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F A B R I K E N Schornsteine, Kamine, Schlote und Firmenschilder

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Im Jahr eins des 19. Jahrhunderts gab es in Berlin eine einzige Maschinenfabrik, die ganze vier Arbeiter beschäftigte. Während in England und Frankreich bereits die Schornsteine qualmten, döste die Stadt an der Spree noch vor sich hin. Doch das Knattern und Kesseln des europäischen Fortschritts wurde immer lauter, und schon bald wucherten auch in Berlin die Fabrikschlote in den Himmel und spuckten Dampf und Rauch aus. Immer mehr puffte es aus allen Rohren, und die schwarzgrauen Zeichen der Zivilisation nieselten als rußiger und klebriger Nebel über die Stadt. Feuerland und Birmingham der Mark wurden die Industriegebiete am nördlichen Stadtrand hinter dem Oranienburger Tor genannt. In der Mörderhitze der Hochöfen und in den stumpfen Werkhallen schufteten ganze Armeen von Arbeitern und legten Hand an, damit das Deutsche Reich nie wieder zum Stillstand kommen solle. Lokomotiven und Eisenbahnwaggons, Ventilatoren, Kreiselpumpen, Dampfkräne und Dampframmen, Bergwerks- und Fördermaschinen, Schwingpflüge, Minen, Torpedos und Gewehre verließen die Fabriken mit einer Geschwindigkeit, wie andernorts Rüben aus dem Boden gezogen wurden. Der Hunger auf billige Arbeitskräfte war groß, und die ländlichen Gebiete versorgten die Großstadt zuverlässig mit Kartoffeln, Obst, Gemüse, Eiern und jeder Menge jungen Fleisches.

Fabrik hieß das Zauberwort der Zeit, es versprach Wohlstand und Fortschritt. Die Namen der Fabrikanten hatten mehr Klang als jene des alten Adels, rochen nicht mehr nach dem Staub der Geschichte, sondern nach Dynamik und Veränderung. Eine Welle von beherztem Unternehmertum hatte die Hauptstadt ergriffen. Immer mehr Firmenschilder klebten an den Fassaden, um in fröhlichen Lettern den Anbeginn einer neuen, glorreichen Epoche zu verkünden, und kein Geschäft war zu klein, um sich nicht stolz Fabrik zu nennen.

Da gab es die großen Fabriken, deren Namen so roh klangen wie der Lärm, der durch ihre Mauern drang: Maschinen- und Waggonbau-Fabrik, Eisengießerei und Maschinenfabrik, Artillerie-Werkstätten und Gewehrfabrik. Und da gab es die kleinen Fabriken, die ihren Firmensitz oft in einem stickigen Schuppen oder einem verwinkelten Hinterhof hatten. So etwa die Blusen und Rock Fabrik, in der sich sechs Frauen für ein Butterbrot die Finger wund nähten. Oder die Wurst-Fabrik, bestehend aus vier kräftigen Oberarmen (Meister und Metzgergeselle) und einer halben Portion (Lehrling). Über dem Ladenlokal der Strumpfwaren & Trikotagen Fabrik hing ein besonders schönes Schild. Der Familienbetrieb gehörte einer geschäftstüchtigen Matrone, die drei Mitarbeiterinnen beschäftigte, alle drei ihre Töchter und alle drei minderjährig. Man musste zusehen, wie man über die Runden kam, nachdem sich der Vater dünnegemacht hatte, dieser Schuft.

Jene, die weder in den großen noch in den kleinen Fabriken unterkamen, nähten in der Enge ihrer Stuben für ein paar Pfennige Mäntel, immer unter Druck, damit sie die Raten für die teuren Nähmaschinen bezahlen konnten. Oder sie fertigten Ballonmützen, Damenhüte, Uhrketten, billigen Schmuck, Stoffblumen und anderen Tand. Eine Ära der Eitelkeiten war angebrochen, und man konnte beinahe alles verkaufen, was den Menschen ein wenig ansehnlicher machte.

Während die Mädchen Socken im Akkord strickten oder in den Textilfabriken an den rumpelnden Maschinen standen, krochen die Knaben durch die Maulwurfgänge in den Kohlengruben und Minen, verdingten sich als Laufburschen oder Stalljungen, versuchten den Passanten irgendwelchen Kram aufzuschwatzen oder stahlen, was das Zeug hielt.

In Berlin drehten sich die Räder immer schneller, die Stadt wurde fetter und fetter, ein unersättliches Weib, das aus dem Korsett zu platzen drohte. Obwohl längst der Kollaps drohte, drängten immer mehr Zuwanderer vom Land in dieses dampfende und schnaubende Ungetier. Im Eilzugstempo wurden Mietskasernen aus dem Boden gestampft, Geschoss um Geschoss wurde aufeinandergeschichtet, Wohnkomplex an Wohnkomplex gereiht, massig und grau wie Berge. Wohnfabriken ohne Luft und Licht, ein einziger Irrgarten aus Hinterhöfen – erster Hof, zweiter Hof, dritter Hof, vierter Hof, durchnummeriert wie Soldaten beim morgendlichen Abzählen. Die Armut zog in die Mietskasernen, und ihr Geruch klammerte sich an die Wände und ließ sie nicht mehr los.

Trockenwohner zogen mit ihrer armseligen Habe in feuchte Neubauwohnungen, bis diese für reichere Leute bewohnbar waren. Sie blieben nie lange, jene, die eigentlich Feuchtwohner heißen sollten, schauten sich bald nach dem Einzug wieder nach was Neuem um, das noch nass und billig war. Zehntausende hatten gar kein Obdach, verkrochen sich in elenden Kellerwohnungen oder teilten sich die Flohkiste mit einem anderen armen Schlucker. Arbeiten im Sechzehnstundentakt. Schlafen in Schichten.

Das Bürgertum schlief gut in jenen Zeiten.


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