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Bei der Schwester – Region Wien

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Lydia war jünger als Eva, im Gegensatz zu ihr blond, hatte glattes Haar und ein breiteres Gesicht. Sie kam mehr nach dem Vater. Schon als Kinder waren sie verschieden. Während Eva unter dem bis ins Detail geregelten Alltag litt, hatte Lydia immer genossen, wenn ihr das Leben durch irgendwelche Automaten erleichtert wurde und ihr Entscheidungen durch intelligente Programme abgenommen wurden.

Ihr Mann Theo arbeitete bei LifeCare, einem Hersteller medizinischer Geräte. Er leitete eine Abteilung, die Messdaten der Benutzer aus dem Betrieb auswertete und Anweisungen für gesundes Verhalten an die Geräte sendete, vom Fitnessgerät bis zum Klosensor. Eva fand ihn langweilig.

Während sie sich Lydias Haus näherte, sann sie darüber nach, was sie dort eigentlich wollte. Lydia hatte einmal gefragt, ob ein Urlaub auf der Farm etwas für ihren Sohn Frederik wäre. Darüber konnten sie reden. Aber eigentlich hatte sie keinen Plan.

Sie war da. Ein gewöhnliches Haus in einer Mittelklasse-Siedlung, der Garten voller Zierpflanzen mit Formwuchs, eine der neueren Errungenschaften. Man konnte beliebige Formen einschicken und bekam Pflanzen die, genetisch verändert, diese Formen annahmen. Neben Ornamenten waren Tiere und erotische Darstellungen beliebt, Lydia und Theo bevorzugten Sportarten. Die Pflege dieser Gewächse war eine beliebte Freizeitbeschäftigung.

An einem diskuswerfenden Kirschbaum vorbei ging Eva zum Haus. Lydia öffnete ihr in schmucker, praktischer Kleidung. Ihre Figur war perfekt, wirkte aber dennoch irgendwie lasch, ohne Spannung. Das war das Ergebnis des Passivsportes, einer weiteren Errungenschaft der Medizingeräteindustrie.

„Oh Eva, ich habe gerade erst Deine Nachricht gesehen, Theo ist noch gar nicht da.“ Lydia blickte an Eva herab. „Würdest Du vielleicht Deine Schuhe ausziehen? Du weißt ja, Frederik ist so allergisch, wir müssen da sehr aufpassen.“

Bereitwillig zog Eva die Schuhe aus und stand in Strümpfen da.

„Warte, ich hole Dir einen Kittel, Du hast ja sicher Tierhaare von der Farm an Dir dran.“ In kürzester Zeit war Lydia zurück mit einem weißen Kittel, den sie Eva anlegte. „Du siehst nicht gut aus Eva. Das Leben auf Eurer Farm ist wohl doch sehr hart, oder? Komm rein und setz Dich.“

Lydia führte Eva in einen großzügigen Raum mit einem Esstisch und einer eindrucksvollen Maschine an der Wand. „Das ist unser Kochautomat“, erklärte Lydia. „Es ist das neueste Modell aus Theos Firma. Er stellt Dir ein optimiertes Menü zusammen. Nährstoffe, Medikamente, alles hübsch und leicht verdaulich angerichtet. Du musst dich nur hier hinstellen, dann vermisst er dich, und in Minutenschnelle ist dein Essen fertig.“

Schon stand Eva da und Lydia drückte einen Knopf, doch statt eines Essens kam nur der Befehl „Unbekanntes Profil – bitte vor Vermessung Gesundheitskarte eingeben“.

Dankbar erklärte Eva, sie habe die nicht dabei und auch nicht auf dem Kommunikator, sie habe aber auch keinen Hunger. Lydia war enttäuscht, aber fügte sich. Sie ließ sich einen Snack herstellen und heraus kam eine Art Gebäck mit einer braunen, süß aussehenden Soße.

„Theo wird gleich hier sein, dann kann er Dir alles erklären, aber sag doch, wie geht es Dir?“

„Was kann mir Theo erklären?“ Eva blickte verwirrt.

„Na, weswegen ich angerufen habe, eigentlich wollte er Dich sprechen. Er will Dich abwerben, für seine Firma, das wäre die Gelegenheit für Dich, wieder einen richtigen Beruf zu haben.“

„Ach, ich dachte, es ginge um Frederik, der Ferien auf unserer Farm machen wollte.“

„Nein, das war nur mal so eine Idee. Frederik kann sich das gar nicht vorstellen. Er hat ja auch gar keine Zeit, weißt du, Lernförderung und Entwicklungsprogramm laufen auch in den Ferien, damit sein Zielprofil möglichst stark wird, das ist wichtig für einen guten Beruf. Und dann die Allergien, bei allem, was da bei euch rumläuft, nein. Er ist ja so feinfühlig, und so begabt, nur dass er immer so nervös ist. Gerade jetzt, wo er zum Mann wird, die Hormone machen die Kinder ja ganz verrückt. Aber Gott sei Dank haben wir ihn jetzt richtig eingestellt, dieser Automat ist ein Segen.“

Lydias Kommunikator summte. „Oh, Theo kommt heute erst später, na gut. Er wollte Dich, glaube ich, ansprechen, weil sie ein neues Programm auflegen wollen, das sich an Leute wie Euch richtet, die, na ja, ein wenig anders sind. Es hat mit dem neuen Gesundheitsgesetz zu tun, das bald eingeführt wird, sie fürchten wohl Widerstand und suchen Leute, die den richtigen Ton für Anweisungen finden. Und weil ihr ja eh bald zumachen müsst …“

„Wieso müssen wir bald zumachen?“

„Na ja, das wissen doch alle. Bei Theos Firma werden sie auch immer befragt, wer etwas zu Eurer Farm weiß, Ihr seid ja, wenn man es genau nimmt, fast Nachbarn. Und Theo fragen sie natürlich besonders, da bekommt er das eine oder andere mit. Es kann nicht mehr lange dauern, bis sie etwas gegen Euch finden.“

Lydia ging Eva auf die Nerven. „Vielleicht müssen wir ja wirklich bald zumachen“, meinte sie daher lakonisch.

„Ach ja?“, auf einmal wachte Lydia aus ihrem Redefluss auf.

„Du wirst es eh bald erfahren. Es heißt, Jasiri sei tot.“

Blitzartig schaltete Lydia das Programm um und kam mit bedauerndem Blick auf Eva zu.

„Oh, das tut mir leid“, sie legte ihr die Hand auf die Schulter. „Das muss ja schrecklich für Dich sein, was ist denn geschehen?“

„Ich weiß es nicht, die Regionalverwaltung war bei mir. Aber es ist vollkommen undurchsichtig.“ Eva wusste immer noch nicht, wieso sie das Lydia erzählte, aber irgendjemandem musste sie es sagen.

„Ich habe ja immer gewusst, dass das nicht gut geht.“ Lydia kam wieder voll in Fahrt. „Aber lieber ein Ende mit Schrecken, so sagt man doch. Aber warte, wir haben da etwas für Dich.

Bei Theo in der Firma haben sie etwas ganz Neues. Gehirnheilung. Es wurde ursprünglich für Kriegsgeschädigte erfunden, um Traumatisierungen zu entfernen. Geht aber natürlich auch für andere Traumata. Freunde von uns haben ein Kind verloren, sie waren völlig verzweifelt. Sie haben sich behandeln lassen und die Trauer war wie weggeblasen, das ist fantastisch. Du kannst sofort ein ganz neues Leben beginnen.“

Eva begann sich vorzustellen, wie Jasiri und die Farm aus ihrem Gedächtnis gelöscht wurden. Sie blickte auf sich herab, wie sie da ohne Schuhe, im weißen Kittel in der Automatenküche ihrer Schwester saß, die sie mit ihrem Redefluss in eine Welt saugte, in der es optimiertes Essen gab und richtig eingestellte Kinder, auf alles eine Antwort und keine Fragen. In ihrem Kittel wurde es ihr immer enger und wieder engte sich auch ihre Wahrnehmung ein.

Während Lydia weiter redete, schalteten all ihre Sinne um, auf die Suche nach einer Fluchtmöglichkeit.

„Du kannst so lange bei uns wohnen. Im Gästezimmer. Vielleicht erst einige Zeit im Gartenhaus, wegen Frederiks Allergien, Du weißt schon.“

„Das ist lieb, Lydia, ich denke darüber nach. Aber ich muss ja vorher noch einiges erledigen.“ Wie ferngesteuert stand Eva auf und bewegte sich zur Tür. „Ich habe ja meine Gesundheitskarte auch gar nicht da“, quasselte sie noch sinnlos hinterher, legte den Kittel ab, ging vor die Tür, zog ihre Schuhe an. „Grüß Theo, ich melde mich“, und schon stieg sie, in das Farmauto und fuhr einfach los.

In der Türe stand Lydia, den Mund noch in Redebewegung, ohne Worte, und starrte ihr nach.

*****

Reflexartig öffnete Eva die Fenster und schnappte nach Luft. Wie sie vorher von der Farm geflohen war, floh sie jetzt dorthin zurück. Auf halber Strecke, mitten im Nirgendwo, blieb sie stehen. Sie schaute aus dem Fenster, fühlte, wie der Druck in ihr immer größer wurde, und ließ plötzlich alles rausplatzen. Sie heulte, sie prügelte auf das Lenkrad ein, sie rief Flüche und beschimpfte die Schmuggelei, die Anonymisierung und die Industrie.

Es floss aus ihr heraus. Tiefer Schmerz. Und wie er floss. Nicht mehr nach innen, gegen sich selber, sondern nach außen, aus ihr heraus.

Der Frühsommermond stand über der Straße, um sie herum war es schwarz-weiß-dunkel, die warmkalte Luft wehte herein. Sie hatte zwar noch keine Ahnung wie, aber sie wusste, überleben konnte sie nur mit der Farm.

Eva und das Paradies

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