Читать книгу Leo&Ludwig - Dominique Anne Schuetz - Страница 15
D E R S O H N D E S I N D U S T R I E L L E N Geld, sehr viel Geld und das Milljöh
ОглавлениеDer Industrielle und seine Familie saßen beim Abendbrot. Auf der Tischdecke aus weißem Damast stand das Meissener Porzellan mit klassischem Zwiebelmuster, die Servietten hatten ein persönliches Monogramm, Kristall und Tafelsilber waren in korrekter Gangreihenfolge millimetergenau platziert. Wenn Preußen etwas hassten, dann die Unregelmäßigkeit der Dinge. Die Tischmitte dominierte ein silberner Tafelaufsatz mit einem dramatischen Blumenbouquet. Neben den mit reichlich drapiertem Brokat dekorierten Fenstern standen Marmorstatuen in griechischer Manier, von den Decken wölbte sich der Stuck, Teppiche dämpften die Schritte, und die Kristallklunker an den Kronleuchtern klimperten und strahlten.
Die purpurroten Tapeten waren mit allerlei Gewalttätigem behängt. Da gab es wuchtige Schlachtengemälde, auf denen man jeden Blutstropfen erkennen konnte, und die in historisch richtiger Abfolge nebeneinander hingen, namentlich die Bataillen von Dessau, Nördlingen, Fehrbellin, Waterloo und Königgrätz. (Waterloo übrigens nicht wegen der Franzosen oder der Engländer, sondern wegen der tapferen Preußen unter Marschall Blücher, die den Briten zu Hilfe gekommen waren, und ohne die dieser grässliche kleine Franzose natürlich nie und nimmer besiegt worden wäre.) Kostbare Gobelins mit akribisch genau dargestellten Jagdszenen bereicherten die Wände. Auf dem Prunkstück verblutete ein Hirsch im Abendrot, und auf einem anderen rissen Schweißhunde einen Fuchs in Stücke.
Zwischen all diesen Gemetzeln gab es immerhin noch Platz für ein paar nette Familienfotos. Vater als Ehrengast während der Parade zur feierlichen Einweihung der Siegessäule am 2. September 1873, daneben sein Vetter Christian, der vor einer achtzehnpfündigen Haubitze posierte, und unter den beiden hingen Onkel Ferdinand in der Uniform des Kürassier Regiments 2 und seine unverwüstliche Frau Hildegard in voller Safarimontur neben einem ausgestopften Tiger, aufgenommen im tiefsten Winter 1876 im Atelier von Herman Koch – Hofphotograph Ihrer Majestät der Königin von Rumänien – in Neuwied, Engerser Straße 86.
An einer kleinen, unscheinbaren Wand zwischen zwei Türen waren auch noch die Aufnahmen der drei Töchter und der Ehefrau zu bewundern und sogar ein paar bereits etwas verblasste Lichtbilder mit den ungeliebten Verwandten. Nur vom Sohn gab es kein Foto, und das hatte seine Gründe.
Unter dieser beeindruckenden Sammlung preußischen Kulturgutes ließen sich der Industrielle, seine Frau und ihre vier erwachsenen Kinder das Essen von der Dienerschaft servieren. Der Hausherr saß reglos da, seine Gattin saß reglos da, die drei Töchter im heiratsfähigen Alter saßen reglos da. Kein Ton wurde gesprochen, und als sie zu essen begannen, waren ihre Bewegungen kaum wahrnehmbar. Es war eine Tafelrunde lebender Toten. Einzig der Sohn, dreiundzwanzig, Student und Lebemann, lümmelte sich in seinem Stuhl und grinste. Er ignorierte das Hofzeremoniell seines alten Herrn und passte so gar nicht in diese Familie, die sich vor allem dadurch auszeichnete, dass sie es in jeder Situation verstand, den Schein zu wahren. Nicht nur gegenüber der Gesellschaft, sondern auch gegenüber sich selbst.
Der Junior scherte sich keinen Deut um die Regeln der oberen Tausend, wollte sich nicht von Konventionen einschnüren lassen. Er wollte Spaß. Wenn Mama die Hautevolee zu einer Abendveranstaltung einlud, langweilte er sich zu Tode. Steif wie gefrorene Heringe saßen die Gäste in ihren Sesseln und lauschten Mutters Klavierspiel – süßlich und theatralisch – und den Rezitationen seiner Schwestern, was das noch größere Übel war. Danach wurde über die heilige preußische Dreifaltigkeit – Kaiser, Krieg und Kapital – geplaudert, und die zumeist mit wenig Liebreiz ausgestatteten Töchter aus gutem Hause versuchten, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, gehörte er doch zu den begehrtesten Junggesellen in Berlin, war reich, gescheit und sah fabelhaft aus. Zudem hatte er einen umwerfenden Charme, weshalb ihm die leicht entflammbaren Frauenherzen gern verziehen, dass er ein Flegel war, überheblich und zügellos.
Der Sohn wäre wohl längst vor die Tür gesetzt worden, wenn man das Gerede nicht befürchtet hätte. Abgesehen davon war der Filius ein brillanter Kopf und durchaus prädestiniert, den väterlichen Betrieb zu übernehmen. Also sah man ihm so manche Eskapade nach, ließ ihm noch etwas Zeit, sich auszutoben, hoffte aber, dass er sich eines Tages besinnen und das Lebenswerk des Vaters weiterführen würde. Noch interessierte sich der Junior nicht im Geringsten für die Fabrik und die Verpflichtungen, die sich daraus ergaben und seinem ungehemmten Treiben im Wege gestanden wären. Er lebte in einem Rausch von Annehmlichkeiten, gab sich Saufgelagen mit seinen Kumpanen hin, besuchte Tanzbuden und Tingeltangel, setzte auf Pferde – meist auf die falschen –, und einen Großteil seiner Zeit widmete er dem anderen Geschlecht. Mit fünfzehn hatte er erste Erfahrungen gesammelt. Sie war acht Jahre älter als er und hatte pralle Brüste und einen wunderbaren Mund. Ein Dienstmädchen, das ihm aufgefallen war, weil es höchst erotisch mit dem Staubwedel umzugehen verstand. Als seine Mutter davon erfuhr, wurde das arme Mädchen entlassen, und der Sohn erhielt Stubenarrest, und überdies wurde mit einem strengen Internat oder einer Klosterschule gedroht. Doch der junge Mann nahm die elterlichen Maßregelungen eher als sportliche Herausforderung, bewegte seine Lenden weiter im gewohnten Rhythmus und bändelte, weil man zu Hause so ein Theater veranstalten musste, mit dem weiblichen Personal aus den Nachbarvillen an.
Für eine gewisse Zeit wirkten diese Dienstmädchen auf den Jüngling unwiderstehlich, sie waren willig und nicht selten wild, bis die Federn stoben. Mit zunehmendem Alter folgten anspruchsvollere Affären, darunter jene mit der scheuen Ehefrau eines Pastors. Er wollte nur sehen, ob es ihm gelingen würde, eine solche Ballung an Tugendhaftigkeit auf die Seite des Lasters zu ziehen. Danach setzte sich der Tanz der kurzen Abenteuer mit ständig wechselnden Partnerinnen fort – mit der Tochter eines hohen Militärs, mit einer taufrisch verwitweten Aristokratin mittleren Alters, mit einer Warenhausangestellten, mit zwei adeligen Schwestern (gleichzeitig) und mit einer sündhaft gut gebauten Suffragette. Emanzipation empfand er zwar als überflüssig, aber auf der Matratze bescherte ihm die aktive Kämpferin für die Gleichberechtigung bis dahin ungeahnte Erlebnisse.
Der Millionärssohn unterschied sich nicht grundsätzlich von seinen gleichaltrigen Freunden, mit denen er oft durch die Straßen der Stadt zog. Auch sie genossen dieses legere Einerlei, finanziell unabhängig und mit dieser lausbubenhaften Arroganz. Doch der smarte Junior hatte noch eine andere, dunkle Seite, die er zuweilen hemmungslos auslebte und von der niemand wusste. Getrieben von der unbändigen Lust nach Abenteuer unternahm er regelmäßig Ausflüge in die Niederungen des Milieus, wo er sich manchmal nächtelang herumtrieb. Er trug dann zerschlissene Kleidung und wirres Haar, war unrasiert und vergaß seine Herkunft. In lärmenden Destillen, wo zahnlose Männer zum Akkordeon sangen und Weiber ihre Röcke lüpften, wo es nach faulem Atem roch und Speisereste in den Bärten hingen, wo sich streunende Köter die Flöhe aus dem Fell kratzten und die Fenster vom Schweiß und von den Dämpfen beschlugen, fand er das, was ihm in den Kreisen der reichen Herrschaften fehlte: Hemmungslosigkeit. Grölend soff er sich mit Gaunern, Zuhältern und ehemaligen Sträflingen unter den Tisch, lachte mit Dirnen über derbe Witze oder verschwand mit ihnen in einem schäbigen Hinterzimmer. In solchen Momenten war er von allen guten Geistern verlassen, riskierte die Syphilis oder auch ein Messer zwischen den Rippen. Doch nur hier fand sein anderes Ich Befriedigung.