Читать книгу Und immer geschieht das Gegenteil - Dominik Rüchardt - Страница 5

Räume und Systeme

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Bei der Gegenteilstheorie geht es um Handlungen und ihre Folgen. Und Handlungen sind das Ergebnis von Entscheidungen.

Entscheidungen fallen nicht aus sich heraus. Entscheidungen fallen stets in einer Umgebung, einem Raum oder System, welche das Abwägen der Entscheidung beeinflusst und die wiederum in der Regel durch die Entscheidung beeinflusst wird. Dabei machen Entscheidungen, also die Fähigkeit zu einem unerwarteten Verhalten, im Wesentlichen das aus, was wir Leben nennen.

Doch die Räume oder auch Systeme, in denen wir uns bewegen, sind etwas schwer Greifbares. Das liegt daran, dass wir jeweils einen großen Teil dieser Räume gar nicht kennen oder verstehen. Um dem abzuhelfen, konstruieren wir uns für gewöhnlich kleinere Räume, auf die wir unsere Wahrnehmung beschränken und mit denen wir besser zurechtkommen. Mit diesen Räumen möchte ich mich zunächst beschäftigen, bevor ich zur Frage komme, was es mit den Entscheidungen und Handlungen in diesen Räumen auf sich hat.

Zuallererst geht es dabei um das Universum als Raum, der unser Dasein bestimmt. Dessen Unfassbarkeit beschreibt Karl Popper in „Alles Leben ist Problemlösen“ mit Hilfe einer sich selbst darstellenden Karte. Damit setzt er einen Rahmen für alles Leben und damit auch für alle Entscheidungen die darin stattfinden:

Eine Karte, die eine Karte von sich selbst enthalten soll, lässt sich nicht vervollständigen. (… Dies) zeigt die Unvollständigkeit und Offenheit eines Universums. (…) je kleiner die Striche werden, zu denen der Zeichner kommt, desto größer wird die relative Ungenauigkeit sein, die im Prinzip unvorhersagbar und indeterminiert ist und stetig zunimmt.( …) dieses Beispiel zeigt, warum eine erklärende Wissenschaft niemals vervollständigt werden kann; denn um sie zu vervollständigen, müssten wir eine Erklärung von ihr selbst geben.“

(Popper, 1996)

Das Universum als größter für uns wahrnehmbarer Raum ist also offen und nicht darstellbar. Die Einschränkung, dass wir hier von einem aktiven Universum ausgehen, also einem, in dem sich Dinge verändern, ist dabei nicht relevant. Wäre ein Universum unbewegt, würde das mit der Karte durchaus funktionieren, aber damit wäre das Universum tot und enthielte kein Leben.

Wir wollen im Weiteren davon ausgehen, dass das Universum nicht tot ist. Was es nun bedeutet, wenn sich in diesem offenen Raum Leben befindet beschreibt Popper wenig später im gleichen Werk:

Probleme und Problemlösungen scheinen zusammen mit dem Leben entstanden zu sein. … (wir können nicht) ... sagen, dass für Atomkerne das Überleben in irgendeinem Sinne ein „Problem“ ist. … Das Leben jedoch ist mit dem Problem des Überlebens von Anfang an konfrontiert, ja, wir können, wenn wir wollen, das Leben als Problemlösen schlechthin beschreiben und die lebenden Organismen als die einzige problemlösenden Komplexe im Universum.“

Und im gleichen Werk schreibt er wenig später:

Angenommen, wir haben in einem (Reagenzglas) Leben erzeugt, und zwar in Form eines Gens oder mehrerer Gene … dann ist es unglaublich unwahrscheinlich, dass dieses von uns erzeugte Leben weiterleben wird. Und zwar deshalb, weil kein Grund vorliegt, anzunehmen, dass dieses Leben, das wir erzeugt haben, dem (Reagenzglas) angepasst ist.

Ein (Reagenzglas) ist eine sehr arme Umgebung für das Leben, und um das Leben am Leben zu erhalten, werden wir anfangen müssen, eine Maschinerie zu entwickeln. Wir werden also die Umgebung an das Leben anpassen müssen. … (und) zunächst will ich darauf aufmerksam machen, dass die bloße Entstehung von Leben noch überhaupt kein Problem löst.“

Und wenige Seiten darauf überträgt er die Überlegungen vom einzelnen Gen auf die Urtiere und damit auf alles was folgt:

(Die Urtiere) … machen Probierbewegungen … und versuchen, irgendetwas irgendwie zu optimieren. Wahrscheinlich handelt es sich bei diesen Probierbewegungen um gefühlsmäßiges Abwägen. Aber vielleicht auch um gar nichts Psychisches, sondern nur darum, was für den Mechanismus, den sie auch darstellen, das Beste ist. Sie suchen und sie finden; sie sind auf der Suche nach einer besseren Umgebung, nach einer besseren Welt, schon die Urtiere.“

Wir haben es nach der Erkenntnis Karl Poppers also, sofern wir von der Existenz von Leben ausgehen, mit einem offenen Universum zu tun, das wir niemals vollständig darstellen können. Das wir also auch niemals in seinen Gesetzmäßigkeiten und Verhaltensweisen vollständig beschreiben können. Zudem haben wir bei den Kräften des Lebens zwei wesentliche Eigenschaften: Eine unglaubliche Hartnäckigkeit in der Veränderung und im Ausprobieren - und ein kompromissloser Drang, auch die Umwelt im Sinne der eigenen Überlebensfähigkeit anzupassen.

Das Interessante an Popper ist unter anderem, dass er, im Gegensatz zur Philosophie der zwei Jahrtausende vor ihm, nicht darüber nachdenkt, ob Gott existiert und warum, sondern dass es ihm egal ist. Dass er die Welt aus ihrem Dasein heraus denkt und nicht aus dem Versuch, sie von außen zu erklären. Das ist auch im Weiteren für dieses Buch ein entscheidender Unterschied.

Noch vor den Überlegungen Poppers fanden Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in der Physik bahnbrechende Erkenntnisse statt, die das klassische Weltbild, das im Wesentlichen auf der Newtonschen Mechanik beruht hatte, nachhaltig veränderten.

Stephen Hawking fasst die Erkenntnisse in seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Zeit“ zusammen. Die für die Gegenteilstheorie wichtige Kernaussage ist die Heisenbergsche Unschärferelation, aus der sich die Erkenntnis ableitet: „Um den Zustand des Universums zu beobachten, muss ich es beeinflussen.“ (Hawking, Eine kurze Gechichte der Zeit)

Hawking beschreibt die Zusammenhänge sinngemäß: Konkret geht es dabei darum, Position und Geschwindigkeit eines Quantums, der kleinsten Energieeinheit einer Lichtwelle, zu messen. Die einzige Möglichkeit, es zu messen, ist mit einem Lichtstrahl, der wiederum die kleinstmögliche Wellenlänge, nämlich die eines Quantums benötigt. Wie dieser Lichtstrahl nun auf das Quantum auftrifft, verfälscht entweder das Ergebnis der Position oder das Ergebnis der Geschwindigkeit. Es ist also nicht möglich, ein exaktes Ergebnis zu erhalten. Das ginge nur für ein übernatürliches Wesen, das außerhalb des Universums und seiner Gesetzmäßigkeiten steht. (…)

Die Physiker um Heisenberg, Schrödinger und Dirac haben sich daher vom Bild eines deterministischen Universums verabschiedet und die Quantenmechanik eingeführt, in der ein Teilchen nicht mehr eindeutig mittels Position und Geschwindigkeit gemessen werden muss, sondern in der eine Kombination beider Eigenschaften genügt. Die Quantenmechanik zeigt bei Messungen nicht mehr exakt Ergebnisse an, sondern eine Reihe möglicher Resultate und deren Wahrscheinlichkeit. (…)

Diese Erkenntnis hat die damalige Physik und Naturwissenschaft schwer getroffen, ja ganze Weltbilder erschüttert. Der Anspruch auf Verstehbarkeit der Welt war dahin. Albert Einstein reagierte auf die Quantenmechanik mit dem abschätzigen Urteil: „Gott würfelt nicht.“

Interessanterweise hat hier Einstein die Dinge verwechselt, denn es geht dabei nicht um die Wahrheit, sondern um die Wahrnehmung der Wahrheit, das ist ein Unterschied. Letztendlich hat aber auch er sich der Quantenmechanik gefügt. Zu klar waren die Zeichen für die Richtigkeit dieser Theorie, auch wenn bis heute nicht alle Fragen, die zu einem Beweis nötig wären, beantwortet sind. Weiterhin werden Milliardensummen für Teilchenbeschleuniger ausgegeben um Elemente nachzuweisen, die der Theorie nach existieren müssen. Doch jedes Mal, wenn ein Nachweis gelingt, taucht ein neues Fragezeichen auf und die Suche geht weiter.

Hawking bemerkt, dass die große Frage der Physik, ob Licht Welle oder Teilchen sei, sich aus genau dieser Eigenschaft der steten Unklarheit von Position und Geschwindigkeit relativiert. Für die Gegenteilstheorie ist dabei allerdings vielmehr die Frage der Nicht-Beantwortbarkeit von entscheidender Bedeutung. Es gibt eine Grenze, jenseits derer keine Aussage getroffen werden kann. Niemand weiß, was sich jenseits dieser Grenze alles abspielt. Ob es ein fast-Nichts ist, oder ob es etwas ist, was die wahrnehmbare Welt an Vielfalt bei weitem übertrifft. Wir wissen es nicht und wir werden es in unserem Leben nie erfahren. Dass unsere Wahrnehmung also immer nur ein Ausschnitt der Wahrheit ist, möglicherweise sogar nur ein beliebig kleiner, ist eine der Grundlagen der Theorie.

Im Geist des dramatischen Wandels im frühen zwanzigsten Jahrhundert arbeitete fast gleichzeitig zu Planck, Schrödinger und Heisenberg Martin Heidegger an seinem Werk „Sein und Zeit“. Ihn interessiert der Bezug der Existenz von Dingen, also ihrer Position, mit ihrem Sinn, also der zeitlichen Interaktion und Verwendung, also der Geschwindigkeit:

Jedes letzte Jetzt ist als Jetzt je immer schon ein Sofort-nicht-mehr, also Zeit im Sinne des Nicht-mehr-jetzt, der Vergangenheit; jedes erste Jetzt ist je ein Soeben-noch-nicht, mithin Zeit im Sinne des Noch-nicht-jetzt, der «Zukunft».

(Heidegger, 1972)

Die Physik liefert demnach die Erkenntnis der notwendigen Unvollständigkeit der Erkenntnis für ein Wesen, das sich innerhalb des Universums befindet. Und da wir uns, zumindest als lebende Wesen, nicht außerhalb des Universums aufhalten können, bedeutet das, dass es im Universum stets Dinge geben wird, die das Universum und damit die im Universum stattfindenden Handlungen und Entscheidungen beeinflussen, die wir aber weder vorhersagen noch in ihrer Gänze verstehen können. Anders gesagt: Wahrnehmung und Wahrheit sind voneinander unabhängig und die Wahrheit ist damit niemals zuverlässig feststellbar. Eine alte Erkenntnis, an die wir uns immer wieder neu erinnern sollten.

Wie um den Bund zwischen der Philosophie und der Naturwissenschaft zu schließen arbeitete ebenfalls in der gleichen Epoche das zwanzigsten Jahrhunderts Kurt Gödel an seinen Unvollständigkeitssätzen.

Der Österreicher Gödel war Mathematiker und um 1910 Mitglied des berühmten ‚Wiener Kreises‘. Später lebte und lehrte der vermutlich herausragendste Logiker des zwanzigsten Jahrhunderts in Princeton, USA. Als Kind wurde er von seinem Mitschülern „Der Herr Warum“ genannt. Sein Leben war das eines Genies: gezeichnet von Exzentrik und auch Wahn. Er starb an Unterernährung, weil er glaubte, alles Essen sei vergiftet. Mit seinen Unvollständigkeitssätzen hat er jedoch die Mathematik in ähnlicher Weise revolutioniert wie Heisenberg die Physik mit der Quantentheorie.

Die Originalsprache Gödels ist für das Format dieses Buches ungeeignet, ist sie doch sehr mathematisch auf formale Strukturen der Zahlentheorie aufgebaut und auch für Mathematiker nur mühevoll verständlich.

Gero von Randow beschreibt in seiner Würdigung Kurt Gödels in der ‚Zeit‘ dessen Werk auf eingängige Weise:

Sein Thema war kein geringeres als die Grenzen des Denkens, und für das mathematische Denken konnte er unübersteigbare Hindernisse nachweisen. Ausgerechnet für die Mathematik, deren Heroen damals vorhatten, ihre Wissenschaft vollständig durchzukonstruieren, alles nur mittels einer kleinen Menge von Grundannahmen (Axiomen) und Schlussregeln.

Gödel wies ihnen nach: Das klappt nie und nimmer. (…) Nämlich erstens: In der Sprache eines formalen Systems (nennen wir es S), mit der sich Sätze bilden lassen und das sowohl widerspruchsfrei als auch einigermaßen komplex ist, können solche Sätze formuliert werden, die sich mit den Mitteln von S weder beweisen noch widerlegen lassen. Falls diese Sätze mit den Mitteln eines anderen formalen Systems bewiesen werden können, dann kommt es noch schlimmer: Sie sind wahre Aussagen in S, aber innerhalb von S nicht herzuleiten. Das ist Gödels erster »Unvollständigkeitssatz«; unvollständig ist in diesem Fall das System S. Der zweite Unvollständigkeitssatz: Es gibt widerspruchsfreie formale Systeme, die ihre eigene Widerspruchsfreiheit nicht selbst beweisen können.“

(Randow, 2006)

Die Beweislogik Gödels baut im übertragenen Sinne auf das, was wir in der Sprache ein Paradox nennen. „Wie kann Gott allmächtig sein, wenn er keinen Berg bauen kann, der so groß ist, dass er nicht darüber springen kann“ oder der Satz „Alle Kreter lügen“ der, ausgesprochen vom Kreter Epimenides, weder wahr noch falsch sein kann.

Für die Mathematik bedeutet der Satz die Befreiung vom Anspruch einer absoluten mathematischen Wahrheit, in dem sie in vielerlei Hinsicht gefangen war. Gödel öffnete sie damit hin zu einer unendlichen Vielfalt, die immer aufs Neue versuchen kann, Dinge zu formalisieren und zu beschreiben, in dem Wissen, die Wirklichkeit immer nur angenähert zu erfassen.

Die notwendige Unschärfe in offenen Räumen, die sowohl Heisenberg wie Gödel nachweisen, ist der erste wichtige Baustein in der Entwicklung der Gegenteilstheorie.




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