Читать книгу Eva und das Paradies - Dominik Rüchardt - Страница 15

Verbindung – Wiener See

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Eva war nach dem Ausflug zu ihrer Schwester in aller Stille zurück auf die Farm gefahren und hatte sich ins Bett gelegt. Sie war ausgezehrt, musste schlafen.

Sie schlief wie in einem Kokon, tief und bewusstlos. Nach acht Stunden und einer drittel Erdumdrehung wachte sie auf, wie sie in den sieben Jahren ihrer Ehe so oft aufgewacht war: alleine, und mit einer Aufgabe.

Während sie die morgendliche Routine abspulte, dachte sie nach. Sie hatte den Großteil ihres Ehelebens ohne Jasiri verbracht. Das machte es einfacher, trotz des Schmerzes. Tatsächlich war er gar nicht so sehr mit ihr verwachsen, wie sie es sich eigentlich gewünscht hätte. Sicher, ein Teil von ihm war in ihr. Gewachsen aus ihrem gemeinsamen Leben. Und mit dem konnte sie sprechen. Sie hatte dem bisher nie Beachtung geschenkt, doch nun suchte sie ihn. Seinen Rat. Sie schloss die Augen und wartete. Bewegte sich nicht, bis sie sicher war, das er es war, der in ihr sprach.

Seine Botschaft war noch eindeutiger als erwartet: ‚Lass Dich nicht hängen! Sei Du selber, nimm es in die Hand und warte nicht auf mich!‘ Und er lachte sie an.

Beim Frühstückstee sortierte sie sich und beschloss, den Kampf anzunehmen. Sie zog sich fertig an, schwarze Hose und schwarzes T-Shirt. Kampfkleidung. Sie legte ihre Kette um und ging über den Hof zum Büro des Verwalters.

Mirko Nemec wirkte erleichtert, als sie eintrat, sagte aber nichts. Erst als sie saß, mit geradem Rücken auf der Stuhlkante, in angespannter Haltung, sah er aus seinen kleinen Augen direkt zu ihr hoch: „Du nimmst es an?“

„Ja.“

„Gut.“

Mirco erklärte ihr noch einmal im Detail, was er und die anderen wussten, und Eva stellte fest, dass die Lücke erschreckend groß war. Während des Gespräches merkte sie ebenfalls, welche Erwartungen auf ihr lasteten. Jasiri war immer der Chef gewesen, alle anderen hatten sich ihm untergeordnet und sich auf ihn verlassen. Das ging nun auf sie über.

Sie gingen gemeinsam alle Unterlagen durch, viel gab es allerdings nicht. Außer ein paar Dokumenten zum Atombombenattentat in der Sahara vor einigen Jahren, einigen politischen Dokumenten zum Gerichtsverfahren um das Gelände der Farm und einem Abdruck der Übertrittserklärung Siziliens zu Afrika fanden sie nur die Personalakten der Farm, die bis auf die Akte von Quasiz alle sehr dünn waren. Eva fand es schmerzhaft, dass auch in ihrer Welt der Verlust von Vertrauen offenbar in harter Bürokratie endete. Unterlagen zu Lieferwegen, Bestellvorgängen oder Ansprechpartnern fanden sie keine. Enttäuscht gaben sie auf.

Eva bemerkte die zunehmende Verzweiflung Mircos und versuchte, so gut wie möglich durchzuhalten. Dazu fragte sie Mirco immer weiter aus. Wegen seines bruchstückhaften Wissens überlegten sie sich ein Hilfsmittel: für alles Unklare wählten sie Tiernamen und deren Beziehungen. Nutztiere für erlaubtes, Wildtiere für alles ungesetzliche oder bedrohliche. Es kam ein ziemlich wilder Zoo dabei zusammen und Eva spürte immer mehr, dass Jasiris Zurückhaltung, sie in seine Welt einzubinden, dazu diente, sie und die anderen auf der Farm zu schützen.

Sie musste sich nun ein eigenes Bild machen. Ihr Zustand schwankte weiterhin zwischen Verzweiflung und Kampfgeist, und die alten Kerle, die immer unter Jasiri ihre Aufgaben erfüllt hatten, halfen ihr nur zu verstehen, wie es bisher geschehen war. Sie musste etwas Neues finden. Irgendwie kam sie auf die Idee herauszufinden, was die Jugend, die neue Generation auf der Farm dachte. Die ganze Organisation war in Gefahr, und in der Jugend lag einer der dringenden Gründe für den Erhalt der Farm. Ihr war zwar nicht klar, was sie sagen sollte, aber das war nur ein Grund mehr zu reden. Mit Mia zu reden.

Mia war unter den Jungen ihre engste Vertraute. Sie war klug, mutig, hilfsbereit, in der nächsten Generation würde sie sicher eine wichtige Rolle auf der Farm oder auch anderswo übernehmen. Mia war im ersten Jahrgang der neuen Funktionsschule der Farm gewesen. Was hatte Eva gekämpft, um das Schulrecht zu erhalten. Zum Glück war das Umland so dünn besiedelt, dass nicht einmal die Regionalverwaltung eine Schule betreiben wollte. So war es am Schluss doch allen recht gewesen, dass sie einsprang. Sie war erstaunt, wie leicht alles Weitere war. Der Unterrichtsstoff stand fertig vorbereitet auf den Rechnern der regionalen Schulverwaltung zur Verfügung, mit allen Materialien. Ausrüstung, Sportgeräte oder Lehrmaterial wurden zuverlässig geliefert. Die wenigen Lehrer, die sie einstellte, waren sofort bereit, in einer kleinen, autonomen Schule zu arbeiten und mit dem Konzept ‚halbe Zeit Unterricht, halbe Zeit auf der Farm mitmachen‘ kamen sie ausgezeichnet klar.

So war eine eindrucksvolle Klassengemeinschaft entstanden, die mit Leichtigkeit durch die formalen Proben gesegelt war, und nebenbei vom Leben mehr mitbekommen hat, als die meisten anderen Kinder in ihrer gesamten Jugend. Mia, Felix und drei weitere waren später auf die Wiener Philosophieschule gegangen. Sie waren ihre Vorzeigekinder.

Eva ging hinüber zum Jugendhaus, wo einige Ältere aus der jungen Generation heute wohnten. Mia war normalerweise freitags hier. Tatsächlich stand da auch ihr Fahrrad, Eva hatte allerdings keine Ahnung, ob sie es noch benutzte. Es war ein altes Fahrrad, ohne Motor, gebaut für schlechte Wege. Mia hatte früher alles damit gemacht, sie war auch um den See und bis nach Wien damit gefahren. Ohne Schutzkleidung. So war Mia.

Eva trat ein, konnte aber nichts hören. Im unteren Flur empfing sie eine Mischung aus Sommerwärme und Kühle, die alten Gemäuern innewohnte, und die altmodisch getünchten Wände standen mit einer rührenden Unschuld um die Türen. Türen, die in Höhlen führten, wie sie es früher oft genannt hatte, weil hinter jeder Türe eine Überraschung wartete, eine Jugendgruppe, die irgendetwas tat, oft auch Dinge, bei denen Erwachsene besser nicht dabei waren.

Doch heute war Stille. Es war draußen warm, doch das war kein Grund: Die Jugend kannte noch nicht den Zwang hinauszugehen, nur weil es draußen schön war, zu offen stand ihnen die Welt, und unendlich weit weg waren die Zwänge des Lebens. Sie beneidete sie darum.

Sie ging alleine den Gang entlang und erinnerte sich. An Freude und Leid, an Leidenschaft und an Spaß. Eine Szene nach der anderen zog wie ein Lufthauch durch ihren Kopf und sie versank immer tiefer in den früheren Erlebnissen. Plötzlich hörte sie ein Kichern, nein, kein Kichern, eine Art leises Jauchzen, vermischt mit Grunzen. Leise, unterbrochen, immer wieder aufflackernd. Sie verfolgte das Geräusch, bis es stärker wurde, und schließlich wurde ihr klar, was es war. Diskret machte sie sich wieder davon und setzte sich vor dem Haus in die Sonne.

Eine knappe halbe Stunde später trat Mia aus der Türe. Sie wirkte gelöst und frisch, ein wenig berauscht und wach zugleich. Ihre Kleidung wirkte leicht unordentlich, aber das tat sie oft. Sie wirkte sehr weiblich.

„Eva“, rief sie fröhlich. „Hallo!“

„Hallo Mia“, antwortete Eva freundlich und ihr war klar, dass sie keinen Grund nennen konnte, warum sie hier saß, also sagte sie erst einmal nichts.

„Dass Du hier sitzt“, Mia kam auf sie zu, „die anderen sind alle am See und bereiten das Fest vor.“

Eva hatte sichtlich keine Ahnung, von welchem Fest Mia sprach.

„Das Sonnwendfest, Eva, heute ist Mittsommer.“

„Ach ja?“

Es kam ihr so weit weg vor, als sie mit den Jugendlichen gemeinsam auf das Mittsommerfest gefiebert hatte. Sie hatten sich immer darüber amüsiert, dass Mittsommer am Sommeranfang ist und meistens auch noch verregnet. Doch die wenigen Male als das Wetter gut war, war es auch immer ein sehr schönes Fest gewesen. Sie hatten ein Feuer gemacht, dazu Musik, ausgelassene Spiele im langen Abendlicht, und anschließend wurden im Feuer Kartoffeln gebraten. Die Kartoffeln hatten immer verbrannt geschmeckt, und wenn sie Pech hatten, waren ihre Schuhe gleich mit verbrannt.

Doch das war jetzt alles sehr weit weg.

„Ich habe das total vergessen“, lächele sie Mia an und blickte fahrig um sich.

Dass ihr Vorbild Eva so jämmerlich dasaß, verunsicherte Mia.

„Es tut mir so leid für Dich“, versuchte sie die Situation aufzufangen. „Das mit Jasiri kann ich selber immer noch nicht glauben. Er war immer so lustig, wenn er da war.“

„Ihr wisst es also schon“, antwortete Eva schwach lächelnd. Mia nickte.

„Es ist alles so unwirklich, wir wissen ja gar nichts.“ Eine Träne schoss Eva hoch. „Aber Trauer ist es nicht, warum ich da bin.“ Dieser Satz kostete Kraft.

Sie blickte über Mia hinweg auf einen Aprikosenbaum, an dem sich einige Käfer tummelten. Das hatte es vor einigen Jahren auch hier noch nicht gegeben. Sie sammelte sich.

„Ohne ihn ist die Farm in Gefahr“, sie blickte Mia an, „Jasiri war der Haken, an dem alles hing. Der alles am Laufen gehalten hatte.“

Sie kam ins Stocken, wusste nicht, wie sie es erklären konnte. Aber da Mia sie nun aufmerksam anschaute, musste sie wohl weitermachen. Und sie erklärte die ganze Geschichte vom illegalen Anbau und dem Schmuggel der Setzlinge.

Mia wusste schon vieles, hatte sich aber nie eingehender damit befasst. Sie vertraute darauf, dass Jasiri, Eva und all die anderen dieses großartige Werk beherrschten und vermehrten. Sie begriff daher immer noch nicht, worin das Problem liegen könnte.

Als Eva schließlich zum Ende kam, verstummte sie für einen Moment und sah Mia an. „Das bedeutet, wir sind vom Nachschub abgeschnitten.“

Mia schaute Eva an, während dieser Tränen in die Augen stiegen.

„Und das heißt“, sie schniefte, „dass wir nach der diesjährigen Ernte nichts mehr anpflanzen können, dass die nächste Ernte ausfallen wird, und dass wir uns selber zusehen können, wie wir Pleite gehen. Uns gehört ja nicht einmal das Land. Es gehört der Region Wien. Und die fördern uns ja auch, aber wenn wir nicht zahlen können, dann können sie uns auch nicht einfach hier weitermachen lassen.“

Sie starrte in die Luft, die Nase und die Augen gerötet, und blickte verzweifelt zu Mia hinüber, die immer noch so da saß wie bisher.

„Und das bedeutet, hier geht alles zu Ende. ESCO übernimmt den Grund wieder und macht Industrieäcker daraus.“ Sie strich verzweifelt über einen Aprikosenzweig. „Ihr müsst alle fort. Alle, die hier leben, müssen sich eine neue Existenz suchen, die sie kaum kriegen werden, als ehemalige Mitarbeiter unserer Farm. Die Kinder müssen in die normale Funktionsausbildung, wo sie zu Robotern gemacht werden, ihr Geist wird gebrochen und sie bekommen künstliches Essen, das sie zu dem züchtet, was die Entwicklungsprogramme für sie ausgerechnet haben.

Ich habe gestern meine Schwester besucht. Wie die leben ist“, sie suchte nach Worten, „schrecklich!“ Nun brachen die Tränen durch. Eva musste sich schütteln vor Schluchzen: „Es geht alles zu Ende, weil wir es nicht schaffen ohne Jasiri.“

Mia nahm ihre Hand, um sie zu trösten − und Eva ließ sie, obwohl es doch früher immer sie gewesen war, die Mia getröstet hatte. Doch sie fühlte sich so schwach und elend, nachdem sie alles gesagt hatte, was bisher noch unausgesprochen in ihrem Kopf und vermutlich auch in dem des Verwalters festgehalten gewesen war. Und die Wärme von Mias Hand tat ihr gut, auch wenn es sommerlich heiß war.

„Das kann nicht sein“, erklärte Mia mit einem Mal bestimmt, „wir finden einen Weg“. Energisch stand sie auf und ging im Kreis über den Kies, während sie die Nachricht verarbeitete.

„Du bist mit Jasiri verheiratet, Du bist seine Erbin. Du bist die neue Chefin. Es wäre doch gelacht, wenn es nicht gelänge, das Erbe anzutreten, hier weiterzumachen.“

„Ich habe mit allen gesprochen, aber keiner weiß eine Antwort. Keiner war je in seinem Dorf oder weiß überhaupt, wo genau es ist. Jasiri hat es auch mir nie erzählt, er wollte das nicht. Er meinte, diese Welten passen nicht zusammen. Ich glaube es lag an mir. Sie hassen mich, weil wir verheiratet waren, das muss für sie sein wie ein Verbrechen.“

„Ja, die Afrikaner erkennen die Ehe nicht an. An sich ein sehr fortschrittlicher Gedanke, aber in unserem Fall eher ein Problem“, bestätigte Mia nachdenklich. „Aber Probleme sind dazu da, dass sie gelöst werden.“

Sie überlegte. „Wieso, glaubst du, hat Jasiri Dir so wenig erzählt? Ihr habt euch doch vertraut.“

„Ja, das haben wir.“ Eva beruhigte sich allmählich, ließ alles noch einmal an sich vorbeigleiten. „Vermutlich war es auch einfach zu viel“, sie ließ die Schultern fallen. „Er hat so viel gemacht, und es war so voller Widersprüche, mit der Ablehnung der Ehe in Afrika, dem Schmuggel, und andererseits mit der Begeisterung hier. Und wir hatten ja auch so genug, worum wir uns kümmern mussten.“ Diese Gedanken halfen ihr, und sie fand zurück zu ihrem Problem.

„Wir haben zwei Monate Zeit, dann muss spätestens die Aussaat stattfinden“, erklärte sie mit einem Seitenblick zu Mia. „Jasiri war gerade losgereist, um alles zu organisieren.“

„Wir müssen uns einen Plan machen“, erklärte Mia. „Was ist das Ziel, wer sind die Beteiligten, was sind ihre Interessen und was können sie leisten“, sie stand auf. „Warte, ich hole uns was zum Arbeiten, dann legen wir los. Darf ich Felix einweihen? Er ist ein As darin, Zusammenhänge zu erschließen.“

„Ja, klar“, brachte Eva nur heraus und schon war Mia im Haus verschwunden.

‚Diese Philosophieschule ist doch unglaublich‘ dachte sie bei sich, ‚die sind so selbstbewusst, wie wir es nie waren‘. Aber bei aller Bewunderung war sie auch beunruhigt. Und als Mia zurückkam, Block und Tablet unter dem Arm, sagte sie ohne Zögern: „Lass den Tablet lieber weg. Wir sollten bei allem, was wir tun, so wenig wie möglich nachvollziehbar sein. Nimm den Block, das geht auch. Und wenn Du etwas recherchieren willst, nimm das öffentliche Netz mit einer Wegwerf-ID. Was Du so nicht herausbekommst, besprichst Du bitte vorher mit mir, damit wir überlegen, auf welchem Weg wir weiter nachforschen.“

Mia erschrak und Eva merkte sofort, dass sie etwas überfallartig gehandelt hatte. Doch sie wollte sich nicht entschuldigen. Daher setzte sie ein leicht sarkastisches Grinsen auf.

„Das sind die Regeln des Untergrunds“, sagte sie mit tief verstellter Stimme und hoffte, Mia würde verstehen, dass es ihr, bei aller gespielten Leichtigkeit, tatsächlich ernst damit war.

Mia fing an, auf dem Block Diagramme zu malen und Eva nach den Zusammenhängen zu befragen. Sie löcherte sie hartnäckig und erlaubte ihr keine Schummelei. Nach einer Weil kam Felix dazu und sie saßen zu dritt im Garten. So erarbeiteten sie ein Bild der Lage, diskutierten die Beteiligten und zogen Schlüsse. Am Ende hatten sie eine kompliziert aussehende Zeichnung und zwei neue Ansatzpunkte. Der eine war Helmut Montensacken. Eine flüchtige Bekanntschaft von Eva. Helmut war grundsätzlich dem feindlichen Lager zuzuordnen, er war ein einflussreicher Lobbyist in Berlin, der alles und jeden kannte. Aber anscheinend hatte er auch eine andere Seite, und Eva meinte, er könnte ein politischer Türöffner sein. Montensacken und Eva waren einmal auf einer Podiumsdiskussion gegeneinander angetreten, woraus, trotz aller Gegensätze, eine Beziehung entstanden war, die sich beinahe zu einer Affaire entwickelt hätte. Sie hatte sich zwar nie darauf eingelassen, hatte sie aber, angesichts mehrmaliger Anläufe Helmuts, auch nie endgültig verhindert. Diesen Teil verschwieg sie Mia allerdings.

Der andere war ein Lehrer von Mia und Felix. Er war zwar Chinese und stammte aus Amerika, aber er hatte offenbar jede Menge Ahnung von Afrika und war, nach beider Überzeugung, ein guter Ratgeber und ihnen gewiss freundlich gesonnen.

Eva und das Paradies

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