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Anruf – Berlin Kohlbogen

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Helmut Montensacken saß in seinem Büro im 22. Stock über Berlin, die Füße auf dem Schreibtisch, den Ausklang des Sonnenuntergangs vor Augen und dachte über sein Leben nach. Er, einer der erfolgreichsten Lobbyisten Berlins, war unzufrieden. Nein, mehr als unzufrieden. Eine dunkle Wolke der Sinnlosigkeit braute sich über ihm zusammen. Etwas, das ihm in letzter Zeit immer öfter geschah.

Der Tag war mehr oder weniger wie alle anderen gewesen. Ein steter Fluss Anfragen von Unternehmen nach Entscheidungsrichtwerten, seine eigenen Gespräche mit Abgeordneten und Funktionären, das übliche Mittagessen mit den Unternehmern an jedem Donnerstag, der Monatsbericht von ESCO in einer virtuellen Konferenz, schließlich der tägliche Blog an die Lokalbüros. Er hatte seinen Betrieb im Griff. Alle Agrarmanager suchten seinen Rat, und sogar die Pharmaindustrie und die Biotech-Gruppen wagten keinen Vorstoß ohne seine Zustimmung. Und seine Mitarbeiter standen in absoluter Loyalität hinter ihm. Ihrem Guru. Beim Spree-Bowlen, letzte Woche auf dem Boot, hatten sie ihm wieder alle gezeigt, wie sie ihn liebten. Besonders seine weiblichen Mitarbeiterinnen hatten ihn angehimmelt, einige hatten sogar versucht, ihn zu verführen. Er genoss es, ja, aber niemals würde er ein Verhältnis mit einer Mitarbeiterin anfangen. Da war nichts zu machen. Sie waren schamlos in ihrer Koketterie und ihrem Auftreten − und er flirtete brav zurück. Aber das war es auch. Schade. Er liebte es, wenn eine Frau sich ihm zeigte, sich um ihn bemühte, sich reckte und ihn herausforderte. Er liebte auch die Vorstellung, was daraus werden könnte, und die Vorstellung, was die Frauen sich wohl dachten, wenn sie an ihn dachten. Aber es musste bei der Vorstellung bleiben. Bei der Möglichkeit, die sich nicht erfüllte. Er musste unerreichbar bleiben, nicht nur um seine Autorität zu erhalten, sondern einfach, um weiter interessant zu sein. Wie könnte er sich weiterhin für all diese Menschen interessieren, wenn er sie so nah an sich heranließe? Sie würden banal werden, schales Fleisch mit erhöhtem Infektionsrisiko, mit Ansprüchen und tränenreichen Szenen. Dennoch, diese selbstauferlegte Reizlosigkeit nagte an ihm. Wofür tat er das alles? Wofür ging er immer wieder an die Grenzen und ersann neue Ideen, mit denen seine Kundschaft dem Recht wieder ein Schnippchen schlagen konnte?

Er war es, der die Regeln setzte, still und diskret. Und all die anderen saugten das begierig auf. Für ihre Ausschweifungen, ihre Raffsucht, ihre Selbstinszenierungen im Spielfeld der Eitelkeiten. Nur er, er war der Linienrichter. Er durfte sich nicht inszenieren, er stand darüber. Unangreifbar, aber draußen. Vergöttert und ausgenützt. Was hat ein Gott davon, Gott zu sein, wenn er an den wunderbaren Dingen, die er schafft, dem Sex, der Macht, dem Geld, selber gar nicht teilhat? Er kam sich vor wie ein alter Trottel.

Mitten in diesen Gedanken hatte Eva angerufen. Von einem öffentlichen Netzbüro aus.

Sie hatte nicht gesagt, um was es genau ging. Aber es klang, als ob sie tatsächlich Hilfe brauchte.

Ob sie vorbeikommen könne, bald.

Natürlich könne sie das. Morgen am späten Nachmittag. Hier im Büro. Er kümmere sich um eine Unterkunft.

Das müsse nicht sein, sie könne bei einer Freundin übernachten.

Auf keinen Fall, sie sei sein Gast und würde angemessen untergebracht. Im Hotel, das sei kein Problem.

Der Anruf war wie durch einen Nebel zu ihm durchgedrungen. Eva war seine schwache Stelle. Gegen sie war er machtlos, und er genoss es, sich ihr gegenüber machtlos zu fühlen, obwohl sie es vermutlich gar nicht wusste. In ihren Augen war er ein reicher, starker, chauvinistischer Lobbyist. Dabei war er ein König, der in seinem goldenen Palast gefangen war, der nach der Befreiung durch die edle Prinzessin rief.

Aber das sah sie natürlich nicht.

Er spürte eine leichte Taubheit durch den Körper ziehen, eine Angespanntheit, etwas zwischen Nervosität und Depression. Tief im Inneren fühlte er sich erregt, aber ohne jede körperliche Regung.

Impotent.

Er räumte seinen Schreibtisch leer. Es war ein interaktiver Tisch, der eigentlich ein riesiger intelligenter Bildschirm war. Er prüfte zweimal, ob auch kein Kommunikator lief, und irgendwer ihn aus Versehen beobachten oder hören konnte, klickte sich planlos durch irgendwelche Portale, sprang auf, lief auf und ab, setzte sich wieder. Verband sich mit dem Sekretariat, ließ alle Termine für den folgenden Tag ab 17 Uhr absagen und ein Zimmer im Adlon reservieren, außerdem einen Tisch im Joschka.

Er hatte noch 10 Minuten. Er rief das Portal von GlobalResearch, einem privaten Ermittlungsdienst, auf und gab einige Anfragen zu Eva ein. Er war verblüfft, wie wenig Antworten kamen. Ein paar Artikel aus der Wiener Region zum Biotop, alles andere deutlich älter als 5 Jahre, keine öffentlichen Sichtungen. Von einer Journalistin ihres Kalibers hätte da mehr sein müssen. Ein Anflug von Verunsicherung, aber auch von Respekt, überkam ihn. Er versuchte herauszufinden, was sich hinter dem Biotop verbarg. Versuchte auch noch, etwas über ihr Privatleben zu erfahren, sie hatte erklärt, sie sei verheiratet. Aber nichts darüber tauchte in den Dossiers auf. Offenbar fand ihr Leben in einer anderen Welt statt. Sein Gefühl von Machtlosigkeit wich etwas anderem, einer Neugier und einem Gefühl von Grenzüberschreitung, wie er es schon lange nicht mehr erfahren hatte. Das Leben schien zurück.

Als er eben eine vertiefte Nachforschung bestellen wollte, blinkte eine Nachricht vom Empfang auf und teilte ihm mit, sein Abendbesuch sei angekommen. Er wollte sich schon entschuldigen, aber besann sich dann doch. Das Anschreiben dieser Leute hatte zu eigenartig geklungen, um das Gespräch anderen zu überlasen.

Eva und das Paradies

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