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D I E U N T E R S U C H U N G Viele Fragen und wenige Antworten
ОглавлениеAn einem warmen Morgen Ende August fanden sich der Direktor der Entbindungsklinik, der leitende Arzt und Professor Virchow, der mehr über siamesische Zwillinge wusste als sonst ein Arzt im Deutschen Reich, in einem Untersuchungszimmer der Entbindungsanstalt ein. Der Professor hatte sofort sein Einverständnis gegeben, sich die Hartwich-Zwillinge anzusehen. Solche Doppelmissgeburten waren derart selten, dass sich auch bei einer Kapazität wie Virchow die berufliche Neugier kaum zügeln ließ.
Der Raum, in dem sich die Männer trafen, war nur karg möbliert. Aus der Mitte erhob sich ein Tisch, speckig glänzende Holzstühle standen etwas verloren da, und in einer Ecke verstaubte ein Sessel, dessen Polster von einem ausgelaugten Grün war. Auf der Tapete hatte die Feuchtigkeit ihre Spuren gezogen und zwei Rundbogenfenster öffneten den Blick auf eine parkähnliche Anlage, hinter der die scharfkantigen Umrisse der Artillerie-Kaserne am Kupfergraben in den Himmel ragten. Die Kaserne, auf moorigen Untergrund gebaut, war nahe dem Vermodern und würde wohl, ebenso wie diese Entbindungsanstalt, bald einem neuen Gebäude weichen müssen.
Die Tür ging auf und herein kam eine junge Ordensschwester mit prallen Bäckchen und Schalk in den Mundwinkeln. Sie war eine aufrechte Frohnatur, aber die Ordensregeln hatten sie unter eine viel zu enge Haube gezwängt, ähnlich einem Vogel, der in einem zu kleinen Käfig gefangen war. Sie brachte die inzwischen knapp drei Monate alten Zwillinge und legte sie auf ein dickes weißes Kissen, das in der Mitte des Tisches lag wie ein letztes Häufchen Schnee am Waldesrand. Sie entfernte Kleider und Windeln und zog sich in eine Ecke zurück, um sich möglichst still zu verhalten, was ihr sichtlich schwerfiel.
Da lagen sie nun, diese ganz besonderen Kinder. Ein schmaler Körper, nicht anders als der eines normalen Säuglings, nur gegen oben wurde er langsam breiter. Aus den Schultern wuchsen zwei Hälse mit je einem Kopf, und an den Seiten hatte jeder Knabe einen Arm. Wenn man die Zwillinge ansah, dann waren sie auf den ersten Blick mehr als außergewöhnlich, aber auf den zweiten Blick empfand man sie weder als hässlich noch als abstoßend, ihre Körper flossen harmonisch ineinander über. Ihre Unvollkommenheit hatte etwas Perfektes.
Die Ärzte traten näher und beugten sich über die beiden, so dass die Ordensfrau, welche die Männer aus der Distanz beobachtete, an Entomologen denken musste, die sich über das seltene Exemplar eines Käfers krümmten.
»Aufsehen erregende Geschöpfe, fürwahr«, begann der leitende Arzt. »Wir denken, sie haben sich, obwohl Frühgeburten, erstaunlich gut entwickelt. Ihre Reflexe scheinen normal. Aber was uns interessiert, sind die inneren Organe, Herr Kollege. Da tappen wir ziemlich im Dunkeln.«
Sie tappten wirklich im Dunkeln, die Herren Mediziner. Selbst Dr. Wilhelm Conrad Röntgen, ordentlicher Professor für Physik an der Universität von Gießen, machte da keine Ausnahme. Seine geniale Entdeckung der X-Strahlen lag noch in weiter Ferne. Und so blieb den Doktoren das Innere des lebenden Menschen vorerst verborgen. Sie waren oft nicht viel mehr als Kartenleser in stockfinsterer Nacht, Schlafwandler, Voodoo-Priester, die aus ein paar hingeworfenen Hühnerknochen Diagnosen und Prognosen lasen.
»Sicher sind wir nur, dass sie zwei Herzen haben.«
»Hmm, hören wir uns das doch einmal an«, sagte der Professor und legte das Stethoskop auf den Rumpf der Kleinen, was sie kaum in ihrem Schlaf zu stören schien. »Richtig, es sind zwei. Faszinierend! Absolut fas-zi-nierend! Ein Körper mit zwei Herzen, die pumpen und schlagen, als wäre es die normalste Sache der Welt. Wenn man genau hinhört, kann man feststellen, dass sie nicht gleichzeitig schlagen. Wie zwei Uhren, die verschieden gehen.« Der Professor war ergriffen von dem, was er hörte. Er hatte schon so vieles gesehen, aber meist halt nur in toter Form, und wenn sich einer dieser Irrtümer der Natur auch noch bewegte, wenn sich der Brustkorb hob und senkte, wenn alles funktionstüchtig war, dann übermannte ihn dies immer wieder aufs Neue. Rudolf Virchow fasste sich und sah auf die beiden Männer. »Sie fragen mich, was mit den anderen Organen ist?«
Der Direktor und der Arzt nickten erwartungsvoll.
»Es ist zu schade, dass wir nicht in das Innere sehen können. Es wäre mit Sicherheit bemerkenswert. Und so kann auch ich nur aus Erfahrung sprechen. Doch eines vorweg: Siamesische Zwillinge sind nicht gleich siamesische Zwillinge. Die Unterschiede sind gravierend, es gibt alle möglichen Varianten, die Natur ist da ungeheuer einfallsreich. Wenn ich diese beiden hier betrachte« – der Professor zeigte auf die Brust der Neugeborenen –, »so haben sie wahrscheinlich drei Lungenflügel, und etwa ab hier dürfte sich die Wirbelsäule teilen. Dies bedeutet, jedes der Kinder hat nur über eine Seite die Kontrolle. Es bleibt offen, inwiefern sie sich abstimmen können, inwiefern eine Koordination der linken und der rechten Hälfte erfolgen kann. Aber wenn ich mir die Knaben so anschaue, dann denke ich, dass sie sich später normal bewegen können. Nun zu den Blutbahnen. Es ist anzunehmen, dass sie diese oder jene teilen, welche es genau sind, vermag ich jedoch nicht zu sagen. Das Innere solcher Zwillinge gleicht manchmal einem Nähkästchen, wenn ich das so sagen darf. Gewisse Dinge sind an ihrem Platz, die meisten Fäden schön aufgespult, aber dann ist da plötzlich ein Knäuel, das durcheinandergeraten ist, und ein paar Knöpfe sind im falschen Fach.« Der Professor machte eine Pause, um die Gläser seiner Brille mit einem blütenweißen, sorgsam gebügelten und gestärkten Taschentuch zu putzen. Die Herren sagten kein Wort, warteten geduldig.
»Ich schätze«, fuhr er fort, »dass sie nur eine Leber und wahrscheinlich zwei Nieren haben, einen Magen und eine Bauchspeicheldrüse, einen Verdauungstrakt, eine Blase, eine Harnröhre und hier die Geschlechtsteile. Aus medizinischer Sicht spricht nichts dagegen, dass sie irgendwann sogar Kinder zeugen könnten. Aber vieles bleibt vorerst Hypothese.«
Die Schwester stand mit der Miene einer schüchternen Bittstellerin in ihrer Ecke. Während sie den Ausführungen des Professors lauschte, gingen ihr abstruse Bilder durch den Kopf. Kinder zeugen? So etwas Verrücktes. Welcher wäre dann der Vater? Immerzu fehlten die Väter. Gerade hier, in dieser Entbindungsanstalt. Doch zwei Väter auf einmal, das ging nun doch zu weit. Wann hat sich der Schöpfer nur so einen Unsinn ausgedacht? Oder war es doch der Leibhaftige, der hier dem Allmächtigen ganz tüchtig ins Handwerk gepfuscht hat?
Dr. Virchow legte das Stethoskop zur Seite und wandte sich an den Direktor. »Wie ich höre, sind die beiden elternlos.«
»Genau genommen sind sie Halbwaisen«, sagte dieser. Er hatte eine seiner Stellung entsprechende Statur, überragte das gesamte Personal. »Die Mutter ist während der Geburt gestorben, der Vater ist unbekannt. Da die junge Frau keine weiteren Verwandten angegeben hat und die üblichen Nachforschungen nichts ergeben haben, werden die Kinder wohl in ein Heim überstellt.«
Der Professor sah über die Brillengläser hinweg auf den Direktor. »Das ist es also, was sie zu erwarten haben. Ein doppelt schlechter Start in ein eh schon schwieriges Leben.«
Der Leiter der Klinik wollte antworten, aber da räusperte sich im Hintergrund die Ordensschwester. Mit zerknitterter Stimme sagte sie: »In dieser Klinik haben fast alle einen schlechten Start, Herr Professor. Für die meisten beginnt hier mit dem ersten Schrei die Endstation.«
Die Ärzte schauten sie entgeistert an. Dass sie sich in diese Runde einmischte und obendrein noch mit einer solchen Aussage, war schon allerhand. Sie räusperte sich nochmals und sagte leise »’tschuldigung«, um dann wieder in der Versenkung zu verschwinden.
Der Professor nickte abwesend, konzentrierte sich dann aber wieder auf die Säuglinge. »Lassen Sie mich fortfahren. Der Rumpf sieht normal aus: zwei Arme und zwei Beine, keine Deformationen. Auch die Köpfe sind wohlgeformt. Besehen wir uns die Zwillinge als Ganzes, ist man versucht, sie als ein Kind mit zwei Köpfen zu bezeichnen, was natürlich falsch ist. Es sind Zwillinge, deren Entwicklung nur bis zur Schulter regelrecht abgeschlossen ist.«
»Sie meinen damit, dass das, was wir als abartig empfinden, also die beiden Köpfe, normal sind, während das, was wir als normal empfinden, nämlich der Körper, die eigentliche Missbildung darstellt?«, fragte der leitende Arzt.
»Genau so ist es. Die meisten denken, siamesische Zwillinge seien zusammengewachsen. Dabei ist es gerade umgekehrt, sie sind nicht auseinandergewachsen, die Teilung in zwei Individuen ist nur ungenügend vollzogen worden. Oft machen sich die Leute von solchen Doppelmissgeburten ein falsches Bild, erwarten etwas völlig Abartiges. In den meisten Fällen ist es ja auch so, dass sie wegen massiver Deformationen nicht oder bestenfalls ein paar Jahre überleben. Oder sie sind an so ungünstigen Stellen verbunden – etwa im Bereich des Gehirns –, so dass sie nur liegen können und gezwungen sind, ein unerträgliches Dasein zu fristen. Diese beiden hingegen könnten, wie ich das sehe, ein normales Leben führen, sieht man einmal von ihrer verwirrenden äußeren Erscheinung ab.«
Während er das sagte, begann einer der Säuglinge laut zu schreien, während der andere leise wimmerte.
»Ich denke, Sie können die Kinder wieder zudecken«, sagte der Klinikdirektor und winkte der Schwester, die sich diskret im Hintergrund gehalten hatte. Sie legte die Zwillinge in frische Windeln, zog sie an und löste sich dann erneut in der Tiefe des Raumes auf.
»Es ist schon erstaunlich, dass dieser Körper trotz seiner ungewöhnlichen Missbildung funktionsfähig ist«, sagte der leitende Arzt.
»In der Tat. Auf ihre Weise sind auch diese Zwillinge ein Wunder der Natur«, antwortete Professor Virchow.
»Da eine Trennung unmöglich ist, wird das Problem für diese Kinder und späteren Erwachsenen demnach hauptsächlich das Äußere sein. Ein Mensch mit zwei Köpfen wird die Umgebung zutiefst erschrecken und verunsichern.«
»Das trifft es genau, Herr Kollege. Alles, was von der Norm abweicht, macht den Menschen Angst. Selbst eine harmlose Hasenscharte oder ein Buckliger, denken wir nur an Victor Hugos bemitleidenswerte Romanfigur Quasimodo.« Rudolf Virchow lächelte. Es gab nichts, was ihn hätte erschrecken können. Und schon gar nicht der Glöckner von Notre-Dame. In seinem Cabinet gab es Dinge, die sich nicht einmal ein Victor Hugo hätte ausdenken können.
»Da haben Sie wohl recht, Professor«, sagte nun der Direktor. »In England ist ein schrecklich entstellter Mann als Attraktion auf Jahrmärkten ausgestellt worden. Wenn ich mich recht entsinne, ist sein Name Jacob, nein, Joseph Merrick. Vor allem sein Kopf ist von Wucherungen dermaßen entstellt, dass die Leute bei seinem Anblick hysterische Anfälle bekommen haben oder reihenweise in Ohnmacht gefallen sind. Die haben sich benommen, als wären sie dem Massenmörder Dr. William Palmer persönlich gegenübergestanden. Da angenommen wird, dass der arme Mann an Elefantiasis leidet, nannten sie ihn den Elefantenmenschen. Ein werbewirksamer Name, der sich auf den Plakaten von Kuriositätenkabinetten gut macht. Ein junger Arzt hat ihn vor einem oder zwei Jahren aus dieser Arena für Gaffer befreit und in eine Klinik geholt. Ein äußerst tragischer Fall, erwies sich der Merrick doch als sehr sensibel und intelligent.« Die Fehlkonstruktionen der Natur hatten den Direktor schon seit jeher gefesselt. Und nun, zusammen mit dem bekannten Virchow, nutzte er die Gelegenheit zum fachlichen Austausch.
»Sie kennen doch Chang und Eng Bunker, die Zwillinge aus Siam, nach denen das Phänomen benannt worden ist«, doppelte er nach. »Es heißt, sie führten ein erfülltes Leben, waren verheiratet und zeugten Kinder. Ich glaube, sie haben eine Trennung stets abgelehnt, obwohl eine solche möglich gewesen wäre.«
Und wieder schwirrten Gedanken durch das Hirn der Ordensfrau, die für die Herren inzwischen ganz und gar unsichtbar geworden war. Ist denn so was möglich? Verheiratet? Siamesische Zwillinge? Und haben Kinder gez…? Weiter wagte sie nicht zu denken.
»Nun, sie haben es mit ihrem körperlichen Makel zu einem gewissen Reichtum gebracht«, wandte der Klinikdirektor ein. »Sie waren eine Attraktion, haben die halbe Erde bereist, waren auch in Deutschland. Aber ein Leben als Jahrmarktattraktion wünsche ich natürlich weder diesen beiden Kindern noch sonst jemandem.«
»Ich habe Chang und Eng Bunker selbst untersucht. Das war, lassen Sie mich überlegen, vor etwa fünfzehn Jahren. In der Tat haben sie das Beste aus ihrem Leben gemacht. Aber die Bunker-Zwillinge können nicht mit diesen beiden hier verglichen werden. Sie waren nur durch eine Art Lappen im Bauchbereich miteinander verbunden. Diese Brüder hier haben ganz andere Voraussetzungen: Sie müssen sich nicht nur ein Leben, sondern auch einen Körper teilen.«
Für kurze Zeit blieb es still in dem Zimmer. Die Anwesenden schauten nachdenklich auf die Kinder, die im Licht der Sonne den friedlichen Schlaf der Neugeborenen schliefen.
Langsam drehte sich Professor Virchow wieder von den Säuglingen ab, hin zu den Ärzten. »Ich beschäftige mich nun seit Jahrzehnten mit allem Abartigen, was die Natur zu bieten hat. Zumeist sind es jedoch anonyme Präparate, nummerierte Schädel, Skelette, Knochen und Organe. Jedes Mal wenn ich den Launen der Natur in lebender Form gegenüberstehe, wie in diesem Fall hier und jetzt, spüre ich wieder, dass meine Arbeit einen Sinn hat. Es ist und wird immer mein Ziel bleiben, jedem Studenten, jedem Mediziner und jedem Forscher zu ermöglichen, sein Wissen am Objekt zu vervollständigen. Und ich hoffe, eines Tages werden wir in der Lage sein, diese Launen der Natur in den Griff zu bekommen.«
»Ich weiß nicht, Herr Professor, aber vielleicht ist da auch ein wenig Gottes Hand im Spiel«, tönte es aus der Tiefe des Raumes. Die junge Ordensfrau hatte sich noch einmal vorgewagt. Ihr war es plötzlich egal, ob es den Herren passte oder nicht, dass sie sich zu Wort meldete. Es gab schließlich nur einen, der ihr sagte, ob sie reden durfte oder zu schweigen hatte, und der stand weit über all diesen gescheiten Doktoren.
»Schon, aber wir könnten vielleicht dafür sorgen, dass wir nicht völlig aus dem Spiel sind«, sagte der Professor mit einem Schmunzeln.
Während die Zwillinge wieder in ihr Zimmer gebracht wurden, standen ein Architekt und zwei Beamte vor der Entbindungsanstalt. In ihren Händen hielten sie Pläne, die wie Laken im lauen Wind flatterten. Vielleicht würde das Gebäude, wenn man da und dort etwas renovierte, doch noch überleben. Das Schicksal kann manchmal unvorhersehbare Wendungen nehmen.