie ein erlösender Aufschrei kam es von Janes Lippen. »Silvester … Silvester … wo ist er?«

Diana trat auf die Schwankende zu und geleitete sie zu einem Ruhebett. Ein tiefes Schluchzen erschütterte den zarten Körper Janes. Als sie die Augen aufschlug, war ihr Blick gewandelt. Nicht mehr unsicher und traumverloren. Klar und fest.

»Silvester! Ich habe ihn wieder!«

»Was ist Ihnen Silvester?«

»Er ist mein Mann! Mein lieber Mann!«

Die Gedanken Dianas jagten sich. Was war das? Was hatte Dr. Glossin getan? Welches Verbrechen war an dem Mädchen begangen worden? Diana Maitland fand die härtesten Ausdrücke für den Arzt. Wie konnte er die Gattin Logg Sars als seine Nichte, als junges Mädchen in ihr Haus einführen? Wie kam die Gattin Logg Sars in die Gewalt Glossins?

Jane richtete sich auf dem Diwan empor und begann zu sprechen. Fließender, endlich ganz frei. Die hypnotische Kraft Dr. Glossins reichte an diejenige Atmas nicht heran. Ein einfaches Zeitungsblatt, jenes schwedische Blatt, welches von Glossins Hand selbst unterstrichen den Namen Linnais trug, hatte genügt, den von ihm gelegten Riegel zu brechen.

Die volle Erinnerung kam Jane wieder. Sie erzählte, wie sie in der Sorge um Silvester von Düsseldorf nach Linnais ging, Brandruinen fand, wo sie einst Hochzeit gehalten. Wie Dr. Glossin, ihr selbst unerklärlich, plötzlich vor ihr stand, wie sie ihm willenlos folgen mußte.

»Dein Silvester lebt, Jane! Er und seine Freunde! Wir wissen es. Lord Horace sagte es mir. Unsere Stationen müssen ihre Befehle funken.«

»Er lebt. Ich höre es. Ich glaube es gern … gern … Aber er weiß nicht, wo ich bin. Ich habe in törichter Sorge seine Weisung mißachtet, bin fortgelaufen. Er sucht mich vergeblich, kann mir keine Nachricht geben.«

Lady Diana brachte bald heraus, wie diese Benachrichtigungen früher stattgefunden hatten. Aber der kleine Telephonapparat war verschwunden. Irgendwo in Linnais geblieben. Damals, als Dr. Glossin in ihm die Stimme Silvesters vernahm, die Kraft des Strahlers zu fürchten begann und den Apparat wie glühendes Eisen von sich schleuderte. Die Wellenlänge, auf die Silvester den Apparat gestimmt hatte, war damit verloren. Die Möglichkeit einer Verständigung in der früheren Art ausgeschlossen.

Es blieb nur die öffentliche Regierungsstation, die Möglichkeit, eine Depesche in der Wellenlänge dieser Station abzugeben. Zu gewöhnlichen Zeiten eine einfache Sache. Jetzt in den Tagen des Krieges und der Zensur eine schwierige, fast unlösliche Ausgabe. Diana Maitland übernahm es, sie zu lösen.

Der Luftverkehr auf den britischen Inseln war des Krieges halber verboten. In ihrem schnellen Kraftwagen fuhr sie selbst nach Cliffden in die große englische Station. Sie suchte den Stationsleiter auf und hatte eine lange Unterredung mit ihm. Sie bat, beschwor und drohte, bis der Widerstand des Beamten überwunden war. Bis er vom Buchstaben seiner Instruktion abwich und die kurze Depesche zur Absendung entgegennahm. Lady Diana blieb an seiner Seite, solange die Depesche umgeschrieben und von den Perforiermaschinen für die Sendung vorbereitet wurde. Sie stand neben ihm, als der Geberautomat den Papierstreifen zu verschlingen begann, als Hebel tanzten und Kontakte polterten, als die ersten Worte der Depesche

»Jane an Silvester …«

auf den Flügeln elektrischer Wellen in den Luftraum strömten. Sie blieb neben dem Stationsleiter stehen, bis der Streifen dreimal durch den Apparat gelaufen war. Dann ging sie zu ihrem Kraftwagen und kehrte nach Maitland Castle zurück.

Am siebenten Tage nach der Katastrophe wagten es die Eingeschlossenen. Sie ließen die Druckluft aus dem Eisberge langsam ins Freie entweichen. Erik Truwor stand am Ventil, den Blick auf dem Druckzeiger. Im untersten Gange beobachtete Silvester den Wasserspiegel. Das Mikrophon am Munde, bereit, Alarm zu geben, wenn das Frischeis nicht hielt, der Berg sich senkte, das Wasser stieg.

Mit leisem Pfeifen entwich die Luft. Langsam fiel der Zeiger des Manometers. Nur noch wenige Linien stand er über dem Nullpunkt. Erik Truwor lehnte sich gegen die Eiswand, drückte das Ohr gegen die Fläche, um jedes Knistern, jedes kommende Brechen des Eises so früh wie möglich zu spüren.

Es blieb ruhig. Nur das schwächer und schwächer werdende Pfeifen der entweichenden Luft. Jetzt nur noch ein leichtes Rauschen. Der Zeiger stand auf dem Nullpunkt. Der Druck war ausgeglichen. Der Berg hielt sich ohne Unterstützung der Preßluft.

Schnell fraß der kleine Strahler einen neuen Ausgang durch die Schale des Berges. Die Antenne in Ordnung bringen, den Verkehr mit der Welt wieder herstellen, das war jetzt das Wichtigste. Die Antenne auf dem Abhang des Berges war unversehrt geblieben. Nur die Verbindungen nach den Apparaten hin waren bei der Katastrophe zerrissen. Zehn Minuten genügten, um eine Notleitung zu legen. Kaum war die letzte Verbindung gemacht, die letzte Schraube angezogen, als auch schon wieder Leben in die Apparate kam, die alle diese Tage hindurch still und tot dagelegen hatten. Die Farbschreiber klapperten, die Laufwerke rollten, und die Streifen, dicht mit Morsezeichen bedeckt, quollen unter den Farbrädern hervor. Nachrichten aus Amerika und Europa, aus Indien und Australien.

Das Schicksal ging seinen Weg. Der Krieg war ausgebrochen. Englische und amerikanische Luftstreitkräfte waren an den verschiedensten Punkten der Welt zusammengeraten. Die große englische Schlachtflotte hatte ihren Hafen verlassen um die amerikanische Ostküste anzugreifen. Die amerikanische Flotte war ihr entgegengefahren. Nur noch vierundzwanzig Stunden, und es kam zu einer gewaltigen Schlacht mitten im Atlantik.

Die Frage, die sich Erik Truwor in diesen Tagen unfreiwilliger Ruhe so oft vorgelegt hatte, war entschieden. So entschieden, wie er es in unruhigen Nächten gefürchtet hatte. Die Menschheit hörte nicht auf seine Worte. Sie war nicht fähig, sich selbst zu regieren. Sie brauchte den Herrn, der sie zwang.

Er fühlte, wie seine Ideale zusammenbrachen. Sie taten da draußen nichts aus freien Stücken und irgendeinem Ideal zuliebe. Wer die Macht hatte oder zu haben glaubte, benutzte sie rücksichtslos. Seine Warnungen waren unbefolgt verhallt. Sie würden ihm nur gehorchen, wenn er Brand und Mord hinter jeden seiner Befehle setzte.

Die Stunde der Entscheidung war gekommen. Wenn er durchsetzen wollte, was er sich vorgenommen, was er als seine Mission ansah, dann mußte er als Herr auftreten. Klar hatte er die Notwendigkeit in den Tagen der Gefangenschaft durchdacht und schrak zurück, nun die entscheidende Stunde gekommen war.

Würde man seine Absichten nicht verkennen? Würde die Welt ihm nicht andere Beweggründe unterschieben? Würde sie nicht einer maßlosen Ehrsucht zuschreiben, was nur bittere Notwendigkeit war?

Es duldete ihn nicht länger in der Enge der Berghöhlen. Er stürmte hinaus in das Freie. Er sprang über Schollen und Schneewehen, die in den Strahlen der tiefstehenden Sonne rot glühten. Er lief und fühlte, daß alle die alten Ideen und Ideale von Pankong Tzo vernichtet waren.

Atemlos hielt er im Lauf inne. Ihm graute vor der Entscheidung, vor der Verantwortung, vor dem Entschluß.

Hinter einer Eisklippe hatte der Wind den frischen Schnee zusammengewirbelt. Hier ließ er sich niedersinken, fühlte, daß die weißen Flocken sich wie ein Daunenkissen um seine Glieder schmiegten. Eine tiefe Mutlosigkeit, eine Erschlaffung überkam ihn. Er wurde ganz ruhig.

Wie wäre es, wenn er hier liegenbliebe, wenn er jetzt einschliefe? Der Verantwortung, dem verhaßten Entschluß durch freiwilligen Tod aus dem Wege gehen?! Wie lange würde es dauern, bis der arktische Frost den kurzen Schlummer in einen ewigen Schlaf verwandelte. Wie schön müßte es sein, hier einzuschlummern, hinüberzugehen in das große Meer der ewigen Ruhe und des Vergessens, in dem alle dunklen Wellen des Lebens verrieseln.

War es der Frost, der schon zu wirken begann, den Körper leicht, die Gedanken träumerisch und sprunghaft machte?

Eine dunkle, fromme Erinnerung überkam ihn. Die Hände falten! Er streifte die schweren Pelzhandschuhe ab und schlug die Finger ineinander. Da … seine Rechte zuckte zurück.

Was war das Kalte, das er berührt hatte? Kalt und brennend zugleich. Er hob die Hand zum Gesicht. Vom Mittelfinger der Linken strahlte ihm der Alexandrit entgegen, jetzt auch im Tageslicht hellrot glühend, wie er ihn noch nie gesehen hatte.

Mit einem Sprung stand er auf den Füßen.

Sich von dem eigenen Schicksal wegstehlen? Dem Leben feige den Rücken kehren? Nein, niemals, und wenn der Weg nach Golgatha führen sollte.

Die Menschheit da draußen wollte Kampf und Mord. Sie sollte im Überfluß davon haben. Wie eine neue Gottesgeißel wollte er sie züchtigen, bis sie ihm bedingungslos gehorchte.

Ein harter, eiserner Wille prägte sich auf sein Gesicht.

Ruhigen und festen Schrittes ging er zum Berge. Er trat hinein und schritt durch die Gänge dem Raume zu, in dem die großen Strahler standen. Der rote Sonnenschein drang durch die grünlichen Eiswände und erfüllte die Hallen und Gänge mit einem magischen Doppellicht. Die vollkommene Stille, die hier in den Regionen des ewigen Eises herrschte, wurde nur durch das leise Ticken der Funkenschreiber unterbrochen. In schwirrendem Spiel klappten die feinen Schreibhebel der Apparate auf und nieder und notierten in Punkten und Strichen die Botschaften, die von allen Teilen der Welt her durch den Äther kamen und sich in den Maschen der Antenne fingen.

Silvester saß vor einem der Schreibapparate in einem leichten Sessel. Er hielt den Papierstreifen unbeweglich in den Händen, als ob er sich von einer einzelnen Nachricht nicht losreißen könne. Das in rötlichgrünen Tönen durch den Raum schimmernde Licht umspielte seine Gestalt. Es ließ sein Antlitz fahl wie das eines Toten erscheinen.

Erik Truwor warf einen Blick auf die Stelle des Streifens, den Silvester so beharrlich in den Händen hielt. Der Apparat hatte inzwischen unermüdlich weitergearbeitet. Viele Meter des Streifens waren ihm entquollen und lagen in Windungen und Schleifen auf den Knien Silvesters.

Erik Truwor las die Stelle in den Händen Silvesters: »Jane an Silvester. Ich bin geborgen. In England in Maitland Castle bei guten Freunden.«

Der Streifen zeigte die kurze Depesche dreimal hintereinander.

Erik Truwor beugte sich zu dem Sitzenden hinab und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Freue dich, Silvester! Deine Sorgen sind vorüber. Jetzt weißt du, daß Jane in Sicherheit ist.«

Unter dem Druck von Erik Truwors Hand sank die Gestalt Silvesters noch mehr in sich zusammen. Sie fiel nach vorn und wäre ganz zu Boden gesunken, wenn Erik Truwor nicht mit kräftigen Armen zugegriffen hätte. Da fühlte er, daß das Leben aus dem Körper des Freundes gewichen war, daß die Blässe des Antlitzes nicht allein durch die fahlen Reflexe der Eiswände verursacht wurde.

Dem wechselreichen Auf und Ab von Freuden und Leiden, seelischen Erschütterungen und schwerster Forschungsarbeit war der Organismus Silvester Bursfelds nicht gewachsen. Ein Herzschlag hatte sein junges Leben in dem Augenblick beendigt, in dem er die Depesche von Jane empfing.

Erik Truwor hielt die schon erkalteten Finger des Freundes in seinen Händen. Atma trat in den Raum. Er schritt auf Silvester zu und schloß ihm mit sanftem Druck die Augen.

»Er hat gegeben, was das Schicksal von ihm verlangte, das Wissen.«

Erik Truwor nickte und ließ seine Blicke auf den blassen Zügen ruhen.

»Das Wissen, das mir die Macht schafft.«

Er wandte sich von dem Toten weg nach dem großen Strahler. Nur die Farbschreiber tickten leise und warfen immer neue Nachrichten von den Kriegsschauplätzen auf das Papier. Mit schweren Schritten ging Erik Truwor auf den mächtigen Strahler los. Nur ein einziges Wort kam von seinen Lippen: »Auf!«

Wie Kampfruf klang es! Kampfruf war es!

Doktor Rockwell, der Leibarzt des Präsident-Diktators, und Hauptmann Harris, der diensttuende Adjutant, unterhielten sich mit gedämpfter Stimme im Vorzimmer.

»Solange der Präsident meinen ärztlichen Rat nicht wünscht, darf ich mich ihm nicht aufdrängen.«

»Es geht so nicht weiter, Herr Doktor! Das Leben hält auf die Dauer kein Mensch aus. Seit zwölf Tagen, seit der englischen Kriegserklärung, ist der Präsident nicht mehr aus seinen Kleidern gekommen, hat sein Arbeitzimmer kaum verlassen …«

»Ich gebe zu, daß solche Lebensweise angreifend ist, namentlich, wenn man die Fünfzig überschritten hat. Aber andererseits … bedenken Sie die außergewöhnliche Lage. Der Krieg mit einer ebenbürtigen Großmacht. Es geht um das Schicksal der Staaten und … des Diktators. Es ist schließlich nicht zu verwundern, daß er seine ganze Kraft an die Leitung des Krieges setzt.«

»Kraft! Kraft! Herr Doktor! Wo soll die Kraft herkommen, wenn er so gut wie nichts zu sich nimmt? Eine Tasse Tee. Ein paar Schnitten Toast. Das genügt ihm für vierundzwanzig Stunden. Dazu kein Schlaf. Ich habe den Präsidenten während meiner Dienststunden seit zwölf Tagen nicht schlafend gefunden. Meine Kameraden von den anderen Wachen auch nicht.«

»Er wird trotzdem geschlafen haben. Viertelstundenweis, zu Zeiten, in denen niemand in seinem Zimmer war. Zwölf Tage ohne Schlaf hält niemand aus. Das kann ich Ihnen als Arzt versichern. Am dritten Tage machen sich bei vollkommener Schlafentziehung schwere Symptome bemerkbar.«

»Die Symptome sind da, Herr Doktor! Darum bitte ich Sie, zu dem Präsidenten zu gehen. Sein Wesen ist verändert. Sein Blick, früher so ruhig und kalt, ist flackernd und fiebrig geworden.«

»Fieber erkennen wir an der Temperatur des Patienten. Seien Sie überzeugt, daß der Präsident in den zwölf Tagen in seinem Lehnstuhl ganz gut geschlafen hat. Die Natur läßt sich nicht betrügen. Am wenigsten um den Schlaf. Die ärztliche Wissenschaft kennt Beispiele, daß Reiter auf ihren Pferden im Zustand der Übermüdung fest geschlafen haben, ohne es zu wissen und ohne … das ist besonders wichtig … ohne herunterzufallen. Um wieviel mehr müssen wir annehmen, daß der Präsident in seinem bequemen Armstuhl den nötigen Schlummer gefunden hat.«

»Schlummer? Herr Doktor! Sie können so sprechen, weil Sie die Verhältnisse hier noch nicht aus der Nähe gesehen haben. Auf seinem Tisch stehen zwölf Telephonapparate. Jeder Apparat für eine besondere Wellenlänge. Er hat ständige Verbindung mit den Kriegsschauplätzen. Eben spricht er vielleicht mit dem Befehlshaber unserer afrikanischen Fliegergeschwader. Wenige Minuten später mit dem Chef der australischen Flotte. Unter Umständen meldet sich schon während dieses Gesprächs das indische Geschwader. So geht es Tag und Nacht.«

»Ihre Mitteilungen in Ehren, Herr Hauptmann. Trotzdem kann ich nicht ungerufen meinen Rat aufdrängen. Sollten sich wirklich ernsthafte Symptome zeigen, kann ich in zwei Minuten zur Stelle sein.«

Während dies Gespräch im Vorraum geführt wurde, saß der Präsident-Diktator in seinem Arbeitzimmer in dem schweren hochlehnigen Armstuhl hinter dem mächtigen Tisch. Hauptmann Harris hatte recht. Das Wesen Cyrus Stonards war verändert. Bald stierte er Minuten hindurch auf irgendeine vor ihm liegende Meldung. Dann blickte er wieder starr gegen die Zimmerdecke. Nervös, unruhig, als erwarte er jeden Moment eine bestimmte Nachricht.

Ein Sekretär trat ein. Vorsichtig, auf den Fußspitzen gehend, schritt er über den schweren Teppich bis an den Tisch heran und legte eine rote Mappe mit neuen Depeschen vor den Präsidenten hin.

Es waren gute Nachrichten. Erfolge in Indien. Eine für das Sternenbanner siegreiche Luftschlacht über der Straße von Bab el Mandeb. Auch ein anspruchsvoller Feldherr konnte kaum mehr verlangen. Doch der Präsident-Diktator las die Nachrichten ohne Freude.

Seit zwölf Tagen wurde sein Gehirn nur von dem einzigen Gedanken beherrscht: Wird das Spiel noch glücken oder wird die unbekannte Macht sich einmischen? Daß seine Streitkräfte mit den englischen fertig werden würden, daran hatte er nie gezweifelt.

Aber die Macht! Die unbekannte Macht, die Maschinen sprengte und drahtlose Stationen spielen ließ! Die unbekannte Macht, die über so unheimliche Waffen und Kräfte verfügte.

Telegramm um Telegramm las er und legte es beiseite. Bis er zu den beiden letzten Schriftstücken der Mappe kam.

Er las und wischte sich mit der Hand über die Augen, wie um besser zu sehen. Las zum zweitenmal, hielt die Depesche in den Händen und ließ den Kopf mit den Augen auf die Papiere sinken.

Zwei Depeschen waren es. Die eine um zwölf Uhr zehn Minuten amerikanischer Zeit von Sayville datiert. Die andere um sechs Uhr zwanzig Minuten westeuropäischer Zeit von der englischen Großstation in Cliffden. Berücksichtigte man die verschiedenen Ortszeiten, so waren beide Depeschen nur mit zehn Minuten Abstand aufgegeben worden. Zwei Depeschen von völlig gleichem Wortlaut: »An alle! Die Macht verbietet den Krieg. Die Macht wird jede feindliche Handlung verhindern.«

Was Cyrus Stonard seit zwölf Tagen heimlich fürchtete, was ihn zwölf Tage und Nächte in dieser unnatürlichen Spannung und Aufregung gehalten hatte, war geschehen. Die unbekannte Macht verbot den Krieg, stellte eine gewaltsame Verhinderung aller Operationen in Aussicht.

Der Diktator sprang auf und lief wie ein gefangenes Raubtier im Zimmer hin und her. Jetzt flatterte der helle Wahnsinn in seinen Augen. Seine Lippen murmelten Flüche, während er die Faust ballte.

Hauptmann Harris trat mit einer neuen Depeschenmappe in das Zimmer. Er sah mit Schrecken, wie der Zustand des Diktators sich verschlimmert hatte. Cyrus Stonard riß ihm die Mappe aus der Hand, beugte sich über den Schreibtisch und las. Seine Augen weiteten sich, während er den Inhalt der Depesche verschlang. Dann stieß er die Mappe weit von sich und brach in ein gellendes Gelächter aus. Ein Lachen des Wahnsinns und der Verzweiflung, das immer schriller und krampfartiger wurde. Bis es schließlich mehr Schluchzen als Lachen war. Dann stürzte er auf der Stelle, auf der er stand, nieder und lag regungslos auf dem Teppich.

Jetzt war es Zeit, Dr. Rockwell zu rufen. Hauptmann Harris bettete den Bewußtlosen auf den Diwan und ging dem Doktor zur Hand, solange er gewünscht wurde.

Eine Viertelstunde nach der Erkrankung waren die Staatssekretäre des Krieges, der Marine, des Innern und Äußern zur Stelle. Sie hörten den Bericht des Arztes. Prüften dann die Schriftstücke, die der Präsident-Diktator zuletzt bekommen hatte. Die beiden Depeschen von Sayville und Cliffden, die noch zerknittert auf der Schreibmappe lagen.

Die Mitglieder des Kabinetts wußten nur wenig von der Existenz der unbekannten Macht. Gerade das, was sich nach der ersten warnenden Depesche in Sayville nicht mehr gut verheimlichen ließ. Cyrus Stonard hatte diese Angelegenheit ganz geheim behandelt und nur mit Dr. Glossin besprochen. Mit Dr. Glossin, der schon seit drei Wochen nicht mehr in Washington gesehen worden war.

Der Staatssekretär des Krieges George Crawford las die Depesche vor: »Die Macht verbietet den Krieg. Sie wird jede kriegerische Handlung verhindern.«

Er ließ das Blatt verwundert sinken.

»Beim Zeus, eine kühne Sprache! Welche Macht kann es sich erlauben, uns den Krieg zu verbieten, zwei Weltreiche zu brüskieren?«

»Die Macht! Wie das klingt? Geheimnisvoll und anmaßend! Ist es denkbar, daß der Diktator durch diese Depesche so schwer erschüttert worden sein sollte?«

Sie suchten weiter. Hauptmann Harris wies dem Staatssekretär des Krieges die Mappe, bei deren Lektüre der Präsident zusammenbrach.

Sie lasen die zweite Depesche, und ihre Wirkung auf diese vier Staatsmänner war niederschmetternd.

Sie kam von dem Chef der großen amerikanischen Atlantikflotte. Es war der verzweifelte Ruf eines wehrlos gemachten und von einer mysteriösen Kraft gepackten Geschwaders. Der Anfang der Depesche setzte um 12 Uhr 30 ein. Dann war sie bruchstückweise immer weitergegeben worden, wie die Ereignisse sich abspielten: »Klar zum Gefecht. In Schußweite mit der englischen Atlantikflotte … Die Feuerleitung versagt … Unsere Geschütze können nicht feuern … Können auch nicht laden … Geschützverschlüsse mit den Rohren verschweißt … Geschütze unbrauchbar … Torpedos unbrauchbar … Englische Flotte feuert auch nicht … Rudermaschinen blockiert … Unsere Schiffe nach Osten gezogen … Die englische Flotte zieht in geschlossener Kiellinie dicht an uns vorüber nach Westen … Auf der englischen Flotte große Verwirrung … Unsere Panzer schließen sich dicht zusammen … aller Stahl stark magnetisiert … Die englische Flotte am Westhorizont verschwunden … Eine unwiderstehliche Kraft treibt unsere Schiffe mit 50 Knoten nach Osten … Gott sei unseren Seelen gnädig.«

Sie lasen die Depesche öfter als einmal und verstanden das Gelächter, mit dem Cyrus Stonard zusammengebrochen war. Das war also die Macht! Die unbekannte, geheimnisvolle Macht, die den Krieg nicht wollte. Die Macht, die die Mittel besaß, um alle Waffen wirkungslos zu machen. Die Macht, deren erste Warnung man ignoriert hatte, und die nun ihre Gewalt zeigte.

Die Katastrophe betraf die große amerikanische Schlachtflotte. Die Ehre des Sternenbanners war bei der Affäre engagiert. Aber trotzdem konnte sich keiner der vier Staatsmänner der Wirkung des titanischen Humors entziehen, der in diesem Verfahren lag. Eine Macht, die Geschütze verschweißte und Schlachtpanzer elektromagnetisch zusammenklebte, eine Macht, die eine ganze Flotte willenlos durch den Ozean zog, wäre auch imstande gewesen, die Schlachtschiffe zu versenken. Sie tat es nicht. Sie lähmte die Waffen und zog die feindlichen Flotten in nächster Nähe aneinander vorüber, die amerikanische Flotte nach England und die englische Flotte nach Amerika.

Denn so ging die Reise ganz offenbar. Wenn noch irgendein Zweifel darüber bestand, wurde er durch das Telephon beseitigt, das sich auf dem Tisch des Präsident-Diktators meldete. Die drahtlose Verbindung mit der Atlantikflotte.

Der Staatssekretär der Marine eilte an den Apparat und erkannte die Stimme des Admirals Nichelson, der sich bei der Atlantikflotte befand.

»Habe ich die Ehre, mit Seiner Exzellenz dem Herrn Diktator zu sprechen?«

»Nein! hier ist der Staatssekretär der Marine. Der Herr Präsident-Diktator hat sich für kurze Zeit zur Ruhe begeben. Berichten Sie an mich. Ich habe Ihre Depesche über die Katastrophe vor mir liegen.«

»Sie wissen?«

»Ich weiß, daß Ihre Flotte kampfunfähig mit fünfzig Seemeilen nach Osten treibt.«

»Es sind inzwischen hundert geworden. Unsere Schiffe rasen, halb aus dem Wasser gehoben, ostwärts. Wir besitzen keine Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen. Wir müssen abwarten, was das Schicksal mit uns vorhat.«

»Wie sieht es auf der Flotte aus? Sind noch weitere Beschädigungen auf den Schiffen eingetreten? Wie ist der Zustand der Besatzung?«

»Beschädigungen? … Keine weiter. Jedes Geschütz am Verschluß verschweißt … Der Zustand der Mannschaften? … Fragen Sie lieber nicht … Keine Disziplin mehr. Ein Teil der Leute vom religiösen Wahnsinn befallen. Liegen auf den Knien, singen Psalmen, erwarten das Jüngste Gericht. Einige über Bord gesprungen. Geht die Fahrt so weiter, landen wir morgen in England.«

Der Staatssekretär der Marine legte den Hörer auf den Apparat. Er trat an den großen Globus, steckte einen Kurs ab und rechnete. Dann wandte er sich zu seinen Kollegen.

»Meine Herren! Ich glaube, wir dürfen die englische Flotte morgen etwa um die neunte Stunde an der amerikanischen Küste erwarten.«

Mr. Fox sprach durch das Telephon mit Dr. Rockwell.

»In dem Befinden des Herrn Präsident-Diktators ist bisher keine Änderung eingetreten. Die Staatsgewalt liegt nach der Verfassung bei den Staatssekretären.«

Während sich die Ärzte bemühten, Cyrus Stonard ins Bewußtsein zurückzurufen, übernahmen die vier Staatssekretäre die Lenkung des schwankenden Staatsschiffes.

Dr. Glossin saß in seiner Neuyorker Wohnung und überschlug die Ergebnisse seiner politischen Tätigkeit. Seit acht Tagen war er in Amerika und hatte keine Stunde seiner Zeit verloren. Mit den Führern der Sozialisten und mit denen der Plutokraten hatte er verhandelt, Arbeiter und Milliardäre waren der Herrschaft des Diktators gleichmäßig müde. Leise Schwankungen des sonst so festen und zuverlässigen Bodens deuteten auf kommende gewaltsame Ausbrüche.

Noch jetzt wunderte sich Dr. Glossin über die Vertrauensseligkeit, mit der die Parteiführer der Sozialisten und Plutokraten ihm entgegengekommen waren. Wer gab denen denn den Beweis, daß er wirklich von Cyrus Stonard abgefallen sei? Was wußten die Tölpel von der unbekannten Macht? Von allem, was noch zu erwarten war?

Dr. Glossin kannte die Pläne der Roten und der Plutokraten und hatte ihre Chancen genau erwogen. Beiden Parteien würde die Revolution zweifellos glücken. Aber in beiden Fällen würde der Erfolg kein vollkommener sein, würde es im weiteren Verlauf unbedingt zum Bürgerkriege kommen. Machten die Roten die Revolution, würden der Westen und ein Teil der Mittelstaaten sich dagegen erheben. Machten sie die Weißen, würde umgekehrt der Osten rebellieren.

In den Vereinigten Staaten gab es aber noch eine dritte Partei, deren Mitglieder sich einfach als »Patrioten« bezeichneten. Eine Partei, für die Dr. Glossin bis vor kurzem nur ein Achselzucken übrighatte. Die Patrioten waren so unzeitgemäß, die Politik nur des Vaterlandes und der alten amerikanischen Ideale halber zu treiben. Freiheit des einzelnen und des ganzen Staatswesens. Abschaffung aller Korruption. Innehaltung von Treu und Glauben bei allen, auch bei politischen Abmachungen. Das Programm der Patriotenpartei bestand aus idealen Forderungen. Darum hatte sie Cyrus Stonard auch gewähren lassen, hatte sie ebenso wie Glossin für ungefährliche Schwärmer gehalten.

Erst vor fünf Tagen war der Doktor mit William Baker, dem Führer der Partei, in Verhandlung getreten. Nachdem er in Erfahrung gebracht, daß die Roten und die Weißen am gleichen Tage losschlagen wollten. Er hatte die Partei zum Handeln aufgepeitscht. Er hatte sich mit Mr. Baker eine lange Nacht hindurch eingeschlossen, einen vollständigen Revolutionsplan mit ihm entworfen und in allen Einzelheiten ausgearbeitet. So raffiniert und wirkungsvoll, daß dem Parteiführer vor der teuflischen Schlauheit des Arztes graute.

Nur über die Behandlung und Beseitigung des Diktators waren sie nicht einig geworden. Glossin war für Lufttorpedos auf das Weiße Haus. Mr. Baker war gegen jedes Blutvergießen. Er verkannte die großen Verdienste des Präsident-Diktators um die Union nicht. Cyrus Stonard sollte weg, sollte der Macht beraubt werden, aber ohne Schaden an Leib und Leben zu nehmen.

Damals … jetzt vor fünf Tagen … hatte Mr. Baker eine kurze Zeit überlegt, hatte angedeutet, daß er einen Weg finden würde, hatte den Weg selbst verschwiegen. Von Tag zu Tag waren seine Andeutungen zuversichtlicher geworden. Aber die Tage waren auch verstrichen. Die Zeit drängte. Heute schrieb man den fünften August. Am siebenten wollten die Weißen und die Roten losschlagen. Es war Zeit. Höchste Zeit! Und dieser Ideologe, dieser Baker, spielte immer noch den Geheimnisvollen.

Dr. Glossin sprang wütend auf. Es mußte zum Ende kommen. So oder so. Es war um die achte Abendstunde, als er den Broadway erreichte und sich in einem der Wolkenkratzer in die Höhe fahren ließ. Er trat in einen einfachen Bureauraum im 32. Stock. Einen spärlich und nüchtern ausgestatteten Geschäftsraum. Nur eine Person war darin. Ein hochgewachsener Fünfziger mit ergrautem Vollbart und Haupthaar. William Baker, der Führer der Patrioten.

»Sie kommen, Herr Doktor? … Um so besser, da brauche ich nicht nach Ihnen zu schicken.«

»Ich komme, Mr. Baker, weil die Zeit uns auf den Nägeln brennt. Ich bestehe darauf, daß mein alter Vorschlag durchgeführt wird.«

»Es wird nicht nötig sein.«

»Bitte … sprechen Sie deutlicher.«

Der Parteiführer schritt schweigend zu einer Tür zum Nebenraum und öffnete sie. Eine dritte Person trat ein. Trotz des Zivils erkannte Dr. Glossin Oberst Cole, den Kommandeur des Leibregiments. Er kannte den Obersten seit Jahren, und der Oberst kannte ihn ebenso.

Glossin war starr. Seine gewohnte Selbstbeherrschung versagte.

»Sie … Oberst Cole …?«

Baker nickte.

»Sind Sie zufrieden, Herr Doktor?«

Verwirrt drückte der Doktor die Hand, die der Oberst ihm bot. Das war also der Trumpf, den Baker solange zurückgehalten hatte. So mußte der Plan gelingen.

»Heute abend um elf Uhr auf die Sekunde wird die Aktion der Partei in allen Städten der Union beginnen. Um zehn Uhr löst das Regiment Cole die alten Wachen im Weißen Hause ab. Alles Weitere besprechen Sie auf der Fahrt. Jetzt fort!«

Ein kurzer Händedruck. Dr. Glossin fuhr mit dem Oberst bis auf das Dach des Wolkenkratzers. Das Flugschiff des Kommandeurs nahm sie auf. Die Dämmerung des Sommerabends lag über der See, als das Schiff den Kurs auf Washington nahm und die Bai von Neuyork überflog. Staten Island, Sandy Hook, die Einfahrt zum Neuyorker Hafen. Dr. Glossin und Oberst Cole standen am Fenster und blickten ostwärts über die See.

Da zog es in einer unendlichen Linie heran. Panzer und Panzerkreuzer, Torpedoboote und Torpedojäger, Flugtaucher und Unterseepanzer. Es rauschte durch die See, deren Wogen sich vor dem Bug der kompakten Masse aufbäumten und in stiebendem Schaum zerflockten. Es kam mit einer Geschwindigkeit von vielen Seemeilen in der Stunde durch die Fluten dahergerast. Die schweren Panzer standen halb schief, den Bug hoch über den Wogen, das Heck so tief in der See, daß das Wasser dahinter einen Berg bildete.

Es war ein seltsames und ein grauenvolles Schauspiel. Diese Schiffe fuhren nicht mit eigener Kraft. Sie fuhren überhaupt nicht, wie Schiffe zu fahren pflegen. In regelmäßigem Abstand und in Formationen. Ihre eisernen Körper hingen zusammen, wie etwa eine Gruppe von Pfahlmuscheln, die ein Fischer vom Grunde losgerissen hat und durch das Wasser schleift. An den Seitenwänden des ersten schweren Panzers klebten, aus dem Wasser gehoben, drei Torpedoboote, wie die jungen Muscheln an den Schalen der alten. Der zweite Panzer haftete, um ein Drittel seiner Länge nach Backbord vorgeschoben, am ersten Schlachtschiff. So folgte sich die ganze gewaltige Schlachtflotte, zu einem einzigen, regellosen Block verquirlt, von einer unsichtbaren, unwiderstehlichen Gewalt durch die Fluten gerissen.

An allen Masten, von der sausenden Fahrt über den halben Atlantik zerfetzt und arg mitgenommen, aber noch erkennbar, der Union Jack, die in hundert Seeschlachten bewährte Flagge Englands. Erst auf der Höhe von Sandy Hook mäßigte sich das Tempo der wilden Fahrt. Langsamer, aber immer noch verkettet und verquirlt zog die gelähmte Flotte durch die Landenge in die Bai von Neuyork ein.

Dr. Glossin trat einen Schritt vom Fenster zurück und preßte den Arm des Obersten Cole.

So standen sie und starrten auf das Schauspiel da unten, während das Flugschiff seinen Weg nach Washington verfolgte. Sie sahen die gelähmte Flotte klein und kleiner werden, sahen sie als einen Punkt im unsicheren Licht der wachsenden Dämmerung verschwinden. Sie starrten noch immer auf den Fleck, wo sie verschwand, als längst nichts mehr zu sehen war.

Nach langem Schweigen sprach der Oberst: »Was war das? Habe ich geträumt?«

»Was Sie sahen, war grause Wirklichkeit. Das Wirken der geheimnisvollen Macht, mit der Cyrus Stonard spielen wollte.«

Dr. Glossin sprach. Von Dingen, von denen Oberst Cole bis zu diesem Augenblick keine Ahnung gehabt hatte. Von der unbekannten Macht. Von ihrer Gewalt. Von ihren Drohungen und Verboten. Von der Unmöglichkeit, sich ihr zu widersetzen. Je weiter der Doktor kam, desto mehr sank der Oberst in sich zusammen. Er sprach während der Fahrt kein Wort mehr und zog sich in Washington schweigend in sein Dienstzimmer zurück.

Um zehn Uhr wurden im Weißen Hause die Wachen des Regiments Howard durch Offiziere und Mannschaften des Regiments Cole abgelöst. Oberst Cole nahm den Bericht seines Wachtoffiziers teilnahmslos entgegen. So blieb er sitzen, bis Glossin, die Uhr in der Hand, zu ihm ins Zimmer trat.

»Herr Oberst, was zeigt Ihre Uhr?«

Langsam, fast schwerfällig zog der Oberst die eigene Uhr. »Zehn Minuten nach zehn.«

Die Uhr in der Hand des Obersten zitterte. Seine Hand vibrierte. Dr. Glossin blickte spöttisch auf den alten Offizier.

»Herr Oberst Cole!« Die Stimme Glossins drang schneidend durch die Stille. Der Oberst sprang auf.

»Ich bin bereit.«

Der Oberst trat auf den Korridor vor der Zimmerflucht des Diktators und führte eine Signalpfeife an den Mund. Noch bevor der letzte Ton verklungen war, strömten von allen Seiten her Mannschaften und Offiziere des Leibregiments Cole herbei und scharten sich um ihren Obersten.

Die beiden Adjutanten des Diktators traten auf den Flur, um den Lärm zu verbieten. Sie erschraken vor dem düsteren Ernst und der Verbissenheit in den Zügen der Soldaten und Offiziere.

»Was soll das, Herr Oberst?«

»Sie sind verhaftet. In Obhut von Major Stanley.«

Widerstandslos beugten sich die beiden Adjutanten der erdrückenden Übermacht. Während sie abgeführt wurden, öffnete Oberst Cole die Tür zum Zimmer des Diktators. Dr. Rockwell trat ihm entgegen.

»Ruhe, meine Herren! Der Präsident bedarf dringend der …«

Der Leibarzt sah die entschlossenen Mienen der Andrängenden und trat schweigend zur Seite. Der Weg war frei. Oberst Cole trat in das Zimmer und schritt langsam auf den großen Schreibtisch zu. Er hatte von der rechten Seite her den Blick auf den Tisch und den Diktator. Cyrus Stonard saß bei der Arbeit, ein Schriftstück in der Hand. Er blieb ruhig sitzen und senkte nur die Hand mit dem Dokument, während ein eigenartiges Lächeln seine hageren Aszetenzüge überflog.

Offiziere und Mannschaften strömten hinter ihrem Oberst in den Raum, bildeten an der Türwand einen Halbkreis. Es wurde so still, daß man das Ticken der kleinen Standuhr bis in den fernsten Winkel vernehmen konnte.

Cyrus Stonard wandte das Haupt halb nach rechts gegen die Eingetretenen.

»Was wünschen die Sieger von Graytown, von Philipsville und Frisko?«

Es waren Schlachtennamen aus dem letzten Japanischen Kriege. Ehrennamen für Oberst Cole und sein Regiment. In diesem Augenblick aus dem Munde des Diktators kommend, wirkten sie lähmend auf die Eingetretenen.

Oberst Cole wich einen Schritt zurück … und noch einen und noch mehrere. Wich zurück vor diesem rätselhaften Ausdruck in Cyrus Stonards Augen. Das war nicht der drohende, faszinierende Blick des Gewaltherrschers, sondern der überlegene, abgeklärte eines Mannes, der alles erkannt und alles als eitel befunden hat.

Oberst Cole wich zurück, bis er Widerstand fühlte. Arme umschlangen ihn. Die flüsternde Stimme, der warme Atem Glossins drangen an sein Ohr. Mit sicher werdenden Schritten trat er wieder auf den Diktator zu.

»Herr Präsident, das Land verlangt Ihren Rücktritt!«

»Das Land?«

»Das Land, Herr Präsident!«

Cyrus Stonard hörte die feste Stimme des Obersten, blickte ihm in die Augen und sah die Wahrheit. Langsam kamen die Worte von seinen Lippen:

»Der Wille des Landes ist für mich das höchste Gesetz … Was habe ich zu tun?«

»Das Land zu verlassen!«

»Wann?«

»Sofort!«

Cyrus Stonard erhob sich mit kurzem Ruck, als gehorche er einem Befehl.

»In wessen Namen handeln Sie?«

»Im Namen aller ihr Vaterland und die Freiheit liebenden amerikanischen Bürger.«

Cyrus Stonard wußte genug. Das war aus dem Programm der Patrioten, die er für harmlos gehalten hatte. Nicht die Roten oder die Weißen, die Patrioten machten seiner Herrschaft ein Ende. Er schaute auf die Versammlung und erblickte, durch die Figur des Obersten halb gedeckt, Dr. Glossin.

»Gehört Herr Dr. Glossin auch zu diesen Bürgern?«

Oberst Cole wich zur Seite, als ob die Nähe Glossins ihm peinlich sei. Der Arzt stand frei vor dem Diktator. Er mußte dessen Blick aushalten, denn die Mauer der Offiziere und Soldaten versperrte ihm den Rückzug. So stand er und wand sich unter den Blicken des Diktators, wurde wechselnd blaß und rot, wäre in diesem Moment gern meilenweit weggewesen.

Cyrus Stonard sah ihn erbärmlich und klein werden, drehte ihm den Rücken und wandte sich Oberst Cole zu.

»Kameraden! Ich verlasse das Land in der Überzeugung, daß es sein Wille ist. In der Hoffnung, daß mein Weggehen zu seinem Heil dient. Was ich erstrebte … das Schicksal hat es anders gewollt. Eine Macht, größer, als ich je geahnt, hat es in Menschenhand gelegt. Ich habe dagegen gekämpft … Als ich den Kampf aufnahm, wußte ich, daß sein Ausgang mein Schicksal bedeutet … Ich bin unterlegen … Wohin soll ich gehen?«

»Wohin Sie wollen, Herr Präsident. Ein Flugschiff steht zu Ihrer Verfügung.«

»… Nach Europa … Nach Nordland. Gehen wir.«

Oberst Cole trat an die Seite des Präsidenten. Auf seinen Wink öffnete sich eine Gasse zur Tür. Still und stumm standen die Offiziere und Mannschaften des Leibregiments und sahen den Mann scheiden, der sie durch zwanzig Jahre zu Ruhm und Ehre geführt hatte.

Oberst Cole wollte vorangehen. Der Diktator ergriff seinen Arm und stützte sich darauf.

»Ich bin müde, alter Freund!«

Der Oberst preßte die Lippen aufeinander. Aus seinen starr blickenden Augen brachen zwei Tränen, die langsam über sein Gesicht herniederrollten.

Eine Viertelstunde später erhob sich ein Regierungsflugzeug vom Dach des Weißen Hauses. Es steuerte in die Nacht. Kurs nach Osten.

Es ist sehr schwer, die Ereignisse der nächsten Augustwochen zu schildern. Am sechsten August hatte die unbekannte Macht die großen Schlachtflotten Englands und der amerikanischen Union gelähmt. Im magnetischen Wirbelsturm war die britische Flotte in den Hafen von Neuyork eingeschleppt worden. Zu der gleichen Stunde, in der die amerikanische Flotte die Themse hinauf bis zu den Docks von London gezogen wurde.

Am siebenten August wurde in den Vereinigten Staaten Cyrus Stonard gestürzt und eine neue Regierung gebildet, in welcher Dr. Glossin provisorisch das Portefeuille des Äußern übernahm. Zu jeder anderen Zeit hätte dieser Sturz die ganze Welt in Aufruhr versetzt. Jetzt vollzog er sich beinahe geräuschlos. Die unbekannte Macht nahm das allgemeine Interesse zu sehr in Anspruch, als daß die politische Umwälzung in den Vereinigten Staaten besonders aufregend wirken konnte.

Wo immer noch in irgendeinem Winkel der Welt englische und amerikanische Streitkräfte aneinandergerieten, da trat die Macht sofort handelnd als dritte auf.

Amerikanische Luftstreitkräfte, die unversehens nach Indien vorstießen, wurden schon auf dem Wege dorthin zum Absturz gebracht und fielen bei den Lakkadiven in die See. Englische Flugtaucher, die einen Angriff auf den Panamakanal versuchten, wurden dicht bei Jamaika von einem magnetischen Zyklon gefaßt und auf den höchsten Gipfeln der Kordilleren abgesetzt. Die Besatzungen brauchten Tage, um aus der Schneewüste zu den nächsten menschlichen Ansiedlungen zu gelangen. Die Macht griff ohne Ansehen der Parteien ein und unterbrach jede Kampfhandlung.

Die Ereignisse der Tage vom sechsten bis zum fünfzehnten August wirkten auf die Menschheit wie etwa der Stab eines Wanderers im Ameisenhaufen. Allgemeine Unruhe, Aufregung, ein Brodeln der öffentlichen Meinung, das in der Presse aller kultivierten Länder seinen deutlichsten Ausdruck fand.

Will man den ungeheuren Eindruck der Vorkommnisse dieser acht Tage einigermaßen übersichtlich ordnen, so muß man die davon betroffene Menschheit in allen Staaten in drei Gruppen unterscheiden: die Physiker, die Militärs und die breite Volksmenge.

Die Vertreter der physikalischen Wissenschaft versuchten es, stichhaltige Erklärungen der erstaunlichen Wirkungen zu geben. Aber die Isolierung und Speicherung der Formenergie, die geniale Entdeckung Silvester Bursfelds, lag weit außerhalb der wissenschaftlichen Erkenntnis. So tappten alle Erklärer, die ihre Wissenschaft in den großen Blättern der fünf Weltteile produzierten, im Dunkeln.

Englische Flugtaucher waren fünftausend Meter hoch in den Kordilleren abgesetzt worden. Die Maxwellschen Gleichungen gestatteten es schließlich, die wirksamen Magnetfelder nachzurechnen, durch welche die schweren Flugtaucher gepackt worden waren. So folgerte man dann weiter, daß es der unbekannten Macht auch möglich wäre, alle großen Schlachtflotten auf irgendeinen Berggipfel zu schleudern.

Nachdem die Entwicklung bis zu diesem Punkt gediehen war, häuften sich die Zeitungsartikel, in denen die Grenzen der unbekannten Macht immer kühner und ungemessener behandelt wurden.

In den Vereinigten Staaten hielt man sich an die wenigen Mitteilungen, die der neue Staatssekretär des Äußern Dr. Glossin machen konnte. Besonders Professor Curtis arbeitete intensiv und konnte bereits am zwölften August einen Versuch auf offener See vornehmen. Um die zehnte Vormittagsstunde dieses Tages fuhr das Sammlerboot mit der Strahlungseinrichtung aus dem Hafen. Curtis hatte eine Anordnung geschaffen, die ein elektromagnetisches Feld ziemlich geschlossen nach einer Richtung auszustrahlen vermochte. Ein ausrangiertes Torpedoboot war als Ziel für die Versuche in Aussicht genommen. Er hoffte, bis auf eine Entfernung von tausend Meter merkliche Magnetisierungen hervorbringen zu können.

Umgeben von seinen Assistenten, stand er neben den gerichteten Antennen, die das elektromagnetische Feld über den Bug des Sammlerbootes nach dem Torpedoboot hinschleudern sollten. Die Schalthebel wurden eingeschlagen. Hochfrequente elektrische Energie durchbrauste die Antennen.

Professor Curtis wurde von Unruhe ergriffen. Die Wirkungen die man vom Torpedoboot meldete, gingen erheblich über die von ihm als möglich errechneten hinaus. Er gab den Befehl, die Energie in den Antennen abzustellen.

Und ließ sich dann mit einem Seufzer auf einen Sessel fallen. Denn die Wirkung auf dem Torpedoboot hörte nicht auf. Im Gegenteil. Sie stieg, bis schließlich der elektromagnetische Wirbel das ganze Boot packte, aus dem Wasser hob und auf das sandige Ufer schleuderte, wo es im Sturz berstend liegenblieb.

Mit verhaltenem Atem hatte man auf dem Sammlerboot die Katastrophe beobachtet. Ein Ruf seines ersten Assistenten veranlaßte Professor Curtis aufzublicken, die Vorgänge auf dem eigenen Boot zu verfolgen.

Die gerichteten Antennen lösten sich in Kupferdampf auf. Sie leuchteten einen Moment grünlich schillernd und waren dann verschwunden. Spanndrähte und Isolatoren fielen angeschmolzen und zersplittert auf das Schiffsdeck nieder. Dann packte ein Wirbelsturm das ganze Sammlerboot und warf es neben das Torpedoboot auf das Gestade.

Professor Curtis ließ das Geländer los und rollte über das schrägliegende Verdeck in den weichen Seesand. Das war das Ende der amerikanischen Versuche. Der Bericht, den der Professor noch am selben Nachmittag nach Washington sandte, erklärte es für aussichtslos, gegen die Mittel der unbekannten Macht anzukämpfen.

Am dreizehnten August hielt Professor Raps in der Technischen Hochschule zu Charlottenburg sein Kolleg über theoretische Elektrodynamik. Die Studenten spitzten die Bleistifte, um das Kolleg wie immer mitzuschreiben. An diesem Tage wären die retardierten Potentiale dran gewesen. Aber der deutsche Professor brachte ganz etwas anderes …

»Meine Herren, auch ich habe es versucht, mit den Mitteln unserer Wissenschaft das Geheimnis der unbekannten Macht zu ergründen. Die Wirkungen, die zuverlässig berichtet worden sind, lassen sich nur dann erklären, wenn wir annehmen, daß die Macht ein Mittel besitzt, um die Raumenergie an jeder Stelle zur freien Entwicklung zu bringen. Die Raumenergie dürfen wir nach Oliver Lodge zu zehn Milliarden Pferdekraftstunden für jedes Kubikzentimeter annehmen. Unsere Wissenschaft kennt bisher kein Mittel, diese Energie freizumachen. Sicherlich keins, um sie auf weite Entfernungen und mit absoluter Treffsicherheit zu entfesseln …«

Die Studenten schrieben mit. Das Papier knisterte, die Bleistifte rauschten. Professor Raps fuhr in seinen Ausführungen fort. Er ging ins Detail und entwickelte rechnungsmäßig die Wirkungen, die sich auf diesem Wege erzielen ließen. Er bedeckte die schwarze Wandtafel mit dreißigstelligen Zahlen, die Kilowatt und Kalorien bedeuteten. Dann wurde die Vorlesung wieder allgemeiner …

»Wir haben keine Ahnung, durch welche Mittel, durch welche uns jedenfalls noch ganz unbekannte Form der Energie diese Fernwirkungen erzeugt werden, wie die explosive Entfesselung der Raumenergie zustande kommt. Ein Riesengeist, der dem Stande unserer Wissenschaft um Jahrhunderte vorauseilte, muß diese Lösung gefunden haben …«

Silvester Bursfeld in seinem eisigen Grabe hoch oben am Pol konnte mit dem Epitaphium zufrieden sein, das der deutsche Gelehrte ihm hier setzte.

Professor Raps fuhr fort:

»Meine Herren, ich wurde von zwiespältigen Gefühlen ergriffen, als ich die hier eben vorgetragenen Entdeckungen machte. Auf der einen Seite die reine Forscherfreude über die gelungene Entdeckung, die Freude, die Sie alle wohl schon nach einer glücklich gelösten Laboratoriumsaufgabe empfunden haben. Auf der anderen Seite ein tiefes Grauen. Meine Herren, der Gedanke, daß eine übermenschliche Macht in die Hand sterblicher Menschen gelegt wurde, ist entsetzlich. Die Besitzer der Erfindung können der Welt jeden Tort antun. Sie können jede Stadt verbrennen, jedes Menschenleben vernichten. Wir sind wehrlos. Wir müssen widerstandslos über uns ergehen lassen, was die Besitzer der Macht für gut befinden werden. Der Gedanke ist kaum erträglich. Aber es ist die Wahrheit …«

Der Professor schloß seine Vorlesung vor der festgesetzten Zeit. Er war zu ergriffen, um sich jetzt noch dem planmäßigen Lehrstoff zu widmen.

Der Inhalt seines Vortrages erregte erneute Unruhe. Die Vertreter der großen Zeitungen kauften den Studenten ihre Niederschrift für schweres Geld ab. Noch am Abend des dreizehnten August wurde der Vortrag über die ganze Erde verbreitet. Von Hammerfest bis Kapstadt, von London bis Sydney wurden die Mitteilungen verschlungen und diskutiert.

Es war klar, daß der deutsche Gelehrte den Quellen der unbekannten Macht wenigstens theoretisch auf der Spur war. Je länger die Physiker der ganzen Welt sich in die Einzelheiten seiner Ausführungen vertieften, desto mehr mußten sie die Richtigkeit seiner Schlußfolgerungen anerkennen. Es gab in der Tat nur diese eine Erklärung für die ungeheuerlichen Wirkungen der Macht. Man mußte imstande sein, die Raumenergie an jeder beliebigen Stelle des Erdballes explodieren zu lassen.

Aber die Mittel dazu kannte niemand. Wenn nicht am Ende … dieser deutsche Professor noch mehr wußte, als er im Kolleg gesagt hatte? Der Gedanke, daß ein einzelner Staat das Geheimnis entdecken, sich zum Herrn der übrigen Welt machen könne, schuf neue Unruhe.

An allen Punkten der Erde wartete man auf die nächsten Äußerungen der Macht. Die Spannung einer dumpfen Erwartung lag über der Welt, soweit sie von denkenden Menschen bewohnt war.

Es war um die Mittagstunde des fünfzehnten August. Funkentelegramme durchschwirrten wie immer die ganze Welt. Um 12 Uhr 13 Minuten 15 Sekunden erfuhr dieser Verkehr eine jähe Unterbrechung. Bisher hatte die unbekannte Macht ihre Depeschen durch eine unmittelbare Beeinflussung einer der großen europäischen oder amerikanischen Stationen gegeben. Aber in dieser Mittagstunde des 15. August stand über dem östlichen Teil des Atlantik plötzlich ein starkes elektromagnetisches Feld im Äther. Sein Kern hatte die Gestalt eines schmalen hohen Turmes. Es pulsierte mit hunderttausend Schwingungen in der Sekunde und strahlte Wellenenergie im Betrage von zehn Millionen Kilowatt nach allen Richtungen der Windrose aus, während es schnell nach Westen hin über den Ozean wanderte.

Im Rhythmus der Morsezeichen kam und verschwand das Feld, und wo immer in Europa und Amerika elektrische Einrichtungen vorhanden waren, wurden sie zum Mitschwingen gebracht. Die Passagiere der elektrischen Straßenbahnen vernahmen die Zeichen in dem eintönigen Brummen der Wagenmotoren. Wo elektrische Glühlampen brannten, begannen sie in dieser Stunde zu zirpen und ließen Morsezeichen hören. Wo irgendein Mensch den Telephonhörer am Ohr hatte, wurden Rede und Gegenrede plötzlich durch laut und scharf dazwischenklingende Morsezeichen unterbrochen. Die Farbschreiber aller Telegraphenstationen hörten in diesen Minuten auf, die Depeschen ihres Betriebes zu schreiben, und zeichneten die Botschaften der Macht auf:

»Die Macht: Der Krieg ist aus! Die Macht fordert Gehorsam. Sie straft Ungehorsam.«

Die Welt zuckte unter den Worten der Botschaft zusammen. Wie Peitschenhiebe trafen die lapidaren Sätze, die ihr den neuen Herrn verkündeten. Wie eine schwere dunkle Wolke legte sich der Druck eines fremden zwingenden Willens über die Menschheit. Die Regierungen und die einzelnen Staatsmänner waren ratlos. Es war nicht möglich, an dem Ernst dieser Depesche zu zweifeln. Dazu waren die Proben der Macht, die man bisher zu kosten bekommen hatte, zu stark und zu beweisend.

Die äußere Politik bot zwar in diesem Augenblick keine Schwierigkeiten. Die Macht befahl den Frieden, und es gab nur einen Weg, bedingungslos zu gehorchen. Dafür aber zeigten sich Schwierigkeiten im Innern. Die einzelnen Völker wurden gegen ihre Regierungen mehr oder weniger aufsässig. Der einzelne fragte sich, ob es überhaupt noch Zweck hätte, den Anordnungen einer Regierung zu gehorchen, die nur von Gnaden der Macht auf ihrem Stuhle saß, in jeder Minute von dieser selben Macht ausgelöscht werden konnte. Es waren nicht einmal die schlechtesten Elemente, die unter solchem Druck von einer allgemeinen Unlust befallen wurden und in gleicher Weise das Interesse am Staat wie an den eigenen Angelegenheiten verloren.

Professor Raps saß in seinem Arbeitzimmer. Es war ein hoher, schlicht eingerichteter Raum. Vor dem Gelehrten lag das Manuskript einer fast vollendeten Arbeit. Daneben deckten ganze Stapel von Briefen und Depeschen den großen Arbeitstisch. Anfragen von staatlichen Behörden, von wissenschaftlichen Instituten, von Einzelpersonen und auch von fremden Regierungen.

Der Professor warf keinen Blick auf diese Tausende von Briefen und Fragen. Auf diese Schriftstücke, deren Beantwortung ein ganzes Bureau Monate hindurch beschäftigen konnte. Er sah grau und verfallen aus und hielt den Papierstreifen mit der Depesche der Macht in den Händen. Seine Lippen zuckten und formten abgerissene Worte.

»… Mein Gott! … Kann die Natur das dulden … kann ein einzelner der Welt ewigen Winter oder ewige Sonne bringen … das soll ein Mensch sein … dem das Schicksal der ganzen Menschheit in die Hand gegeben ist …«

Der Professor blickte von der Depesche auf. Sein Auge haftete auf dem Bilde über dem Schreibtische. Es war ein alter wertvoller Kupferstich aus dem achtzehnten Jahrhundert. Ein Geschenk seiner Hörer. Der Stich zeigte den Schweden Karl von Linné. Der Geist des Gelehrten klammerte sich an das Gemälde wie an ein Heiligenbild.

»Es ist nicht möglich … wo bleiben die ehernen Gesetze der Kausalität … Es ist ein Irrtum … ein Irrtum oder ein Mißgriff der Natur … aber kann die Natur irren?«

Sein Blick blieb an der Unterschrift des Bildes haften. Lateinische Worte: »Natura non facit saltus.« (Die Natur macht keine Sprünge.) Das Leitwort jenes genialen Naturforschers, durch das er sich zum Vorläufer Darwins stempelte.

Professor Raps las die wenigen Worte des Satzes wieder und immer wieder.

»Die Natur macht keine Sprünge … auf einen scheinbaren Sprung folgt das Corrigens … muß folgen nach dem höheren Gesetz der stetigen Entwicklung …«

Es wurde Zeit, zur Vorlesung zu gehen. Der Professor legte den Depeschenstreifen beiseite. Mit ruhigen Händen füllte er seine Aktenmappe.

Die Botschaft der Macht war da und wirkte sich aus. Der Krieg war zu Ende, auch ohne einen ausdrücklichen Befehl der beiden kriegführenden Weltmächte. Er war automatisch zu Ende gegangen, weil die Macht mit Sturm und Brand zugegriffen hatte, wo immer sich noch ein Kampf entspinnen wollte. Es konnte sich nur noch darum handeln, durch einen formellen Friedensschluß zwischen den beteiligten Regierungen den tatsächlichen Zustand zu legitimieren.

In den Vereinigten Staaten nahm man diese Entwicklung der Dinge mit unumwundener Zufriedenheit auf. Der Krieg war ein Krieg Cyrus Stonards gewesen. Es kam der jungen Regierung gelegen, daß diese die unsympathische Erbschaft nicht zu übernehmen brauchte, daß der in den Staaten so wenig volkstümliche Krieg sang- und klanglos zu Ende war. Man spürte wohl auch unbewußt, daß eine friedliche stetige Entwicklung der Union ganz von selber alle die Vorteile bringen mußte, die hier erkämpft werden sollten.

Anders sah es in England aus. Man hatte sich mit allen Mitteln auf den Kampf eingestellt. Die englischen Staatsmänner hatten erkannt, daß nur ein glücklicher Krieg den englischen Besitzstand erhalten könne.

Lord Gashford betrat sein Arbeitzimmer und warf sich erschöpft und mißmutig in seinen Sessel. Der Diener bekam eine kurze Weisung: »Lord Maitland wird kommen. Jede Störung fernhalten!«

Der englische Premier blieb mit seiner Ratlosigkeit und Verantwortung allein. Nervös trommelten die Finger seiner Rechten auf der Sessellehne.

Der Premier hatte Lord Horace gebeten, in der Hoffnung bei ihm einen Rat, einen Plan zu finden.

Lord Horace trat in den Raum und nahm ihm gegenüber Platz.

Es dauerte geraume Zeit, bevor Lord Maitland die Lippen öffnete. Und dann sprach er auch nur vier Worte: »Der Krieg ist aus!«

Lord Gashford erwartete etwas anderes. Erwartete Hilfe durch Rat und Tat und wurde ungeduldig. Er suchte sein Gegenüber auf Umwegen zum Sprechen zu bringen und fragte: »Wie wird sich die Regierung in Amerika verhalten?«

»Noch dem Sturze Stonards kommt ihnen der Frieden gelegen. Der Gedanke, einer anderen Eisenfaust gehorchen zu müssen, ist ihnen nicht so fürchterlich. Sie sind ja zwanzig Jahre versklavt gewesen.«

Lord Gashford fuhr auf.

»Aber wir? Großbritannien … das freieste Land der Welt, stolz darauf, niemals einer fremden Macht hörig gewesen zu sein. Wie werden wir uns stellen?«

Lord Horace antwortete langsam, und Resignation klang aus seinen Worten: »Der Frieden mit Amerika wird nicht schwer zu schließen sein. Viel schwerer der mit unseren Dominions und Kolonien. Ich fürchte, daß Australien sich vom Reich lösen wird. Die afrikanische Union braucht uns noch. Trotz ihrer eigenen starken Industrie benötigt sie … vorläufig noch das Mutterland. Und Indien …«

»Und Indien …?« Lord Gashford stieß die Frage heraus.

»Indien … Einer von den dreien ist ein Inder … Ich hoffe, daß die indische Intelligenz das Gute zu würdigen weiß, das die englische Regierung dem Lande gebracht hat. Wir haben nicht immer fein gewirtschaftet. Es sind Hunderttausende unter unserer Herrschaft verhungert. Aber Millionen hätten sich gegenseitig die Hälse abgeschnitten, wenn wir nicht dagewesen wären.«

Lord Gashford zählte an den Fingern wie ein Schulknabe bei seiner Rechenaufgabe:

»Kanada verloren … Australien halb verloren … Afrika unsicher … Indien nicht sicher …«

»So könnte es wohl geschehen, daß uns nur die britischen Inseln bleiben …«

Lord Horace blickte düster vor sich hin. Ein leises Nicken nur drückte seine Zustimmung aus.

»Wenn nicht …« Kaum hörbar waren ihm die Worte über die Lippen geglitten, aber den gespannten Sinnen Lord Gashfords waren sie nicht entgangen.

»Wenn nicht? … Was meinen Sie? Wenn nicht …«

Die Muskeln im Gesicht Lord Maitlands spannten sich. Zwischen den Zähnen stieß er die Worte hervor:

»Wenn nicht diese Macht … diese unheimliche, unwahrscheinliche Macht ein Narrenspiel der Weltgeschichte ist …«

Lord Gashford machte eine abwehrende Bewegung.

»Vorläufig ist die Macht da! Was raten Sie?«

»Kaltes Blut! Sich vorläufig damit abfinden. Vorläufig dem Zwange folgen …«

Der Ferndrucker auf dem Tisch begann zu schreiben. Ein Ersuchen der amerikanischen Regierung, Zeit und Ort für die Friedensverhandlungen zu bestimmen. Lord Gashford las und schob den Streifen Lord Horace zu.

»Sie kennen die Union seit langen Jahren. Ich ersuche Sie, die Verhandlungen als Bevollmächtigter Großbritanniens zu führen.«

»Meine Vollmachten …?«

»… sind unbegrenzt.«

»Unbegrenzt … soweit die Grenzen nicht die Macht zu ziehen beliebt …«

Lord Horace verließ den Premierminister. Er hatte ein Gefühl, als ob die Wände des Gemaches ihn erdrücken wollten. Aufatmend stand er auf der Straße und sog in tiefen Zügen die frische Luft ein. Dann gab er dem Wagenlenker einen kurzen Befehl.

Der Wagen wand sich durch die Straßen der Stadt und nahm den Weg über das freie Land. Vorbei an saftstrotzenden Triften und Weiden, durch Dörfer und sommergrüne Wälder.

Lord Horace achtete nicht darauf. Seine Gedanken beschäftigten sich mit der Macht. Erst in dieser Stunde kam es ihm ganz zum Bewußtsein, wie eng und eigenartig gerade die Beziehungen seines Hauses zu den dreien waren, die heute der Welt ihren Willen diktierten.

Seine Gattin so eng bekannt mit dem einen, dem Mächtigsten. Die Gattin des anderen seit Wochen als Gast unter seinem Dach.

Flüchtig ging ihm ein Gedanke durch den Kopf. Konnte England Jane Bursfeld nicht als Geisel nehmen? Dadurch den Willen der Macht beeinflussen?

Ebenso schnell wie der Gedanke auftauchte, wurde er verworfen. Jane hatte erzählt, wie Atma und Silvester nach Amerika kamen, wie schon ein winziger Strahler Glossins Flugschiff lähmte, die Maschinen zerschmolz, die Besatzung verbrannte. Was würde die Macht heute tun, wenn England die Hand auf Jane legte? Heute, da ihre Waffen viel stärker waren, viel weiter trugen, viel sicherer trafen.

Lord Horace gab das Grübeln auf. Er nahm den Hut vom Haupt und ließ sich den Fahrwind um die brennende Stirn fegen. Aber die Gedanken verließen ihn nicht. Diana kannte den einen, Jane ist die Gattin des anderen. Irgendeine Möglichkeit müßte es dadurch geben, mit den Trägern der Macht in Berührung zu kommen. Irgendein Pfad müßte sich zeigen, auf dem England aus dieser Sackgasse herauskommen kann. Die Gedanken verfolgten ihn bis an das Ziel seiner Fahrt.

In der großen Halle in Maitland Castle saß Jane auf ihrem Lieblingsplatz. In dem Erker, von welchem der Blick auf die Veranda und den Park ging. Ein Nähkörbchen stand vor ihr. Sie arbeitete an einem Jäckchen. Doch die Arbeit lag auf dem Tisch, und ihre Augen hafteten an einem Schriftstück. Die blauen Typen des Farbschreibers. Die letzte Depesche der Macht. Als der Telegraph die Botschaft der Macht auch nach Maitland Castle meldete, hatte Jane das Schriftstück an sich genommen. Seit zwei Tagen trug sie es bei sich und las es in jeder unbeobachteten Minute wieder und immer wieder.

Ihr Blick hing wie gebannt an den Schriftzeichen. Sie überhörte dabei das Kommen Dianas, die leise hinter sie trat, ihr den Arm auf die Schulter legte.

Jane schrak zusammen. Sie versuchte es, das Papier zwischen die Wäschestücke zu schieben.

»Jane, mein Kind. Schon wieder die Depesche?«

»Ach … Diana … Sie wissen nicht, was die Worte auf diesem Papier für mich bedeuten. Immer wieder finde ich Trost in diesen Zeilen. An alle Welt ist die Depesche gerichtet. Ich aber sehe den vor mir, der sie abgesandt hat.«

Diana hatte sich der jungen Frau gegenüber niedergelassen. Sie sah, wie fliegende Röte über ihre Züge huschte, las in diesem Gesicht wie in einem offenen Buch. Freude, daß der Gatte lebte. Stolz, daß die Idee zu dem großen Werk in der genialen Erfindung ihres Gatten wurzelte. Glück, daß sie nach vollendetem Werk Silvester bald wieder in die Arme schließen könne.

»Kind! Wenn jemand Sie versteht, so bin ich es. Ich bin stolz darauf, die Gattin Silvester Bursfelds meine Freundin nennen zu können.«

Tiefes Rot überflutete Janes Wangen. Ein hilfloses Lächeln zuckte um ihre Lippen.

»Was Sie sagen, sollte mich stolz machen. Aber was bin ich Silvester? Was kann ich ihm jetzt noch sein? Je höher Sie meinen Mann und sein Werk stellen, desto kleiner und unwerter komme ich mir selbst vor. Ich fürchte mich vor dem Wiedersehen! Statt meinen Silvester zu umarmen, werde ich vor einem Mann stehen, zu dem die Welt aufblickt. Was werde ich ihm noch sein können?«

Diana richtete sich auf.

»Was sagen Sie, Jane? Sie versündigen sich mit Ihren Worten an der heiligsten Bestimmung des Weibes. Sind Sie ihm nicht Gattin? … Erfüllen Sie nicht damit die hehrsten Gesetze; die die Natur dem Weibe vorgeschrieben?«

Mit aufleuchtender Freude lauschte Jane den Worten Dianas.

»Jane! Sie geben ihm den Erben. Sie pflanzen sein Geschlecht fort, in dem der Name und Ruhm Silvester Bursfelds weiterleben wird. Er weiß es nicht. Wie er sich freuen würde, wenn er es wüßte!«

»Glauben Sie …?«

»Ganz gewiß!«

»Aber Sie, Diana …?!«

»Ich …?«

»Warum weiß Lord Horace nicht davon, daß …«

Mit einer raschen Bewegung wandte Diana Maitland den Blick dem Park zu. Jane sah, wie ihr eine jähe Röte über den Nacken lief.

Ein drückendes Schweigen. Bis Diana Maitland sich mit einer müden Bewegung Jane wieder zuwandte. Sie vermied es, Janes Frage zu beantworten. Nahm den Papierstreifen aus den Händen der jungen Frau.

»Ja … die Depesche … Es sind die stolzen Worte einer überlegenen Macht … Aber sie künden der Menschheit den Frieden. Ich kenne die Politik … ihre Mittel und Wege … ich kann mich in die Seelen der Tausend von Frauen und Männern versetzen, denen die Worte der Depesche Schicksal und Leben bedeuten. Dann glaube ich zu träumen und zweifle, ob es wahr ist, was die Worte der geheimnisvollen Macht enthalten … ja, Jane … ich habe Zweifel, ob es wahr ist … Aber … nein, es muß wahr sein … Denn Eriks Worte sind es ja … Erik … lügt nicht!«

»Erik? … Meinen Sie Erik Truwor?«

»Ja, Erik Truwor.«

»Kennen Sie Erik Truwor?«

»Ja … ich lernte ihn vor Jahren in Paris kennen.«

»Sie kennen Erik Truwor, den besten Freund meines Mannes?«

»Ja. Ich kenne ihn … habe ihn sehr gut gekannt.«

»Aber Sie sprechen nie von ihm. Und doch ist sein Name in unseren Gesprächen schon oft gefallen.«

»Lassen Sie, Jane! … Es sind Erinnerungen, die … ich … begraben … vergessen haben möchte. Ich denke jetzt nur noch an sein Werk … Wird es ihm glücken? … Wird ein idealer Wille im Besitz einer unendlichen Macht imstande sein, der Menschheit den Frieden zu geben, die Dinge der Welt zum Heil der Menschheit neu zu ordnen … ich denke, es wird ihm gelingen … er wird sein Werk vollbringen, nach dem eine neue Zeitrechnung für die Politik und Geschichte Europas … nein, der ganzen Welt beginnt …«

Lord Horace stand plötzlich in der Halle. Diana fühlte sich unsicher. Sie wußte nicht, wieviel ihr Gatte von dem Gespräch gehört haben mochte, wieviel von diesem Gedankenaustausch an sein Ohr gedrungen war.

»Auch hier Politik? Wo ich Ruhe suchte, fand ich immer nur Politik.«

»So muß es wohl sein, Horace. In Schloß und Hütte, in den entlegensten Winkeln der Erde bewegt doch alle dieselbe Frage. Kann es etwas Erhebenderes geben als den Gedanken, daß die Welt endlich zur Ruhe kommen soll? Daß dies sinnlose Morden und Zerfleischen ein Ende haben soll …?«

»Du scheinst dich schon ganz als Weltbürgerin zu fühlen. Was aus unserem Lande … aus dem britischen Weltreich wird, ist dir gleichgültig. Freilich … du bist keine geborene Britin.«

»Aber ich habe stets als englische Patriotin gefühlt. Ich habe stets empfunden …« – Lady Diana sprang auf und trat ihrem Gatten entgegen – »… daß ich die Gattin Lord Maitlands bin.«

»… als Britin hast du gefühlt?«

»Stets, Horace!«

»Und trotzdem bist du für die Pläne der Macht eingenommen?«

»Ja!«

»Ja … verstehst du den Sinn dieser Depesche nicht?«

»Aber ja, doch! Es ist die frohe Botschaft vom Frieden … die Freudenbotschaft, daß der Krieg zu Ende ist.«

»So … so!? … Weiter nichts?«

»Ja … Ist denn das nicht genug? Klingt das nicht wie das Weihnachtsevangelium?«

»Weihnachtsbotschaft? … Freudenbotschaft? … Welcher Mann kann das als Freudenbotschaft ansehen, was ihm Sklaverei und Knechtschaft bedeutet.«

»Horace … Horace … was sprichst du?«

»Soll ich dir die Depesche ins Gedächtnis zurückrufen … soll ich sie dir noch einmal vorlesen?

›Der Krieg ist zu Ende! …

Die Macht fordert Gehorsam …

Ungehorsam wird bestraft!!! …‹

Macht dir das als Britin Freude?«

Das klang ganz anders als die Tonart, in der Diana die Depesche gelesen hatte. Wie Peitschenhiebe knallten hier die einzelnen Worte, steigerte sich die Drohung von Satz zu Satz, bis sie schließlich brutal herauskam. Bei jedem Worte dieser lapidaren Sätze trat Diana automatisch einen Schritt zurück. Ihre Augen hingen starr und ratlos an ihrem Gatten. Aber auch Lord Maitlands Züge hatten die gewohnte Ruhe verloren. Es zuckte in ihnen. Röte der Erregung und des Zornes lag auf seinem Antlitz.

Wie hatte Diana mit Jane zusammen über diese Depesche gejubelt, und wie anders klang sie jetzt. Ein eisiger Schauer überlief Diana. Sie bedeckte ihre Augen mit den Händen. Hatte sie sich so getäuscht?

Wortlos standen die Gatten sich gegenüber. Langsam ließ Diana die Hände sinken und … was war das? … Irrte sie sich nicht … war das nicht ein leises Flimmern eines Triumphes in seinen Augen? … Nein! Die Botschaft Erik Truwors klang falsch im Munde ihres Gatten. Sie war anders zu lesen, mußte so gelesen werden, wie Diana und Jane sie gelesen hatten.

»Horace … kannst du dich nicht freimachen von einem Namen? … Kannst du den Mann nicht von seinem Werke trennen?«

Lord Horace zeigte wieder die ruhige unbewegliche Haltung des englischen Aristokraten. Keine Spur in seinen Mienen verriet mehr, wie nahe ihm diese Unterredung ging, wie sehr schon der Name Erik Truwors ihn erregte. »Mein Herz ist kühl genug, um den Namen von seinem Werk zu trennen.«

Gelassen, fast müde kamen die Worte von seinen Lippen. Aber er beobachtete scharf und sah, wie Diana von diesen Worten getroffen wurde. Wie sie die Hände gegen die Brust preßte, als müsse sie einen tiefen Schmerz unterdrücken. Er sah, wie sie sich schweigend zum Fenster hin wandte, und stand selbst unbeweglich auf seinem Platze. War es möglich, daß seine Worte ihr Herz so trafen, daß er ihr doch alles … der andere, der verhaßte Name nur ein Schemen war?

Es drängte ihn, vorwärtszustürzen. Mit Mühe hielt er den Namen Diana auf seinen Lippen zurück. Einen kurzen schweren Kampf, dann hatte er die volle Herrschaft über sich gewonnen.

»Die Zukunft wird erweisen, wer recht hat. Ich wünschte … ich wünschte von Herzen, du hättest recht …«

Als Diana sich umwandte, hatte Lord Maitland die Halle verlassen.

Diana war allein. Ihr Gesicht war entstellt, gealtert, schmerzverzerrt. Ihre Augen starrten auf die Stelle, wo Lord Horace gestanden hatte. Kaum hörbar kam es von ihren Lippen: »Erik Truwor … Erik … Truwor!«

Ein Götzenbild! Wankte es? Stürzte es? … Wo war die Wahrheit? … Schluchzend sank sie auf den Teppich nieder.

Der lange, sechs Monate währende Poltag ging seinem Ende zu. Dicht über dem Horizont zog die Sonne ihren vierundzwanzigstündigen Kreis. Immer näher kam sie der Kimme, wo Eisfeld und Himmel zusammenstoßen. Klingender Frost kündete die kommende Polnacht.

Erik Truwor trat aus dem Berg. Den schweren Eisstock in der Rechten, stieg er über die Stufen und Eisbänder schnell empor, bis er die höchste Zinne erreichte. Da hatte in den vergangenen Tagen die Sonne den Eisberg mit wärmenden Strahlen umkost und seine Formen verändert, hatte aus dem grünlich und bläulich schimmernden Eismassiv ein Gebilde geformt, das an einen hochlehnigen Sessel gemahnte, an einen Königsstuhl aus den Zeiten der Goten oder Merowinger.

Hier blieb er stehen, und sein Auge haftete an der zum Sitz ausgeschmolzenen Gipfelzinne.

»Was ist das? … Ein Sitz! … Ein Thron … mein Thron?!«

Mit einer Herrschergebärde ließ er sich nieder. Den schweren Eisstock wie ein Zepter an der rechten Seite. Die Arme auf den Seitenlehnen dieses bizarren Thrones. So saß er dort, rot von der Sonne umglüht, einer Statue vergleichbar. Saß und sann.

Sprunghaft wurden seine Gedanken, kreuzten sich, überstürzten sich.

In der Höhle des Eisberges neben den Funkenschreibern stand Atma. Der Inder ließ die Streifen durch die Finger laufen, zurück bis zu der letzten drohenden Depesche der Macht, die auch hier von den Apparaten mitgeschrieben war.

War die Kluft schon so weit geworden, daß Erik Truwor seine Gedanken und seine Geheimnisse für sich behielt?

Mit wachsender Sorge hatte Atma die Veränderung des Freundes verfolgt. Was würde kommen, was würde das Ende sein? Was stand im Buche des Schicksals über Erik Truwor geschrieben?

Atma sprang auf und verließ den Berg. Er stand auf dem flachen Eis und blickte sich um. Gegen den tiefroten Abendhimmel hoben sich die gigantischen Formen des Eisthrones ab. Wie eine dunkle Silhouette sah er die Gestalt Erik Truwors dort gegen den blutfarbigen Himmel in den Äther ragen. Ein Zepter an der Seite, den Blick in die Ferne gerichtet.

So gewaltig, so zwingend war das Bild, daß es Soma Atma in tiefen Bann schlug, seine Gedanken verzauberte, seine Erkenntnis trübte.

Sollte er sich täuschen? Erhob das Schicksal diesen Mann weit über alle Sterblichen? War ihm die Weltherrschaft, die absolute Gewalt über Tod und Leben aller Geschöpfe bestimmt?

In eisiger Einsamkeit verrann die Zeit, bis der Zauber wich, bis Atma nicht mehr den Schein, sondern das Wesen sah.

Erik Truwor saß dort oben und starrte regungslos in den glühenden Sonnenball. Leise und abgerissen fielen Worte von seinen Lippen:

»Zu meinen Füßen liegt die Welt! Was bin ich? … Was bin ich?! Bin ich der Herr? … Ja … ja! Ich bin ihr Herr. Ich habe die Macht, sie zu zwingen! … Zwingen … zum Guten zwingen. Ein guter, ein gerechter Herr will ich sein. Aber wenn sie mir zu trotzen wagen?! … Trotzen … wer will mir trotzen? … Kein Sterblicher! … Auf Erden keiner … keiner! … Silvester … Atma? … Auch die nicht … Ha! … der eine sicher nicht. Den hat das Schicksal genommen, als er sein Geschick erfüllt … Der andere! … Atma? … Atma! … Atma!! … Fiel Cäsar nicht durch Brutus' Hand? … Atma! … Rief ich dich. Da kommst du ja …«

Halb aufgerichtet, mit vorgebeugtem Leibe blickte er auf Atma, der langsam den Pfad emporklomm. Fester umkrampfte seine Hand den schweren Eisstock.

»Hüte dich, Atma!«

Er sank in den Sessel zurück. In seinen Augen lauerte es.

Nun stand Atma dicht bei ihm. Schaute ihn mit der ganzen Kraft seines zwingenden Auges an und sah, wie Erik Truwor kalt und fremd an ihm vorbeiblickte.

»Erik Truwor! Siehst du deinen Freund nicht?«

Erik Truwor wandte leicht das Haupt und streifte den Inder mit einem flüchtigen kalten Blick.

»Was willst du?« Fremd und leer klang die Frage.

»Fragst du so den Freund?«

Erik Truwor zog die Brauen zusammen, bis sie sich berührten. »Freund …?«

Der Ton des Wortes traf das Herz des Inders.

»Erik … besinne dich … Was willst du tun? … Denke an Pankong Tzo, an die Weissagung, an die Ringe! – Es waren drei!«

»Was gilt mir noch Pankong Tzo? … Und die drei Ringe …«

»Hast du Silvester auch vergessen?«

»Silvester? … Silvester … Der hat sein Geschick erfüllt … Seine Zeit war um …« Erik Truwor stieß den schweren Stock in das Eis, daß die Brocken spritzten. »Jetzt geht es um größere Dinge!«

»Dann brauchst du deinen Freund Soma auch nicht mehr? … Oh, daß ich bei Silvester im eisigen Grabe läge statt diese Stunde zu sehen … Um größere Dinge geht es, sagst du … Denke an die Worte Tsongkapas: ›Es mag leichter sein, große Dinge zu vollbringen als gute!‹ Was du sinnst, weiß ich. Unheilig sind deine Gedanken! Aber ich sage dir, nie wird ein Werk bestehen, das auf Gewalt gegründet ist. Hüte dich vor der Rache des Schicksals! … Bedenke, daß du nur ein Werkzeug des Schicksals bist.«

Erik Truwor hatte sich erhoben. Jeder Nerv der hageren, hochragenden Gestalt war gespannt. Noch schärfer, eckiger als sonst sprang die gebogene Nase über die schmalen Lippen hervor. Tiefe Falten durchzogen die hohe Stirn. Wie Eisblinken blitzte es lauernd und doch gewaltsam in den tiefen Augenhöhlen. Machtlos glitten Kraft und Willen Atmas an dieser Wandlung ab.

»Ich … ein Werkzeug des Schicksals? … Und wenn ich es verschmähte, ein Werkzeug des Schicksals zu bleiben … und wenn ich« – seine Gestalt reckte sich, als ob er über sich selbst hinauswachsen wolle – »… wenn ich das Schicksal meistern wollte?!«

Vor dem drohenden Blitz aus Erik Truwors Augen wich Atma einen Schritt zurück.

»Jetzt bin ich der Mächtigste auf Erden. Wer wagt es, mir zu trotzen … das Menschengeschlecht liegt zu meinen Füßen … Die Elemente müssen mir gehorchen … Ich will die Wogen des Meeres zähmen und dem Sturm gebieten, sich zu legen … nie zuvor wurde einem Menschen solche Macht gegeben … und ich soll sie nicht gebrauchen?«

Atma trat dicht auf Erik Truwor zu. Noch einmal suchte und fand er Worte, um den Freund zu halten.

»Erik, du bist krank. Der Tod Silvesters hat deine Seele erschüttert, die Arbeit deinen Körper geschwächt.«

Erik Truwor schüttelte den Arm des Inders unwillig ab.

»Krank? … Erschüttert? … Ha! Mein Körper ist kräftiger, mein Geist klarer und frischer denn je.«

Er ließ den schweren Eisstock wie ein Spielzeug durch die Finger laufen.

»Erik Truwor!« Die Stimme Atmas klang streng. »Du frevelst! … Du frevelst am Schicksal. Hüte dich!«

»Ich mich hüten? … Vor wem? … Vor dir?«

Er hob den Eisstock, als wolle er Atma zu Boden schlagen. Dann stieß er ihn tief in das splitternde Eis hinter sich und reckte die Arme mit geballten Fäusten gegen den Himmel, als wolle er einem unsichtbaren Gegner in den Lüften drohen. Die Fäuste öffneten sich, und wie Krallen bewegten sich die Finger.

Ein heiserer Schrei, halb Drohung, halb Lachen, brach aus seinem Halse.

»Hüten soll ich mich? … Hüten? Vor wem? … Vor euch Unsichtbaren da oben?! Haha … Kommt heraus, ihr geheimnisvollen Mächte, aus euren Verstecken. Kommt! … Ich will mit euch kämpfen! … Ha … Haha … wo seid ihr? Kommt! … Habt ihr Furcht … Haha … Ich lasse mich von euch nicht äffen. Ha … ha … haha … Ich nicht!«

Ein Wetterleuchten, ein Blitzstrahl weit draußen am Horizont ließ Atma erschauern.

»Erik Truwor, laß dich warnen. Sahst du das Zeichen, das geschehen?«

»Ha … ha! Du Blinder, du Abergläubischer. Das harmlose Wetterleuchten soll wohl ein Zeichen von deinem Schicksal sein. Ha … ha … Ihr Toren … hinter jedem Naturvorgang, den euer kümmerliches Hirn nicht begreift, seht ihr etwas Geheimnisvolles … Übernatürliches … und wenn es euch paßt, einen Wink des Schicksals, dem ihr euch beugt … dem ihr euch fügt … Ich will mich nicht fügen … ich nehme den Kampf mit euch auf … ich forme mein Schicksal nach meinem Willen! … Wehe, wer mich stört! … Wehe euch da oben … ich fürchte euch nicht … hütet euch vor mir … Hütet euch. Ich komme über euch mit meiner Macht, die größer, als die Welt sie je gesehen!«

Schauerlich, wie ein Kriegsruf hallten die letzten Worte Erik Truwors in die stille Polardämmerung. Und plötzlich eilte er springend und stürzend den steilen Hang des Eisberges hinunter und verschwand in der Höhle, die den Rapid Flyer barg. Mit wankenden Knien folgte Atma seiner Spur. Sah, als er auf dem flachen Eise ankam, gerade, wie Erik Truwor das Flugschiff aus seinem Versteck ins Freie brachte.

»Wohin, Erik? Wohin?« Atma rief es mit verlöschender Stimme.

»In den Kampf!« Erik Truwors Stimme klang wie einst der jauchzende Kriegsruf der alten Waräger. »In den Kampf! Mit denen da oben! Heißa! … Jetzt wehrt euch … Erik Truwor kommt … der Große kommt.«

Atma sah, wie Erik Truwor den großen Strahler in den Rapid Flyer hob und alle Vorkehrungen traf, die Kabine zu verschließen. Betend faltete er die Hände. Er erhob sich von den Knien und ging mit ausgestreckten Händen auf Erik Truwor zu. Alle Kräfte seines Geistes waren aufs höchste gespannt. Alles, was sie herzugeben vermochten, konzentrierte er mit stärkster Energie auf den Willen, Erik Truwors verwirrten Geist zu zwingen. Die hypnotische Gewalt begann zu wirken.

»Noch einmal hilf mir, du großer Gott. Gib meinem Herzen größere Kraft. Kraft, das kranke Herz zu zwingen und zu heilen. Dann nimm meine Seele dafür hin.«

Erik Truwor hielt in seinen Bewegungen allmählich inne. Seine gestraffte Gestalt sank langsam in sich zusammen. Dann plötzlich schien er sich der fremden Kraft, die über ihn gekommen, bewußt zu werden. Er wandte den Kopf Atma zu. Ihre Blicke vergruben sich ineinander. Bewegungslos standen sich die beiden Männer gegenüber. Ein Zweikampf … furchtbar … stumm … Bebendes Hoffen zog durch Atmas Seele. Der Kampf war angenommen … Durchhalten! Sein Gebet war erhört! … Da … ein Wölkchen schob sich vor den roten Sonnenball und raubte sein Licht. Einen kurzen Augenblick nur … Da war es geschehen. In dem plötzlichen Halbdunkel verlor Atmas Blick die Schärfe … für einen Moment nur entglitt ihm die eben gewonnene Gewalt.

»Ha … ha … haha …« Da war es wieder, das kurze, abgerissene Lachen des Wahnsinns.

Mit einem Sprunge hatte sich Erik Truwor gedreht und den bannenden Blicken Atmas entzogen. Mit schaurigem Hohngelächter sprang er in die Kabine und warf die Tür hinter sich zu.

Zerbrochen, besiegt, geschlagen stand Atma. Der Rapid Flyer verließ den Boden und schoß in die Höhe.

»Erik … Erik Truwor!« … Der Ruf Atmas verhallte ungehört in der eisigen Luft. Schon ward das Flugschiff klein und immer kleiner. Jetzt nur noch ein Punkt … Jetzt nicht mehr sichtbar.

Demütig senkte Atma sein Haupt vor dem Willen des Schicksals. Er ging in den Berg zurück. Da fand er den Fernseher, fand den kleinen Strahler und suchte am dämmernden Himmel, bis das Bild des Flugschiffes gefaßt war und auf der Mattscheibe erschien. Da … Einen Kampf sahen seine Augen … Einen Kampf, wie ihn noch nie ein Sterblicher erschaut … Einen Kampf gelenkter und gebändigter Naturgewalt gegen die fessellosen Naturkräfte des Firmaments.

Ein Schrei rang sich aus Atmas Brust … Entsetzen sprach aus seinen Zügen … Seine Zunge stammelte Gebet … Hilferuf … Er barg das Gesicht in den Händen, um das grausige Bild nicht weiter zu sehen.

Die beiden großen amerikanischen Parteien der Sozialisten und der Plutokraten waren durch den Staatsstreich der Patrioten in gleicher Weise überrumpelt worden. Die ersten Tage nach dem Sturze Cyrus Stonards herrschte lähmende Überraschung und Verblüffung in ihren Reihen. Die Revolution war von einer dritten viel jüngeren und, wie sie meinten, viel schwächeren Partei gemacht worden. Aber sie mußten sehen, daß die Masse des Volkes diese Revolution gut hieß, mußten mit der Macht der Tatsachen rechnen.

Es war den Führern der Linken klar, daß eine Revolution von ihrer Seite den schärfsten Widerstand der Rechten finden würde, daß sie sich nur nach blutigen Bürgerkämpfen behaupten könnten. Genau so lagen die Dinge aber auch, wenn die Rechte einen neuen Staatsstreich unternahm. Und man wußte nicht, wie die unbekannte Macht sich zu blutigen Konflikten stellen würde.

So waren die Patrioten in der Lage, ihr eigenes Programm ohne nennenswerte Widerstände durchzuführen. Viel glatter, schneller und besser, als es eine der anderen Parteien jemals gekannt hätte.

Die amerikanische Presse aller Schattierungen erging sich in Reminiszenzen an frühere glückliche Zeiten im neunzehnten Jahrhundert, in denen Amerika das wahre Land der Freiheit gewesen, der Patriotismus allein den Ausschlag für alle politischen Handlungen gegeben hatte. Mit wenigen Ausnahmen wurden auch die Nachrufe für Cyrus Stonard dem gestürzten Diktator gerecht. Sie achteten seine Größe und gaben der Meinung Ausdruck, daß er das Beste des Landes gewollt, wenn auch seine Mittel nicht immer die richtigen waren.

In der neuen Regierung übernahm Dr. Glossin das Portefeuille des Äußern. Er erhielt es wegen seiner Verdienste um die Durchführung der Revolution und seiner genauen Kenntnis der bisher getriebenen äußeren Politik der Vereinigten Staaten. Aber er fühlte vom ersten Tage seiner Amtsführung an, daß er auf unsicherem Boden stand. Die Patrioten hatten Cyrus Stonard stets bekämpft. Dr. Glossin war erst in der zwölften Stunde von ihm abgefallen, nachdem er so lange Jahre sein williges Werkzeug gewesen war. Das brachte ihn in den schlimmen Ruf eines Renegaten, heftete seinem Namen einen schweren Makel an.

Nur ein glänzender Wahlsieg konnte ihn in seiner Stellung festigen. Deshalb hatte er sich in Neuyork im Trinity Church District aufstellen lassen. Dort hatte er seine Anhänger, und dort hoffte er durch geschickte Verhandlungen mit den Führern der Roten auch die Stimmen dieser Partei für sich zu gewinnen.

Es war ein gefährlicher Boden, auf den er sich wagte. Nur die raffinierte Schlauheit eines Dr. Glossin konnte es wagen, die Stimmen einer fremden Partei im geheimen Einverständnis mit deren Führern zu erlisten. Er unternahm es, weil er darin die einzige Möglichkeit sah, sich in der Regierung zu halten.

Der allzu Schlaue vergaß, daß es noch eine plutokratische Partei gab, die sich nach den Ereignissen des siebenten August von ihm düpiert fühlte und deren Spione die Vorgänge innerhalb der radikalen Linken sehr genau beobachteten. Er war von dem Ergebnis seiner letzten Besprechung mit den Führern der Linken befriedigt, als sein Kraftwagen ihn in der Abendstunde des zwanzigsten August über den Broadway fuhr.

Eine neue Ausgabe der Abendzeitungen fesselte seine Aufmerksamkeit. Das Blatt der Neuyorker Konservativen. Er sah auf der ersten Seite ein Porträt, hörte, wie die Zeitungsboys die Überschriften ausriefen: »Aus dem Vorleben unseres Außenministers!!«

Er ließ das Auto halten, um ein Blatt zu kaufen. Hörte, während er es erstand, aus dem Geschrei der Boys eine Fülle anderer Überschriften.

»Bekommt von England nicht genug! … Die Millionen aus Japan! … Doppelspiel vom ersten Tage! … Englischer Abkunft! … Amerikanischer Bürger! … Japanischer Spion! … Der Bravo des Diktators! … Er verrät weiter! … Wen verrät er? … Das amerikanische Volk!« …

Die Zeitungsboys hatten ihn nach dem Porträt erkannt und machten sich den Spaß, ihm die einzelnen Überschriften des Artikels zuzuschreien, bis der Kraftwagen ihn außer Hörweite brachte. Auf der Fahrt nach dem Flugplatz hatte er Zeit, den Aufsatz ganz zu lesen. Den kleingedruckten Text zwischen den fetten Überschriften.

Der Mann, der das geschrieben hatte, mußte ihn und sein ganzes Vorleben unheimlich genau kennen. Da war keiner seiner schlimmen Streiche vergessen, keine seiner Verrätereien und Meinungsänderungen ausgelassen. In schlichter Sprache legte der Verfasser das Treiben Glossins vom ersten Tage seiner Tätigkeit in San Franzisko bis zu seinem letzten Doppelspiel mit den Führern der Roten dar. Er deckte den Artikel mit seinem vollen Namen. Der konservative Politiker MacClaß genoß auch in den Kreisen seiner Parteigegner allgemeine Achtung.

Dr. Glossin verließ seinen Wagen auf dem Flugplatz. Was tun? Eine neue Revolution versuchen? Offen mit den Roten zusammengehen? Er verwarf den Gedanken so schnell, wie er ihm gekommen war.

Jetzt gerade nach Washington und den anderen die eiserne Stirn gezeigt! Hatte er nicht allein die Revolution gemacht? Was waren die anderen ohne ihn? Nie hätten sie zur rechten Zeit losgeschlagen. Nie wäre es ihnen gelungen, zur Macht zu kommen! Ihm verdankten sie alles. Mit ihm mußten sie weiter durch dick und dünn gehen, wenn sie an der Macht bleiben wollten. Was hatte schließlich ein Zeitungsartikel im Wahlkampf zu bedeuten?

Mit festem Schritt betrat er das Sitzungszimmer im Weißen Hause. Kühle Worte und kühle Mienen. Es war klar, daß der Artikel von MacClaß hier bereits bekannt war. Deshalb zog er das Blatt aus der Tasche und warf es auf den Tisch.

»Den Wisch kaufte ich vor einer Stunde auf dem Broadway. Schwindel natürlich! Alles Schwindel!«

Drückendes Schweigen folgte seinen Worten. Bis William Baker die Frage stellte: »Alles …?«

Das war der kritische Moment. Mit eiserner Stirn mußte Glossin sofort ein einziges Wort sagen: »Alles!«

Als er den geraden durchdringenden Blick William Bakers auf sich ruhen fühlte, versagten ihm für einen Augenblick Entschlossenheit und Mut. Als sie ihm wiederkamen, war es für diese kurze knappe Antwort zu spät. Er mußte viele Worte machen. Den Gekränkten und Entrüsteten spielen.

»Mr. Baker, ich hoffe, daß Sie diese Unterstellungen nicht für wahr halten. Ich bin bereit, mich von jedem Verdacht zu reinigen.«

»Es wäre im Interesse des Ansehens der Regierung sehr erwünscht, wenn Sie das könnten.«

William Baker sprach die Worte langsam, während er eine Mappe ergriff, aufschlug und vor Glossin hinschob.

Der Doktor warf einen Blick darauf, und der Herzschlag stockte ihm.

Die Korrespondenz, die er bis in die letzten Tage drahtlos mit England geführt hatte. Chiffriert natürlich. Ein Dechiffreur von Gottes Gnaden hatte den geheimen Schlüssel rekonstruiert und alles entziffert. Hier standen die Depeschen, wie er sie aufgegeben und empfangen hatte. Daneben der wahre Sinn, der vernichtend für ihn war. Dann weiter seine Verhandlungen mit den Roten von Trinity Church. Dr. Glossin blätterte mechanisch weiter. Ein Bericht eben jenes MacClaß an den Beauftragten des amerikanischen Volkes William Baker.

Dr. Glossin ließ sich auf dem nächsten Stuhl nieder. Er fühlte, daß sein Spiel verloren war. Wie aus weiter Ferne klangen die Worte William Bakers an sein Ohr:

»Ihre Haltung bestätigt mir die Richtigkeit der Anklagen. Wir wollten nicht handeln, ohne Sie gehört zu haben. Was haben Sie zu sagen?«

Dr. Glossin schwieg.

»Wir haben unsere Maßnahmen getroffen. Sie können aus diesem Zimmer als Untersuchungsgefangener des Staatsgerichtshofes hinausgehen … oder … als freier Mann, um sofort ein Flugschiff zu besteigen und die Union für immer zu verlassen. Wofür entscheiden Sie sich?«

Dr. Glossin blickte um sich mit den Augen eines gehetzten Tieres. Von irgendeiner Stelle erwartete er Beistand … Hilfe … zum mindesten Mitleid. Und fand überall nur starre, abweisende Blicke. Er entschloß sich zur Antwort: »Für das letztere.«

William Baker drückte auf einen Knopf.

»Herr General Cole, lassen Sie Herrn Dr. Glossin zum Schiff bringen.«

Der General nahm den Auftrag entgegen. Er winkte dem Arzt. Uniformen wurden sichtbar, als er die Tür zum Vorzimmer öffnete. Die Leute des Generals umringten den Doktor.

General Cole ging zehn Schritte voraus. Er mied die Nähe des Verbannten. Mit schnellen Schritten erreichte er das Flugschiff und stand abseits, während seine Leute die Einschiffung Glossins überwachten. Anders als die Abfahrt Cyrus Stonards vollzog sich die Dr. Glossins.

Professor Raps saß in seinem Arbeitszimmer. Eine Anzahl von Dokumenten und Berichten bedeckte den großen Schreibtisch. Weiße Foliobogen lagen vor ihm. Die Feder ruhte in seiner Hand.

Doch er kam nicht weit mit dem Schreiben. Seine Züge verrieten höchste geistige Anspannung. Seine Rechte bewegte die Feder, warf einige Zeilen in der großen charakteristischen Schrift auf das weiße Papier, um dann wieder mit dem Schreiben zu stocken.

Er legte die Feder beiseite und griff nach einem Schriftstück, nahm ein zweites und drittes dazu. Überflog, las und verglich. Und dann plötzlich wichen die Falten, die seine Stirn furchten. Ein Leuchten der Befriedigung glitt über seine Züge … ein leiser Ruf entrang sich seinen Lippen: »So ist's!«

Tiefatmend legte er sich in den Schreibstuhl zurück und deckte die Hand über die Augen. Noch einmal ließ er die Glieder der Kette, die er in angestrengter Arbeit aneinandergereiht hatte, vor sich vorüberziehen.

Das erste Glied! Ein Bericht der Sternwarte von Halifax, datiert von dem gleichen Tage, an dem der Friedensvertrag zwischen England und Amerika unterzeichnet worden war. Um 8h 17m mitteleuropäischer Zeit zwei schnell aufeinanderfolgende starke Explosionen in nördlicher Richtung in der Zone der Polarlichter.

Die erste Explosion zeigte im spektroskopischen Bild die Linien des Kalziums und der Kieselsäure, die zweite diejenigen von Eisen und Aluminium. Die Astronomen von Halifax deuteten das Spektrogramm dahin, daß die zweite Explosion einen gewaltigen Brocken kosmischer Tonerde betroffen habe. Aber es fehlten die Sauerstofflinien, es waren nur Linien des reinen Aluminiums vorhanden …

Professor Raps konnte sich der Meinung der Astronomen nicht anschließen. Nach dem Spektrogramm mußte reines Aluminium explodiert sein … und dann die Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Auch die sooft zitierte Duplizität der Ereignisse konnte hier nicht zur Erklärung herangezogen werden. Vor zwölf Stunden war dem deutschen Gelehrten an diesem toten Punkt der Untersuchungen das erstemal blitzartig der Gedanke gekommen: Das war eine Wirkung der Macht! Die Erscheinungen waren von der Macht verursachte Explosionen der Raumenergie. Aber waren sie gewollt? … Waren sie ungewollt geschehen? … Waren sie am Ende sogar gegen den Willen der Macht eingetreten? Ebensoviel unlösliche Rätsel wie Fragen.

Die nächsten Glieder! Ein Funkentelegramm des deutschen Dampfers »Bismarck« aus dem Nordatlantik vom gleichen Tage: 40° 13′ nördlicher Breite 35° 17′ westlicher Länge. Steuerbord voraus aufkochende See in 10 km Breite und 50 km Länge. Schwere Dampfwolken. Heißer Sprühregen auf Deck.

Die Morgenzeitungen hatten den Bericht gebracht und Kommentare wissenschaftlicher Kapazitäten dazu gegeben. Nach den Vermutungen der Gelehrten handelte es sich um einen unterseeischen Vulkanausbruch.

Professor Raps hatte die Depesche noch am vergangenen Abend gelesen. Er vermißte die genaue Zeitangabe und war deswegen auf die Redaktion gegangen. Man hatte sie ihm bereitwillig gegeben. 8h 13m abends. Der Professor hatte das Originaltelegramm lange Zeit in der Hand behalten. Der Zusammenhang war zu frappant, zu augenfällig, um ihn nicht zu erschüttern. Und während er dort sinnend saß, hatte ihm der Redakteur eine andere eben einlaufende Depesche des Forest Department of Canada vorgelegt. Ein Bericht über einen schweren Waldbrand, bei dem mehrere tausend Hektar Urwald verascht worden waren. Das Merkwürdige war, daß das Feuer sich hier nicht allmählich weitergefressen hatte. Die ganze riesige Fläche mußte beinahe zur selben Zeit aufgeflammt und niedergebrannt sein.

Dann hatte die Zeitung des späten Abends an dem gleichen Tage noch eine eigentümliche Meldung veröffentlicht. Einen Funkspruch der indischen Großstation zu Dehli.

Plötzliche, überraschende Schneeschmelze im Himalaja. Ghahngak, Burh Ghandk und Damla werfen Hochwasser in den Ganges. Überschwemmung bei Hajipur.

Die Morgenzeitungen des heutigen Tages hatten die Nachricht aus Dehli auch gebracht. Sie fügten aber eine zweite Depesche an, gleichfalls aus Dehli, daß die Schneeschmelze und das Hochwasser ebenso plötzlich, wie sie aufgetreten waren, auch wieder nachgelassen hätten.

Das waren die hauptsächlichsten Nachrichten, die wichtigsten Glieder der Kette.

Professor Raps hatte die Nacht keine Ruhe gefunden. Die Gedanken kamen und gingen während der Stunden von Mitternacht bis zum Sonnenaufgang. Sie überfielen ihn, drängten sich ihm auf, zwangen ihn wieder und immer wieder, diese Nachrichten zu überlegen, in Zusammenhang zu bringen. Als er sich am frühen Morgen erhob, hatte er eine Lösung gefunden. Es sind keine zufälligen Naturereignisse … es waren Wirkungen der Macht … Was war geschehen? … Raumenergie war an den verschiedensten Stellen der Erde fast gleichzeitig explodiert … Warum? … Weshalb? … Vor dem Friedensschluß wären diese Auswirkungen erklärlich gewesen … Warum jetzt? … Jetzt war eine Probe der Macht nicht mehr nötig.

In der neunten Morgenstunde hatte Professor Raps ein Telegramm aus Hammerfest bekommen. Auch dort waren die beiden Explosionen im Spektroskop beobachtet worden, und diese zweite Beobachtung bestätigte seine Schlußfolgerungen. Die letzte Explosion zeigte die Linien reinen Aluminiums.

Was war der Zweck, was der Sinn aller dieser Erscheinungen … hatte es noch Sinn … war es am Ende auch sinnloser Kampf … hatte die Macht sich selbst bekämpft? … Drei waren es doch … drei sollten es sein? … Waren die drei Träger der Macht miteinander in Kampf geraten? Oder … war es Selbstvernichtung? … Selbstvernichtung? … Das Korrigens? »So ist's!« Der Ausruf entfuhr dem Gelehrten, als seine Schlußkette bis zu diesem Punkte geschmiedet war. Das Korrigens des alten Linnés hatte sich gezeigt. In gewaltsamem Ausbruch hatte sich die Natur von einem Druck befreit, der ihren ewigen Gesetzen entgegenwirkte … War es das? … Es mußte so sein.

»So ist's! … So ist's gewesen.« Die Überzeugung dafür trug er in Kopf und Herz.

Es war Zeit, ins Kolleg zu gehen, die Vorlesung über Elektrodynamik zu halten. Er verließ seine Wohnung und ging in die Hochschule.

Er sprach und war selbst über den Schwung, über das Feuer seines Vortrages erstaunt. Er fühlte es, er merkte es an den Mienen der Zuhörer, daß er das Auditorium heute mehr denn je faszinierte. Es lebte und wirkte etwas in ihm, was ihn emporhob, was den logischen Schlüssen, den mathematischen Formeln seiner Vorlesung einen höheren Schwung gab. Und die Hörer fanden ihren Lehrer verändert, sahen, daß das feine ruhige Gelehrtengesicht heute in Entdeckerfreude glühte.

Die Vorlesung war zu Ende. Professor Raps wollte das Katheder verlassen und sah, daß seine Hörer noch etwas von ihm erwarteten, daß hundert Augenpaare fragend an seinen Mienen hingen. Und blieb noch einmal auf dem Katheder stehen, fühlte, wie seine Lippen sich unter einem inneren Zwang öffneten. Wußte nicht, wie es geschah, daß er die Worte sprach: »Meine Herren! Natura non facit saltus!«

Stille herrschte im Hörsaal. Aber die Hörer sahen das Gesicht ihres Lehrers aufleuchten, sahen eine Verklärung auf seinen Zügen, und jeder von ihnen fühlte es: Hier hatte ein großer Geist in die weltbewegenden Ereignisse der letzten Tage hineingeschaut. Brausender Beifallsturm durchtobte den Saal, als der Professor das Katheder verließ.

Die Abendblätter brachten bereits einen Bericht über die Vorgänge im Kolleg. Das Wort Linnés, das der Professor dort gesprochen, wurde um den Erdball gefunkt.

Ein Blatt brachte die Nachricht, daß ein hoher Beamter der Reichsregierung den Professor bereits am Nachmittag in seiner Wohnung aufgesucht und eine längere Unterredung mit ihm gehabt hatte. Ein anderes wußte zu melden, daß die Vertreter der Reichsregierung danach bis spät in die Nacht hinein getagt hätten. Depeschen durchschwirrten die Welt. Die Konferenz der Reichsminister erwies sich als Tatsache und steigerte die Spannung.

Was wußte Deutschland? … Kannte es das Geheimnis?

Die Augen der ganzen Welt richteten sich plötzlich nach Deutschland. Man begann zu rechnen. Man überschlug die deutschen Machtmittel. Die wirtschaftliche Stärkung Deutschlands durch die Lieferungen des Englisch-Amerikanischen Krieges. Daneben die Schwächung der beiden kriegführenden Länder. Die Erschöpfung ihrer Kassen, der Verlust ihrer Flotten und sonstigen Kampfmittel.

War Deutschland dem Geheimnis der Macht auf die Spur gekommen?

Als die Tür des Rapid Flyers ins Schloß fiel, ließ Erik Truwor die Turbinen anspringen. In jähem Aufstieg stürmte die Maschine in die Höhe, brachte Kilometer um Kilometer unter sich.

Schon stand der Sonnenball, der dort unten bereits zur Hälfte vom Horizont verdeckt wurde, wieder frei über der Kimme. Schon höhlte sich die weitgestreckte Eiswüste wie eine ungeheure Mulde unter dem Flieger.

Erik Truwor stand am Steuer und sah es … blickte dann wieder nach oben und ballte die Fäuste, als drohe er einem unsichtbaren Feind.

Ein einziger Gedanke beherrschte sein krankes Gehirn: Nach oben … immer höher nach oben …

Der Flieger stieg und stieg. Aber er war nur gebaut, eine Höhe von dreißig Kilometer zu erreichen, in ihr zu fliegen.

Erik Truwor sah am Höhenmesser, daß die Maschine langsamer stieg, daß die Kraft der Turbinen nachließ.

»Haha … haha …« Wieder entquoll jenes dumpfe schaurige Gelächter seinen Lippen.

»Menschenwerk! … Tand … Sie können nicht weiter. Ihre Macht ist zu Ende … Aber ich, ich habe die Macht … haha … ich steige, bis ich euch unter mir habe … ihr da oben …«

Mit geschickten Griffen entfernte er die Sperrungen an den Schalthebeln des Strahlers. Und konzentrierte dann die Energie in den Druckkammern der großen Turbinen.

Schon war es geschehen, schon war die Wirkung zu merken. Die Turbinen, die bis dahin matt und unregelmäßig gelaufen waren, begannen sich in rasendem Wirbel zu drehen, rissen die Propeller in gleichem Tempo mit sich.

Der Rapid Flyer stieg unaufhaltsam. Längst hatte er die Dreißigkilometerhöhe überschritten und war tief in die Zone der Polarlichter eingedrungen. Schon strahlte die Sonne wieder gelbweiß, die er so lange Tage nur in blutfarbenem Dämmerschein erblickt hatte. Schon stand sie hoch über der Kimme.

Der Rapid Flyer stieg, und das Land weitete sich. Schon waren hundert Kilometer erklommen. Die nördlichen Küstenstreifen der Kontinente wurden sichtbar, mehr zu ahnen als zu erblicken.

Höher hinauf! … Immer höher! … Es war vergeblich, daß er die Turbinen bis zum Bersten mit Energie versah. Es war vergeblich, daß die Propeller, bis zum Zerreißen gespannt, in rasendem Spiel rotierten. Die Atmosphäre war in dieser Höhe zu dünn, um den Luftschrauben noch Halt, den Tragflächen Stütze zu geben. Über hundert Kilometer kam er mit der Maschine nicht hinauf.

Wie hatte er auch hoffen können, mit diesem gebrechlichen Menschenwerk Höhen zu erreichen, aus denen er sein ganzes Reich zu übersehen vermochte. Etwas ganz anderes würde er bauen müssen. Eine Maschine, die, durch die Gewalt des Strahlers allein getrieben, raketenartig durch den Raum fuhr, die ihn in Sekunden Hunderte von Kilometern über die Erde erhob. Einen Himmelswagen, der neuen Macht … der neuen Gottheit würdig. Schade, daß Silvester tot war. Der hätte ihm die Maschine sicher und schnell gebaut.

Unter dem rasenden Spiel der Propeller dröhnte und summte der metallene Rumpf des Rapid Flyers wie eine gespannte Saite. Jäh mischte sich ein scharfer Klang, ein harter Schlag in das Singen des Rumpfes. Erik Truwor trat einen Schritt zurück. Dicht neben ihm zeigte die Aluminiumwand eine schwere Einbeulung, als ob ein großer Stein sie von außen getroffen hätte.

In das Dröhnen des getroffenen Rumpfes mischte sich das dumpfe schaurige Lachen Erik Truwors.

»Ihr droht mir … ihr wagt mir zu drohen … ihr wagt mein Schiff zu berühren … wartet ihr … ihr … Ich werde euch brennen …«

Ein neues Dröhnen, eine neue Beule im Rumpfe des Rapid Flyers. An der eingebeulten Stelle war das Metall bis zur Rißbildung gereckt. Noch ein wenig mehr, und der Rumpf wurde undicht, die Sauerstoffatmosphäre seines Innern entwich in die luftleere Umgebung …

Und dann ein drittes Mal. Eine neue schwere Einbeulung.

Erik Truwors Geist begriff die fürchterliche Gefahr nicht mehr, in die er sich so mutwillig begeben hatte. Er war aus dem Schutze der dichteren Atmosphäre bis in jene fast luftleeren Höhen emporgestiegen, in denen der Erde der Schutz des Luftpolsters fehlt.

Er sah nur unsichtbare feindliche Gewalten, die ihm die Macht entreißen wollten. Mit einem Sprunge war er am Strahler und ließ die telenergetische Konzentration nach allen Seiten um den Flieger kreisen. Die Turbinen, der Energie beraubt, ohne Verbrennungsluft, ohne Kraft, stellten die Arbeit ein. Schwer wie ein Stein fiel die Maschine im luftleeren Raum nach unten.

Mit glühender Stirn und rollenden Augen stand Erik Truwor, die Hand am Strahler, und schleuderte dem Schicksal seine Herausforderung entgegen. Ein Bolide, ein Felsblock, viel größer als das Schiff, wurde vom Strahl gepackt, zischte auf und stand als feurige Dampfwolke im Raume.

»Haha … birg dich, Schicksal! … Fliehe, Schicksal, sonst brenn ich dich!«

Erik Truwor stieß die Worte, mit wahnsinnigem Gelächter vermischt, heraus, während er den energetischen Strahl kreisen ließ. Doch der freie Fall des Fliegers raubte ihm die Sicherheit der Bewegungen, machte die schon so schwierige Aufgabe, mit einem Strahl den halben Raum abzuschirmen, zu einer unlöslichen. Seine Hände vermochten den Strahl nicht mehr sicher zu meistern. Wildzuckend stieß er nach allen Seiten weithin durch den Raum. Jetzt traf er in Kanada einen Wald und fraß ihn in feurigem Wirbel. Jetzt ließ er auf den Gipfeln des Himalaja den Schnee aufkochen. Jetzt dampfte der Ozean, von der Energie durchsetzt.

Das Flugschiff stürzte, während die Sekunden sich zur Minute ballten. Schon wurde die Atmosphäre dichter, die Gefahr geringer.

Da ein scharfer, greller Schlag. Ein Meteorit von Faustgröße durchbrach die Decke des Flugschiffes. Drang weiter vor und traf den Hebel des Strahlers. Erik Truwor hatte zu Beginn seiner wahnsinnigen Fahrt die Sperrungen entfernt. Der Hebel wurde zurückgetrieben. Über den Sperrpunkt hinaus … die Energie von zehn Millionen Kilowatt explodierte im Flugschiff, im Strahler selbst … Eine Feuerwolke, wo eben noch der Flieger durch den Raum stürzte.

So schnell wie das Feuer am Himmel entstand, verschwand es auch wieder. Machte bläulichem Dampf Platz, der sich ausbreitete, auflöste und zu Nichts wurde. Nur das Nichts blieb übrig. Der leere Raum. Nichts mehr vom Rapid Flyer, von seinem Insassen und vom Strahler.

Die letzten Ausläufer der schweren Explosion erreichten noch die unteren Schichten der Atmosphäre. Ein Sturm jagte über das Schneefeld und ließ die Flanken des Eisbergs erzittern. Ein Schüttern und Dröhnen ging durch das Eismassiv. Ein Aufruhr aller Elemente begleitete den Untergang dessen, dem das Schicksal eine so unendliche Macht anvertraut hatte.

Ein leuchtend schöner Septembermorgen lag über dem Park von Maitland Castle. Ein feiner blauer Dunst milderte das Sonnenlicht, gab den Wiesen und Baumgruppen eine besondere Tönung, ließ entfernte Dinge unwahrscheinlich nahe erscheinen.

Der blaugoldene Frieden des lichten jungen Tages verschönte den Park, während seine Herrin in Sorge und Unruhe war. Diana Maitland wanderte rastlos durch die verschlungenen Wege der Anlagen. Heute wollte ihr Gatte kommen. Die Nachricht war in der Nacht eingetroffen. Der Friedensvertrag mit den vielen Paragraphen und Anhängen war unterzeichnet. Der Herr von Maitland Castle kehrte in sein Haus zurück.

Diana ging durch den Park, gedachte des letzten Zusammenseins, erwartete mit Unruhe das Kommende.

Wie war es gewesen? Horace konnte sich nicht zu ihrer Meinung bekehren. Er sah nur Unheil in einer Macht, von der sie den Fortschritt und die Befreiung der Welt erwartete. Horace glaubte nicht an Menschen, die eine ungeheure Macht nur zum Besten der Menschheit anwenden würden. Horace sah im Träger der Macht nicht den vollkommenen Menschen, sondern einen Rivalen, der ihm das Herz seiner Gattin abwendig machte. Horace konnte die Person nicht von der Sache trennen. Horace war eifersüchtig … War es heute noch auf einen Mann, der vor Jahren einmal auf kurze Wochen in den Lebenskreis Dianas getreten war. Und Diana wußte nicht, wie sie ihm die Grundlosigkeit dieser Eifersucht beweisen sollte … Und fühlte doch in dieser Stunde stärker denn je, daß ihr Lord Horace Maitland alles, jener andere geheimnisvolle Träger einer geheimnisvollen Macht nur ein Schemen war. Nur noch eine Erinnerung an längst vergangene Tage bedeutete. Die Erinnerung an ein kurzes Glück, das unwiederbringlich dahin war. Eine Erinnerung, an die sie jetzt denken konnte wie an ein schönes Bild oder einen schönen Tag, während doch ihr Leben und ihre Liebe Horace gehörten.

Ruhelos durchwanderte sie den Park und wußte selbst nicht, zum wievielten Male sie jetzt wieder an dem großen Eingangsportal vorüberkam.

Eine Gestalt fesselte Dianas Aufmerksamkeit. Sie sah einen Mann dem Gitter näherkommen. Nun unterschied sie Einzelheiten, erkannte die dunkle, bronzefarbene Haut, dachte, das müsse wohl ein Inder sein. Und dann stand die Gestalt an dem Torflügel, der dem Druck seiner Hand nachgab. Stand auf dem Parkweg dicht vor Diana Maitland, grüßte sie durch eine tiefe stumme Verbeugung nach indischer Sitte.

Diana blickte in sein Antlitz, sah in den Glanz eines leuchtenden Augenpaares und fühlte, wie ihre Unrast einer wohltätigen Ruhe wich. Wohl eine Minute stand sie so vor ihm, die vornehme Lady, die Herrin von Maitland Castle, vor einem unbekannten braunen Mann, der ohne Erlaubnis in ihren Park kam … der … war denn das Tor nicht verschlossen? … Sollte es nicht immer verschlossen gehalten werden? … Kein Diener in der Nähe. Diana raffte sich zur Frage zusammen:

»Was suchen Sie hier?«

»Ich suche Jane Bursfeld.«

In jähem Schreck zuckte Diana zusammen.

»Was wollen Sie von Jane Bursfeld?«

»Ich will ihr sagen, daß Silvester Bursfeld tot ist.«

»Tot! … Silvester Bursfeld ist tot?«

Ihre Blicke hingen wie gebannt an den glänzenden Augensternen des Inders. Was verbarg sich noch hinter dieser hohen Stirn?

»Wer sind Sie?«

»Ich bin Soma Atma, Silvester Bursfelds Freund.«

Langsam, schwerflüssig wie die Perlen eines Rosenkranzes fielen die Worte von den Lippen des Inders, und bei jedem Wort wich Diana einen Schritt weiter von dem Sprechenden zurück, hob abwehrend die Hände, als schreckte sie vor jedem neuen Wort, das Atma sprach.

»Sie sind Soma Atma? … Einer von den dreien?«

»Der Letzte!« …

»Der Letzte?«

Schweigend neigte sich Atma, die Arme über der Brust verkreuzt.

»Die anderen? … Wo sind sie?«

»Tot!« …

»Tot … beide tot? … Auch Erik Truwor tot?« …

»Er frevelte und starb …«

Mehr taumelnd als gehend erreichte Diana die nahe Bank. Sie hörte nicht das Signal des Autos, das ihren Gatten brachte. Sie sah nicht, wie er den Wagen verließ. Sie sah nicht, wie er verwundert … erstaunt stehenblieb, wie Atma an seine Seite trat und beide auf dem Wege, der zum Schloß führte, hin und her gingen. Sie gewann die Herrschaft über ihre Sinne erst wieder, als der Ruf ihres Gatten ihr Ohr traf.

»Diana! … Diana!«

Hatte die Kunde von dem gewaltsamen sündigen Tod Erik Truwors Diana niedergeworfen, oder war es nur die Wucht aller dieser Ereignisse und Nachrichten, die so plötzlich auf sie einstürmten? Lord Horace wußte es nicht, aber er fühlte, daß die nächsten Minuten ihm die Klarheit darüber bringen müßten.

Diana vernahm den Ruf und schrak auf. Schmerzzerrissen, mit verstörten Augen blickte sie ihren Gatten an. Wie einen Unbekannten.

»Horace! … Horace!«

Das war der Ruf einer Seele aus tiefster Not.

»Horace … du! … du!«

Lord Maitland legte die Arme um Dianas Leib. Er fühlte ihr Herz an seiner Brust in wilden Schlägen toben. Er fühlte, wie ihre Glieder zitterten und bebten.

»Diana … was …«

Behutsam und fürsorglich führte Lord Maitland Diana zu der Bank zurück. Er wollte sprechen und kam nicht dazu. Sein Weib hing an seinem Hals, umschlang ihn mit den Armen, als ob sie ihn erdrücken … als ob sie ihn nie wieder lassen wolle.

Ein frohes Leuchten kam in seine Augen.

»Diana?« halb Frage, halb Jubel lag in dem einen Wort. Er versuchte es, die Arme, die ihn so fest umschlungen hielten, sanft zu lösen, ihr Gesicht zu sich zu erheben. Sie widerstand ihm. Nur noch fester umschlangen ihre Arme seinen Nacken, nur noch enger preßte sie ihr Herz an das seine.

Und da wußte Lord Maitland: Sie war sein und immer sein gewesen. Mit frohen Augen blickte er zu der strahlenden Morgensonne empor, Diana fest in den Armen.

So saßen sie eng umschlungen, vergaßen die Welt um sich, vergaßen die Zeit, die rastlos verstrich. Bis der Sonnenglanz sich trübte, ein Schatten auf ihre leuchtenden Gestalten fiel. Der Schatten Atmas, der dicht vor ihnen stand. Die Gegenwart Atmas brachte sie in Raum und Zeit zurück.

»Wo ist Jane Bursfeld?«

Wie ein kaltes Wehen strich es über ihre glühenden Herzen.

»Jane?« … Diana sprang auf.

»Arme Jane! Ich will Euch zu ihr führen.«

Langsam und zögernden Schrittes ging sie vor den beiden Männern nach der Blutbuche hin, bei der sie Jane wußte. Bei dem Klang der nahenden Schritte blickte Jane empor. Ihre Augen wanderten von dem einen zum anderen. Dann erkannte sie Atma, sprang auf und lief ihm entgegen.

»Atma! Atma! Du … du hier?«

Glück und Freude strahlten auf ihren Mienen.

»Atma, du bist hier? Wo ist Silvester? Wo hast du Silvester? .. Wann kommt er? .. Wann holt er mich?«

Atma stand unbeweglich. Mit beiden Armen hatte er die Gestalt Janes aufgefangen, als sie ihm entgegenlief. Sie hing an seinem Halse. Er hielt sie nur noch mit der Linken umschlungen. Drückte die Linke fest auf ihr Herz, während er mit der Rechten das zarte blonde Haupt auf seine Schulter niederzog, ihr langsam über Stirn und Augen strich. Langsam, wie schwere Tropfen fielen die Worte von seinen Lippen: »Silvester … dein Mann … ist tot.«

Jane zuckte zusammen. Regungslos lag sie da im Arm Atmas, ließ sich von ihm zu der Bank führen, saß immer noch in seinem Arm neben ihm.

»Silvester Bursfeld ist tot.«

In der Stille des Herbstmorgens drangen die Worte bis an das Ohr Dianas, die sich an den Arm ihres Gatten klammerte.

Und noch ein drittes Mal wiederholte Atma die traurige Kunde, während seine Linke das stockende Herz Janes zusammenpreßte.

»Silvester Bursfeld, dein Gatte, ist tot.«

Jane Bursfeld hörte die Worte, ohne zu weinen, zu klagen. Langsam hob sie ihr blasses Haupt, starrte in den sonnigen Himmel, blickte, sann und hörte, was Atma sprach.

Von der letzten Stunde Silvesters sprach Atma. Wie ihm der letzte große Wurf gelungen. Wie er seine Entdeckung zur höchsten Vollendung gebracht.

Die starre Unbewegtheit Janes wurde durch ein leises Zittern erschüttert.

Weiter sprach Atma. Daß Silvester dahingegangen sei, die letzte Botschaft Janes im Herzen. Wie sie ihn fanden, im Tode noch ein Lächeln auf den Lippen, den Depeschenstreifen in den erstarrten Händen.

Jane hörte es, und ihr starrer Blick leuchtete auf. Ihre Lippen zuckten noch, ihre Mienen wurden ruhiger.

Atma sprach, und langsam ließ der Druck seiner Hand auf ihr tief und gleichmäßig pochendes Herz nach.

»Sein Name und sein Ruf leben in deinem Schoß fort. Sorge für Silvester, indem du für sein Kind sorgst und lebst …«

Er ließ seine Arme sinken. Frei stand Jane vor ihm. Doch sein gewaltiger Einfluß wirkte weiter. All ihr Fühlen, alle ihre Gedanken konzentrierte er auf das keimende Leben in ihrem Schoß.

Ein Lächeln trat auf ihre Züge. Ihr Antlitz gewann die zarte Röte wieder. So schritt sie an Soma Atma vorbei. So an Lord Horace und Lady Diana vorüber dem Schloß zu.

In den Armen Atmas hatte sie das Furchtbare des ersten Schmerzes überstanden. Ihr künftiges Leben, ihre ganze Zukunft war dem Erben Silvesters, dem Erben der Macht geweiht.

Diana Maitland sah Jane auf das Haus zugehen. Sie zitterte unter dem Eindruck der Szene. Sie hatte gefürchtet, Jane weinen, Jane niederbrechen, Jane sterben zu sehen. Und sah sie ruhig und gefaßt fortschreiten.

Sie fühlte die eigenen Knie wanken und stützte sich fester auf den Arm ihres Gatten.

Atma schritt langsam Jane Bursfeld nach. Er kam an Lady Diana und Lord Horace vorüber. Sein Schritt verzögerte sich. Er blieb stehen.

Sein Blick umfaßte die Gestalt Dianas, wie er vorher auf der Janes geruht hatte. Voll öffneten sich seine Lippen. Glanz strahlte aus seinen Blicken. Langsam sprach er … stockend, abgerissen, wie von einer fremden Macht getrieben:

»Gesegnet ist das Haus. Die Erben zweier Geschlechter werden in seinen Mauern geboren … Sorgt für sie! … Hütet sie! … Sie tragen die Zukunft … das Schicksal bestimmt sie zu … Großem …!«

Er ging weiter …

»Diana! Was sagte der Inder? … Was meinte er … Zwei Erben!«

Diana Maitland hatte den Blick zu Boden gerichtet. Lord Horace zwang sie mit sanfter Gewalt, den Kopf zu erheben, ihn anzusehen.

»Zwei Erben! Diana! Was meinte Atma?«

»Er sah und sagte, was ist.«

»Diana!«

»Horace!«

Es waren nur zwei Worte, zwei kurze Namen. Aber in ihnen lag ihre Zukunft.

So zärtlich und behutsam führte Lord Horace Lady Diana dem alten Stammschloß der Maitlands zu, als habe er den kostbarsten Schatz im Arm.

Dreifach hatte das Schicksal Glossin getroffen. Ehrlos, machtlos und mittellos mußte er die Staaten verlassen. Zu spät begriff der sonst so Schlaue, daß die Zeit für die Methoden und die Moral der Gewaltherrschaft vorüber war, daß Männer mit anderen Grundsätzen das Regierungssteuer ergriffen hatten.

Aus der Macht war er gestoßen, die zwanzig Jahre sein Element war, ohne die er nicht leben und atmen zu können glaubte. Die Millionen, die er in den Jahren der Macht errafft und an sich gebracht hatte, waren ihm genommen. Gerade so viel blieb ihm nach den Worten und dem Willen William Bakers, daß er bei England nicht zu betteln brauchte, um sein Leben zu fristen.

So kam er nach England zurück. Am Morgen nach jener Sturmnacht, in der die empörten Patrioten ihn aus Washington verjagten. Nur noch ein Gefühl hielt den Willen zum Leben in ihm aufrecht, fesselte ihn an das Leben. Seine Liebe zu Jane Bursfeld.

Jane war im Hause der Maitlands. Sollte er sich jetzt, ein verfemter Flüchtling, dort zeigen? Sollte er vor Lord Horace hintreten, das Mädchen, das er dort als seine Nichte gelassen, zurückverlangen?

Diese Fragen waren heikel. Zu viel war seit dem Tage, an dem er das Versprechen erhielt, geschehen. Die unbekannte Macht war aufgetreten, und ihr Auftreten hätte den Sturz des Diktators wohl auch ohne Glossin bewirkt. Der Umstand mußte auf die Größe der englischen Dankbarkeit verringernd wirken.

Eile tat not. An dem gleichen Morgen, an dem Soma Atma in Maitland-Castle war, kam Glossin dort an. Seine Kenntnis der Örtlichkeit ermöglichte es ihm, den Park ungesehen zu betreten, sich auf dicht verwachsenen Seitenwegen dem Schloß zu nähern. Sein Plan war überaus einfach, daß er zu jeder anderen Stunde sicher gelingen mußte. Sich Jane unbeobachtet nähern. Sie wieder voll unter seinen Einfluß zwingen. Mit ihr zusammen den Park verlassen. Und dann schnell fort. Weit fort aus England in irgendein fremdes Land, in dem man Dr. Glossin nicht kannte, in dem er, Jane an der Seite, auch mit den Trümmern seines einstigen Reichtums immer noch leben konnte.

Dr. Glossin kam dem Schloß immer näher. Der schmale windungsreiche Weg führte zu einem achteckigen Pavillon. Von der anderen Seite dieses Gebäudes lief ein breiterer Weg aus dem Park auf eine wiesenartige Lichtung, und dort unter einer großen Blutbuche sah er Jane allein sitzen.

Dr. Glossin stand und verschlang das anmutige Bild mit den Blicken. Er stand am Ziel seiner Wünsche.

Vorsichtig wollte er näher gehen. Den Plan ausführen, Jane in seine Gewalt bringen.

Der Klang von Stimmen, das Geräusch nahender Schritte zwang ihn, stehenzubleiben. Schritt um Schritt zurückzuweichen, vor den Blicken der Nahenden Deckung hinter den Bäumen am Pavillon zu nehmen.

Er sah Lord Horace den Weg vom Schloß herankommen. An seiner Seite einen Mann mit brauner Hautfarbe. Den Mann, dessen Signalement er seit der Affäre von Sing-Sing kannte, dessen Bild ihm seit dem Untergang von R. F. c. 2 so oft drohend und düster in die Erinnerung gekommen war.

Atma ging allein auf Jane zu.

Glossin drückte gegen die Tür des Pavillons. Sie war nicht verschlossen und gab dem Druck nach. Er schlüpfte hinein und zog die Tür hinter sich wieder zu. Halbdunkel herrschte hier. Die Jalousien an den Fenstern waren hinabgelassen. Nur durch die Spalten zwischen den Stäben drang das Tageslicht in den Raum und erfüllte ihn mit einer ungewissen Dämmerung.

Dr. Glossin trat an ein Fenster und beobachtete durch einen Spalt, was im Park vorging.

Er sah, wie Atma Jane fest in die Arme nahm. Er sah sie auf das Schloß zugehen und erkannte mit dem Blicke des Arztes, daß sie gesegneten Leibes war. Er taumelte vom Fenster zurück und ließ sich in dem dämmerigen Raum auf einer Gartenbank niedersinken. Die letzte Hoffnung, die ihn noch an das Leben band, war entschwunden. Jane war ihm verloren. Sie würde dem anderen, dem Verhaßten, den Erben schenken.

Es war Zeit, ein Ende zu machen.

Jahre hindurch hatte Dr. Glossin mit der Möglichkeit, ja mit der Notwendigkeit eines freiwilligen Todes gerechnet. Die verschiedenen Todesarten wohlüberlegt, die Mittel dafür beschafft.

Gifte, die momentan und schmerzlos wirken. Narkotika, die einen angenehmen Schlummer erzeugen, der unmerklich in den Todesschlaf übergeht. Der plötzliche Sturz, die jähe Verbannung und Flucht hatten ihn aller dieser Mittel beraubt. Nur die kleine Schußwaffe blieb ihm, die er immer mit sich führte, die er einst auf Silvester abdrückte.

Er riß sie heraus und richtete sie mit schnellem Entschluß gegen die eigene Brust.

Der Schuß dröhnte durch den kleinen Raum. Der Körper Glossins sank zusammen, streckte sich, fiel von der Bank auf den Steinboden …

In dem gleichen Moment, in dem Atma den Raum betrat.

»Die Stunde ist gekommen.«

Atma sprach es mit leiser Stimme, während er den Körper des Sterbenden auf der Bank bettete.

Er strich ihm über die Augen und Schläfen, und das Blut aus der Brustwunde floß langsamer, stockte.

Nur noch in langen Pausen fiel es Tropfen für Tropfen auf den Boden. Traumhaft, nebelhaft kam dem Verletzten das Bewußtsein zurück. Vor seinen geschlossenen Augen gaukelten Gestalten wirr durcheinander.

Cyrus Stonard, den er verraten, stand vor ihm und blickte ihn mit Verachtung an. Wandelte sich dann in die Gestalt William Bakers und wandte ihm mit der gleichen Verachtung den Rücken.

Immer dichter, immer zahlreicher wurden die Gestalten, Menschen, die er vor langen Jahren bekämpft, verraten, verdorben hatte. Sie tauchten aus dem dämmernden Nebel, blickten ihn an und verschwanden wieder.

Dr. Glossin versuchte der Traumbilder Herr zu werden. Mit verzweifelter Anstrengung zwang er sich zum Denken.

… Ich habe mich schlecht getroffen … Stockender Puls … Delirien der beginnenden Auflösung …

Seine Gedanken verjagten den Spuk. Alle diese huschenden, blickenden und anklagenden Gestalten verschwanden. Nur ein matter, blasser Nebel blieb ihm vor den Augen.

Die Zeit verrann. Der Sterbende wußte nicht mehr, ob es Sekunden oder Jahrhunderte waren.

Der Nebel begann zu wallen. Eine neue Gestalt bildete sich in ihm.

Glossin sah zwei Augen, die ihn ruhig anblickten, ihm so wohlbekannt erschienen, ihn an lange vergangene Zeiten erinnerten.

Der wallende Nebel verdichtete sich. Formte Gesichtszüge um die einsamen Augen. Eine hohe Stirn, einen blonden Bart.

So hatte Gerhard Bursfeld vor dreißig Jahren ausgesehen. Jetzt trat auch die ganze Gestalt hervor. Im weißschimmernden Tropenanzug, den er damals in Mesopotamien trug.

Glossin suchte sich der Erscheinung zu entziehen. Ich muß die Augen aufmachen, dann wird alles verschwinden.

Mit unendlicher Mühe versuchte er die Lider zu heben, glaubte, daß es ihm gelungen sei. Er empfing einen Eindruck des Raumes, der Pfeiler und Fenster. Aber die Gestalt Gerhard Bursfelds verschwand nicht. Sie wurde nur undeutlicher, halb durchsichtig, so daß die Möbel des Raumes hinter der Figur wie durch einen Schleier zu erkennen waren.

Und dann eine zweite Gestalt neben der ersten. Die Gesichtszüge bis auf den Bart die gleichen. Die Augen dieselben. Fragend und anklagend.

Silvester Bursfeld, so wie ihn Dr. Glossin das letztemal sah, als R. F. c. 2 im Feuer des Strahlers schmolz.

Die Gestalt des Sohnes neben der des Vaters. Deutlicher, weniger durchsichtig. Der Vater an ein altes, schon verblaßtes Bild gemahnend, der Sohn in den frischen Farben des Lebens. Sich umschlingend, standen die beiden Gestalten vor ihm.

Glossin fühlte, wie sein Leben entfloh. Er machte keine Anstrengung, es zu halten. Er sehnte sich fort von allen quälenden Bildern und Erinnerungen in ein Land des Vergessens, des Nichtwissens.

Die beiden Gestalten blieben. Eine dritte trat hinzu. Die braune Figur eines Inders. In dem dunklen Antlitz standen groß und strahlend die Augen, ruhten mit bannender Gewalt auf dem Sterbenden.

Nun war es, als ob Atma, der Inder, alle Gedanken Glossins mitfühlte, als ob beide Gehirne zu einem verschmolzen.

Stärker wurde die Sehnsucht des Sterbenden nach wunschloser Ruhe.

»Du suchst das Nirwana. Du bist ihm fern.«

Kein Wort war im Raum gefallen, und doch hatte Dr. Glossin den deutlichen Eindruck der Worte:

»Die Stunde ist gekommen.«

Laut sprach Atma die Worte. Das stockende Blut begann wieder zu fließen, und mit dem roten Strom entwich das Leben. Ein Seufzer, ein letztes Zucken. Glossin war in das dunkle Land gegangen, aus dem es keine Wiederkehr gibt.

Die Sonne war unter den Horizont gegangen, und die Schatten beginnender Dämmerung breiteten sich über die Straßen und Häuser Düsseldorfs aus. In dem alten, bequemen Lehnstuhl am Fenster saß der alte Termölen, die lange Pfeife zwischen den Lippen, und stieß in langen Pausen kräuselnde Wolken bläulichen Rauches in den Raum. Frau Luise ging ordnend im Zimmer hin und her.

Jane Bursfeld hatte ihren Platz auf der breiten Bank, die den mächtigen Delfter Ofen umzog.

Das ungewisse Zwielicht verbot das Lesen, und Jane ließ ihr Buch sinken. Sie saß und hörte auf die Worte, die der alte Termölen zwischen den Dampfwolken von den Lippen fallen ließ.

»Das Rad dreht sich, Jane. Sprach nicht dein Freund, der Inder, immer davon?«

Jane blickte sinnend auf.

»Er sprach davon. Vom Rad des Lebens, auf das wir alle gebunden sind.«

»So mein ich es nicht, Jane. Ich meine das Rad der Weltgeschichte, das die Völker herauf- und herunterbringt. … Heute ist die Berliner Konferenz zu Ende gegangen … Wie weit muß ich zurückdenken … bis in meine früheste Kindheit … Meine Eltern sprachen von Bismarck und vom alten Kaiser … später hörte ich von der Berliner Konferenz, die unter dem Vorsitze des Fürsten Bismarck getagt hatte … Anno 1879 … Die Staatsmänner Europas kamen in Berlin zusammen, berieten im Herzen Europas über das Schicksal ihres Erdteiles … Jetzt war wieder eine Konferenz in Berlin, Sechsundsiebzig Jahre später. Was ist in den sechsundsiebzig Jahren alles passiert.«

Andreas Termölen machte sich mit seiner Pfeife zu schaffen. Jane nahm den Faden seiner Rede auf.

»Lord Horace war nicht in froher Laune, als er vor vierzehn Tagen mit mir nach Deutschland fuhr. Er war ernster als ich ihn sonst kannte.«

»Das glaube ich dir aufs Wort, Hannchen. Die Engländer haben keinen Grund, fröhlich zu sein. Sie dachten, was Englisch spricht, gehört auch zum englischen Weltreich. Australien, Afrika, Amerika … alle Weltteile wurden englisch, und sie dachten, das würde in aller Ewigkeit so bleiben. Sie hatten das Schicksal von Spanien und Portugal vergessen. Glaubten, die gemeinsame Sprache und Sitte müßten die Kolonien ewig an London binden.

Jetzt ist das ganz anders gekommen. Die Kolonien verlangen ihre volle Selbständigkeit, und das Mutterland hat sie nicht halten können.

Die Welt gehört den English speakers! Das Wort kam wohl so um 1900 auf und schien mit jedem folgenden Jahrzehnt immer mehr Wahrheit zu werden …«

Die Gedanken des alten Termölen flogen die Jahrzehnte zurück.

»1904 … wir waren damals im ersten Jahr verheiratet … da ging der Kampf in Ostasien los. Zur höheren Ehre Englands schlug der Japaner den Russen.

Und dann kamen die Balkankriege … und dann kam der große Weltbrand Anno 14 bis 18 …«

Es war immer dämmriger in dem Raum geworden. Schon warfen die Straßenlaternen ihre Lichtreflexe gegen die Zimmerdecke. Schweigend saßen die beiden Frauen und lauschten den Worten des alten Mannes, der abgerissen die Erinnerungen seiner achtzig Jahre vorüberziehen ließ.

»… und da waren wir ganz unten. Man wußte in Deutschland nichts mehr von Bismarck und seinem Vermächtnis. Die anderen im Osten und Westen machten mit uns, was sie wollten, solange wir es uns gefallen ließen … gefallen lassen mußten … Europa war krank, weil sein Herz krank war. Die Welt gehörte den English speakers

Und dann kam Rußland wieder hoch …

Und dann ging es im fernen Osten los. Der Japs überrannte den Amerikaner …

Und dann kam die amerikanische Revolution … und dann kam Cyrus Stonard …

Und dann kam der Englisch-Amerikanische Krieg … und dann kam die Macht … Die geheimnisvolle Macht. … Wie ein Komet glänzte sie plötzlich auf …«

Verhaltenes Schluchzen unterbrach das Selbstgespräch des alten Termölen. Es war Jane, die, von der Erinnerung an ihr kurzes Glück überwältigt, die Tränen nicht zurückhalten konnte.

»Silvester … Erik Truwor … Soma Atma … Wo sind sie? … Wo sind sie geblieben? Silvester ist tot, mir auf immer entrissen … Erik Truwor ging in Sturm und Brand zugrunde … Die Macht ist verschwunden, wie sie kam …«

Der alte Termölen antwortete:

»Verschwunden … vielleicht … verloren …? Es waren drei … drei Träger der Macht. Zwei sind tot. Der dritte, der Inder, lebt noch …«

»Ja! Einer von den dreien blieb übrig.« Jane sagte es. »Soma Atma blieb am Leben, während Silvester sterben mußte … Soma Atma. Warum … warum …?«

»Weil sein Geschick noch nicht erfüllt ist …«

Eine andere Stimme sprach die Worte, Jane wohlvertraut.

»Atma! … Soma Atma, bist du hier?«

Jane richtete sich auf, blickte gegen die Tür und meinte im letzten Dämmerschein die dunkle Gestalt Atmas vor sich zu sehen.

»Atma, du?«

»Ich bin hier, Jane. Ich bin bei dir. Mein Schicksal ist noch nicht erfüllt. Ich muß dir zur Seite stehen, bis der Erbe Silvesters sein Schicksal selber formt. Die Macht ist nicht verloren. Nur verwahrt und verborgen, bis der kommt, der mit reinem Herzen und mit reinen Händen nach ihr greift.«

Jane hörte die Stimme, fühlte, wie eine dunkle Hand sanft über ihren Scheitel strich, wie irgend etwas leise in ihren Schoß fiel. Sah die Gestalt Atmas nach der Tür zu lautlos verschwinden, wie sie gekommen.

Sie blickte um sich. Da saß der alte Termölen, wie er noch eben gesessen. Auf die dämmrige Straße schauend, auf der sich die ersten Lichter entzündeten. Da schaffte die alte Frau nach wie vor an den Tassen und Gläsern der Servante.

Jane wußte nicht, ob sie wache oder träume. War das alles nur ein Spiel ihrer überreizten Sinne oder Wirklichkeit?

Noch hörte sie die letzten Worte Atmas im Ohr klingen:

»Bis einer kommt, der mit reinem Herzen und mit reinen Händen nach der Macht greift.«

Sie dachte ihres Kindes, das hier nach dem Vermächtnis Silvesters in der alten deutschen Heimat aufwachsen sollte.

Sie griff in ihren Schoß, und ihre Finger fühlten kühles Metall.

Sie hob es langsam zu ihren Augen empor und sah den schweren alten Goldreif mit dem wunderlichen Stein, den sie sooft an der Hand Silvesters erblickt hatte. Den Ring, der Silvester an die Macht gebunden, ihn bis zu seinem Tod in den Dienst der Macht gezwungen hatte.

Es war eine Gabe des letzten noch lebenden Trägers der Macht für sie … für ihren Knaben.

Die Stimme des alten Termölen drang in ihr Sinnen:

»… Die Macht … die unendliche Macht. Woher kam sie? … Wohin ging sie? … Warum?« …

Gesammelte Werke: Science-Fiction-Romane + Abenteuerromane + Erzählungen

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