Читать книгу Und immer geschieht das Gegenteil - Dominik Rüchardt - Страница 6
Leben wider die Vernunft
ОглавлениеKernelemente der Gegenteilstheorie sind einerseits der Raum, oder das System, und anderseits die Handlungen, die sich darin abspielen. Und Handlungen, oder die sie motivierenden Entscheidungen, bauen gerne auf das, was wir Vernunft nennen.
Die menschliche Selbstwahrnehmung kennt auf die Frage: „Wer sind die vernünftigsten Wesen im Universum?“ eine klare Antwort:
Wir. Logisch. Wir bauen Hochhäuser, Flugzeuge, Biobauernhöfe, wir beherrschen die Welt.
Und wer sind die Unvernünftigsten? Auch wir. Auch logisch. Wir zerstören unsere Umwelt, führen Kriege, trinken Alkohol, haben schmutzige Phantasien.
Die Logik der Vernunft ist problemlos mit der Logik der Unvernunft vereinbar und das Interessante daran ist, dass wir damit in der Regel auch noch sehr gut zurechtkommen.
Wir machen uns gute Vorsätze, um uns nicht dran zu halten, wir sagen das eine und denken das andere, wir lügen, um das Leben erträglicher zu machen. Und wer glaubt, das Leben sei von Vernunft geprägt, hat das Leben noch nicht erlebt. Wir wissen ja noch nicht einmal, was Vernunft überhaupt ist.
Immanuel Kant definiert das vernünftige Verhalten im Kategorischen Imperativ als relatives Maß für allgemein erwünschtes Verhalten. Insgesamt pendelt er mit der theoretischen und der praktischen Vernunft zwischen Logik und einer funktionierenden sozialen Gemeinschaft. Eine absolute Antwort kann er nicht geben.
Vernunft, lateinisch ‚ratio‘, benennt das Verhältnismäßige. Ein Verhältnis benötigt immer einen Vergleich, aber der Wert, mit wir die Vernunft vergleichen können, der ist tatsächlich beliebig. Es kann Geld sein, ein langes Leben, viele Kinder, viel Sex, Enthaltsamkeit. Kant hatte wohl recht mit der relativen Definition.
Letztendlich vergleicht sie jeder mit was er will - oder was ihm jemand gesagt hat. Das kann alles sein.
Die Frage ist weiterhin, was Vernunft eigentlich ist und wie das Denken, das jeder auf seine Weise als vernünftig bewertet, entsteht und wirkt. Douglas R. Hofstadter ist der Philosoph unter den Informatikern. In seinem weltweit beachteten Werk „Gödel, Escher, Bach“ hat er das rein Digitale der Informationswelt in Frage gestellt. In seinen jüngeren Forschungen zu Analogien identifiziert er die Sprache als Grundlage des Denkens und baut den Raum des möglichen Denkens weit jenseits der Logik völlig neu auf:
„Es geht mir um ganz alltägliche Fehler: Wortverwechslungen, Begriffsvermischungen, Lautverschiebungen. Wenn man all solche Fehler sammelt, dann stellt man fest, dass in unserem Geiste unentwegt Wörter miteinander konkurrieren. Jede neue Situation, in der wir uns wiederfinden, ruft in unserem Geist ein ganzes Geflirre von Wörtern wach. Es ist, als schwärmten in unserem Kopf lauter Teams aus, um nach dem richtigen Wort zu suchen, und sie alle stehen in Wettbewerb miteinander. In den meisten Fällen geht eines der Teams als unumstrittener Sieger durchs Ziel.“
(Hofstadter, 18/2014)
Hofstadter erläutert im Weiteren: der Wettstreit der Wörter beruht auf der ständigen Suche nach Analogien im Gehirn. Große Mengen gespeicherter Erfahrungen und Zusammenhänge werden andauernd mit dem Wahrgenommenen verglichen, woraus in rasender Geschwindigkeit unter Inkaufnahme einer subjektiven Unschärfe ein konkretes neues Bild entsteht.
Die subjektive Unschärfe ist dabei das Entscheidende. Das erzeugte Bild steht stets in Konkurrenz zu möglichen anderen Bildern. Was am Ende schließlich herauskommt ist daher keine Schlussfolgerung, sondern eine Ahnung - und wenn man die Ahnung hinterfragt, wird man feststellen: der allerletzte Grund, die Antwort auf das allerletzte Warum, existiert nicht. Das wird im Weiteren noch ein wichtiges Thema, denn eine Ahnung ist aufgrund ihrer Natur immer unlogisch.
Aufbauend auf der bewussten Unlogik der Erkenntnis, die er aus Wahrnehmung und Ahnung zusammensetzt, beschreibt Hofstadter die Intelligenz:
Intelligenz ist nach Hofstadter „die Fähigkeit, sehr schnell sehr tiefe Analogien zu erkennen. Die Fähigkeit, innerhalb kurzer Zeit den Finger auf das Wesentliche einer Situation zu legen. Sagen zu können: „Ha, das habe ich schon einmal gesehen. Das erkenne ich wieder.“
Dabei wird aus einer Hypothese eine höherwertige Erkenntnis entwickelt, in der Kombination einer Erfahrung mit einer Meinung. – Im Gegensatz zur Arbeitsweise eines Computers, der dabei nur eine logische Schlussfolgerung mit einer niederwertigeren statistischen Vermutung kombinieren kann.
Der Unterschied hat einen einfachen Grund: Es liegt daran, dass die Intelligenz sich mit Fragen befasst, die in einem unendlichen und wertfreien Raum entstehen, der Computer hingegen mit Antworten. Der Computer kann mit dem Wertfreien nicht umgehen. Er ist auf das Antworten dressiert und beherrscht es immer perfekter, in gnadenloser Effizienz. Jedoch käme er niemals darauf, aus dem Nichts heraus eine Frage zu formulieren oder eine spontane Idee. Ist das doch das ineffizienteste, was man sich vorstellen kann. Und doch ist es genau das, was Leben definiert.
Es lässt sich auch so formulieren, dass das Wissen - und vor Allem der Glaube an das Wissen - der Erkenntnis im Wege steht. Denn was gewiss ist, wird nicht hinterfragt. Ein weiterer Gedanke, der zur Gegenteilstheorie führt.
Und so finden sich in Hofstadters Denkmodell die Grundgedanken Poppers, Gödels oder auch Heisenbergs wieder, wobei Hofstadter die Dinge nicht mit dem Ziel des Messens oder Beweisens betrachtet, sondern mit dem Ziel der Erkenntnis, die die nichtAbleitbarkeit aus der Wahrnehmung zur Voraussetzung hat. Der Ausgangspunkt ist stets nur eine Annäherung an die Wahrheit und die Erkenntnis das Ergebnis eines offenen Wettstreites, der nicht vorhersagbar ist. Nur so entstehen letztendlich immer wieder neue Ideen, die die Kraft haben, alles bisher Gedachte zu sprengen.
Wie steht es nun aber um die Vernunft im alltäglichen Leben? Wenn wir sagen, dass es kein Maß gibt, an dem wir uns orientieren können und keine sichere Erkenntnis.
Orientierung gibt uns dann nur ein gesellschaftlicher Konsens. Den Vorgarten sauber zu halten, pünktlich zu sein, seine Kinder gut zu erziehen, keine Schulden zu machen, all das sind vernünftige Verhaltensweisen. Aber gilt das in jedem Fall? Vielleicht ist das Leben viel schöner mit einem schmutzigen Vorgarten. Die Moden wechseln sich ab und sind immer wieder für Überraschungen gut.