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D I E E I S E N B A H N Billetts, Gepäck und der Komfort der Preußischen Staatsbahn

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Es war heiß, als Luise Richtung Südwesten unterwegs war. Am wolkenlosen Himmel loderte die Sonne mit einer solchen Intensität, als wollte sie ganz Brandenburg in Flammen setzen. Stunden über Stunden folgte die junge Frau den Landstraßen, die sich an Feldern vorbeischlängelten, auf denen sich Bauern und Tagelöhner unter der sengenden Sonne abplagten, sie durchquerte verschlafene Dörfer, in denen die Zeit rückwärts ging, und kam an Kirchen vorbei, deren Turmspitzen in Richtung Paradies zeigten, einen Ort, der unendlich weit weg lag von jeglicher irdischen Realität und von dem man, wie Luise vermutete, nicht mit letzter Sicherheit sagen konnte, ob er auch wirklich existierte.

Als sich die Sonne gegen den Nachmittag schob, kam sie kaum noch vorwärts. Die bleierne Glut setzte ihr zu. Der mehlige Staub von den Schotterstraßen hing in ihrer Kleidung und in ihrem Haar, sie glich einer Siedlerin, die seit Wochen auf einem Planwagen unterwegs war, nichts vor sich als die unendliche knochentrockene Weite des Westens und der abgemagerte Hintern ihres Pferdes. Sie fühlte sich ausgelaugt und entschloss sich, den Rest der Strecke mit der Eisenbahn zu fahren.

Sie wusste nicht genau, wo sie sich befand, wahrscheinlich hatte sie auch ein paar Umwege gemacht, und deshalb erkundigte sie sich bei einem verfilzten Etwas von schätzungsweise neun Jahren, ob es hier in der Nähe einen Bahnhof gebe. Der Bengel zeigte mit seinem hageren Ärmchen nach Süden und kratzte sich mit dem anderen eine Laus aus dem wirren Haar. »Da runter musste jehn. Da is der Mündesee, und gleich da is de Station von Anjermünde.«

Wie die meisten Bahnhöfe der Preußischen Staatsbahn war auch der von Angermünde ein normierter Reißbrettbau aus roten Ziegeln, mit Aufenthaltsräumen für die Bahnwärter und Bürodiener, mit einem geräumigen Güterschuppen für den wichtigen Warentransport und mit den Wartesälen der ersten und zweiten Klasse.

Im Billettverkaufsbureau roch es nach Leinöl, und bis auf das aufgeregte Surren der Fliegen, die gegen die Scheiben anflogen, war es still. Ein korrekter Beamter saß hinter dem verschnörkelten Bahnschalter. Ein steifes Portrait in einem Bilderrahmen, dachte Luise.

»Ich möchte nach Berlin«, sagte sie.

»Die Berlin-Stettiner-Eesenbahn fährt Se über Eberswalde jeradewegs in de Hauptstadt. Se landen direkt im Stettiner Bahnhof, un det mit preußischer Pünktlichkeet, meen Fräulein«, sagte er mit dem Charme eines Fahrplans.

»Na, dann nehm ich ’n Billett Berlin einfach, vierte.«

Der Staatsdiener zog seine Stirn in Falten und spitzte die Lippen. Hätte sie wenigstens dritte Klasse verlangt, wäre er noch zu gewissen Freundlichkeiten bereit gewesen. Indes, bei jenen, die lediglich vierte kauften, war jedes Lächeln zu viel. Vierte, immerzu vierte! Alle wollten sie nach Berlin, und alle hatten sie nichts in den Taschen, die waren ebenso leer wie ihre Bäuche. Er nannte den Fahrpreis. Nachdem sie ihre Münzen abgezählt hatte, lauter Kupfer, schob er ihr missmutig die Fahrkarte hinüber. Dann sah er zur Uhr hoch, die einsam an der Wand hing, und ergänzte: »De Bahn fährt in jenau neun un eener halben Minute ein.« Das Leben des Schalterbeamten war eingeteilt in Ankunfts- und Abfahrtszeiten, Pünktlichkeit das Einzige, was in ihm Glücksgefühle auszulösen vermochte. Verspätungen waren eine Katastrophe, Grund genug, sich an der Bahnhofsuhr zu erhängen.

Luise sah auf das Billett in ihrer Hand. Die Farbenlehre der Preußischen Staatsbahn war unmissverständlich. Die Billetts der ersten Klasse waren gelb, eigentlich goldgelb, um genau zu sein, jene der zweiten waren grün und erinnerten ein wenig an saftige Viehweiden, die der dritten waren immerhin braun, wie Leder oder Kartoffelpellen, und die der vierten, die hatten dieses schmutzige Grau, nun ja, die Farbe von Mäusen und Ratten war schöner. Die weitaus größte Zahl der Passagiere löste Grau, fuhr Holzklasse. Ein Begriff aus besseren Zeiten, als es in dieser Reisekategorie noch Holzbänke gab. Doch das Holz war vor ein paar Jahren entfernt worden. Wer Vierte fuhr, der hatte zu stehen.

Die Eisenbahn rollte in einem Wirbel aus Schall und Rauch in den Bahnhof ein, und manch einer dachte, die Hölle hätte sich wahrhaftig geöffnet und schickte nun ihre stinkigen Dämpfe in die Welt der Sünder, um sie an ihre wahre Bestimmung zu erinnern. Der Wagen der vierten Klasse hing am Schluss des Zuges, dort, wo die Funken stoben und die Reisenden Ruß und Staub schluckten. Während es in der Plüschklasse kaum Fahrgäste gab, war es im hintersten Wagen gerammelt voll, die Passagiere standen wie Korn zwischen Mühlsteinen, und Luise fand sich in einem wirren Gewühl aus Taschen, Säcken und Bündeln wieder, war eingeklemmt zwischen Lausbuben, Hunden, Hühnern und Wanzen, zwischen Zahnlücken, zottigen Bärten und verfilzten Locken, zwischen fleckigen Beinkleidern, abgeschabtem Leinen und ausgefransten Röcken. Sie klammerte sich an den Riemen, der von der Decke herunterhing, momentan der einzige Halt in ihrem Leben. Der Gestank menschlicher wie technischer Ausdünstungen stach ihr in die Nase, ein Gemisch aus schweißenden Füßen und nässenden Achseln, aus gärenden Säften und aus jenen Elementen, die die Welt bewegten – Eisen, Flugrost und Kohlenstaub.

Neben dem Einstieg hing ein Schild: Nicht in den Wagen spucken.

Zischend und ratternd setzte sich das Gefährt in Bewegung und durch die glaslosen Fenster, wo in den Wintermonaten Schnee und Kälte hereinwirbelten, wehte nun ein angenehmer Fahrtwind. Wie ein übergroßer Pflug räderte die Bahn durch die Landschaft und geriet am späten Nachmittag in den Sog von Berlin. Äcker und Wälder verschwanden aus dem Bild, dafür wurde das Netz aus Schienen und Straßen immer dichter, wie die Flussarme in einem Delta, und die Häuser wuchsen höher als jeder Baum. Spuckend und schnaubend fuhr die Bahn im Stettiner Bahnhof ein, kam mit einem heftigen Rucken zum Stehen, und die Passagiere ergossen sich aus den Waggons. Luise hielt sich immer noch krampfhaft an ihrem Riemen fest. Nun hatte sie doch die Angst gepackt vor diesem Moloch Stadt und der Ungewissheit, die darin lauerte.

Sie stieg als Letzte aus, musste sich durch die neuen Passagiere schieben, die bereits wieder in den Zug drängten. Unsicher sah sich Luise in der Halle um, hob ihren Kopf und staunte in das mächtige Gewölbe des riesigen Bahnhofes, in dem man ihr ganzes Dorf mitsamt der Kirche hätte unterbringen können. Sie kam sich verloren vor in diesem Eisenbahnpalast, ging schnell zum Ausgang und schlüpfte durch eines der hohen Portale ins satte Licht. Sie trat auf einen weiten Platz, schaute nach rechts, schaute nach links und dann zurück auf die hohen Rundbogen und die kantigen Türme des Bahnhofs.

Luise hielt ihr Bündel fest umklammert, als könnte es ihr ein wenig Halt bieten. So sehr sie auch nach einem Anhaltspunkt suchte – nichts als Straßen, Fassaden, Räder, Pferde und Menschen, und dann der Rauch, der sich nicht weit von hier durch die Fabrikschlote zwängte und über den Dächern waberte.

Luise wollte jemanden fragen, welche Richtung sie einschlagen solle, doch sie wusste nicht, wonach sie hätte fragen sollen, kannte nicht einmal den Namen einer einzigen Straße. Sie war auf einem fremden Planeten gelandet.


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