Читать книгу Eva und das Paradies - Dominik Rüchardt - Страница 11
Zu viel – Biofarm am Wiener See
ОглавлениеEin weiterer Nachmittag unter dem Baum war verstrichen. Eva bog kraftlos und langsam um die Ecke, von den Obstwiesen neben der Schule auf den zentralen Hof der Farm.
Ihr fiel ein blaues Nutzauto auf, mitten auf dem Hof. Sie kannte es nicht, es hatte auch keine Beschriftung. Ein fremder Mann kam ihr entgegen. Mitte Vierzig, leicht ergrautes Haar. Er machte Bilder, eines davon direkt in ihre Richtung. Sie begrüßte ihn irritiert, er grüßte zurück, stieg in das blaue Auto und fuhr lautlos davon. Sofort hatte sie vergessen, wie er aussah.
In der Tür des Büros wartete Mirco Nemec. Er winkte ihr zu, forderte sie auf, in sein Büro zu kommen.
„Wer war das?“, fragte Eva,
„Er sagte, er sei von einem Verein, der die Luftqualität prüft, und hat gefragt, ob er hier auf dem Gelände Messanlagen aufstellen dürfe.“
„Und? Darf er? Die Luftqualität ist ja gut.“
„Natürlich darf er nicht. Ich habe ihm angeboten, die Messprotokolle auszuwerten, die wir aus unseren eigenen Anlagen ziehen. Er hat angenommen, aber ich glaube, das war nicht, was er wollte. Wer weiß denn, wer er wirklich ist? Möglicherweise ist er ja ein ESCO-Mann. Sein Verein ist zwar offiziell registriert, aber das heißt gar nichts. Wir müssen aufpassen, welche Daten er bekommt. Schließlich passt nicht alles, was wir hier machen, zu allen Vorschriften.“
„Er hat Bilder gemacht.“
„Ja, daran können wir ihn nicht hindern.“
Eva wollte gerade weitergehen und den Mann und seine Absichten Mirco Nemec überlassen, als dieser einlenkte.
„Eva, wir müssen uns dringen unterhalten. Kemal Deixner vom Stadtbüro ist hier, und wir haben unsere Situation durchgesprochen. Wir müssen etwas unternehmen.“
Der Satz drang nur langsam zu Eva durch. „Ja? Wann sollen wir uns treffen?“
„Eigentlich jetzt gleich. Wir haben nicht viel Zeit zu verlieren.“
Eva verspürte weder einen Drang zu diesem Gespräch noch konnte sie sich wehren. Mit Mirco Nemec oder Kemal Deixner hatte sie bisher kaum etwas zu tun gehabt, und wenn, dann war sie diejenige gewesen, die etwas von ihnen wollte. Schwach wie sie war und ohne sich Gedanken zu machen, gab sie nach und folgte Mirco ins Büro.
Kemal beachtete sie gar nicht, sondern war in irgendetwas vertieft, was sehr kompliziert wirkte.
„Wir berechnen gerade, wie lange wir die Farm mit dem, was wir haben, noch halten können“, erklärte Mirco. „Mit den bestehenden Anpflanzungen, dem Ernteplan und den aktuellen Lieferverpflichtungen kommen wir, wenn alles gut geht, knapp über den Winter. Dann allerdings geht uns das Geld aus.“
Noch erschrak Eva nicht, sie war es gewohnt, dass sie nie länger als ein halbes Jahr Sicherheit hatten.
„Das ist allerdings nur ein Teil des Problems. Denn wir müssen dringend im Spätsommer neu anpflanzen, um den Anschluss zu halten. Die Setzlinge für die Gewächshäuser und die Frühernte müssen noch dieses Jahr raus, sonst wird es düster.“
Langsam drang eine Erkenntnis zu Eva durch: der Farmbetrieb musste laufen.
„Wir müssen spätestens im August die nächste Lieferung aus Afrika erhalten“, kam es von Kemal. Dann kommen wir gerade noch so über die Runden. Wir werden zwar einen Haufen Kundschaft verärgern, aber zumindest müsste das Geld reichen.
„Jasiri war auf dem Weg nach Afrika“, hörte sie sich sagen. „Ja, was geschieht da jetzt? Wie geht das mit den Lieferungen? Das hat immer er gemacht.“
„Ja, das hat immer er gemacht.“ Mirco Nemec nickte mit seinem runden Kopf. „Und jetzt stehen wir da.“
„Wir kennen nur die Wege in Europa“, stöhnte Kemal. „Einige Adressen und Unterlagen, aber die Leute kennen wir nicht.“
„Wir wissen nichts über die Herkunft der Lieferungen und wie wir sie bestellen können“, fasste Mirco zusammen.
„Und was heißt das?“ Eva merkte, wie sie alarmiert war und langsam nervös wurde.
„Das heißt, dass der Farmbetrieb einbricht, wenn wir den Kontakt zu Jasiris Dorf nicht schnell hinbekommen, um Nachschub für unsere Felder zu organisieren. Und dass wir das nicht lange überleben werden, aber das ist noch nicht alles.“ Mirco zog das Schreiben der Regionalverwaltung hervor. „Die Geier rücken schon näher. Es ist nicht nur der ESCO-Mann, der eben da war, auch die Regionalverwaltung fragt schon nach, wie es hier weitergeht. Noch kann ich es abbiegen, aber wir müssen uns bald überlegen, wie wir uns in Zukunft hier organisieren. Ohne Jasiri bricht uns die ganze Grundlage weg.“
Verwirrt blickte Eva zwischen Kemals Unterlagen und dem Schreiben in Mircos Hand hin und her.
„Das ist doch …“, sie wusste nicht weiter
„Das alles zusammen ist eine ernste Bedrohung für unsere Farm.“ Mirco sprach es aus.
„Das müssen wir ... das muss jemand“, ziellos richtete Eva sich mal an Kemal, mal an Mirco, den Zettel der Regionalverwaltung in der Hand.
„Das muss jemand in die Hand nehmen.“ Wieder war es Mirco, der den Satz vollendete − und der sie ansah wie eine Schlange.
Eva erstarrte.
„Und das bist du, Eva, Du bist Jasiris Erbin. Du musst das jetzt übernehmen!“
„Ja, aber … Ihr habt das bisher immer gemacht. Das ist Euer Geschäft, ich verstehe davon gar nichts, Ihr wusstet immer Bescheid.“ Eva wedelt immer noch verdattert mit dem Zettel hin und her.
„Wir haben gemacht, was Jasiri uns gesagt hat. Er wusste, was hinter allem steckt, das waren immer seine Angelegenheiten, er war der Chef. Und das bist jetzt Du, Eva.“
Mircos Schlangenblick und Kemals dunkle Knopfaugen durchbohrten Eva und trafen sie mit ungetrübter Härte.
Ein Angriff.
Völlig unvorbereitet traf er sie – Wumms.
Sie war mit Trauer und Verzweiflung beschäftigt. Haltsuchend, schwach.
Aber diese Blicke verlangten etwas ganz anderes von ihr. Hypnotisch bohrend sorgten sie dafür, dass ihr Inneres noch mehr in sich zusammensank und die Welt um sie herum sich zu drehen begann. Der Raum verengte sich und die beiden auf sie einredenden Gesichter von Mirco Nemec und Kemal Deixner wurden vor ihren Augen immer größer und fordernder.
Sie hörte sich noch sagen, sie sei auch nur eine von ihnen, und hörte Mirco antworten, sie sähen das anders, aber da begann ihr Gehirn schon, sich abzuschotten. Eine Schutzhaltung, die sich als Glocke über sie legte.
Dumpf hörte sie die beiden weiter sprechen und argumentieren, doch die Worte prallten ab. Da waren nur große, sich bewegende Münder.
Panik.
Irgendwie schaffte sie es, mit viel Gestammel zu entkommen. Der nächste Moment, an den sie sich erinnern konnte war der, als sie in ihrer und Jasiris Wohnung am Tisch saß. Den Kopf in den Händen vergraben, mit dem Gefühl zu platzen.
Raus.
Sie musste raus. Irgendwie raus. Verstehen, was geschehen war, was das bedeutete. Wer sie noch war und was sie überhaupt wollte. Hier ging das nicht.
Ihr Blick fiel auf einen Zettel, der neben dem Spiegel klemmte. Die letzte Nachricht Jasiris. Ihre Schwester Lydia wollte sie sprechen. Vermutlich wegen ihres schwierigen Kindes.
Eva hatte zu Lydia kaum Kontakt seit ihre Eltern gestorben waren. Egal. Hauptsache weg. Sie nahm ihren Kommunikator, rief gar nicht an, sondern sendete nur eine Nachricht, dass sie gleich komme.
Sie lief auf den Hof, schnappte sich das nächstbeste Farmfahrzeug und fuhr los. Kaum hatte sie den Kernbereich der Farm verlassen, bemerkte sie, dass ihr der Weg nicht einfiel. Sie aktivierte die Zielführung im Kommunikator, die sonst immer abgeschaltet war, und folgte den Anweisungen. Es war angenehm, einfach Anweisungen zu folgen, und so baute sie in dem schmutzigen Farmfahrzeug langsam ihre Verzweiflung ab und ließ etwas Ruhe in ihren Geist einkehren.