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D E R N U S S B A U M Die Fischerstraße Nr. 21 und das Schicksal

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Die Fischerstraße ging vom Cöllnischen Fischmarkt ab und gehörte zu den ältesten Straßen Berlins. Wie kaum eine andere Schenke an der Spree hatte die Nummer 21 Kneipengeschichte zu erzählen, eine Inschrift im Keller verwies auf das Baujahr 1571. Bereits damals war an diesem Ort deftig gebechert worden, und die gierigen Kehlen hätten bis weit über die Dämmerung hinaus nach Gerstengebräu gekräht, wäre nicht der Trommler vorbeigekommen, der den Ausschankschluss verkündete, und der Amtsdiener, der auf jeden Zapfhahn einen Kreidestrich machte, um am nächsten Morgen zu kontrollieren, ob der Hahn nicht doch noch einmal betätigt worden war.

Es war die Zeit der Doppelstadt Berlin-Cölln, Johann Georg war zum Kurfürsten ausgerufen worden, im Grauen Kloster richtete sich das erste Gymnasium ein, und die erste Wasserleitung nahm ihren Dienst auf. Aber es war auch jene Zeit, als dem kurfürstlichen Münzmeister und Juden Lippold wegen Ketzerei und angeblicher Vergiftung des alten Kurfürsten der Prozess gemacht wurde. Eine einzige Hetzjagd, die damit endete, dass der Unschuldige vom Scharfrichter (Meister Balzer genannt) vor dem Rathaus bestialisch gefoltert wurde, bis ihm das Bluet zum Halse ausgelauffen sey. Danach schleifte man den Gepeinigten durch die vornehmsten Straßen Berlins und Cöllns – zu denen die Fischerstraße schon damals nicht gehörte –, um ihn auf dem Neuen Markt vor johlendem Pöbel mit Zangen zu martern, zu rädern, aufzuschneiden, seine in Viertel geteilten Überreste an Galgen zu henken und seinen Kopf auf St. Georgens Tor aufzuspießen. Ein schrecklicher Justizmord, der zur Folge hatte, dass wie schon 1510 wieder einmal die Juden aus der Mark vertrieben wurden.

Kaum dass der arme Lippold hingerichtet worden war, fraß sich die Pest durch Berlin und Cölln und nahm viertausend Seelen mit, gleichgültig, ob sie noch an der Nabelschnur hingen oder bereits mit einem Fuß im Grab standen. Dumm nur, dass keine Juden mehr da waren, denen man wie üblich die Schuld an diesem Sterben hätte zuschieben können.

Hinrichtungen, Seuchen und allen anderen Nöten zum Trotz wurde im Gasthaus in der Fischerstraße Nummer 21 stets tüchtig gebechert und gejohlt, auf dass man für ein paar Stunden die schweren Zeiten vergessen konnte.

Jahrhunderte später gab es in Berlin einige Wasserleitungen mehr und auch wieder zahlreiche Juden. Zwar waren Pest, Scharfrichter und Marter längst Vergangenheit, die industrialisierten Leiden waren anderer Natur, aber das Leben war immer noch hart.

Die Schenke nannte sich seit einiger Zeit Restaurant zum Nussbaum. Jetzt, am Abend, war die Gaststube randvoll mit Hinz und Kunz, mit dem kleinen Mann und mit der alten Schlampe, mit dem gemeinen Volk, mit Pöbel und auch mit etwas Gesindel. Es wurde geschwatzt und geschnattert, und manch eine Berliner Schnauze lief zur Höchstform auf.

»He, Minna, ollet Haus, bring janz schnell ’ne Molle un ’n Korn rüba, sonst tu ick hier noch uff ’m Trockenen verreck’n wie ’n Fisch an ’m Ufer vonner Spree, tu ick, hicks!«, rief ein runzliger Alter, mehr Lücken als Zähne im Mund, und hielt seinen gekrümmten Arm, der einige Gemeinsamkeiten mit einem morschen Ast aufwies, in die Höhe. Hinter dem Tresen stand Minna, Übermutter und General in Personalunion, ihre stämmigen Arme angriffig in den Seiten. »Mach nich so ’n Wirbel, Männeken. Hast schon jenug jehabt.«

In seiner Ecke saß wie gewohnt der sechsundzwanzigjährige Heinrich Zille. Er war ein unauffälliger Gast. Meist trank er ein Schultheiss, das es nun auch in diesen praktischen Flaschen gab. Doch es war nicht nur das Bier, es waren die Hinterhofgesichter, die ihn in den Nussbaum zogen. So wie etwa die grobe Visage, die in Plötzensee elf Monate lang Striche in die narbige Zellenwand geritzt hatte und ihm nun gegenübersaß. Das Gesicht des Mannes erinnerte ihn irgendwie an den Eisbock am Schlesischen Tor, dieses Unding von einem Gebäude, kaum größer als ein Felsblock, geschundene Fassade und zwei Fenster, stumpf und ausdruckslos wie die Augen des Exsträflings, und mittendrin eine Tür, schief und krumm wie dessen gebrochene Nase.

Zille war Karikaturist und ein scharfer Beobachter der Berliner Randgesellschaft. Er studierte das Leben, wie es soff, johlte und feierte, wie es schluchzte, rumhurte und fluchte. Er zeichnete Faltige und Narbengesichter, das Alter und die verkaufte Jugend, kleine Leute in rauem Zwirn, Dirnen und Wäscherinnen mit fetten Hinterteilen, Kinder mit Zahnweh, Mütter ohne Bleibe, Straßenköter beim Pinkeln, den Mann mit dem Leierkasten, Trockenwohner beim Umzug, Waschweiber beim Tratschen und ausgebuffte Spitzbuben beim Mopsen – die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Die vornehmen Herrschaften interessierten ihn nicht. Die würden alle gleich aussehen, sagte er, ihre Gesichter hätten nichts zu erzählen, seien Bücher mit leeren Seiten.

Ursprünglich sollte Heinrich Schlachter werden, Hammel und Kälber zerlegen und Koteletts aus Schweinen schneiden. Ein blutiges Metier, aus dem er floh wie ein Deserteur von den Schlachtfeldern. Das Schicksal hatte ein Einsehen mit ihm, und er kam zu Meister Hecht in die Lehre, wo er das Handwerk des Kunstmalers erlernte. Das Atelier in der Alten Jakobstraße lag zwei Stockwerke über dem stadtbekannten Ballhaus Orpheus, wo reichlich sonderbare Gestalten ein- und ausgingen. Seltsame Herrschaften, die der junge Zille nicht nur aufmerksam beobachtete, sondern in seiner Freizeit auch mit Hingabe zeichnete.

Im Atelier Hecht konnte man mit derlei Figuren nichts anfangen, denn das deutsche Volk dürstete mehr nach dem Heroischen. Da sich kaum jemand Originale leisten konnte, wurden billige Reproduktionen in ansehnlichen Stückzahlen gedruckt. Das Bedürfnis war tatsächlich groß, denn die deutschen Wände waren alles andere als makellos – Stockflecken waren noch das Mindeste, und darüber machte sich natürlich etwas Kunst ganz gut. Meister Hecht und seinem Malerlehrling Heinrich war die heikle Aufgabe zuteil geworden, passende Vorlagen für diese Drucke zu liefern. Gemeinsam malten sie jahraus, jahrein das, was sich am besten verkaufte: Helden. Helden in der Schlacht und Helden nach der Schlacht, blonde Helden mit blauen Augen und gelegentlich auch dunkelhaarige Helden mit braunen Augen, Helden in Heldenpose und heldenhafte Helden, Helden mit Heldenblick und sterbende Helden in den Armen barmherziger Samariter (ein nicht sonderlich begehrtes Sujet, das bald aus dem Angebot fiel), Helden auf Pferden und Helden neben Pferden, Helden, die keiner kannte, und Helden, die gar keine Helden waren. Ab und zu sorgten der Hl. Martin zu Pferd und Jesus als gütiger Hirte für etwas Abwechslung im üblichen Heldenprogramm der Malerwerkstatt.

Eines aber war schon bald klar: Helden waren nichts für Heinrich.

Es war schon spät, als Zille den Nussbaum verließ. Sein Kopf war voll mit Ideen, die er in den nächsten Tagen zu Papier bringen wollte. Er würde Antihelden beim Saufen und Antihelden nach dem Saufen zeichnen, Antihelden mit zerzaustem Haar und Antihelden ohne Haar, Antihelden mit dicken Bäuchen und Antihelden mit platten Bäuchen, Antihelden neben Dirnen und Antihelden auf Dirnen. Wenn es in dieser Stadt von etwas zuhauf gab, dann waren es Antihelden.


Als Luise am nächsten Morgen durch die Gassen schritt, ihren Umhang fest um den Körper gezogen, lag Laub auf den Straßen. Nicht viel, denn in ihrem Viertel gab es kaum Bäume. Der übellaunige Oktober hatte den Sommer endgültig zur Stadt hinausgejagt, diesen Taugenichts, der nichts im Sinn hatte außer Leichtsinn und Muße. Luise schmeckte bereits den Winter. Sie brauchte so rasch als möglich Arbeit und eine neue Bleibe. Im jetzigen Loch würde auch ihre Lunge schon bald rasseln wie die ihrer Zimmergenossin.

Der Nussbaum stand am Ende einer Häuserzeile. Es war ein bescheidenes Haus, nur drei Geschosse hoch und mit einem rußgeschwärzten Äußeren nicht anders als die Gesichter der Kumpels in den Bergwerken. Das Dach ragte steil auf, und ein paar kleine Fenster starrten von der Fassade. Davor gab es einen Eckgarten, kaum größer als ein halbes Zimmer, in dem ein kümmerlicher Baum wuchs. Es war kein Nussbaum. Über der Tür war der Name der Kneipe auf das Gemäuer gemalt. Schwarze Lettern mit roten Initialen auf hellem Grund erinnerten an bessere Zeiten: RESTAURANT ZUM NUSSBAUM. Aus dem Restaurant jedoch war längst eine Destille geworden.

Die Tür stand offen. Unsicher ging Luise hinein. Es fiel nur wenig Licht in den Raum, in dem der Wirt die Tische säuberte und seine Frau Minna hinter der Theke hantierte.

»Juten Morgen. Ick bin Luise Hartwich. Sie suchen ’ne Arbeitskraft?«

Wirt und Wirtin sahen nicht auf. Luise wartete.

»Aha. Bist det Mädchen vom Land?«, sagte plötzlich der Mann. Aber er sah nach wie vor stur auf seine geschäftigen Hände, die mit dem Lappen das grobe Holz bearbeiteten.

»Ja. Komme aus er Uckermark. Habe auf ’m Feld jeholfen und auf ’m Hof, hab meene Geschwister versorgt und auf ’m Markt Waren verkooft. Ick kann anpacken.«

»Aha«, sagte er wieder, hob nun endlich den Kopf und musterte sie kurz. Er war ein unkomplizierter Mann, auf Empfehlungsschreiben pfiff er. Die konnte man sich zur Not auch beschaffen. Er hatte mehr Menschenkenntnis als all diese Kakerlaken von den Stellenvermittlungsbüros zusammen. Er würde es merken, wenn eine vor ihm stand, die er gebrauchen konnte. Während der letzten Tage waren allerhand Frauenzimmer aufgekreuzt. Das war vielleicht ein Spektakel gewesen! Keine konnte man gebrauchen. Aber diese junge Frau da, die etwas schüchtern vor ihm stand, die machte einen anständigen Eindruck. Und sie war hübsch. An einem Ort wie diesem konnte etwas Schönheit nicht schaden. Wenn sie zudem nicht faul war, wär sie ein echter Glücksgriff.

»Na denn, junges Fräulein. Kannst gleech anfangen, un wenn det jut machst, kannste bleeben. Es jibt zehn Mark im Monat, wenn de Jeschirr zerschlägst, wird’s dir vom Lohn abjezojen«, sagte er und putzte weiter.

»Deene Schlafkammer is unterhalb vom Dach, schön trocken, un zu essen jibts jenuch«, fügte die Wirtin an, die aus ihrer gebeugten Haltung in die Gerade übergegangen war und nun groß wie ein Luftschiff dastand. »Könntest wat um die Hüften vertrajen, Mädchen. Hier haste ’ne Schürze, un dann mach de Gläser ordentlich sauber!«

Luise arbeitete nun schon seit einem halben Jahr im Nussbaum. Wirt und Wirtin waren anständige Leute, es gab gutes Essen und regelmäßig Lohn.

Der April war ein verdrießlicher Monat, ganz und gar nicht zu Freundlichkeiten aufgelegt, und in Berlin wartete man ungeduldig auf den Mai. Doch das hatte weniger mit dem Wetter zu tun als mit der bevorstehenden Vermählung zwischen Prinzessin Marie von Preußen und Prinz Albert von Sachsen-Altenburg.

Ach, sagte Luise, Hochzeiten seien so was von romantisch, sie müsse weinen, wenn sie nur schon daran denke, während die Wirtin murrte, bei den ganzen Blaublütern gehe es doch nie um Liebe und am allerwenigsten um Romantik, sondern lediglich um Namen, einen von Soundso und eine von und zu Irgendwas. Der Wirt ignorierte diesen ganzen Klatsch. Es gab wichtigere Dinge. Fußball zum Beispiel. Wie er gehört hatte, sollte der erste Berliner Fußballverein gegründet werden. Ein Fußballverein, der sinnigerweise Berliner Fußballclub Frankfurt heißen sollte und in dem nicht Fußball, sondern Rugby gespielt wurde. Doch solche Details scherten den Mann nicht.

Noch bevor die adlige Verbindung und die sportliche Gründung vollzogen waren, betrat ein junger Mann den Nussbaum. Es waren nur wenige Gäste in der Schankstube. Ein paar Arbeiter ohne Arbeit spielten Karten, eine alte Jungfer schlürfte ihren Tee – Tee wurde im Nussbaum so gut wie nie bestellt –, der Schuster von nebenan debattierte mit dem Wirt über Fußball und Rugby, und Zille, der unauffällige Beobachter, saß diesmal schon am Tage an seinem Stammplatz.

Der Fremde war eindeutig zu gut gekleidet für den Nussbaum, und die Gäste hielten kurz inne und drehten ihre Köpfe. Doch nach ein bisschen Glotzen widmete man sich wieder dem Sport, dem Spiel und der Teetasse.

Luise kam der Gast irgendwie bekannt vor, aber sie konnte sich nicht erinnern, dass er schon einmal hier gewesen wäre. Er bestellte Wein. Als sie ihm das Glas an den Tisch brachte, fixierte er sie mit sichtlichem Wohlgefallen.

»Hab ich nicht gesagt, dass wir uns wiedersehen?«

Vor Luise tauchten schemenhaft Bilder auf: Madame, die Villa, die Bewerberinnen und der junge Mann mit seinem Grinsen. Was wollte er hier? Und vor allem, was wollte er von ihr?

»Ich erinnere mich. Se war’n in dem herrschaftlichen Haus. Aber warum sollten wir uns wiederseh’n? Braucht Madame ’n neues Dienstmädchen oder noch ’ne Küchenhilfe?«, fragte sie spitz.

Der junge Mann ging nicht auf ihre Stichelei ein. »Sie können sich also erinnern. Ich weiß, dass ich bei Frauen stets einen bleibenden Eindruck hinterlasse.«

»Se war’n ja nich zu überseh’n, damals.«

Er zuckte nur mit den Schultern.

Luise sah ihm ins Gesicht. Er war schön, aber er wirkte fordernd und überheblich, und eine seltsame Kälte umgab ihn.

»Was wolln Se denn von mir?«, fragte sie so gleichgültig wie möglich.

»Ich weiß noch nicht. Das Schicksal ist erfinderisch.«

Sie schaute ihn mit hochgezogenen Brauen an. So viel Arroganz war ihr noch nie begegnet.

»Wie hamn Se mich jefunden?«

»Wozu hat man Personal? Es war nicht schwierig für unseren Stallburschen, Ihnen zu folgen. Er schätzt solche Abwechslung. Im Frauenverein hat man mir auch gern Auskunft gegeben.«

Luise drehte sich ab und ließ ihn allein am Tisch sitzen. Sie tat, als würde sie weiter ihre Arbeit machen, aber sie spürte, wie er sich zurücklehnte und sie beobachtete. Er tastete ihren Körper mit seinen Blicken ab, ein Schneider, der Maß nimmt. Sie gefiel ihm, mehr, als er sich eingestehen wollte. Ohne Eile trank er den Wein und dann, ganz plötzlich, stand er auf und warf einige Münzen neben das leere Glas. Er ging zur Ausgangstür, drehte sich aber im letzten Moment noch einmal um und sah Luise in die Augen. Seine Augen waren von einem frostigen Blau. Dann verließ er die Kneipe.

Sie sah ihm nach. Was sollte das? Sie verstand gar nichts, drehte sich um und verschwand in der Küche. Sie stemmte sich mit dem Rücken gegen die Tür, ihre Handflächen waren feucht, und ihr war, als würde ihr Herz gleich vor Aufregung etwas Dummes machen, zerspringen oder zerplatzen oder in sich zusammenfallen.

Als sie zurück in die Gaststube ging, war alles wie zuvor. Nur stritten sich die Kartenspieler inzwischen über die Auslegung der Spielregeln, der Wirt und der Schuster waren beim Thema Wannsee angelangt, wo die Villen bald zahlreicher waren als die Enten, die darauf herumschwammen, die Jungfer bestellte noch eine Tasse Tee. »Wahrscheenlich is es der Majen oder es sin die Jedärme«, flüsterte die Wirtin in Luises Richtung, während Zille seelenruhig in seiner Ecke hinter einem unschuldigen Tabakwölkchen saß.

Der Sommer kam, nicht so heiß wie der letzte. Luise hatte den Sohn des Industriellen längst in jene Winkel ihres Hirns gedrängt, wo sich Erinnerung und Vergessen übereinanderschoben, da war er plötzlich wieder im Nussbaum aufgetaucht. Und nur drei Wochen später hatte sich zwischen ihr und dem jungen Mann eine heftige Affäre entwickelt. Sie geriet in einen Strudel, aus dem sie sich nicht mehr zu befreien wusste, verhedderte sich in einem Abenteuer, von dem sie keine Ahnung hatte, wohin es führen würde. Der Boden war ihr unter den Füßen weggezogen worden, und nun schwebte sie über einem schrecklichen Abgrund, in den sie zu stürzen drohte. Sie konnte sich selbst nicht erklären, wie sie in diese Situation geraten war. Immerzu hatte sie geglaubt, dass sie ihre Gefühle lenken könne. Nichts war für sie leichter gewesen, als den zahlreichen Annäherungsversuchen der jungen Spunde und älteren Herren zu widerstehen, sie suchte keine belanglosen Liebesepisoden, die sich aneinanderreihten wie die Tage eines Monats. Sie hatte immer geglaubt, sie würde den Richtigen erkennen, wenn er vor ihr stehen würde. Nun war alles anders gekommen. Dieser Mann war nicht der Richtige. Sie wusste es, und doch lieferte sie sich ihm aus. Er hatte sie aufgeweckt, und all die Jahre, die sie in einem künstlichen Koma verbracht hatte, frei von Liebe und Zärtlichkeit, waren nur noch ein unbedeutendes Stück Vergangenheit. In seiner Nähe spürte sie den Pulsschlag des Lebens. Sie genoss seine Leidenschaft, seinen Duft, seine Worte, die er ihr ins Ohr flüsterte, und sie sehnte sich nach seinen starken Händen, die ihren Körper erkundeten. Er war ein Meister der Verführung, aber in seinem Leben existierte nur er selbst. Sie spürte das, und doch konnte sie sich ihm nicht entziehen. Niemand konnte das.

Luise befand sich in einem Zustand der Schwerelosigkeit, liebte bedingungslos und leidenschaftlich. Doch darüber reden konnte sie mit niemandem. Er wollte das nicht. Sie hielt sich an seine Spielregeln, war sicher, niemand ahnte auch nur das Geringste von ihrer Liebe zu dem Industriellensohn.

Luise erregte, so musste sich auch der junge Mann eingestehen, all seine Sinne. Mit ihr konnte er seine Begierden und Wünsche ausleben, sie in ihrer schäbigen Kammer verführen, in einer Droschke oder in einem jener Hotels, wo die Portiers blind und taub waren, nur mit zittrigen Fingern gierig nach dem Geldschein grabschten und die Zimmerschlüssel mit einem kratzenden Geräusch über die Theke schoben. Mit ihr konnte er in das verruchteste aller Varietétheater gehen und ihr im Halbdunkel ungeniert zwischen die Schenkel greifen, sie im Zoo mit einer solchen Leidenschaft küssen, dass selbst die Paviane kreischend in ihren Käfigen hin und her sprangen, oder sie in eine Kirche ziehen und in einen Beichtstuhl drücken, wo er ihr den Rock hochschob. Er konnte ihr ein hübsches Kleid schenken und mit ihr aufs Land fahren, als wären sie ein biederes Brautpaar, nur um mit ihr am nächsten Abend in einer der heruntergekommenen Spelunken zu schmusen wie mit einem billigen Flittchen. Luise machte alles mit. Sie war frei von Eifersucht, sprach nie von der großen Liebe oder gar vom Heiraten. Er lenkte sie, und sie ließ ihn gewähren. Sie war sein Gegenstück, irgendwie rein, ehrlich und frei von düsteren Gedanken. Sie war all das, was er nie sein würde. Und er wusste, er besaß diese Macht über Menschen, und vor allem über die Frauen.

Obwohl sich der Sohn des Industriellen nach wie vor wenig um Konventionen scherte, blieb er vorsichtig. Niemals hätte sein alter Herr eine solche Verbindung toleriert. Man erwartete von ihm die Leitung eines großen Unternehmens, und dazu gehörte eine Frau von Stand. Er hörte schon seinen Vater schnarren: »Was? Du machst mit einem Frauenzimmer rum, das in einer heruntergekommenen Destille miesen Fusel über die Theke schiebt, das aus einem verlotterten Kaff kommt und dazu auch noch aus dieser gottverfluchten Uckermark. Hat sie wenigstens einen Adelstitel?«

Natürlich war er vorsichtig, aber den jungen Mann reizte auch das Versteckspiel, das Kribbeln des Verbotenen und Heimlichen. Eine offene Romanze hielt er für fade. Das steife Promenieren mit einer Verlobten am Arm, dieses alberne Kopfnicken, wenn man jemandem Unter den Linden oder auf der Friedrichstraße begegnete, diese Demonstration des Durchschnittlichen – allein schon die Vorstellung ließ ihn erschaudern.

Nach knapp fünf Monaten spürte er mit Unbehagen, dass er dieses Mädchen vom Lande gern hatte. Aber zugleich spürte er auch eine Sättigung. An einem Montag – auf den Dächern lag ein Hauch Neujahrsschnee – verließ er Luise, verschwand so unvermittelt, wie er gekommen war, während sie dahintrieb, eine Schiffbrüchige, die keine Ahnung hatte, ob sie je wieder Festland erreichen würde. Denn Luise war im dritten Monat schwanger.

So lange wie möglich versuchte sie zu verbergen, dass sie in anderen Umständen war. Doch dann, als ihre Rundungen unübersehbar wurden, stellte sie der Wirt zur Rede. Es war an einem späten Abend, die Gaststube war leer, und das letzte Glas stand gereinigt und abgetrocknet im Regal. Ihre Hände verkrallten sich in die Schürze, ihr Hals war wie verknotet. Tränen liefen über ihre geröteten Wangen und zogen eine glänzende Spur in ihr makelloses Gesicht. Sie wusste, dass sie hier, im Nussbaum, ihr winziges Stückchen Glück gefunden hatte. Einen Ort, der ihr Sicherheit gab, vielleicht sogar ein Zuhause.

»Wat haste da nur anjestellt, Luise? Dat de Leute reden tun, is mir ejal. Wat denkste, wie det is, mit ’nem kleenen Hosenmatz und so janz ohne Ehemann? Du kannst bleeben, solange det jut jeht mit deene andere Umstände. Aber dann, so leid det mir tut, Luise, dann musste dir nach wat anderem umsehn.«

Luise wusste, dass sie von ihrem Liebhaber nichts zu erwarten hatte. Im Geheimratsviertel würde ihr das Personal die Tür vor dem dicken Bauch zuschlagen. Was wollte diese Mamsell bloß von dem jungen Herrn? Die Hure sollte sich fortscheren mit ihrem Bastard. In Luise sträubte sich alles, ihm ein Kind aufzuzwängen. Er lebte sein Leben, und sie musste das ihre leben. Natürlich hatte sie auch daran gedacht, beim Frauenverein Rat zu holen. Aber eine schwangere und ledige Hilfskraft war schwieriger zu vermitteln als eine siebzigjährige Alte mit Arthrose in den Knochen. Henriette konnte sie auch nicht um Hilfe bitten, die hatte sie seit zwei Jahren nicht gesehen. Und nach Hause fahren? Niemals. Mutter hätte sie mit dem Besen verjagt und gezürnt, Luzifers Braut wolle man nicht in der Uckermark, sie solle sich zurück in die Hölle scheren.

Luise blieb im Nussbaum und machte ihre Arbeit. Ab dem sechsten Monat – die Säfte begannen sich in dem Baum vor dem Gasthaus zu regen, und ein erstes zaghaftes Grün deutete den Frühling an – wurde ihr zunehmend schwindelig, und sie litt unter Krämpfen in den Beinen. Der Wirt zahlte sie aus und legte noch etwas obendrauf, so dass es reichen sollte bis zur Niederkunft. An einem regnerischen Tag verließ sie das Haus Nummer 21 in der Fischerstraße und mietete sich in einer Schlafstube ein, wo sie mit zwei Frauen und vier Kindern hauste. Ein Zimmer in einem mausgrauen Hinterhaus, in dem sich die Betten türmten und Wäscheleinen kreuz und quer im Raum hingen wie riesige Spinnweben.


Leo&Ludwig

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