Читать книгу Mördersuche am Strand: 10 Ferienkrimis - Don Pendleton - Страница 36
Ein Kommissar läuft Amok von Alfred Bekker
ОглавлениеEin Kubinke Krimi
Der Umfang dieses Buchs entspricht 117 Taschenbuchseiten.
Der Essener Kriminalbeamte Kevin Marenberg taumelt in ein Einkaufszentrum und schießt plötzlich wahllos um sich. Kriminalhauptkommissar Gerd Thormann, der dort jemanden beschattet, wie er später seine dortige Anwesenheit erklärt, greift in das Geschehen ein und erschießt seinen Vorgesetzten.
Doch warum lief Marenberg Amok?
Das sollen die beiden Ermittler Harry Kubinke und Rudi Meier herausfinden.
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© Roman by Author /COVER STEVE MAYER
© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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1
Essen, Happy-Family-Einkaufszentrum …
Kevin Marenberg taumelte in das Einkaufszentrum. Die Augen waren weit aufgerissen. Wie im Wahn. Er riss einen Ständer mit Postkarten um, der krachend zu Boden fiel. Einige Passanten drehten sich jetzt nach ihm.
Ein Irrer.
Das musste der erste Eindruck bei jedem sein, der ihn jetzt sah.
Marenberg löste mit der linken Hand den ersten Hemdknopf und dann die Krawatte, während die rechte Hand unter das Jackett griff und eine Waffe hervorzog. Schweißperlen glänzten auf Marenbergs Stirn.
Sein Gesicht wirkte wie eine entstellte Fratze.
Er stieß einen dumpfen, kaum noch menschlichen Laut aus.
Er wirbelte jetzt herum, hatte dabei sichtlich Mühe, das Gleichgewicht zu halten und feuerte gleich drei Schüsse kurz hintereinander mit seiner Pistole ab. Mehrere Schreie gellten.
Marenberg gab einen weiteren Schuss ab.
Und noch einen.
“Hilfe!”, schrie jemand.
Der Zeitschriftenhändler duckte sich gerade noch rechtzeitig hinter seinen Tresen, bevor gleich mehrere Kugeln über ihn hinwegschossen und sich in die Regale brannten.
„Ein Amokläufer!”, schrie eine Frau.
Kevin Marenberg stolperte vorwärts.
In seinem Gesicht zuckte es unruhig.
Die Pupillen waren riesig.
Der Schweiß perlte nur so Stirn und Wangen hinunter.
Er fasste die Waffe jetzt mit beiden Händen. Wie die rote Zunge eines Drachen leckte jetzt das Mündungsfeuer aus dem Lauf, als er erneut schoss. Ein Mann vom Sicherheitsdienst der privaten Sicherheitsfirma, die mit der Bewachung des Happy-Family-Einkaufszentrums von Essen beauftragt war, bekam eine der Kugeln genau in die Stirn, ehe er zum Walkie-Talkie und der Dienstwaffe greifen konnte. Er sackte in sich zusammen und blieb regungslos liegen. Ein paar Meter weiter lag ein Mann am Boden, der von einem Querschläger getroffen worden war. Sein rechtes Hosenbein war dunkelrot geworden. Er konnte nicht aufstehen und versuchte die Blutung mit den Händen zu stoppen. Mit angstgeweiteten Augen sah er auf.
Der Amokschütze drückte erneut ab.
Er stieß einen Laut aus, der wie Knurren klang.
Scheinbar wahllos ballerte er herum.
Die Projektile zischten durch die Luft.
Glasscheiben splitterten. Die Dachfenster, durch die Tageslicht in das Einkaufszentrum fiel, zerbarsten. Ein Regen aus Glasscherben kam herab.
Irgendwo schrie ein Kleinkind, was den Schützen offenbar dazu veranlasste, sich erneut umzudrehen. Suchend schweifte sein Blick. Die Mündung seiner Waffe wirbelte herum.
„Polizei! Lassen Sie die Waffe fallen!”, rief ein Mann im grauen Dreiteiler. Sein Haar war aschblond und kurz geschoren. In der Faust hielt er seine Dienstwaffe. Ein Polizist in Zivil.
Für einen Moment hing alles in der Schwebe.
Kevin Marenberg blinzelte. Dann winkelte er den Arm mit der Waffe an. Im nächsten Moment trafen ihn mehrere Schüsse. Drei in den Oberkörper, ein vierter in den Kopf. Die Wucht der Geschosse ließ Marenberg zurücktaumeln. Er schwankte, hielt sich noch einen Moment auf den Beinen, ehe er dann schließlich der Länge nach mit einem dumpfen Geräusch hinfiel.
Eine Blutlache bildete sich.
2
Der Mann mit dem dreiteiligen Anzug näherte sich dem Toten und richtete dabei nach wie vor die Waffe auf den am Boden liegenden Amokschützen. Dieser krallte noch immer seine Hand um den Griff seiner Waffe. Erst als der Mann im Dreiteiler sie Marenberg aus der Hand nehmen konnte, schien er sich etwas zu beruhigen.
Von mehreren Seiten kamen nun Sicherheitskräfte des privaten Security Service zum Ort des Geschehens. Sie näherten sich mit gezogenen Dienstwaffen.
Der Mann im Dreiteiler beugte sich da bereits über die Leiche.
„Wer sind Sie?”, fragte einer der Security-Männer, die sich jetzt von allen Seiten mit der Waffe in der Hand näherten.
„Kriminalhauptkommissar Thormann, Kripo Essen”, sagte der Mann im grauen Dreiteiler. „Und dieser Mann hier ist mein Chef, Dienststellenleiter Kevin Marenberg.”
Thormann nahm dem Toten vorsichtig seinen Ausweis aus der Tasche.
„Lassen Sie alles wie es ist und legen Sie Ihre Waffe auf den Boden!”, befahl einer der Sicherheitsleute. „Sofort!”
„Aber ich habe Ihnen doch gesagt, ich …”
„Das werden wir überprüfen”, kam es zurück.
3
An diesem Morgen fuhren mein Kollege Rudi Meier und ich nach Quardenburg. Von Berlin aus kann man die Strecke in einer Dreiviertelstunde schaffen. Zumindest sagt das der Routenplaner. Man sollte aber besser die doppelte Zeit einplanen und das hatten wir auch.
In Quardenburg arbeitete das Ermittlungsteam Erkennungsdienst, dessen Dienste uns in unserer Funktion als BKA-Kriminalinspektoren zur Verfügung standen. Ihre Labore waren der Akademie des Bundeskriminalamtes inQuardenburg angegliedert.
Kriminaldirektor Hoch hatte uns auf einen neuen Fall angesetzt, der wirklich rätselhaft war und selbst für uns, die wir täglich mit alle nur erdenkliche Arten des Verbrechens konfrontiert sind, eine Besonderheit.
Das Besondere war: Täter wie Opfer waren Kollegen.
Das kam nicht oft vor.
Ein besonderer Fall also.
Sehr besonders.
Kevin Marenberg war wild um sich schießend durch ein Einkaufszentrum in Essen gelaufen, hatte dabei einen Menschen getötet und mehrere verletzt. Einem Amokläufer gleich hatte er scheinbar wahllos auf alles gefeuert, was sich bewegte.
Marenberg war allerdings nicht nur irgendein Kriminalhauptkommissar. Er war der Chef der Kriminalpolizei Essen gewesen. Und ausgerechnet einer seiner Kollegen, ein gewisser Kriminalhauptkommissar Gerd Thormann, hatte seinen Amoklauf mit mehreren Schüssen gestoppt.
Niemand hatte bisher eine plausible Erklärung für die Hintergründe dieses Dramas. Was hatte Kevin Marenberg dazu veranlasst, sich scheinbar völlig unkontrolliert und enthemmt in einer Orgie der Gewalt zu ergehen? Ein Mann immerhin, der sein ganzes bisheriges Leben dem Einsatz gegen das Verbrechen gewidmet hatte.
Hatte er unter Drogen gestanden? Gab es Anzeichen für eine unerkannte psychische Erkrankung? All das würden wir überprüfen müssen. Die Medien ergingen sich schon jetzt in Spekulationen aller Art. Eine Reihe von spektakulären Fällen von ungerechtfertigter Polizeigewalt haben in letzter Zeit in Deutschland Schlagzeilen gemacht. Die Medien waren natürlich entsprechend sensibilisiert und auch in diesem Fall sofort eingestiegen, auch wenn er mit dieser Art von Vorkommnissen wohl nicht vergleichbar war.
Ich beschleunigte den Dienst-Porsche etwas, aber nur bis zur zulässigen Höchstgeschwindigkeit. Strecken, auf denen man so ein Fahrzeug richtig ausfahren kann, gibt es so gut wie nirgendwo.
„Kollege Kevin Marenberg wurde immer als ruhiger, besonnener Typ beschrieben“, sagte Rudi, der während der Fahrt ein paar Unterlagen auf seinem Laptop gelesen hatte. Insbesondere natürlich das, was man inzwischen über das Datenverbundsystem des BKA zu diesem Fall abrufen konnte, aber zusätzlich auch die ersten Vernehmungsprotokolle, dazu dienstliche Beurteilungen von Vorgesetzten und was es sonst noch so gab. „Also, wenn du mich fragst, dann liegt eine pharmakologische Erklärung für diesen Ausbruch von Irrsinn am nächsten.“
„Du meinst, eine Medikamenten- beziehungsweise Drogenvergiftung“, sagte ich.
„Du kannst dieser Sache verschiedene Namen geben, aber es läuft immer auf dasselbe hinaus, Harry.“
„Also falls so etwas vorliegen sollte, dann wird unser bayerischer Alm-Doktor das sicherlich schon herausbekommen.“
Der Gerichtsmediziner des Ermittlungsteams war der Bayer Gerold M. Wildenbacher, der diese Bezeichnung vermutlich nicht einmal als Beleidigung aufgefasst hätte. Andererseits - Wildenbacher wurde von vielen als jemand beschrieben, dem das Gemüt eines Schlachtergesellen eigen war und mit seiner groben Hemdsärmeligkeit in schöner Regelmäßigkeit bei Kollegen und Vorgesetzten aneckte.
Rudi und ich kamen allerdings gut mit ihm klar. Man musste ihn eben nur richtig zu nehmen wissen, und an seiner Qualifikation als exzellenter Gerichtsmediziner gab es nun wirklich nicht den geringsten Zweifel.
Wir erreichten schließlich Quardenburg.
Nachdem ich den Dienst-Porsche auf einem der Parkplätze abgestellt hatte, begaben Rudi und ich uns zu den Laboren und Sektionsräumen.
Dr. Wildenbacher erwartete uns nicht. Wir mussten also eine Viertelstunde auf ihn warten, weil er gerade eine feingewebliche Untersuchung begonnen hatte und dabei nicht unterbrochen werden wollte. Jedenfalls ließ er uns das durch eine Praktikantin ausrichten.
„Hatte nichts mit Ihrem Fall zu tun“, begrüßte er uns schließlich. „Ich arbeite ja nicht nur für Sie beide. Es gibt zum Glück noch andere Morde aufzuklären.“ Als er Rudis etwas irritierten Blick sah, schien er es für nötig zu halten, seine Bemerkung zu erklären. „Das war Ironie, Rudi. Anscheinend bin ich zu häufig mit FGF zusammen. Da färbt sein hamburgischer Humor eben etwas zu sehr auf mich ab.“
FGF war die Abkürzung für Friedrich G. Förnheim, einen Naturwissenschaftler und Forensiker in den Reihen des Ermittlungsteams, dessen Hilfe wir ebenfalls sehr häufig in Anspruch nahmen. Förnheims distinguierte Art und sein unverkennbar hamburgischer Akzent bildeten immer so etwas wie den personifizierten Gegensatz zu dem Bayer Wildenbacher.
„Gut, dass Sie das gleich erläutert haben, ich hätte es sonst kaum verstanden“, meinte Rudi.
„Was jetzt vermutlich keine Ironie war“, sagte Wildenbacher. „Aber jetzt mal völlig ernsthaft, dieser amoklaufende Kommissar, den ich auf den Tisch des Hauses bekommen habe, gibt mir ein paar Rätsel auf.“
„Uns ebenfalls“, sagte ich.
„Kommen Sie, ich zeig Ihnen mal was!“
Dr. Gerold M. Wildenbacher führte uns in den Sektionsraum. Kevin Marenberg lag auf dem Tisch. Wildenbacher schlug die grüne Einweg-Decke zur Seite.
„Also es ist so: Die Leiche hat ein paar Einstichstellen. Der Tote hat noch zu Lebzeiten mehrere Injektionen bekommen, die er sich unmöglich selbst beigebracht haben kann. Das geht einfach nicht, zumindest, wenn man nicht biegsame Tentakelarme oder ähnliches hat.“
„Sie meinen, ihm wurden vielleicht gewaltsam Drogen verabreicht, die ihn zum Amokläufer gemacht haben?“, hakte ich nach.
Dr. Wildenbacher nickte. „Es gibt einige weitere Merkmale, die für diese Hypothese sprechen. Erstens wurden die Injektionen an Stellen angesetzt, wo sie möglichst nicht auffallen, Hautfalten zum Beispiel. Sowas wird selbst von halbwegs sorgfältigen Kollegen, von denen es ja wenig genug gibt, gerne mal übersehen. Hier zum Beispiel und hier.“ Wildenbacher fasste entschlossen zu und drehte die Leiche um. „Und hier auch.“
„Ja, ich glaube, wir können uns durchaus vorstellen, was Sie meinen, Gerold“, sagte Rudi.
„Die Vorstellung reicht nicht. Man muss sich der Wirklichkeit stellen, Rudi. Aber es kann durchaus sein, dass das unter verweichlichten Haupstädtern inzwischen aus der Mode gekommen ist.“
„Können Sie uns noch mehr sagen?“, fragte ich.
Wildenbacher nickte.
„Ja, sehen Sie diese Hämatome? An den Handgelenken, den Fußgelenken und unter den Achseln …”
„Wenn Sie sagen, dass das Hämatome sind”, meinte Rudi.
„Ja, kann schon sein, dass die sich etwas verändern, wenn ein Toter schon länger tot ist. Aber ich versichere Ihnen, es sind welche. Und zwar sehr typische.”
„Typisch? Wofür?”, fragte ich.
„Dafür, dass Herr Marenberg getragen worden ist. Jetzt fragen Sie mich nicht, was das im Einzelnen bedeutet, aber eigentlich spricht die Spurenlage für folgendes: Marenberg wurde überwältigt, betäubt und anschließend wurden ihm bisher noch unbekannte Substanzen injiziert, die seinen Amoklauf ausgelöst haben.”
„Fragt sich, wer das getan haben könnte und aus welchem Grund”, meinte ich. „Aber das ist auf jeden Fall schon mal ein Ansatz.”
„Es ist nur eine Hypothese, Harry”, dämpfte Wildenbacher sogleich meine Freude darüber, in diesem Fall zumindest einen Ansatzpunkt zu haben.
„Sicher, aber …”
„Es gibt etwas, das dieser Hypothese deutlich widerspricht. Ich habe das Blut des Toten gründlich untersuchen lassen und außerdem von einigen inneren Organen feingewebliche Untersuchungen durchgeführt.”
„Mit welchem Ergebnis?”, fragte ich.
„Ich will nicht zu sehr in die Einzelheiten gehen, die Sie vermutlich sowieso nicht verstehen. Und abgesehen davon bin ich auch noch nicht fertig. Aber eins steht fest: Kevin Marenberg hat über längere Zeit mehrere Psychopharmaka eingenommen. Und zwar in Konzentrationen, die vermuten lassen, dass er in ärztlicher Behandlung gewesen sein muss.”
„Davon steht nichts in den Unterlagen, die wir zur Verfügung bekommen haben”, mischte sich Rudi ein. „Ich will die ganzen Daten gerne noch mal durchforsten, aber das wäre eine Sache gewesen, die mir sofort aufgefallen wäre!”
„Das wäre jedem aufgefallen, Rudi”, sagte Wildenbacher. „Der Dienststellenleiter eines Polizeibehörde muss Medikamente nehmen, um psychisch im Gleichgewicht zu bleiben. Man kann sich vorstellen, dass das ein Fressen für die Presse-Meute gewesen wäre, wenn man es draußen erzählt hätte.”
„Das heißt, da hat uns jemand was verschwiegen”, schloss ich.
„Sieht so aus. Wenn Dienststellenleiter Marenberg aber unter einer psychischen Erkrankung litt, die mit Medikamenten behandelt werden musste, stellt sich der Fall womöglich ganz anders dar.”
„Was sind das für Substanzen, die Marenberg genommen hat?”, fragte Rudi.
„Sehen Sie, das ist genau die Schwierigkeit. Ich habe ein paar Substanzen gefunden, die bei depressiven Verstimmungen verschrieben werden und zur Stimmungsaufhellung dienen. Und die feingeweblichen Untersuchungen beweisen, dass sie regelmäßig genommen wurden und nicht etwa nur einmal mit einer gespritzten Designer-Drogen-Dröhnung. Aber erstens weiß ich nicht, ob das alles ist, was Marenberg im Körper hatte, zweitens weiß ich nicht die genaue Zusammensetzung und kann nur grobe Rückschlüsse auf die Dosierung anstellen und drittens kann der Effekt dieser Wirkstoffe durch weitere Komponenten sehr stark verändert werden. Wenn ich jetzt die Diagnose und die Verschreibungen des betreffenden Arztes hätte, wüsste ich immerhin, wonach ich suchen müsste. Es gibt unzählige Substanzen, die in Frage kämen. Manche sind im Blut nachweisbar, andere nur in bestimmten Organen oder im Urin - und das wiederum danach gestaffelt, wann und wie lange die Einnahme erfolgte und ob zum Beispiel eine große Dosis in kurzer Zeit oder kleine Dosen während eines längeren Zeitraums genommen wurden.”
„Wir werden versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen”, sagte ich.
„Es gibt übrigens noch eine dritte Möglichkeit, die wir nicht außer Acht lassen sollten. Ich halte sie zwar für die Unwahrscheinlichste, aber das heißt nicht, dass wir sie ausschließen können.”
„Und die wäre?”, fragte ich.
Dr. Wildenbacher drehte den Toten wieder herum und bedeckte ihn. Ein Arm ragte jetzt hervor. Der Gerichtsmediziner brauchte zwei Versuche, bis der Arm so auf dem Seziertisch lag, dass er nicht mehr nach außen stand.
„Zumindest eine der Substanzen, die ich bisher gefunden habe, konnte …”
In diesem Augenblick ging die Tür auf. Dr. Förnheim betrat den Raum. Der Naturwissenschaftler trug einen weißen Kittel und eine Schutzbrille für die Augen, wie man sie in chemischen Laboren benutzte.
„Schön, das die Herren aus Berlin uns mit Ihrer Anwesenheit ehren”, sagte Förnheim. Dann wandte er sich an Wildenbacher.
„Es ist drin”, sagte er. „Ich habe die Analyse noch einmal überprüft, aber es dürfte da keine Zweifel mehr geben.”
Wildenbacher wandte sich daraufhin an uns.
„Tja, unser Fischkopp spricht mal wieder für Außenstehende in Rätseln”, meinte er. „Es geht um Folgendes: Eine der Substanzen, die ich in den Organen von Herr Marenberg feststellen konnte, wird sowohl in verschiedenen Psychopharmaka verwendet, als auch als sogenannte Designer-Droge illegal verkauft. Und das ist genau die dritte Möglichkeit, von der ich gerade sprach.”
„Sie meinen, Marenberg könnte drogensüchtig gewesen sein?”, schloss ich.
Förnheim bestätigte dies.
„Das wäre eine plausible Erklärung für das Vorhandensein dieser Substanz”, erklärte er.
„Ich halte persönlich folgendes Szenario für denkbar: Marenberg hat wegen psychischer Probleme regelmäßig Psychopharmaka genommen”, ergänzte Wildenbacher. „Aber die stimmungsaufhellende Wirkung dieser Substanzen lässt mit der Zeit nach. Es kann sein, dass ihm die Wirkung einfach nicht mehr ausreichte und er deshalb zusätzlich was eingeworfen hat.”
„Kann man feststellen, ob es sich um Medikamente handelt oder um zusätzlich eingenommene Substanzen?”, fragte Rudi.
„Könnte man”, bestätigte Wildenbacher. „Dazu müsste ich aber wissen, was Marenberg verschrieben worden ist.”
„Ich nehme an, manche Dinge werden wir wohl nur vor Ort herausbekommen”, meinte ich.
4
Jörg Rustow streckte die Arme aus und gähnte. Der breitschultrige, fünfzigjährige Mann bewohnte ein Penthouse hoch über den Dächern von Essen. Er ging durch die Glastür hinaus in den dazugehörigen Dachgarten - einen der größten seiner Art.
Ein wolkenloser Himmel wölbte sich über Essen. Man hatte eine hervorragende Sicht, die bis in das Umland reichte. In der Ferne flimmerte die Luft.
„Sieh dir das an, Bella!”, rief Jörg. „Meine Stadt! Sie liegt mir zu Füßen.”
Rustow trug einen weißen Morgenmantel und war barfuß. Ein Teil des Dachgartens wurde von einem Swimmingpool eingenommen. Rustow streckte den Fuß ins Wasser und zog ihn wieder zurück. „Irgendwas stimmt mit der Wassertemperatur nicht. War der Typ noch nicht da, der das reparieren wollte? Bella? Vielleicht muss man dem Arschloch mal ein bisschen Feuer unter dem Hintern machen.” Rustow drehte sich um. Durch die offene Tür konnte er in das weitläufige Wohnzimmer sehen. „Isabella? Warum gibst du keine Antwort? Scheiße noch mal, bist du taub geworden?”
Er ging zurück, trat durch die Tür, und dann entdeckte er sie. Sie war nackt. Das dunkle Haar fiel ihr weit über den Rücken. Sie kniete vor einem niedrigen Glastisch. Mit einem Röhrchen sog sie eine Linie aus pulverförmigen Kokain in ihr rechtes Nasenloch. Ein schnaufendes Geräusch entstand dabei.
„Nimm nicht so viel von dem Scheißzeug”, sagte Rustow. „Das macht die Nasenschleimhäute kaputt. Außerdem ist es teuer.”
Sie beachtete ihn gar nicht weiter. Ihre Augen waren geweitet. Die blanke Gier sprach aus ihrem Gesicht. Sie brauchte jetzt ihren Stoff und eigentlich wusste Jörg Rustow auch, dass sie dann mehr oder weniger nicht ansprechbar war. Es hatte keinen Sinn, ihr dann etwas zu sagen. Sie hörte in diesen Momenten sowieso nicht zu.
„Nimm die Pillen, die ich dir gegeben habe. Die machen auch gute Laune - und sind billiger. Und außerdem nicht so schädlich.”
Sie war schließlich fertig. Einen Moment schloss sie die Augen. Und es dauerte einige Augenblicke, bis sie wieder einigermaßen bei Sinnen war.
„Ich mag deine Pillen nicht”, sagte sie dann.
„Wieso nicht?”
„Weil Sie nicht immer gute Laune machen.”
„Ach, nein?”
„Manchmal auch das Gegenteil davon.“
„Nur, wenn du zuviel nimmst.”
„Das hier ist besser”, war sie überzeugt. „Übrigens ist die Zeitung vorhin gekommen. Es steht was drin, was dich interessieren wird.”
„So?”
„Über den irren Polizisten. Der, der in dem Einkaufszentrum herumgeballert hat.”
„Marenberg …”, murmelte Rustow.
„Ist das nicht der Typ, der dir immer im Nacken gesessen hat?”, fragte Bella, die sich jetzt inzwischen erhoben und auf dem Boden verstreute Kleidungsstücke aufzusammeln begann. „Im Moment wird ja überall davon berichtet. Aber der Name kam mir irgendwie bekannt vor.”
„Du hast recht, das ist der Typ, der mir was anhängen wollte”, gab Jörg Rustow zu. „Scheiße, wer hätte gedacht, dass er auf diese Weise aus dem Spiel genommen wurde …”
Die Zeitung lag auf einem Ledersofa, das zu einer anderen Sitzecke in dem weitläufigen Wohnzimmer gehörte, die um einen riesenhaften Flachbildschirm gruppiert war. Auf dem Flachbildschirm war im Moment der Blick auf ein virtuelles Aquarium mit großen, exotischen Fische zu sehen. Aber Fernsehen konnte man dort natürlich auch. Und abgesehen davon war Jörg Rustow ein Fan von Western-Filmen, die er sich dort ansah. Mit Dolby Surround Sound hörte man dann die Kugeln fliegen.
Die Zeitung war auseinandergefleddert. Das gehörte zu den Dingen, die er an Bella hasste. Sie zerfledderte die Zeitung, ehe er sie gelesen hatte.
Der Artikel über den Amoklauf des örtlichen Kripo-Chefs war allerdings schnell zu finden. Die Überschrift war groß genug. Jeden Tag stand jetzt etwas darüber drin.
‘Was machte Kripo-Chef Marenberg verrückt?’, lautete diesmal die Überschrift.
Die wissen nichts, diese Lohnschreiber!, dachte Rustow.
Inzwischen hatte Bella sich halbwegs angezogen. Und vor allem schien sie ihre Gedanken wieder beieinander zu haben.
„Hast du eigentlich irgendwas damit zu tun, Jörg?”
„Womit?”
„Na, damit, dass dieser Bulle plötzlich durchdreht.”
Rustow drehte sich zu ihr um.
„Red nicht so einen Scheiß!”, sagte er.
„Ist doch schon komisch”, meinte sie und kringelte eine Strähne ihres langen Haares um den Finger. Sie spielte damit herum. „Ausgerechnet der Bulle, der sich wie ein Terrier in deine Waden verbissen hatte, macht einen so spektakulären Abgang.”
„Hör zu! Wenn du weiter regelmäßig deinen Schnee haben willst und außerdem noch etwas Geld, um dir diese bekloppten Schuhe zu kaufen, von denen du schon mehr als genug hast und in denen du sowieso nicht laufen kannst, wenn du vollgedröhnt bist, dann fragst du mich so was nie wieder, klar?”
„Ich meine ja nur … Wenn ich auf diesen Gedanken komme, dann kommt doch vielleicht auch jemand anderes darauf. Hast du darüber mal nachgedacht, Jörg?”
„Überlass mir das Denken! Bei dir kommt da ohnehin nur Mist raus!”
Sie lachte. Ein überdrehtes, hysterisches Lachen, das vielleicht daher kam, dass sie nicht nur Kokain genommen, sondern vorher auch noch etwas zu viel von dem Whiskey getrunken hatte, den Jörg Rustow immer in großzügigen Mengen vorrätig hatte. „Du redest immer noch wie ein Lastwagenfahrer”, sagte sie. „Kann ja sein, dass du dich hier oben wie der Herr von Essen fühlst, und es kann auch sein, dass du nur schnipp machen musst und irgendein Typ kommt mit einer Maschinenpistole und räumt ein paar Leute für dich aus dem Weg, nur weil ihre Nasen dir nicht passen …”
„Hör auf! Es ist ekelig, wenn du betrunken bist!”
„Ja, es ist dir peinlich, dass ich weiß, wer du früher warst. Aber soll ich dir mal was sagen? Immer wenn du den Mund aufmachst, hört man das. Mit jedem Wort. Mit jedem Satz, der über deine Lippen kommt und jedes Mal wenn du Wörter wie Scheiße und Schlampe in einem Satz sagst.”
Der Schlag kam schnell, ansatzlos und hart. Bella taumelte zurück. Blut rann ihr am Kinn entlang. Mit einer Ohrfeige hatte sie durchaus gerechnet. So was kam bei Rustow öfter vor. Er war eben etwas grob. Aber einen Faustschlag hatte sie nicht erwartet.
Wie ein Hammerschlag hatte dieser Hieb sie getroffen. Ihr war plötzlich schwindelig. Alles drehte sich vor ihren Augen, und sie taumelte zu Boden.
„Wird anscheinend Zeit, dass dir mal wieder jemand deine Grenzen zeigt”, meinte er.
Sie kauerte am Boden und sah zu ihm auf. Dann wischte sie sich das Blut vom Kinn.
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Jörg Rustow ging an den Apparat.
„Was gibt es?”, fragte er etwas unwirsch und hörbar schlecht gelaunt.
Aber seine Stimmung schien sich schon im nächsten Moment sehr aufzuhellen.
Am anderen Ende der Leitung war Mark Reifer, sein Anwalt. Reifer hatte ihn schon aus unzähligen kritischen Situationen erfolgreich herausgehauen. Jörg Rustow hatte sich immer darauf verlassen können, dass Reifer irgendeine Unregelmäßigkeit im Verfahren oder irgendeinen anderen juristischen Dreh fand, um seinem Mandanten den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
„Ich habe es geschafft, Jörg”, sagte Reifer. „Die letzten Verfahren, die gegen Sie noch anhängig waren, sind jetzt offiziell eingestellt worden.”
„Großartig”, stieß Rustow hervor. „Ich hoffe, Sie habe nicht allzu viel an Bestechungsgeldern ausgeben müssen.”
„Ganz im Gegenteil”, meinte Reifer. „Ich glaube, dieser Marenberg ist genau zum richtigen Zeitpunkt durchgedreht.”
„Ach, ja?”
„Niemand ist im Moment daran interessiert, dass dessen alte Fälle noch einmal genauer unter die Lupe genommen werden. Das könnte der Justiz, dem BKA und und dem LKA erheblichen Ärger einbringen. Und ich glaube im Schatten dieser Entwicklung war man dann gerne geneigt, den Aktendeckel einfach zuzumachen und nicht mehr so genau hinzusehen.”
„Hoffen wir, dass der verdammte Aktendeckel auch für immer geschlossen bleibt”, meinte Rustow.
„Das liegt an Ihnen.”
„Wieso an mir?”
„Treten Sie einfach ein bisschen kürzer! Und vor allen Dingen vermeiden Sie in nächster Zeit am besten jeden Ärger. Leben Sie zur Abwechslung mal etwas unauffällig! Gewissermaßen unterhalb des Radars gewisser einflussreicher Leute in unserer schönen Stadt. Dann würde es die Sache mit Sicherheit etwas leichter machen.”
Jörg Rustow verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen.
„Wissen Sie was? Machen Sie Ihren Job, Herr Reifer! Und ich mache meinen. Was sagen Sie zu dieser Aufteilung? Ist für uns alle am besten, würde ich sagen.”
Auf der anderen Seite der Verbindung herrschte jetzt für einen Moment nichts als Schweigen.
„Wir sehen uns, Jörg”, sagte Mark Reifer schließlich. „Ich muss jetzt weiter. Schließlich habe ich noch andere Termine.”
„Sicher. Freut mich, dass Sie etwas erreichen konnten.”
Das Gespräch wurde beendet. Auf Jörg Rustows Gesicht furchten sich jetzt die harten Linien eines breiten Grinsen hinein.
Vergiss nicht, dass du ohne mich gar nichts wärst, kleiner Anwalt!, ging es ihm durch den Kopf.
5
Wir hatten Berlin fast erreicht, da meldete sich unser Chef telefonisch bei uns. Ich nahm das Gespräch über die Freisprechanlage entgegen, so dass Rudi mithören konnte.
„Harry? Rudi?”, meldete sich Kriminaldirektor Hoch, der Leiter des BKA Berlin zu Wort. „Was haben unsere Kollegen in Quardenburg ermittelt?”
Ich lieferte einen kurzen zusammenfassenden Bericht dessen, was Dr. Wildenbacher und Dr. Förnheim herausgefunden hatten und welche Spekulationen sich daran knüpften.
„Ich möchte, dass Sie beide gleich nochmal in mein Büro kommen. Es haben sich ein paar neue Erkenntnisse über Marenberg ergeben.”
„In welcher Hinsicht?”, fragte ich.
„Zusammengefasst läuft es auf Folgendes hinaus: Er war nicht der Muster-Chef, den man erwartet. Es gab offenbar massive Schwierigkeiten. Es sind wohl im Verantwortungsbereich der Polizei von Essen eine ganze Reihe von Ermittlungsfehlern begangen worden. Man musste Tatverdächtige freilassen, weil Beweise auf illegale Weise beschafft worden sind. Beweismittel sind unter ungeklärten Umständen verschwunden. Außerdem litt Marenberg wohl seit längerem unter einer Medikamentenabhängigkeit und reagierte zunehmend gereizt und aggressiv. Es liegen mehrere Beschwerden in dieser Hinsicht vor, und es gab deutlich mehr Versetzungsgesuche an dieser Dienststelle, als es dem Mittelwert entsprechen würde.”
„Wo kommen diese Informationen denn jetzt her?”, fragte ich.
„Die wichtigere Frage ist, wieso sie erst jetzt an mich herangetragen wurden - und auf welchem Weg das geschah”, gab Kriminaldirektor Hoch zurück. „Einer meiner Kollegen hier im Gebäude hat mich darauf angesprochen. Über all diese Dinge gab es offenbar längst Akten und offizielle Vorgänge. Kurz gesagt: Marenberg stand kurz vor dem Rausschmiss. Seine Bilanz war nämlich keinesfalls so makellos, wie es erst den Anschein hatte. Er war angezählt - bei der nächsten Kleinigkeit und vor allem bei Nichterfüllung seiner Auflagen, wäre er seines Postens enthoben worden.”
„Was denn für Auflagen?”, fragte ich.
„Er war verpflichtet worden, die psychischen Probleme zu behandeln, unter denen er wohl zunehmend litt und diese Behandlung fortzusetzen.”
„Dann ging man davon aus, dass diese Probleme nur vorübergehender Natur waren.”
„Man hat damit wohl vor allem auf die Tatsache Rücksicht genommen, dass Marenberg in der Vergangenheit tatsächlich großartige Verdienste hatte und wollte ihm eine Chance geben, sich in absehbarer Zeit wieder zu fangen.”
„Dann hat man uns offenbar mit Vorsatz unvollständig informiert?”, schloss Rudi.
„Das sieht ganz so aus”, bestätigte Kriminaldirektor Hoch. „Ich möchte, dass Sie gleich noch einmal in mein Büro kommen, damit wir ein paar Einzelheiten durchgehen können. Und davon abgesehen würde es wohl unumgänglich sein, dass Sie so schnell wie möglich nach Essen fliegen, um dort aufzuräumen.”
„Eine Polizei-Dienststelle, in der einiges nicht so zu laufen scheint, wie es laufen sollte”, stellte ich fest.
„Bis gleich”, sagte Kriminaldirektor Hoch und beendete das Gespräch.
„Scheint, als hätte Marenberg nichts mehr zu verlieren gehabt, Harry”, sagte Rudi. „Und ist das nicht geradezu typisch für Amokläufer?”
„Jedenfalls erscheinen Dr. Wildenbachers Erkenntnisse jetzt in einem ganz anderen Licht”, sagte ich.
„Will da jemand das Andenken eines Dienststellenleiter schützen?”
„Oder sich selbst, Rudi.”
„Aber wie kann man so naiv sein, zu glauben, damit durchzukommen, dass man einfach einen Teil der Informationen nicht schickt?”
„Ach, Rudi, du weißt doch, wie so was läuft!”
„So? Erklär’s mir! Mich macht das nämlich fassungslos!”
„Eine Organisation muss nur groß genug sein, dann geschehen Dinge, die kein Mensch mehr erklären kann. Immer wieder. Und wenn du mal zurückdenkst, dann haben wir doch schon in Hamburg das eine oder andere Mal Dinge erlebt, von denen wir auch vorher geglaubt hätten, so etwas sei nicht möglich.”
„Du meinst, dass es jemand einfach mal versucht hat?”
„Könnte man so sehen. Aber Kriminaldirektor Hoch wird uns dazu sicher noch Näheres sagen.”
Ich sah schon einen Berg zusätzlicher Arbeit auf uns zukommen. Auf uns und die Kollegen, die uns unterstützten. Denn es erschien mir nun unumgänglich, dass die Fälle, mit denen Marenberg direkt zu tun gehabt hatte, noch einmal daraufhin abgeklopft werden mussten, ob sie mit dem Geschehen in dem Happy-Family-Einkaufszentrum von Essen in irgendeinem Zusammenhang standen. Das konnten Rudi und ich natürlich nicht alles selbst bewältigen. BKA-Kriminalinspektoren konnten schließlich keine Wunder vollbringen. Aber dazu hatten wir ja gegebenenfalls Kollegen, die uns unterstützten. Zum Beispiel Dr. Lin-Tai Gansenbrink, eine Mathematikerin und IT-Spezialistin, die ebenso wie Dr. Wildenbacher und Dr. Förnheim Teil unseres Teams war und deren Hilfe wir gerade bei solchen umfangreichen Analysen gerne in Anspruch nahmen.
6
„Sie müssen einen Moment warten“, sagte Frau Dorothea Schneidermann, die Sekretärin unseres Chefs, als wir dessen Vorzimmer erreichten. „Kriminaldirektor Hoch führt gerade noch ein paar wichtige Telefongespräche.“
Ich konnte mir gut vorstellen, dass diese Gespräche in Zusammenhang mit unserem Fall standen. Kriminaldirektor Hoch war zwar erst seit kurzem Leiter des BKA, so wie Rudi und ich erst seit relativ kurzer Zeit Kriminalinspektoren waren, die im Auftrag der BKA Zentrale von Berlin ermittelten. Aber als jahrzehntelanger Dienststellenleiter der Hamburger Polizei hatte er mit Sicherheit ein dichtes, landesweites Netz von Kontakten knüpfen können. Und die konnten gerade in einem Fall wie diesem von Nutzen sein.
Schließlich war es nun ziemlich offensichtlich, dass wir es mit einer faulen Stelle innerhalb unserer Organisation zu tun haben mussten. Ob das nur Unfähigkeit einzelner beteiligter Personen oder der Versuch war, bewusst etwas zu verschleiern, würde sich zeigen müssen.
„Ich habe für Sie beide Zimmer in Essen gebucht. Und außerdem einen Flug”, sagte Dorothea Schneidermann.
„Danke”, sagte ich.
„Wir können es kaum erwarten, in dieser Weltstadt zu landen” meinte Rudi sarkastisch.
„Die Stadt hat sich entwickelt”, meinte Dorothea Schneidermann. „Wenn man so will, könnte man Essen, Duisburg, Bottrop, Bochum und die anderen Städte zu einer zusammenfassen, so eng, wie sie aneinanderliegen. Da ist doch schon alles zu einer Großstadt zusammengewachsen.”
„Hm, da muss an mir irgendwie was vorbeigegangen sein”, meinte Rudi mit einem Grinsen.
„Tja, langsam sollte Ihr Horizont etwas weiter sein, Rudi”, meinte Dorothea. „Ein Ex-Freund von mir wohnt in Essen und arbeitet für eine High-Tech-Schmiede. Ich gebe es zu, wäre das nicht der Fall, wüsste ich auch nichts darüber, aber mit Hamburg oder Berlin kann man dort sicher wohl auch mithalten.”
Die Tür ging auf. Herr Hoch stand dort. Die Hemdsärmel hatte er hochgekrempelt, die Krawatte hing ihm gelockert um den Hals.
„Kommen Sie rein!”, sagte er.
Wir folgten der Aufforderung. Wenig später saßen wir in seinem Büro.
„Also die Wahrheit über Marenberg sieht wohl so aus, dass man in der Tat das Vermächtnis dieses Mannes schützen wollte. Die Kriminalpolizei Essen wird derzeit von dem ehemaligen stellvertretenden Dienststellenleiter Timo Gottfriedson geleitet. Zunächst kommissarisch, ob das eine dauerhafte Lösung ist, wird sich zeigen. Aber wenn es Unregelmäßigkeiten gibt und die mit dem Chef zu tun haben, halte ich es grundsätzlich nicht für die beste Lösung, den Stellvertreter für die Aufklärung sorgen zu lassen.”
„Sie glauben, dass dieser Gottfriedson davon wusste?”
„Möglich. Ich kann nicht mal ausschließen, dass er gar nicht in erster Linie Marenberg, sondern sich selbst schützen wollte. Wie ich jetzt aus anderer Quelle erfahren habe, ist Gottfriedson mit Marenbergs Familie befreundet. Kann auch sein, dass man von dort Druck auf ihn ausgeübt hat. Wie auch immer: Fakt ist wohl, dass bei Marenberg Depressionen diagnostiziert wurden. Fakt ist auch, dass er Medikamente nehmen musste. Fakt ist zum dritten, dass er zu dem gestellten Psychologen nicht regelmäßig hingegangen ist und damit eigentlich seine Auflagen verletzt hat, unter denen er seinen Job machte. Und Fakt ist weiterhin, dass er mindestens noch einen zweiten Psychologen und einen weiteren Arzt wegen dieser Sache aufgesucht hat.”
„Könnte es sein, dass er Medikamente gehortet und überdosiert hat?”
„Es spricht einiges dafür, dass er abhängig war. Eine Sekundärerkrankung, die sich wohl aus der Medikamentierung wegen der depressiven Verstimmungen ergeben hat.”
„Arzt-Hopping, um genug verschrieben zu bekommen. Da wäre er nicht der erste”, meinte Rudi.
„Es gibt noch etwas anderes, worauf ich Sie hinweisen möchte, was jetzt ebenfalls ans Tageslicht gekommen ist.”
Ich hob die Augenbrauen.
„Noch mehr?”
Eigentlich reichte das schon. Es wäre dringend angezeigt gewesen, Kevin Marenberg zumindest zu beurlauben. Vielleicht, so dachte ich in diesem Moment, hätte dann die anschließende Tragödie verhindert werden können. In diesem Punkt sollte ich mich allerdings täuschen.
„Kevin Marenberg ermittelte seit Jahren gegen einen gewissen Jörg Rustow und seine Organisation”, erklärte Kriminaldirektor Hoch. „Mehrere Fälle von Unregelmäßigkeiten und professionellem Versagen der Polizei und seiner Mitarbeiter betrifft indirekt diesen Rustow, denn es ging um Fälle im Dunstkreis seiner Organisation.”
„Womit verdient denn dieser Rustow sein Geld?”, fragte ich.
„Ich habe Ihnen ein umfangreiches Dossier zugemailt”, sagte Kriminaldirektor Hoch. „Jörg Rustow gilt als der Boss der sogenannten Happy-Hour-Connection. Diese Verbindung ist ein Ring, der sogenannte Designerdrogen herstellt und über Clubs vertreibt. Die Happy-Hour-Connection ist nicht nur in Essen aktiv, sondern auch in den angrenzenden Städten. Aber in dieser Stadt ist das Zentrum ihrer Aktivitäten.”
„Dr. Wildenbacher glaubt, es könnte möglich sein, dass Marenberg regelmäßig Designerdrogen genommen hat”, sagte ich. „Es ist schon ein eigenartiger Zufall, dass er ausgerechnet in dieser Richtung auch noch mit anderweitigen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte.”
Kriminaldirektor Hoch nickte.
„Tatsache ist, dass er keinen entscheidenden Erfolg gegen die Happy-Hour-Connection vorweisen konnte. Das steht alles in einem merkwürdigen Kontrast zu den Bemühungen. Denn aus den mir inzwischen zugänglichen Unterlagen wird auch klar, dass Marenberg hier ganz bewusst einen Schwerpunkt seiner Arbeit gesetzt hat.”
„Wir werden schon herausfinden, was dahintersteckt”, sagte ich.
„In Essen wird sie eine Kommissarin namens Christina Bellmann abholen. Und der kommissarische Dienststellenleiter Gottfriedson hat mir seine uneingeschränkte Kooperationsbereitschaft zugesagt, nachdem er zunächst das Gegenteil getan hat.” Kriminaldirektor Hoch zuckte mit den Schultern. „Sie werden vor Ort selbst entscheiden müssen, wie weit Sie ihn in Ihre Ermittlungen einbeziehen. Aber ich rate Ihnen zur Vorsicht.”
7
Rudi und ich flogen mit der nächsten Maschine von Berlin nach Essen.
Kommissarin Christina Bellmann, eine rothaarige Endzwanzigerin, holte uns am Flughafen ab.
„Herr Kubinke, Herr Meier - es freut mich, Sie im Namen der Polizei Essen begrüßen zu dürfen”, sagte sie etwas gestelzt.
„Ich könnte mir denken, dass Sie die einzige sind, die sich freut”, sagte ich.
„Nun, ich denke, dass alle Kollegen ausgesprochen kooperationswillig sind”, sagte Christina. Das dicke, rote Haar trug sie zu einem Zopf zusammengefasst. Ihr Gesicht wirkte ernst und etwas angestrengt.
„Sie vielleicht”, sagte ich. „Aber soweit ich den Unterlagen entnehmen konnte, sind Sie auch erst seit kurzem hier in der Dienststelle.”
„Herr Kubinke, wenn Sie damit andeuten wollen, dass ich in dieser Sache völlig unbelastet bin, dann haben Sie zweifellos recht.”
„Nennen Sie mich einfach Harry”, sagte ich.
„Harry.”
„Und ich bin Rudi”, sagte mein Kollege.
Christina Bellmann nickte Rudi zu und wandte sich dann wieder in meine Richtung.
„Der Nachteil an der Tatsache, dass ich so frisch hier bin, ist allerdings, dass ich Ihnen vermutlich kaum bei Ihren Ermittlungen helfen kann.”
„Vielleicht können Sie uns gerade deswegen besonders gut helfen”, meinte ich. „Aber das wird sich zeigen. Wir sind im Moment zufrieden, wenn Sie uns einen Dienstwagen besorgen.”
„Eigentlich besteht meine Aufgabe darin, Sie zum Hotel zu bringen”, sagte Christina Bellmann. Ihr Blick glitt kurz zu der Uhr an ihrem Handgelenk. „Es ist schließlich schon spät. Ich weiß nicht, ob der Dienststellenleiter noch im Büro ist.”
„Wenn ich ein Dienststellenleiter wäre und in meinem Büro hätte sich ein Polizist wie ein Amokläufer durch ein Einkaufszentrum geschossen, würde ich rund um die Uhr im Büro sein und erst nach Hause gehen, wenn die Sache halbwegs aufgeklärt ist”, sagte Rudi. „Zumindest kenne ich das so von unserem früheren Chef.”
„… der auch unser jetziger Chef ist”, ergänzte ich. „Herr Hoch, der Leiter des BKA-Büros in Berlin.”
„Ich verstehe, glaube ich, was Sie meinen”, sagte Christina Bellmann. „Also ich bringe Sie, wohin immer Sie wollen.”
„Einen Wagen brauchen wir auf jeden Fall”, sagte ich. „Und zwar heute Abend noch. Ein paar Leute, die auf unserer Liste stehen, werden wir auf jeden Fall noch befragen.”
„Ganz, wie Sie wollen”, sagte Christina Bellmann.
Sie führte uns zu ihrem Wagen, einen Chevrolet. Wir stiegen ein. Ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz, Rudi auf der Rückbank und Christina Bellmann setzte sich ans Steuer. Sie fuhr uns durch die Straßen von Essen. Die Dämmerung hatte inzwischen eingesetzt. Zwei Stunden Flug lagen hinter uns. Rudi gähnte.
Mein Smartphone vibrierte. Ich sah auf das Display. Eine Nachricht von Dr. Wildenbacher hatte mich erreicht. Demnach hatten Wildenbacher und Förnheim einen weiteren Inhaltsstoff der Präparate ermittelt, die Kevin Marenberg eingenommen hatte. ‘Wenn wir jetzt die dazugehörigen Rezepte des Arztes hätten, würde uns das sehr weiterhelfen’, lautete Wildenbachers Botschaft.
‘Kriegen Sie umgehend, sobald wir sie auch haben’, schickte ich ihm eine Nachricht zurück.
Wunder vollbringen konnte ich schließlich auch nicht.
„Was hatte Sie von Kevin Marenberg für einen Eindruck?”, fragte ich an Christina Bellmann gerichtet, während sie an einer großen Kreuzung den Wagen anhalten musste.
„Was soll ich dazu sagen? Ich bin ja erst sehr kurze Zeit hier und um ehrlich zu sein, ich kannte Marenberg kaum.”
„Umso besser, dann haben Sie doch einen ganz unvoreingenommenen Eindruck von ihm gewonnen”, meinte ich.
Sie mauerte und wollte nicht so richtig raus mit der Sprache. Vielleicht befürchtete sie, dass ihre Position innerhalb der Dienststelle schwierig wurde, wenn sie zu sehr mit uns kooperierte und möglicherweise irgendeine Äußerung von ihr später die Runde machte. Ich konnte sie durchaus verstehen. Sie war noch jung. Eine Anfängerin. Viele dienstliche Stationen konnte sie noch nicht hinter sich haben.
„Wie gesagt, ich kann nicht sehr viel dazu sagen”, erklärte sie. „Als vorgesetzter Dienststellenleiter war er immer sehr korrekt. Ich habe keinen Grund gehabt, mich zu beklagen - und er hoffentlich auch nicht. Ich hatte allerdings immer das Gefühl …” Sie brach ab.
„Was für ein Gefühl?”, hakte ich nach.
„Marenberg wirkte eher reserviert. Aber ich glaube, dass das damit zu tun hatte, dass ich ein Neuling war. Ich gehörte natürlich nicht so richtig dazu, so wie die Kollegen, die schon länger dabei waren. Die Kollegen hier haben zum Teil Jahre oder sogar jahrzehntelang zusammengearbeitet.”
„So etwas schweißt zusammen”, sagte ich. „Das kann ich durchaus bestätigen. Es ist nicht so ganz einfach, in so eine verschworene Gemeinschaft hineinzukommen, könnte ich mir denken.”
„Das stimmt”, sagte sie.
„Frau Bellmann, damit wir uns nicht missverstehen: Wir sind nicht hier, um jemanden anzuschwärzen, jemandem Fehler nachzuweisen oder jemandem aus Fehlverhalten einen Strick zu drehen. Wir wollen vielmehr herausfinden, was Ihren Chef dazu gebracht hat, wie ein Amokläufer durch ein Einkaufszentrum zu laufen und völlig Unbeteiligte in den Tod zu reißen. So etwas kommt schließlich nicht alle Tage vor, und es muss einen Grund dafür geben.”
„Ich würde auch gerne wissen, was dahintersteckt”, sagte Christina Bellmann. „Und um ehrlich zu sein: Ich bin so schockiert wie Sie darüber. Gerade weil es einer von uns war. Ein Mann, der sich doch eigentlich dem Kampf gegen das Verbrechen verschrieben hat und dann selbst plötzlich ohne einen bisher erkennbaren Grund zu so einem Monster mutiert.”
„Wir brauchen die Hilfe von allen hier im Büro”, stellte ich klar. „Und ganz besonders von jemandem wie Ihnen. Jemandem, der die Situation hier weitgehend unvoreingenommen wahrnehmen konnte.”
„Gut, dann will ich Ihnen meinen Eindruck durchaus mal so beschreiben, wie ich ihn empfunden habe”, fuhr Christina Bellmann schließlich fort.
„Ich bitte darum.”
„Er stand unter enormen Druck. So habe ich Dienststellenleiter Marenberg vom ersten Augenblick an empfunden. Schon als er mich an meinem ersten Tag in seinem Büro empfing und mir gesagt hat, wie hier in Essen der Hase so läuft.”
„Können Sie sich noch daran erinnern, was er Ihnen so im Einzelnen gesagt hat?”, hakte ich nach. „Ich meine darüber, wie hier der Hase so läuft, wie Sie gesagt haben.”
„Er meinte, ich könnte mich jederzeit an ihn wenden, wenn es etwas gäbe, was mir Probleme bereiten würde. Das sei nicht schlimm, schließlich seien ja alle mal Anfänger gewesen. Wissen Sie, er war nett und wirkte kompetent. Es war nicht das, was er sagte, was mich stutzig gemacht hat, sondern die Art und Weise wie er das tat. Er schien schrecklich unter Strom zu stehen, so als ob ihm etwas ziemlich zu schaffen machte.”
„Haben Sie mal mit Kollegen darüber gesprochen?”
„Ja. Aber von denen habe ich nichts erfahren.”
„Das heißt, die haben Sie nicht eingeweiht.”
„Eingeweiht?”
„Wussten Sie, dass Marenberg Psychopharmaka nahm und wegen Depressionen behandelt werden musste?”
„Nein, das wusste ich nicht.”
„Was ist mit Kriminalhauptkommissar Gerd Thormann?”, fragte ich.
„Sie meinen den Kollegen, der Marenberg erschossen hat?”
„Genau.”
„Besser gesagt: Erschießen musste”, korrigierte sich Christina Bellmann. „Um ehrlich zu ein, ich möchte nicht in seiner Haut stecken.”
„Wieso?”
„Na, wenn ich mir das nur vorstelle. Es kann ja sein, dass man im Einsatz gezwungen ist, eine Schusswaffe einzusetzen. Und mit der Möglichkeit, dabei einen Menschen zu töten, muss man sich wohl oder übel in unserem Job auseinandersetzen. Jeder muss das. Da kommt man einfach nicht dran vorbei.”
„Richtig.”
„Aber wenn man gezwungen ist, einen Kollegen zu erschießen ... Das muss einfach furchtbar sein. Die beiden waren jahrelang zusammen im Einsatz, haben hier im Büro zusammengearbeitet und dann so etwas. Das muss einem doch für den Rest des Lebens Albträume bescheren. Zumindest wäre das bei mir so, da bin ich mir sicher.”
„Wie hat Herr Thormann diesen Vorfall denn verkraftet?”
„Keine Ahnung. Äußerlich ist er ein eisenharter Kerl, der sich nichts anmerken lässt. Aber ich könnte mir vorstellen, dass es in seinem Inneren ganz anders aussieht. Denke ich zumindest. Aber um ehrlich zu sein, hatte ich mit Herrn Thormann nie so viel zu tun, dass ich das wirklich letztlich beurteilen könnte. Ich schließe da wahrscheinlich eher von mir auf andere.”
8
Wir erreichten die Polizei in Essen. Es bildete zusammen mit ein paar anderen Verwaltungsgebäuden einen gemeinsamen Komplex mit angegliederten Parkplätzen.
Christina Bellmann fuhr in eine Tiefgarage hinein, in der offenbar ein Teil des Fuhrparks untergebracht war, der der Polizei zur Verfügung stand. Sie parkte schließlich den Wagen neben einem SUV.
„Das ist das Fahrzeug für die Zeit Ihres Aufenthalts hier in Essen”, sagte sie.
„Wunderbar”, sagte ich. „Haben Sie den Schlüssel?”
Sie gab ihn mir. Wir stiegen aus.
Rudi und ich holten unser sparsames Gepäck aus Kommissarin Bellmanns Chevrolet und packten unsere Taschen in den SUV.
„Ich bringe Sie natürlich nach wie vor gerne zum Hotel”, sagte sie.
„Nicht nötig. Das Navi wird uns schon zuverlässig hinbringen. Und abgesehen davon werden wir vorher noch die eine oder andere Adresse ansteuern. Die Ermittlungen dulden keinen Aufschub.”
„Mit wem fangen Sie an?”
„Da Sie sagten, dass hier in den Büros niemand mehr …”
Ich brach den Satz ab. Ein Mann im grauen Anzug beobachtete uns. Das Auffälligste an seiner Kleidung war eine Gürtelschnalle, die eher zum Outfit eines Rodeoreiters als zu einem konservativ geschnittenen Anzug gepasst hätte. Unser Kollege Wildenbacher hätte daran vermutlich seine helle Freude gehabt. Das Gesicht erkannte ich von den Fotos, die in unseren Unterlagen enthalten waren. Der Mann, der uns da mit einem wie aus Stein gemeißelt wirkenden Gesicht beobachtete, war niemand anderes als Kriminalhauptkommissar Gerd Thormann.
Er kam auf uns zu.
„Herr Thormann”, sagte Christina Bellmann, „dies sind Kriminalinspektor Harry Kubinke und Kriminalinspektor Rudi Meier aus Berlin.”
„Thormann”, stellte sich unser Gegenüber vor. „Ich bin der Mann, der seinen Vorgesetzten erschießen musste. Sie werden sicher ein paar Fragen an mich haben.”
„Wir hätten in der Tat ein paar Fragen an Sie.”
„Dann können wir das hier kurz und schmerzlos erledigen”, sagte Thormann. „Ja, ich habe jede Nacht Albträume wegen dem, was passiert ist. Nein, ich war nicht zufällig in dem Einkaufszentrum. Ich habe einen Typ beschattet, der einem Drogenring angehört und hinter dem wir schon lange her waren. Ja, es gibt detaillierte Einsatzpläne darüber, die Sie auch gerne einsehen können und die belegen, dass dies so ist, wie ich Ihnen gesagt habe. Und nein, ich habe keinerlei Erklärung dafür, was die Persönlichkeitsveränderung ausgelöst hat, die dazu geführt haben muss, dass aus einem verdienstvollen, rechtschaffenen und pflichtbewussten Dienststellenleiter ein wahnsinniger Killer wurde. Ich kann nur Vermutungen anstellen und dazu gehört natürlich, dass Herr Marenberg möglicherweise unter dem Einfluss von Substanzen stand, die eine derartige Wirkung haben können.” Er machte eine kurze Pause, wandte dann zuerst Rudi und dann mir einen kurzen Blick zu und schloss schließlich mit den Worten: „Noch Fragen?”
„Ich denke, alles weitere werden wir morgen früh im Büro vom Kollegen Gottfriedson klären können”, sagte ich.
„Gut. Dann werden Sie gestatten, dass ich jetzt nach Haus fahre. Ich habe in letzter Zeit nämlich schlecht geschlafen. Dass ich Albträume habe, erwähnte ich schon?” Er atmete tief durch und ging ein paar Schritte weiter. Dann blieb er noch einmal stehen und drehte sich wieder herum. Seine Finger spielten nervös mit dem Wagenschlüssel herum. „Ich wünsche so etwas niemandem”, sagte er dann.
„Eine Frage hätte ich vielleicht doch noch, die Sie mir gleich beantworten könnten.”
„Bitte!” Sein Mund sah aus wie ein schmaler, gerader Strich. Die Züge sahen maskenhaft aus.
„Wen haben Sie beschattet in dem Einkaufszentrum?”
„Wie ich schon sagte: Einen Drogendealer. Ein kleines Licht in einer großen Organisation. Insofern war auch er wichtig.”
„Ich nehme an, der hat einen Namen und eine Adresse.”
„Sie wollen ihn doch nicht etwa befragen, oder? Dann kommen wir an die Organisation, die hinter ihm steht, nie heran.”
„Wie heißt er?”, beharrte ich.
Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen. Sein Blick schien mich geradezu zu durchbohren. Ich fragte mich, was der wahre Grund dafür sein mochte, dass er offenbar keine Lust hatte, mir den Namen zu sagen. Aber schließlich kam er doch noch damit heraus.
„Der Kerl heißt Petrick Berlin. Wie die Hauptstadt.”
„Wir unterhalten uns morgen.”
„Von mir aus. Ach ja, falls Sie noch mit dem Dienststellenleiter sprechen wollen: Der ist nicht mehr im Haus.”
„Das habe ich schon gehört.”
9
Kommissar Gerd Thormann stieg in einen metallicfarbenen Mittelklassewagen und fuhr davon.
„Der scheint sich nicht gerade darüber zu freuen, dass wir hier sind”, meinte Rudi.
„Und dabei wollen wir doch nur helfen.”
Rudi und ich wechselten einen kurzen Blick und ich wusste, dass er dasselbe dachte wie ich: Irgendwas hatte Thormann zu verbergen. Es musste gar nichts mit dem Fall zu tun haben.
„Sie müssen ihn verstehen”, meinte Christina Bellmann.
„Wie meinen Sie das?”, fragte Rudi.
„Sie würden es auch nicht mögen, wenn in Ihrem Arbeitsbereich jemand jeden Stein umdrehen würde. Ist doch klar, dass er davon nicht begeistert ist, zumal es in den letzten zehn Jahren vermutlich keine einzige Operation in Essen gibt, von der Gerd nicht wenigstens wusste.”
Ich hob die Augenbrauen.
„Sie nennen ihn Gerd?”, fragte ich.
„Das tun hier alle”, sagte Christina Bellmann. „Wenn Sie denken, dass ich etwas mit ihm hatte, dann sind Sie schief gewickelt.”
„Danach hatte ich gar nicht gefragt”, erklärte ich.
„Ich dachte, dass Sie darauf hinaus wollten. Gerd ist verheiratet. Und soweit mir bekannt ist, auch glücklich.”
Wir verabschiedeten uns von Christina Bellmann und fuhren mit dem SUV zu unserem Hotel.
„Auf jeden Fall hat man uns hier nicht mit offenen Armen empfangen”, meinte Rudi während der Fahrt. „Und dabei spreche ich jetzt nicht von Christina Bellmann.”
„Rudi, es ist doch wahr: Wenn früher bei uns im Hamburger jemand von außen gekommen ist, um ein paar Dinge unter die Lupe zu nehmen, haben wir das auch nie so besonders gerne gehabt. Das ist doch ganz natürlich.”
„Mag sein.”
„Und trotzdem ist es natürlich notwendig, jemanden von außen zu schicken. Dass da der eine oder andere empfindlich reagiert, halte ich für normal. Ich würde vermutlich selbst nicht anders reagieren.”
„Ich frage mich, ob diese Dünnhäutigkeit bei Gerd Thormann wirklich nur daher kommt, dass es ihn ziemlich mitgenommen hat, seinen Kollegen erschießen zu müssen.”
„Was sollte denn sonst dahinterstecken, Rudi?”
Mein Kollege zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Es ist nur so ein Gefühl. Aber vielleicht wissen wir morgen schon mehr, wenn wir mal die Einsatzpläne unter die Lupe nehmen.”
„Wenn Kevin Marenberg nicht durch seinen Kollegen erschossen worden wäre, dann vermutlich durch die Sicherheitsleute in dem Einkaufszentrum”, gab ich zu bedenken. „Die sind schließlich auch bewaffnet, und selbst wenn Marenberg weiterhin wie ein Irrer um sich geschossen hätte, wäre sein Amoklauf sehr schnell zu Ende gewesen.”
Rudi wischte über sein Smartphone. Er wählte sich in das Datenverbundsystem des BKA ein. „Bingo. Der Typ, der wie unsere Hauptstadt heißt und den Thormann angeblich beschattet hat, existiert zumindest. Es gibt ein umfangreiches Dossier über ihn. Er wird sogar in Zusammenhang mit dem Tod einer Prostituierten gebracht. Man konnte ihm allerdings nichts nachweisen. Er gehört übrigens mutmaßlich zu dieser Organisation, die von Jörg Rustow angeführt wird.”
„Die Happy-Hour-Connection.”
„Genau.”
„Auf diese spezielle ,Vereinigung‘ scheint es in dieser Stadt wohl immer wieder hinauszulaufen.”
„Frag mich nicht, ob das jetzt irgendeine besondere Bedeutung hat.”
„Hatte ich auch nicht vor!”
Wir stiegen aus. Das Hotel, das Dorothea Schneidermann für uns gebucht hatte, war ein einfaches Mittelklassehaus. Wir stiegen aus. ‘Hopfengruß’ hieß das Hotel, in das Dorothea Schneidermann uns einquartiert hatte. Dieser Name stand in großen Leuchtbuchstaben über dem Eingang. Der Kofferraum war offen und Rudi hatte gerade seine Tasche herausgeholt, als plötzlich die Hölle losbrach. Schüsse peitschten und ließen die Scheibe des SUV splittern. Rudi und ich duckten uns hinter dem Wagen und nahmen Deckung. Dabei rissen wir die Dienstwaffen aus den Holstern. Während des Fluges hatten wir sie wie üblich zur Aufbewahrung abgeben müssen, aber inzwischen trugen wir sie natürlich längst wieder bei uns.
Allerdings war es für einige Augenblicke vollkommen unmöglich, hinter dem Wagen hervorzutauchen. Mindestens dreißig oder vierzig Geschosse prasselten in unsere Richtung. Ein kleiner Teil ging in die Hauswand hinter uns. Dann war es vorbei.
Ich hatte bereits das Handy am Ohr und verständigte die Kollegen aus Essen. Mochte dessen provisorischer Chef auch zurzeit nicht mehr in seinem Büro sein - irgendjemand war jetzt dort und nahm meinen Notruf entgegen.
Die Einsatzkräfte der Essener Polizei rückten wenig später von ganz alleine an. Die Schüsse waren vermutlich so laut gewesen, dass man sie selbst auf dem nächstgelegenen Polizeirevier unmöglich hätte überhören können.
Vorsichtig tauchten wir aus der Deckung.
„Das kam von irgendeinem der umliegenden Gebäude”, meinte Rudi.
Einige quaderförmige Wohnblöcke und Bürohäuser standen vor uns, davor kleinere Gebäude. Von wo der Beschuss genau gekommen war, konnte keiner von uns wirklich ausmachen.
Andererseits musste man kein Ballistiker sein, um anhand der Treffer an unserem SUV zu sehen, dass die Schüsse nicht nur von einem Ort aus abgegeben worden waren.
Ich ließ den Blick schweifen und hoffte, irgendwo noch jemanden entdecken zu können. Eine Bewegung, einen Schatten - irgendetwas. Aber da war nichts. Gar nichts.
„Die haben sich in aller Ruhe davongemacht, während wir noch auf dem Boden lagen”, stellte ich fest, während ich mir ein paar Plastiksplitter von der Kleidung wischte. Sie waren rot und kamen von einem der Rücklichter des SUV, das die Schüsse vollkommen zerfetzt hatten.
„Soll das vielleicht so etwas wie eine Warnung sein oder waren das verdammt miese Schützen?”, meinte Rudi.
„Jedenfalls lassen wir das nicht auf sich beruhen”, knurrte ich finster. „Anscheinend kann in dieser Stadt jeder machen, was er will - aber diese Zeiten sind nun vorbei!”
10
Sirenen heulten, Einsatzfahrzeuge brausten zum Ort des Geschehens. Es dauerte nur Minuten, dann wimmelte es vor dem ‘Hopfengruß’ nur so von uniformierten Polizisten.
„Michael Oldach”, stellte sich uns der Einsatzleiter vor. Er trug eine Schutzweste. „Am besten Sie gehen aus dem Schussfeld. Die Täter sind zwar wahrscheinlich längst über alle Berge, aber es könnte auch sein, dass die noch irgendwo hier auf Sie lauern.”
„Das glaube ich nicht”, sagte ich. „Es ist so, wie Sie vermuten. Die sind längst weg.”
„Dann sollten Sie jetzt aber trotzdem erst einmal eine Schutzweste anlegen”, beharrte Oldach.
Er war ein untersetzter Mann mit dunklem Schnauzbart.
Ich zeigte ihm meinen Ausweis.
„BKA-Kriminalinspektor Harry Kubinke. Und dies ist mein Kollege Kriminalinspektor Rudi Meier.”
„Ah, ich habe davon gehört …”
„Was haben Sie gehört?”
„Dass jemand aus Berlin kommen soll, um herauszufinden, um die näheren Umstände dieser … Sache herauszufinden.”
„Dieser Sache?
„Ich meinte den Amoklauf unseres Chefs. Das ist für den Ruf unserer Stadt so furchtbar, Sie können sich das gar nicht vorstellen.”
„Es wundert mich, dass Sie davon wissen, dass man uns damit beauftragt hat, den Fall aufzuklären.”
„Das hat sich hier schnell herumgesprochen. Es gibt ein paar ehemaliger Polizisten aus dem Essener Polizeipräsidium, die später zum BKA gewechselt sind. Insofern gibt es da Verbindungen.”
„Ich verstehe”, sagte ich.
Weitere Einsatzkräfte trafen etwas später ein. Zu diesem Zeitpunkt suchten die anderen Polizisten bereits die umliegenden Gebäude ab.
Ein Einsatzwagen der Notfallambulanz war ebenfalls vorsorglich gerufen worden, aber da niemand verletzt war, konnte der umgehend wieder abgezogen werden.
Auch Timo Gottfriedson, der kommissarisch eingesetzte Dienststellenleiter erreichte den Ort des Geschehens, und wir lernten ihn auf diese Weise persönlich kennen. Er trug einen Smoking mit Fliege.
„Die Meldung, dass man auf Sie geschossen hat, erreichte mich auf dem Weg zu einer Wohltätigkeits-Gala”, sagte Gottfriedson. „Deshalb mein Aufzug. Es geht um die Unterstützung von Verbrechensopfern, die dauerhafte Schäden davontragen, bei denen die Täter dafür aber nicht aufkommen können, weil sie zahlungsunfähig sind. Ich sollte eine kleine Rede halten.” Er sah auf die Uhr. „Und je nachdem, welchen Verlauf das hier nimmt, schaffe ich das vielleicht sogar noch.”
„Es freut mich jedenfalls, Sie kennenzulernen”, sagte ich. „Ich bin Kriminalinspektor Harry Kubinke und dies ist mein Kollege Kriminalinspektor Meier.”
„Tja, wir stehen hier alle ein bisschen unter Schock, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Sie meinen den Amoklauf Ihres Kollegen”, schloss ich.
Gottfriedson nickte.
„Ich habe lange mit Kevin Marenberg zusammengearbeitet. Wir waren schon als Kommissare im Außendienst jahrelang Partner, und ich wusste immer, dass ich mich auf niemand so verlassen kann wie auf Kevin. Und dann das! Ich hätte es kaum geglaubt, wenn ich nicht die Bilder der Überwachungskameras in dem Einkaufszentrum gesehen hätte. Ein Irrer, der schießend durch die Gegend läuft und leider nur durch ein paar Kugeln daran gehindert werden konnte, noch mehr Menschen zu verletzen oder zu töten.” Gottfriedson schüttelte energisch den Kopf. „Sie können mir glauben, keiner bei uns wird damit so schnell fertig werden. Ich meine, Verbrechen sind unser Alltag. Aber wenn ein Polizist so etwas tut, dann verunsichert das die ganze Stadt. Auf wen soll man sich dann noch verlassen? Wem vertrauen?”
„Ja, ich verstehe gut, was Sie meinen”, sagte ich.
„Aber über dieses Thema werden wir uns sicher morgen noch ausführlich unterhalten. Zunächst einmal bin ich froh, dass Ihnen nichts passiert ist.”
„Es war knapp”, sagte Rudi.
„Und wir hatten vermutlich einfach Glück”, ergänzte ich.
„Sie können davon ausgehen, dass meine Leute alles tun werden werden, um den oder die Schützen zu ermitteln, die auf Sie das Feuer eröffnet haben”, versprach Gottfriedson. „Ich habe dafür gesorgt, dass sämtliche verfügbaren Leute sofort aus dem Feierabend gerufen werden. Tut mir leid, ich hätte Ihnen eine freundlichere Begrüßung in Essen gewünscht.”
„Haben Sie irgendeine Idee, wer es auf uns abgesehen haben könnte?”
„Wir haben es in den letzten Jahren hier in Essen und Umgebung mit einer verstärkten Aktivität rivalisierender Banden zu tun. Insbesondere stehen wir vor dem Problem, dass sich hier in Essen ein überregionales Zentrum des Designer-Drogenhandels befindet.”
„Sprechen Sie von der Happy-Hour-Connection?”, fragte ich.
„Ja, unter anderem. Aber das ist nicht die einzige Organisation dieser Art. Auch andere Banden sind sehr aktiv. Und von Psychodrogen bis zu gefälschten Medikamenten aller Art haben die alles im Angebot, was man mit einem guten chemischen Labor herstellen kann. Über Clubs und zum Teil auch über das Internet läuft dann die Verteilung. Die dazugehörige Infrastruktur zur Geldwäsche ist leider auch vorhanden und mittlerweile gehen diese Organisationen einfach so geschickt vor, dass es sehr schwer geworden ist, sie mit den Mitteln der Justiz wirksam zu bekämpfen.”
„Was wollen Sie mir jetzt damit sagen? Dass diese Leute auf zwei BKA-Kriminalinspektoren schießen, die gerade aus Berlin gekommen sind, weil sie denken, dass wir derentwegen hier sind?”
„Vielleicht haben sie Sie mit jemand anderem verwechselt. Vielleicht denken die auch genau das, was Sie gerade vermutet haben. Wer will das schon im Einzelnen wissen?” Gottfriedson zuckte mit den Schultern. „Fakt ist, dass diese Banden immer wieder versuchen, einzelne Ermittler oder ganze Abteilungen einzuschüchtern. Wir haben schon Familienangehörige unter Polizeischutz stellen müssen.”
Rudi deutete auf den Wagen.
„Wäre jedenfalls ganz angenehm, wenn wir ein anderes Fahrzeug zur Verfügung gestellt bekommen könnten.”
„Natürlich”, sagte Timo Gottfriedson. „Das werde ich sofort veranlassen. Wenn Sie wollen, steht hier in einer Viertelstunde ein anderer Wagen zu ihrer freien Verfügung.”
„Danke”, sagte Rudi.
„Sagen Sie, an welches schwarze Brett haben Sie eigentlich die Nachricht geheftet, dass jemand wie wir nach Essen kommt?”, fragte ich Gottfriedson schließlich noch.
Der kommissarische Dienststellenleiter sah mich zunächst etwas erstaunt an.
„Wie meinen Sie das denn?”
„Ein Kollege hat mich gleich darauf angesprochen, und was dieses Bleigewitter eben angeht, bin ich eigentlich auch nicht geneigt, an einen Zufall oder eine Verwechslung zu glauben. Wer so etwas organisieren kann, der weiß was er tut. Da gehe ich jede Wette ein!”
Gottfriedson schwieg einige Augenblicke. Er wirkte etwas verunsichert.
„Ich kann Ihnen Ihre Frage leider nicht beantworten. Zwischen Polizei und BKA gibt es eine Reihe von persönlichen Querverbindungen …”
„Ja, das haben wir schon gehört.”
„Ich stehe Ihnen jedenfalls jederzeit zur Verfügung. Und wenn Sie irgendwelche Unterstützung brauchen, dann lassen Sie es mich wissen. Ich mache Ihnen den Weg frei.”
„Wir werde mit Sicherheit darauf zurückkommen müssen.”
„Und ich würde Ihnen vorschlagen, ein anderes Hotel zu nehmen, wenn Sie wirklich annehmen, dass das ein gezielter Anschlag auf Sie beide war.”
11
Eine Viertelstunde später stand tatsächlich ein anderer SUV zu unserer Verfügung. Wir packten unsere Sachen in den Kofferraum, blieben aber noch etwas vor Ort, weil wir den weiteren Gang der Ermittlungen am Tatort abwarten wollten. Rudi nutzte die Zeit, um sein Laptop zu überprüfen. Unsere Sachen hatten zum Glück wenig abbekommen. Eine Kugel war in meine Tasche gefahren und hatte mir ein Unterhemd zerfetzt und das Deo zerspringen lassen. Jetzt roch alles ziemlich intensiv. Aber nicht unangenehm. Immerhin hatte Rudis Laptop nichts abbekommen.
Mein Kollege suchte uns online ein anderes Hotel. Dabei war es wohl auch besser, wenn wir nicht die Hilfe unserer Kollegen in Anspruch nahmen.
Schließlich wusste niemand von uns, ob und wenn ja, wo es da eine undichte Stelle gab. Und vielleicht existierten ja nicht nur personelle Überschneidungen zur Polizei von Essen, sondern auch zu Organisationen wie der Happy-Hour-Connection. Auszuschließen war das in meinen Augen inzwischen jedenfalls nicht mehr.
„Ich habe was Feines gefunden”, sagte Rudi schließlich.
„Hauptsache, du verrätst es niemandem, damit wir diesmal etwas gastlicher empfangen werden“, meinte ich.
„Weißt du, was mich wundert?”
„Was?”
„Da sind schätzungsweise dreißig, vierzig Schuss abgegeben worden. Vielleicht sogar noch mehr …”
„Mitgezählt habe ich nicht”, warf ich ein.
„Wenn die uns wirklich hätten töten wollen, dann hätten die das auch geschafft, Harry.”
„Es fühlte sich andererseits aber auch nicht so an, als hätten sie absichtlich daneben geschossen.”
„Das sollte es doch auch nicht.”
„Du meinst, da wollte uns jemand einschüchtern?”
„Das könnte sein.”
Mir fiel ein Wagen auf, der mit dem Schriftzug eines lokalen Fernsehsenders versehen war. Ein Kamerateam samt Moderatorin machten sich daran, einen Polizeimeister der hiesigen Polizei anzusprechen.
„Ja, vielleicht ergibt das sogar einen Sinn”, murmelte ich. „Jedenfalls, wenn man von etwas ablenken will.”
Timo Gottfriedson, der inzwischen nicht mehr in unserer Nähe stand, hatte die Vertreter der lokalen Medien längst entdeckt und ging ihnen sogar entgegen. Die ließen sich das natürlich nicht entgehen. Bald stand er vor einem Mikrofon, schaute mit angemessenem Ernst in die Kamera und gab ein improvisiertes Statement zu den Geschehnissen ab.
Inzwischen hörten wir von einem Kollegen der Polizei, dass auf dem Flachdach eines mehrstöckigen Gebäudes ganz in der Nähe Patronenhülsen gefunden worden waren. Außerdem waren inzwischen Erkennungsdienstler aus Essen dabei, Projektile sowohl aus dem zerschossenen SUV, als auch aus der dahinterliegenden Hauswand zu sichern.
„Hast du viel Vertrauen in die Arbeit der Leute?”, fragte mich Rudi.
„Wenn wir die Projektile erst nach Berlin schicken, verlieren wir zu viel Zeit, bis wir Ergebnisse haben”, meinte ich.
„Ja, aber ob wir hier die richtigen Ergebnisse bekommen.”
„Wieso nicht?”
„Harry, es ist schließlich nicht der erste Fall hier, in dem es Unregelmäßigkeiten gab und zum Beispiel Beweise plötzlich verschwunden sind.”
In diesem Punkt musste ich Rudi natürlich recht geben. Allerdings hieß das noch nicht, dass man nun unbedingt an eine allumfassende Verschwörung denken musste. Dass die gesamte Polizei und auch noch der Erkennungsdienst, in der Sache mit drinsteckte, konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Vielleicht wollte ich mir das einfach nur nicht vorstellen.
„Ich habe folgenden Vorschlag, Rudi: Wir beschlagnahmen ein paar der Projektile, um sie nach Quardenburg zu schicken. Um den Rest kümmern sich die Kollegen in Essen.”
„Meinetwegen.”
„Dann dürfte auch dein misstrauisches Herz zufriedengestellt sein.”
„Hey, sonst bist du doch derjenige, der überall das Gras wachsen hört, Harry!”
12
Wir fuhren zu unserem neuen Hotel. Es lag am Stadtrand, und wir machten einen Umweg quer durch Essen, um zu verhindern, dass uns jemand folgte. Vollkommen ausschließen kann man das natürlich nie. Aber in den Jahren, die Rudi und ich im Außendienst in den Straßenschluchten von Hamburg verbracht hatten, konnten wir natürlich in dieser Hinsicht einiges an Erfahrung sammeln. Man bemerkt so etwas dann. Meistens zumindest.
In diesem Fall schien es so zu sein, dass sich niemand an unsere Fersen geheftet hatte.
Bevor wir das Hotel aufsuchten, machten wir noch einen kleinen Abstecher und sorgten dafür, dass ein paar Projektile und Patronenhülsen mit Hilfe eines privaten 24-Stunden-Kurierdienstes nach Quardenburg gesandt wurden. Ich informierte Dr. Förnheim mit einer Mail, dass Arbeit auf ihn zukam.
„Zumindest könne wir dann hinterher vielleicht beweisen, dass etwas nicht ordentlich abgelaufen ist”, meinte Rudi.
„Wir müssen zuerst klären, was mit Kevin Marenberg unmittelbar vor seinem Amoklauf geschehen ist”, sagte ich.
„In den Unterlagen steht, dass er einen freien Tag hatte” sagte Rudi. „Zumindest geht das aus den Dienstplänen hervor, die wir zur Verfügung haben. Inwieweit die allerdings vollständig sind, steht natürlich auf einem anderen Blatt.”
Ich sah auf die Uhr.
„Das Einkaufszentrum, in der Marenberg herumgeballert hat, sehen wir uns morgen an. Möglichst zur selben Uhrzeit, zu der der Amoklauf geschah. Aber mit der Familie von Marenberg können wir vielleicht schon heute Abend beginnen.”
„Du willst sie befragen?”
„Rudi, wenn er einen freien Tag hatte, wäre es doch eigentlich logisch, dass er ihn zu Hause verbracht hat.”
„Auch dazu habe ich in den Daten, die uns bislang zur Verfügung stehen, vergeblich etwas gesucht. Es sind keine Angaben dazu gemacht worden. Und die Ehefrau von Dienststellenleiter Marenberg wurde entweder nicht vernommen oder man hat uns die Aussage nicht mitgeliefert.”
Wir richteten uns provisorisch in unseren Hotelzimmern ein und anschließend telefonierte ich etwas. Zuerst mit Marenbergs Witwe. Sie war damit einverstanden, dass wir ihr noch an diesem Abend einen Besuch abstatteten. Und dann versuchte ich die Ärzte und Psychologen zu erreichen, die Marenberg konsultiert hatte. Zumindest die, von denen wir wussten. Es war ja nicht ausgeschlossen, dass auch diese Liste nicht vollständig war. Aber da erreichte ich niemanden. In einem Fall sprach ich auf einen Anrufbeantworter. Und dann rief ich noch den Chef des Sicherheitsdienstes aus dem Happy-Family-Einkaufszentrum an, um mit ihm ein Treffen für den nächsten Tag zu vereinbaren. Mein Gesprächspartner war offensichtlich zu Hause und sah sich ein Baseballspiel im Fernsehen an. Jedenfalls konnte man das im Hintergrund hören.
Das Hotel, in dem wir uns einquartiert hatten, verfügte auch über ein Restaurant. Aber dort etwas zu essen, hätte uns zu lange gedauert. Auf dem Weg zur Witwe von Kevin Marenberg genehmigten wir uns einen Hot Dog auf die Hand.
„Fast so wie in den alten Zeiten in Hamburg”, meinte Rudi kauend. „Ehrlich, dieses ungesunde Zeug habe ich wirklich vermisst.”
Essen war inzwischen zu einem glitzernden Lichtermeer geworden. Nicht so eindrucksvoll wie Hamburg und auch nicht mit Berlin vergleichbar, aber eine Großstadt von ungefähr 585 000 Einwohnern, deren Ausdehnung nie durch irgendwelche natürlichen Grenzen beeinträchtigt worden war, denn weitere Städte wie zum Beispiel Oberhausen grenzen unmittelbar an Essen. Dementsprechend weiträumig war das besiedelte Gebiet. Und die durchschnittliche Höhe der Gebäude war auch nicht niedriger wie in Hamburg und Berlin.
Die Familie von Kevin Marenberg bewohnte einen Bungalow am Rand der Stadt. Er lag an einer breiten Allee. Die Häuser, die hier zu finden waren, waren allesamt auf sehr großzügig zugeschnittenen Grundstücken errichtet worden. Wir parkten am Straßenrand und stiegen aus.
Barbara Marenberg machte uns wenig später die Tür auf. Sie war blond, das Gesicht feingeschnitten, die Augen leuchteten blau, und ihr Lächeln war offen und freundlich. Aber um ihre Mundwinkel war ein harter Zug, wie er zu jemandem passte, der viel durchgemacht hatte.
Sie ließ sich das nicht anmerken und wenn sie lächelte, war das kaum zu sehen. Aber mir entging es trotzdem nicht.
„Kommen Sie herein!”, sagte sie.
„Mein Name ist Harry Kubinke. Wir hatten gerade schon telefoniert.”
„Ich stehe Ihnen gerne für alle Fragen zur Verfügung.”
„Dies ist mein Kollege Rudi Meier.”
„Ich habe gehört, dass Sie die Aufgabe haben, im Auftrag der Zentrale in Berlin jeden Stein in der hiesigen Dienststelle umzudrehen”, sagte Barbara Marenberg, während sie uns in ein weiträumiges Wohnzimmer mit weißem, flauschigen Teppichboden führte.
„Wer hat Ihnen das denn erzählt?”, fragte ich.
„Gerd.”
„Gerd Thormann?”, vergewisserte ich mich.
„Sie sind ihm schon begegnet?”
„Ja. Aber was mich doch etwas wundert, ist die Tatsache …”
„… dass ich mit Gerd Thormann noch gesprochen habe, nach allem was geschehen ist?”
„Er hat immerhin Ihren Mann erschossen, und ich stelle es mir etwas schwierig vor … Ich meine, auch wenn Kommissar Thormann vermutlich keine andere Wahl hatte, aber …”
„Er hatte keine andere Wahl”, unterbrach mich Barbara Marenberg. Sie schluckte und verschränkte die Arme vor der Brust. Auf dem Boden lag ein gewaltiger Hund. Eine Dogge. Auf allen Vieren hätte dieses Tier mir vermutlich bis zur Hüfte gereicht. Mindestens.
Die Dogge hob den Kopf, so als spürte sie, dass Barbara Marenberg durch irgendetwas aufgewühlt wurde.
„Ganz ruhig”, sagte sie zu dem Hund. Sie deutete auf die Sitzecke. „Nehmen Sie Platz! Der Hund beißt nicht.”
„Wenn Sie sich dafür verbürgen”, meinte Rudi.
Wir nahmen Platz. Barbara Marenberg kraulte die Dogge hinter den Ohren.
„Ich habe gelesen, Sie haben einen Sohn”, sagte ich.
„Der ist bei meinen Eltern in Bottrop”, sagte Barbara Marenberg. „Hier in Essen wäre es unerträglich für ihn geworden. An seiner Gesamtschule sowieso, aber in der Zwischenzeit haben ihn auch Reporter verfolgt. ‘Wie fühlt man sich, wenn der eigene Vater als Amokläufer durch ein Einkaufszentrum rennt?’ Nicht einmal vor minderjährigen Teenagern haben diese Leute Respekt!” Der Zorn, den sie darüber empfand, war ihr deutlich anzuhören. Sie presste die Lippen gegeneinander. „Und an der Gesamtschule, auf die mein Sohn ging, waren natürlich auch Schüler, die bei diesem Vorfall in dem Einkaufszentrum verletzte Angehörige haben. Ich wollte ihm das nicht länger zumuten und Bottrop ist weit genug weg, denke ich, damit er zu sich kommen kann. Ich bin ihm da wahrscheinlich keine Hilfe im Moment, das weiß ich wohl. Umso wichtiger, dass er ein stabiles Umfeld hat.”
„Ja, das verstehe ich”, sagte ich. „Sehen Sie, wir wollen die Wahrheit über diesen Fall herausfinden. Und ich denke, das wollen Sie auch.”
„Natürlich.”
„Ich weiß, dass man nach so einer Sache nur sehr schwer wieder Frieden finden kann und sich sicherlich alle möglichen Fragen stellt. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass das besser wird, wenn die Wahrheit herausgefunden wurde. Aber ich kann Ihnen sagen, dass ohne einen Blick auf die Wahrheit gar nichts besser werden wird.”
„So?”, sagte sie. „Woher wollen Sie das denn so genau wissen? Woher wollen Sie überhaupt wissen, wie es mir zurzeit geht?”
„Sie haben recht. Das kann wahrscheinlich nur jemand nachempfinden, der dasselbe durchgemacht hat wie Sie. Aber sehen Sie, in den Jahren, in denen ich schon im Dienst bin, habe ich des Öfteren mit Menschen wie Ihnen zu tun gehabt. Auch wenn es Ihnen in diesem Moment natürlich kein Trost sein kann, Sie sind nicht allein mit dem, was Sie durchmachen.”
Sie sah auf. Für einen Moment musterte sie mich. Auf ihrer Stirn bildete sich eine Falte genau oberhalb der Nasenwurzel. Dann nickte sie schließlich.
„Sie scheinen ein sehr einfühlsamer Kriminalist zu sein. Das ist sicherlich selten.”
Ich fragte mich, ob diese Bemerkung auf ihren Mann gemünzt war. Ich hatte zumindest das Gefühl. Mein Instinkt trügt mich selten und so nahm ich mir vor, auf diesen Punkt irgendwie noch mal zurückzukommen. Genauso wie auf den Umstand, dass es ihr offenbar nichts ausgemacht hatte, den Mann zu treffen, der ihren Mann erschossen hatte. Von irgendeiner juristischen oder persönlichen Schuld mal ganz abgesehen, so hätten es wahrscheinlich die meisten Menschen in Barbara Marenbergs Lage vorgezogen, die Person, die für den Tod eines geliebten Menschen verantwortlich war, erst einmal nicht zu begegnen.
„Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen”, sagte ich. „Und vielleicht wird es schmerzhaft für Sie sein, die zu beantworteten. Aber diese Antworten werden uns vielleicht helfen, die Wahrheit über den Tod Ihres Mannes herauszubekommen.”
„Fragen Sie”, sagte sie. „Bringen wir es hinter uns!”
„Wann haben Sie Ihren Mann zum letzten Mal gesehen?”
„Sie meinen zum letzten Mal vor … seiner irren Entgleisung in dem Einkaufszentrum oder wie immer man das auch nennen will.” Ihre Stimme hatte auf einmal einen ungewohnt harten Klang. Mir fiel auf, dass sie nicht vom Tod ihres Mannes gesprochen hatte, sondern von seiner Tat. Letzteres schien für sie wichtiger zu sein, als ersteres.
„Ganz genau”, bestätigte ich. „Er hatte den Unterlagen nach einen freien Tag. Und da ich keinerlei Hinweise oder genauere Angaben dazu finden konnte, dachte ich, dass Sie dazu etwas sagen könnten.”
„Ich?”
„Die meisten Menschen verbringen freie Tage zu Hause.”
„Ja, aber mein Mann war nicht wie die meisten Menschen.” Wieder klang diese Härte durch, gemischt mit einem Unterton bodenloser Enttäuschung. Da hatte es zu Lebzeiten einen Riss zwischen den beiden Marenbergs gegeben, da war ich mir jetzt sicher. Irgendetwas schien da nicht so zu sein, wie es nach außen scheinen sollte.
„Wo war Ihr Mann denn an dem Tag?”, hakte ich nach.
„Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht. Nach außen haben wir eine halbwegs harmonische Ehe geführt, aber ich will Ihnen die Wahrheit sagen: Der Lack war schon lange ab. Er … hat sich verändert.”
„Hatte das etwas mit seinen Depressionen zu tun?”
„Eher mit den Medikamenten, die er nahm. Seine Krankheit wäre behandelbar gewesen. Aber Kevin hat nicht auf seine Ärzte gehört. Er hat alles Mögliche durcheinander genommen und wurde zunehmend unberechenbar. Manchmal war er tagelang völlig apathisch. Er war dann nicht einmal in der Lage, in sein Büro zu gehen. Dann war er wie ausgewechselt und vollkommen überdreht. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass er unter einem enormen Druck stand.”
„Was für ein Druck war das?”, fragte ich. „Wissen Sie, was ihn belastet hat?”
„Das hat er nicht einmal seinem Psychologen offenbart.”
„Meinen Sie, den vom BKA oder einen anderen?”
„Ich meine alle beide. Ich habe mit beiden gesprochen und sie waren recht offen zu mir, obwohl das eigentlich gegen die Vorschriften ist. Er war wohl nur daran interessiert, dass sie ihm bestimmte Medikamente verschreiben. Aber diese Medikamente hat er in immer höheren Dosen genommen und ich glaube, das war ein Teil des Problems.”
„Ja, ich würde gerne noch einmal auf den Punkt zurückkommen: Wo war Ihr Mann in der Zeit vor seinem Amoklauf in dem Einkaufszentrum? Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?”
„Morgens beim Frühstück. Er hat nichts gegessen, nur einen Kaffee getrunken. Und eigentlich dachte ich, dass er zum Büro fahren würde. Dass er einen freien Tag hatte, ist mir völlig neu. Davon wusste ich bisher nichts. Aber was spielt das für eine Rolle?”
„Tja, das wissen wir noch nicht so genau”, meinte ich.
13
„Was hältst du von ihr?”, fragte Rudi, als wir wieder im Wagen saßen.
„Ich kann mir vorstellen, dass es für sie nicht so einfach mit Marenberg war. Seine Tablettensucht, vielleicht sogar sein Konsum von Designerdrogen, die psychische Erkrankung, die ihm zu schaffen machte …”
„Glaubst, dass sie was mit Gerd Thormann hatte?”
„Auszuschließen ist das nicht.”
„Könnte der Hintergrund der Tragödie in dem Einkaufszentrum vielleicht damit zusammenhängen?”
„Du denkst an ein Eifersuchtsdrama, Rudi?”
„Keine Ahnung. Es ist nur so ein Gedanke. Geliebter und Kollege von Marenbergs Frau setzt Marenberg unter Drogen, der läuft wild um sich schießend durch das Einkaufszentrum …”
„… und wäre doch von den Wachleuten erschossen worden, wenn Thormann nicht eingegriffen hätte”, fuhr ich dazwischen. „Wenn es so wäre, wie du sagst, dann wäre es für Thormann viel klüger gewesen, einfach abzuwarten und darauf zu vertrauen, dass andere den Job erledigen. Wieso hätte er sich dann auch noch selbst verdächtig machen und in den Fokus der Ermittlungen stellen sollen? Thormann ist nun wirklich ein Insider. Der konnte sich an zwei Fingern ausrechnen, wie so eine Untersuchung laufen würde.” Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das ergibt keinen Sinn, Rudi.”
„Aber du findest es doch auch merkwürdig, wie Barbara Marenberg auf die ganze Sache reagiert hat - und dass sie sich offenbar mit Thormann getroffen hat.”
„Ja, ich gebe zu, das hat mich auch irritiert”, gestand ich.
„Na, also!”
„Vielleicht hat du sogar recht, und Barbara Marenberg hat sich in irgendeiner Weise mehr Trost bei Thormann gesucht, als das mit den Regeln ehelicher Treue vereinbar ist.”
„Jetzt gibst du mir wieder recht. Und was stimmt dann bitte schön an meiner Theorie nicht, Harry?”
„Zum Beispiel die Tatsache, dass Dr. Wildenbacher uns auf ein paar sehr charakteristische Hämatome hingewiesen hat, die belegen, dass Marenberg vermutlich getragen wurde. Und zwar von mindestens zwei Personen.”
„Er könnte auch nacheinander an Hand und Fußgelenken und dann noch unter den Achseln gepackt worden sein. Von einem einzelnen! Und abgesehen davon könnten sich Thormann und Barbara Marenberg ja auch zusammengetan und das Ding gemeinsam durchgezogen haben.”
„Rudi …”
„Harry, ich weiß, dass das nur eine Hypothese ist. Und mir ist auch bewusst, dass da ein paar Puzzleteile fehlen, so dass sich keine schlüssige Indizienkette ergibt.”
„Eben!”
„Aber ganz ausschließen sollten wir die Möglichkeit auch nicht, dass das Ganze einen privaten Hintergrund hat.”
„Okay, ausschließen sollten wir in der Tat gar nichts”, gestand ich meinem Partner zu. „Aber ehrlich gesagt, fällt es mir schwer zu glauben, dass so etwas dahinterstecken sollte. Zumindest kann das nicht der einzige Aspekt sein.”
„Ich will ja nur, dass wir wirklich an alle Möglichkeiten denken, Harry. Und nicht etwa eine Ermittlungsrichtung vorschnell ausschließen.”
Während der Fahrt zum Hotel telefonierten wir noch mit Kriminaldirektor Hoch und gaben ihm einen kurzen vorläufigen Bericht über den neuesten Stand der Dinge. Vor allem informierten wir ihn über die Schüsse auf uns und die Tatsache, dass wir uns inzwischen eine andere Unterkunft gesucht hatten.
„Sie beide machen am besten einfach Ihren Job, so wie Sie das gelernt haben”, meinte Kriminaldirektor Hoch. „Dann wird schon das Richtige dabei herauskommen. Da vertraue ich Ihnen voll und ganz.”
„Danke”, sagte ich.
„Aber wenn Sie meine Empfehlung hören wollen: Seien Sie besser nicht allzu vertrauensselig, was Ihre Kollegen in Essen angeht. Marenberg hatte Probleme. Und nach dem, was wir bisher wissen, muss das eigentlich jemandem aufgefallen sein.”
„Aber es hat sich niemand gerührt”, sagte ich.
„Ja, aber das müssen Sie verstehen. Marenberg war beliebt, und er hat sich früher wirklich durch hervorragende Arbeit ausgezeichnet. Ich habe heute mit jemandem gesprochen, der früher mit ihm zusammengearbeitet hat und jetzt hier in der Zentrale in Berlin sitzt. Der war immer noch voller Bewunderung für Marenberg.”
„Aber er hat sich verändert. Und er wurde zu einer Gefahr für sich und andere.”
„Es wäre nicht das erste Mal, dass die Menschen im engsten Umfeld das zuletzt erkennen.”
„Ja, das ist natürlich auch wieder wahr.”
„Übrigens trat auch bei dem Gespräch, von dem ich Ihnen gerade berichtet habe, immer wieder ein Charakterzug besonders hervor, der Marenberg wirklich ausgezeichnet zu haben scheint: Sein immenser Ehrgeiz und sein Perfektionismus.”
„Umso erstaunlicher, dass es zu einer derartigen Häufung von Ungereimtheiten und Fehlern unter seiner Führung kommen konnte.”
„Da gebe ich Ihnen recht.”
„Andererseits würde es den Druck erklären unter dem Marenberg anscheinend stand.”
„Und vielleicht auch den Ausbruch seiner Erkrankung”, gab Kriminaldirektor Hoch zu bedenken. „Er konnte seine eigenen überhöhten Ansprüche nicht erfüllen. Das wäre durchaus typisch. Und typisch wäre auch, dass er dann versucht hat, gewissermaßen etwas nachzuhelfen, damit die gewünschten Ergebnisse erbracht werden.”
„Trotzdem kann ich noch immer nicht sagen, dass ich wirklich auch nur ein ungefähres Bild davon hätte, was diesen Mann eigentlich bewegt hat. Und vor allem nicht, was dazu geführt hat, dass es zu dieser furchtbaren Tragödie in dem Einkaufszentrum kam.”
„Ich schlage vor, Sie nutzen den Rest der Nacht, um noch etwas zu schlafen. Morgen liegen vielleicht schon ein paar neue Erkenntnisse vor und das eine oder andere löst sich dann ganz von selbst auf.”
„Ja. Wir melden uns wieder”, antwortete ich.
14
Jörg Rustow griff zu dem Prepaid-Handy auf seinem Nachtisch.
„Was gibt’s?”, fragte er.
„Haben Sie die Meldungen über die Schießerei vor dem Hotel ‘Hopfengruß’ verfolgt?”
„Habe ich, Mario! Habe ich! Die Lokalnachrichten waren ja voll davon.”
„War das so nach Ihren Wünschen?”
„Absolut.”
„Es sollen zwei BKA-Kriminalinspektoren aus Hamburg gewesen sein, die da in den Kugelhagel geraten sind.”
„Ich mache dir einen Vorschlag, Mario: Hör nicht so genau hin, was erzählt wird oder was im Fernsehen gezeigt wird. Kümmere dich einfach nur darum, was ich dir sage, klar?”
„Wenn Sie meinen …”
„Du und die Jungs, ihr habt das großartig gemacht. Ihr bekommt einen Bonus.”
„Ich werde es den anderen sagen.”
„Und das Doppelte kriegt ihr, wenn ihr mir noch bei einer anderen Sache helft.”
„Ich bin ganz Ohr, Herr Rustow.”
„Es geht um Bella …”
„Was ist mit ihr?”
Jörg Rustow blickte neben sich. Bellas wohlgeformter Körper lag ausgestreckt da. Ihre Augen blickten starr und tot zur Decke.
„Überdosis, glaube ich”, sagte Rustow. „Ich will aber jetzt auch nicht, dass da ein Arzt an der Leiche herummacht. Das gibt nur Schwierigkeiten … Meine Güte, ich habe ihr so oft gesagt, dass sie nicht so viel Zeug durcheinander nehmen soll - und vor allem nicht so viel. Maß halten ist alles, sage ich immer.”
„Ja, Herr Rustow.”
„Aber das erzähl mal einer Junkie-Frau, die außerdem noch Heißhunger auf alle möglichen lustigen Pillen hat und wer weiß was für Cocktails reinpfeift.”
„Was sollen wir tun?”
„Entsorgt sie”, sagte Jörg Rustow hart. „Und zwar so, dass ich keine Schwierigkeiten kriege. Du weißt doch, ich mag diese Scherereien mit den Behörden nicht.”
„Wird erledigt, Herr Rustow”, sagte Mario.
„Besten Dank. Ich werde mich erkenntlich zeigen.”
„Das weiß ich.”
„Aber ihr müsst das noch heute Nacht erledigen.”
„In zwanzig Minuten sind wir bei Ihnen.”
„Gut”, nickte Rustow und beendete das Gespräch. Er legte das Prepaid-Handy wieder auf den Nachttisch und warf noch einmal einen Blick auf Bella. Eigentlich schade, dachte er. So schlecht war sie nicht. Er stand auf und gähnte.
15
Am Morgen fuhren wir zur Polizeidienststelle der Kripo in Essen. Im Besprechungszimmer des Dienststellenleiters trafen wir uns mit Timo Gottfriedson. Gerd Thormann und Christina Bellmann waren ebenfalls anwesend. Außerdem noch ein Ballistiker des Erkennungsdienstes. Sein Name war Johannes Braunstein, ein Mann mit dünnem, aschblonden Haar, das immer wild in der Gegend herumstand, so als wäre es elektrisch aufgeladen.
Gottfriedson begrüßte uns.
„Sie komme gerade richtig zum Bericht des Ballistikers”, sagte er. „Ich nehme doch an, dass es Sie interessiert, wer auf Sie geschossen hat.”
„Sicher”, sagte ich.
„Es waren insgesamt drei Waffen, aus denen geschossen wurde”, erklärte uns Johannes Braunstein. „Zwei davon sind bisher nicht bei Verbrechen in Erscheinung getreten. Die dritte wurde schon mal verwendet, und zwar gleich mehrfach.”
„Das klingt interessant”, sagte Gottfriedson. „Fahren Sie fort, Herr Braunstein!”
„Es gab vor zwei Jahren eine Art Serie von Schießereien in mehreren Clubs hier in Essen. Sie werden sich erinnern.”
„Jeder, der zu dem Zeitpunkt hier gearbeitet hat, wird sich daran noch erinnern”, meinte Gottfriedson.
„Wenn Sie uns vielleicht aufklären könnten, worum es bei dieser Sache geht”, warf Rudi ein.
„Gerne”, antwortete Gottfriedson. „Das waren alles Schießereien im Zusammenhang mit der sogenannten Happy-Hour-Connection. Es gab da wohl eine Art Kleinkrieg mit einem niederländischen Drogenkartell, das versucht hat, den hiesigen Markt zu erobern.”
„Essen hat einen ziemlich hohen Anteil an Ausländern, müssen Sie wissen”, sagte jetzt Gerd Thormann. „Da haben die wohl gedacht, dass sie hier leicht Fuß fassen könnten. Eigentlich sind die Bedingungen auch ideal.”
„Nur haben sie nicht mit dem brachialen Widerstand der Happy-Hour-Connection gerechnet”, fuhr Gottfriedson fort. „Einmal die Woche wurde irgendwo ein Club zerschossen. Es sind Dutzende von Menschen umgekommen, und wir haben eine Weile schon gefürchtet, dass wir hier Zustände wie in Klein Chicago bekommen.”
„Aber Sie haben die Lage wieder in den Griff gekriegt?”, fragte ich.
„Das wäre zu schön, um wahr zu sein”, meinte Gottfriedson. „Dienststellenleiter Marenberg hat alles versucht und wirklich seinen ganzen Ehrgeiz in die Angelegenheit investiert. Letztlich glaube ich allerdings, dass da hinter den Kulissen irgendeine Art Einigung zwischen den Organisationen gelaufen ist. Es war jedenfalls plötzlich Schluss mit dem Kleinkrieg.”
„Da werden sicherlich einige Millionen den Besitzer gewechselt haben”, meinte Gerd Thormann. „Ausgleichszahlung nennt man so etwas. Man legt dann irgendeine Art Grenze fest und so lange sich die Beteiligten daran halten, ist Ruhe.”
„Jedenfalls wurde eine dieser Waffen mehrfach bei diesen Schießereien verwendet.”
„Leider konnte man damals die meisten dieser Taten nicht aufklären”, sagte Gottfriedson. „Das ist allerdings nichts Ungewöhnliches. Bei diesen Bandenkriegen kommt das leider ziemlich häufig vor, weil man bei den Ermittlungen meistens auf eine Mauer des Schweigens trifft. Aber wem sage ich das …”
„Es liegt also nahe, dass die Täter von gestern dem Milieu um die von Jörg Rustow angeführte Happy-Hour-Connection angehörte, richtig?”, sagte ich.
„Richtig”, bestätigte Gottfriedson, und auch die anderen Anwesenden nickten.
„Wieso haben die es auf zwei BKA-Kriminalinspektoren abgesehen? Wieso wussten die überhaupt, in welches Hotel wir fahren würden? Und wieso haben diese Leute plötzlich das Schießen verlernt, obwohl sie doch offenbar bei anderer Gelegenheit bewiesen haben, dass sie es können und dabei auch in der Lage sind, jemanden zu töten?”, fragte ich.
„Gute Fragen”, sagte Gottfriedson. „Wir sprachen ja gestern schon darüber.”
„Leider ohne dass sich dabei eine auch nur ansatzweise zufriedenstellende Antwort ergeben hätte.”
„Wenn Sie damit sagen wollen, dass hier jemand Informationen nach außen trägt, dann würde ich das als persönliche Beleidigung auffassen”, sagte Gerd Thormann.
„Ich habe eine weitere Frage”, fuhr ich fort. „Weshalb ist Dienststellenleiter Kevin Marenberg an dem Tag, an dem er Amok lief, laut seiner Frau ganz normal ins Büro gefahren - obwohl er offiziell einen freien Tag hatte.”
„Das steht auch so in den Dienstplänen”, erklärte Gottfriedson.
„Die Frage ist, ob die zutreffen. In den ganzen bisherigen Unterlagen zu dem Fall fehlt erstens eine Aussage seiner Frau, zweitens konnte ich überhaupt keinen Hinweis darauf finden, wo sich Marenberg in der Zeit aufhielt, bevor er durchdrehte. Seine Frau hat ihn zuletzt am Morgen gesehen, danach wissen wir nichts.” Ich sah in die Runde. „Oder irre ich mich da - und Dienststellenleiter Marenberg hatte vielleicht doch keinen freien Tag, sondern war in seinem Büro?”
„Es gibt eine Ausweis-Kontrolle am Eingang, Herr Kubinke. Das wissen Sie doch”, sagte Gottfriedson. „Schließlich sind Sie auch hereingekommen.”
„Ich will wissen, wer an diesem Tag ins Büro gegangen ist und hier anwesend war”, verlangte ich. „Oder ist das irgendein Problem?”
„Ich werde Ihnen die Daten besorgen, Herr Kubinke”, versicherte Gottfriedson. „Danach werden Sie mit Sicherheit ausschließen können, dass er hier war. Zumindest ist er mir nicht begegnet, und Sie können hier gerne jeden fragen, aber ich glaube nicht, dass Sie irgendjemanden finden, der das Gegenteil aussagen würde.”
Genau das könnte Teil des Problems sein, ging es mir durch den Kopf. Gegen Zusammenhalt in einer Abteilung oder einer Dienststelle ist überhaupt nichts zu sagen. Ganz im Gegenteil. Man ist in der täglichen Arbeit darauf angewiesen. Das weiß ich sehr wohl. Aber eine Art Corps-Geist, der den Mantel des Schweigens über Dinge deckt, die man nicht ans Licht gebracht haben will, ist etwas ganz anderes.
„Dienststellenleiter Marenberg wurde möglicherweise betäubt und ein Stück getragen, bevor ihm Injektionen gesetzt wurden, die er sich unmöglich selbst verabreichen konnte”, sagte ich.
„Sind das Spekulationen oder Tatsachen?”, fragte Gottfriedson.
„Das können Sie durchaus unter Tatsachen verbuchen”, sagte ich. „Die Kollegen unseres Ermittlungsteams sind hervorragend qualifiziert. Wenn die das sagen, dann kann man sich darauf verlassen.”
„Also hat ihn jemand mit Gewalt unter Drogen gesetzt?”, stellte Gottfriedson fest. „Ist das die Theorie?”
„Das wäre eine Möglichkeit.”
„Sie wissen schon, dass Kevin Marenberg gravierende Probleme hatte? Ein Drogenproblem, ein Medikamentenproblem und psychische Schwierigkeiten?”, mischte sich jetzt Gerd Thormann ein. „Ja, sieh mich nicht so an, Timo!”, wandte er sich an Timo Gottfriedson. „Wir müssen die Karten jetzt auf den Tisch legen. Kevin können wir nicht mehr schützen, indem wir darüber schweigen.”
Ein Augenblick des Schweigens entstand.
Gottfriedson schien mit sich zu ringen. Ich beschloss, ihm die nötigen Sekunden dafür zu geben, die richtige Entscheidung zu treffen. Und Rudi schien genauso darüber zu denken.
„Gerd hat recht”, gab Gottfriedson zu. „Er war am Ende. Seine Ehe war am Ende, seine Karriere war am Ende, und er hatte sich vollkommen verrannt. Er wollte unbedingt diesem Rustow das Handwerk legen. Diesem Gedanken hat er alles geopfert. Das war schon nicht mehr normal. Ich muss zugegeben, dass er ziemlich weit in seinen Ermittlungen gekommen ist. Aber seine massiven Stimmungsschwankungen haben es fast unmöglich gemacht, mit ihm noch zusammenzuarbeiten. Außerdem hatte er kaum noch Vertrauen zu seinen Kollegen, weil er überall irgendwelche Maulwürfe zu erkennen glaubte, die Informationen an die andere Seite weitergaben. Was glauben Sie, wie oft wir hier die Passwörter für den Zugang zum Rechnersystem geändert haben. Das war schon an der Grenze zur Paranoia, würde ich sagen.”
„Seine Frau hat sehr unter alledem gelitten”, sagte Gerd Thormann.
„Sie kenne Barbara Marenberg ganz gut, nicht wahr?”, hakte ich nach.
„Hier kennt jeder jeden.”
„Hatten Sie ein Verhältnis mit ihr?”, fragte ich dann sehr direkt.
Thormann sah mich an. Ein Blick, der fast so wirkte, als könnte er töten. Offenbar hatte Rudi mit seiner Vermutung in diesem Punkt doch einen gesunden Instinkt gehabt. Ich hatte mit meiner direkten Frage offenbar genau einen empfindlichen Nerv getroffen.
Dann hatte sich Thormann wieder unter Kontrolle. Sein Mund bildete einen dünnen, geraden Strich. Die Augen wurden schmal.
„Sagen wir so: Ich hätte gerne ein Verhältnis mit ihr gehabt, denn Barbara ist eine tolle Frau, und ich war immer der Ansicht, dass sie eigentlich etwas Besseres verdient hätte. Aber ich glaube, ich hatte bei ihr keine Chance.”
„Wegen Kevin Marenberg?”, fragte Rudi.
Gerd Thormann schüttelte den Kopf.
„Nein. In der Ehe war der Ofen aus. Und zwar schon seit geraumer Zeit. Dazu hatten all die Probleme, die Kevin hatte, zu zerstörerisch auf ihr gemeinsames Leben gewirkt.”
„Erklären Sie es uns!”, sagte ich.
„Ich war einfach nicht ihr Typ. Sie sah in mir nur einen fürsorglichen Freund, der ihr hier und da über ein paar Schwierigkeiten hinweggeholfen hat. Das ist alles. Und so blieb mir nichts anderes übrig, als das zu akzeptieren. Sie können mich also von Ihrer Verdächtigenliste streichen, denn darum ging es doch die ganze Zeit, oder etwa nicht?”
„Doch, da haben Sie schon recht”, gab ich zu. „Der Gedanke ist uns gekommen.”
„Dann möchte ich, dass Sie Folgendes zur Kenntnis nehmen: Der Augenblick in dem Einkaufszentrum, als ich Kevin gegenüberstand und gezwungen war, ihn zu erschießen, damit er nicht noch mehr Menschen in den Tod reißt, ist der schrecklichste Moment meines Lebens gewesen. Und wenn Sie glauben, dass ich gedacht habe, dadurch bessere Chancen bei Barbara zu haben, dann muss ich Sie enttäuschen. Nein, das habe ich nicht gedacht, denn ich konnte sehr wohl realistisch einschätzen, dass das nicht der Fall sein würde. Noch Fragen?”
„Im Moment nicht, Herr Thormann.”
„Danke.”
16
Thormann erhob sich, trank sein Glas Wasser, das er vor sich auf dem Tisch im Besprechungszimmer stehen hatte, aus, und verließ mit energischen Schritten den Raum.
„Machen Sie sich keine Sorgen! Der fängt sich schon wieder”, sagte Timo Gottfriedson. „Ich kenne ihn schon lange, er ist psychisch sehr stabil - auch wenn ich gerne zugebe, dass die gesamte Situation für ihn ganz bestimmt nicht leicht ist.”
„Wir müssen wissen, wo Herr Marenberg in der Zeit vor dem Amoklauf war, sonst kommen wir nicht weiter”, stellte ich klar.
„Hier war er jedenfalls nicht. Die Videoaufzeichnungen der Überwachungskameras in dem Einkaufszentrum …”
„... haben nur das Geschehen in dem Einkaufszentrum dokumentiert. Und zwar von dem Augenblick an, wo er das Einkaufszentrum betritt. Was vorher war, wissen wir nicht.”
„Finden Sie es heraus, wenn Sie können!”, sagte Gottfriedson. „Mich würde das genauso interessieren.”
17
Als wir das Treffen verließen, folgte uns Christina Bellmann.
„Ich bin abgestellt worden, Ihnen zu helfen und Sie zu unterstützen”, erklärte sie.
Ich wechselte einen kurzen Blick mit Rudi. Und Christina Bellmann schien den Gedanken, der Rudi und mir in diesem Augenblick sofort gekommen war, genau erraten zu haben. Sie lächelte verhalten.
„Kann sein, dass ich auch ein bisschen auf Sie aufpassen soll. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich nichts berichten werde, was Sie nicht berichtet haben wollen.”
Ich musste schmunzeln.
„Dann sind Sie eine Art Doppel-Agentin.”
„So könnte man es ausdrücken.”
„Okay, dann begleiten Sie uns. Es gibt eine Menge zu tun, da können wir schon etwas Unterstützung gebrauchen.”
Wir versuchten zuerst von den Ärzten, die Kevin Marenberg konsultiert hatte, eine vollständige Liste der verschriebenen Medikamente zu bekommen, was sich als schwieriger herausstellte als ursprünglich gedacht. Der Psychologe, den das BKA ihm zur Verfügung gestellt hatte, war kein Arzt und hatte deswegen keine Medikamente verschreiben dürfen. Zu diesem Zweck arbeitete er mit einer Ärztin in einer Praxisgemeinschaft zusammen. Eigenartigerweise waren beide kurzfristig verreist, obwohl wir bereits von Berlin aus einen Termin mit ihm ausgemacht hatten. Der Aufenthaltsort von beiden war so kurzfristig nicht zu ermitteln.
„Könnte es sein, dass da jemand aus Ihrem Büro Einfluss genommen hat?”, fragte ich an Christina Bellmann gewandt.
„Da fragen Sie mich zu viel”, sagte sie.
„Etwas merkwürdig ist das aber schon, wie Sie zugeben müssen.”
„Vielleicht brauchen Sie ja auch mal psychologische oder medizinische Hilfe”, meinte Frau Bellmann. „Paranoia ist schließlich auch behandelbar.”
„Danke, eins zu null für Sie. Sie können das übrigens gerne Ihrem Vorgesetzten berichten, wenn er Sie danach fragt.”
Wir suchten noch zwei andere Ärzte auf, beides Fachärzte für Psychiatrie mit einer Zusatzausbildung als Psychotherapeuten. Und beide hatten Marenberg Medikamente verschrieben. Wie sich dann herausstellte, gab es sogar noch einen dritten Arzt. Auch den suchten wir auf. Zunächst wollte er uns keine Aussagen über Marenbergs Zustand machen, geschweige denn Einzelheiten über seine Verschreibungspraxis herausrücken. Sein Name war Ferdinand Verchner, und er war so braungebrannt, dass man meinen konnte, dass er gerade einen Urlaub in Italien hinter sich hatte. Wir zeigten ihm abgesehen von unseren Dienstausweisen auch die entsprechenden richterlichen Verfügungen, die dazu vorlagen. Schließlich brachten wir ihn doch noch dazu, mit uns zu kooperieren.
„Ich habe Marenberg übrigens nicht weiter behandelt, als ich erfahren habe, dass er offenbar Ärzte-Hopping betreibt und auf diese Weise viel höhere Dosen an Medikamenten einnimmt, als eigentlich für ihn vorgesehen gewesen wären”, erklärte er. „Und wenn Sie mich fragen, dann war Marenberg so etwas wie eine tickende Zeitbombe.”
„Dann haben Sie ihm seinen Amoklauf in dem Einkaufszentrum schon damals zugetraut?”, wunderte ich mich.
„Nein, so etwas nicht. Das ist eigentlich eher untypisch für jemanden mit seinem Krankheitsbild, wobei das natürlich vollkommen unberechenbar wird, wenn man wirklich hohe Dosen an Psychopharmaka einnimmt. Ich hätte eher damit gerechnet, dass er sich irgendwann mal das Leben nimmt.”
„Man kann so einen Amoklauf doch als eine Art erweiterten Selbstmord sehen, oder etwa nicht?”
„Ja, kann man. So etwas kommt öfter vor, als man glaubt. Manche fahren mit ihren Wagen absichtlich in der falschen Richtung den Autobahn entlang, um bei einer Kollision getötet zu werden. Es hat Flugzeugabstürze gegeben, bei denen die Piloten sich umbringen wollten und bei den bekannten Schulmassakern wie etwa am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt war das ebenfalls so. Aber was Marenberg betrifft, kann ich nur sagen, dass es weder zu seinem Charakter noch zu seinem Krankheitsbild passt. Es hat mich schon sehr verwundert, als ich davon gehört habe und dass dann des Öfteren solche Pseudodiagnosen durch die Medien geisterten.”
„Jedenfalls danke wir Ihnen sehr für Ihre Kooperation”, sagte Rudi anschließend.
Ich gab die Daten über die Verschreibungen an Wildenbacher durch. Der Einfachheit halber fotografierte ich die Rezepte mit dem Handy. Ich bekam wenig später eine Nachricht von Wildenbacher.
‘Danke’, lautete sie einfach nur.
„Ist das wirklich so wichtig, was genau Marenberg genommen hat - und wieviel davon?”, fragte Christina Bellmann etwas genervt.
„Möglicherweise ist das entscheidend für den Fall”, erklärte ich ihr. „Unsere Kollegen in Quardenburg denken, dass sie dadurch wichtige Rückschlüsse ziehen können.”
„Es war nicht meine Absicht, Ihr Vorgehen zu kritisieren, Herr Kubinke.”
„Harry”, erinnerte ich sie.
Sie lächelte verlegen. „Harry”, wiederholte sie.
Ich hatte schon etwas länger das Gefühl, dass sie über irgendetwas sehr intensiv nachdachte und manchmal deswegen nicht ganz bei sich war. Langsam begann ich mich zu fragen, was das war. War da doch noch irgendetwas, was uns bisher verschwiegen worden war? Etwas, das sie vielleicht trotz der kurzen Zeit, die sie erst im Büro in Essen ihren Dienst tat, mitbekommen hatte?
Ich beschloss, diese Spekulationen erst einmal zur Seite zu schieben. Vielleicht war das ja auch nur reines Wunschdenken. Und möglicherweise sah ich inzwischen auch vor lauter Misstrauen schon Gespenster.
18
Wir fuhren zum Happy-Family-Einkaufszentrum. In der Nähe war ein Parkplatz, der so groß war, dass er jemandem, der lange in Hamburg gelebt hat, wie das siebte Weltwunder vorkommen musste. Auch in Berlin waren Parkplätze von dieser Größenordnung und in dieser Ausdehnung selten. Platz war kostbar und man sorgte dafür, dass Parkdecks übereinander geschichtet wurden. Zumindest in den wirklich städtisch geprägten Gebieten. Hier war das offensichtlich anders.
Wir stiegen aus. Christina Bellmann war uns in ihrem eigenen Dienstwagen gefolgt und parkte auf dem Platz neben dem SUV, den man uns hier in Essen zur Verfügung gestellt hatte, nachdem unser erstes Fahrtzeug von Kugeln durchsiebt worden war.
„Hier irgendwo muss auch Marenberg ausgestiegen sein, um dann zum Eingang des Einkaufszentrums zu gehen”, meinte Christina Bellmann.
„Ich nehme an, Sie haben die Videoaufzeichnungen der Überwachungskameras gesehen”, wandte ich mich an die junge Kommissarin.
„Habe ich.”
„Glauben Sie, dass Marenberg noch in der Lage gewesen ist, ein Fahrzeug zu steuern?”
„Seinem torkelnden Gang nach nicht”, sagte sie. „Aber Sie sollten das mal Ihre schlauen Leute in Quardenburg fragen.”
„Noch unwahrscheinlicher ist, dass er zu Fuß hierher gekommen ist”, wandte Rudi ein.
„Dann hat ihn jemand gebracht.”
„Womit wir wieder bei der Hypothese sind, dass man ihn entführt und mit Drogen vollgepumpt hat, bevor er dann wie ein Verrückter um sich schoss. Allerdings …”
„Allerdings was?”, fragte ich.
„Ich habe das gerade noch einmal nachgesehen”, erklärte mein Kollege. „Marenbergs Privatwagen wurde hier auf dem Parkplatz sichergestellt.”
„Hier draußen gibt es leider keine Überwachungskameras”, sagte Kommissarin Bellmann.
„Warum eigentlich nicht?”
„Möglicherweise hat man sich mit der Anlage zur Überwachung des Innenbereichs schon so sehr finanziell aus dem Fenster gelehnt, dass die Kosten dafür erst einmal wieder hereinkommen müssen”, sagte Bellmore. „Das Einkaufszentrum ist schließlich erst letztes Jahr fertig geworden und soweit ich weiß, ist ein wichtiger Investor kurz vorher bankrott gegangen. Das hat hier wochenlang die lokalen Medien beschäftigt wie sonst nichts, denn das ganze Projekt geriet damals dadurch in Gefahr.”
„Wenn es Kameras hier draußen gäbe, hätten wir jetzt einen leichteren Job”, meinte Rudi. Er wischte unterdessen auf seinem Smartphone herum. „Allerdings ist nirgendwo in den Unterlagen vermerkt, auf welchem Platz das Fahrzeug von Kevin Marenberg später sichergestellt wurde.”
Wir fanden schließlich die mit Streifen abgeteilte Parzelle, auf der Marenbergs Fahrzeug gestanden hatte. Sie befand sich relativ nahe am Eingang zum Einkaufszentrum.
„Wenn er es bis hierher mit dem Wagen schaffte, wird er die die nächsten paar Schritte bis in das Einkaufszentrum auch noch hinter sich gebracht haben können”, meinte Rudi. „Selbst mit einer Dröhnung, wie er sie offensichtlich genommen hatte.”
Ich telefonierte mit Wildenbacher, um zu erfragen, ob Marenberg seiner Meinung nach noch fähig gewesen war, ein Auto zu fahren.
„Der wäre nicht weiter als hundert Meter gekommen”, sagte Wildenbacher. „Dann hätte es den ersten Unfall gegeben, da bin ich mir sicher. Das Orientierungsvermögen muss dermaßen gestört gewesen sein, dass er auf gar keinen Fall am Steuer gesessen hat.”
„Dann muss er einen Begleiter gehabt haben“, schloss ich.
„Übrigens danke für die Rezepte”, sagte Wildenbacher. „Leider sind die ja wohl nicht vollzählig.”
„Das stimmt.
„Aber auch so kann man Folgendes sagen: Die Substanzen, die er über längere Zeit genommen hat, sind ihm sämtlich verschrieben worden. Aber ihm ist offensichtlich ein regelrechter Cocktail von unterschiedlichsten Stoffen verabreicht worden, die jeden von uns verrückt gemacht hätten.”
„Kann man feststellen, ob das mit durch die gut verborgenen Injektionen geschah?”
„Das kann man. Und das Ergebnis ist mehr als eindeutig. Diese Superdosis an Psychopharmaka ist ihm gespritzt worden. Ansonsten bevorzugte Marenberg die Aufnahme über Tabletten und Kapseln. Zumindest gibt es keine Anzeichen für etwas Gegenteiliges - als zum Beispiel weitere Einstichstellen von Injektionsnadeln oder dergleichen. Und eine der Substanzen in diesem Cocktail, den ich erwähnte und der sich eben noch nicht wie die Medikamente zum Beispiel in den Nieren oder der Leber absetzen konnten, ist typisch für den Vertrieb der Happy-Hour-Connection in Essen.”
„Was ist das für eine Substanz?”, hakte ich nach.
„Man nennt sie D5. Sie ist zuerst in den Clubs von Essen aufgetaucht und hat sich dann nach und nach über die ganze Bundesrepublik verbreitet.”
„Der chemische Fingerabdruck der Happy-Hour-Connection von Jörg Rustow”, schloss ich.
„Gegen die Marenberg ja wohl besonders ehrgeizig ermittelte”, fügte Wildenbacher noch hinzu. „Ja, das ergibt zusammengenommen schon ein ganz spezielles Bild, wenn Sie mir diese Bemerkung gestatten.”
„Ich nehme an, Sie sehen Ihre These, dass Marenberg betäubt und anschließend mit Drogen vollgepumpt wurde, gestärkt”, vermutete ich.
„Gestärkt?”, fragte Wildenbacher. „Die ist bewiesen, würde ich sagen.”
19
Wir waren mit Jürgen Schmidt verabredet, dem Chef des Sicherheitsdienstes, der das Einkaufszentrum überwachte. Ihm zur Seite stand Norbert Jäger, der zu dem Zeitpunkt, als der Amoklauf stattfand, gerade Dienst hatte und an dem Einsatz beteiligt war.
Wir gingen zusammen mit Schmidt und Jäger genau die Strecke ab, die Marenberg zurückgelegt haben musste.
„Genau so ist das alles durch die Videoüberwachung ja auch dokumentiert”, sagte Schmidt. „Die Aufnahmen müssten Ihnen und Ihren Kollegen eigentlich auch längst zugänglich sein.”
„Sind sie auch”, nickte ich.
„Der Kerl war vollkommen irre”, sagte daraufhin Jäger. „Allerdings muss ich gestehen, dass die Lage letztlich zu spät erkannt wurde. Wir waren an dem Tag allerdings auch unterbesetzt. Und es ist im Übrigen auch unmöglich, alle Überwachungsmonitore gleichzeitig im Auge zu behalten. Dafür sind wir nicht genug Kollegen im Einsatz.”
„Zum Glück hat dann ja dieser Thormann eingegriffen”, sagte Schmidt anschließend.
„Wussten Sie, dass er innerhalb des Einkaufszentrums eine Beschattungsaktion zu diesem Zeitpunkt durchgeführt hat?”, fragte ich.
„Meinen Sie, dass wir darin eingeweiht gewesen wären?”, vergewisserte sich Schmidt.
„Ja, das wäre doch denkbar”, nickte ich.
Schmidt schüttelte den Kopf.
„Nein, eingeweiht hat uns niemand.”
„Wie haben Sie eigentlich die Überwachung des Parkplatzes geregelt”, mischte sich jetzt unsere junge Kollegin Christina Bellmann ein.
„Haben Sie die Schilder nicht gesehen?”, fragte Schmidt. „Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Parkplatz nicht bewacht wird. Natürlich lassen wir ab und zu ein paar Mann dort patrouillieren - zumindest, soweit es die Personalversorgung gerade zulässt.”
„Ein Paradies für Autoknacker also”, meinte Kollegin Bellmann.
„Jetzt übertreiben Sie aber ein bisschen”, sagte Schmidt.
„Haben sich die Kunden nie beschwert?”
„Doch, das tun Sie dauernd. Und es ist ja auch geplant, die Überwachung auf das gesamte Gelände auszudehnen. Teile der Anlage sind auch schon installiert. Aber im Moment reicht die Kameraüberwachung aber nur bis zum Eingangsbereich.”
„Könnten wir mal sehen, bis wohin genau der erfasste Bereich geht?”, fragte Kommissarin Bellmann.
Sie hatte mir quasi die Worte aus dem Mund genommen. Wir hatten offenbar denselben Gedanken gehabt.
„Da müssten Sie mit in den Kontrollraum kommen”, sagte Schmidt. „Dann können wir das gerne überprüfen. Ehrlich gesagt, kann ich Ihnen das so ohne weiteres gar nicht beantworten.”
Schmidt führte uns zu dem Kontrollraum, von dem auch das Videoüberwachungssystem des Einkaufszentrums kontrolliert wurde. Auf Dutzenden von Monitoren konnte man beinahe jeden Winkel in diesem Komplex sehen.
Schmidt deutete auf einen der Bildschirme.
„Das Material, das dem BKA übergeben wurde, stammte aus diesem Bereich hier. Den Amoklauf Ihres Kollegen haben wir aus mehreren Perspektiven festgehalten. Aber das haben Sie sicher alles gesehen.”
Ich wandte mich einem anderen Monitor zu.
„Hier ist der Eingangsbereich”, stellte ich fest.
„Ja, wir können auf jeden Fall erfassen, wer hinein und wer hinaus geht.”
„Der Parkplatz, auf dem Marenbergs Wagen gefunden wurde, wird von der Kamera erfasst”, stellte ich fest. „Haben Sie die Aufnahmen von Tat-Tag aus diesem Bereich an das BKA geliefert?”
„Nein. Es wurde nur das Videomaterial der Kameras erfragt, die den Bereich erfasst haben, in dem die Schießerei stattfand. Also mit anderen Worten, alles was innen passiert ist.”
„Wir brauchen die Aufzeichnungen der Kamera.”
„Ich muss schauen, ob die noch vorhanden sind”, sagte Schmidt.
„Wonach richtet sich das?”, wollte ich wissen.
„Nach dem Datenvolumen. Wenn unsere Speicher voll sind, wird partiell gelöscht, damit kein Speicherüberlauf stattfindet. So sollte es zumindest sein.”
Ich hob die Augenbrauen.
„Daraus höre ich heraus, dass es oft genug anders ist?”
„Am Anfang hatten wir hier alle vier Wochen einen kompletten Absturz des Systems wegen Speicherüberlauf. Inzwischen kommt das nicht mehr so oft vor. Wir optimieren unsere Prozesse eben nach und nach.”
Schmidt suchte uns die entsprechenden Daten heraus. Es waren tatsächlich Aufzeichnungen vom Tat-Tag vorhanden. Wir ließen sie uns auf einem der Monitore anzeigen. Schmidt benutzte dafür den einzigen Großbildschirm in dem Überwachungsraum. Der betreffende Parkplatz war gut zu sehen. Die Aufzeichnungen wurden vorgespult. Man konnte im Zeitraffer beobachten, wie verschiedene Fahrzeuge auf den Stellplatz geparkt wurden und wieder wegfuhren. Darunter war auch ein Van, der Waren für irgendeines der Geschäfte anlieferte, die sich innerhalb des Einkaufszentrums befanden.
Und schließlich sahen wir auch den Wagen von Dienststellenleiter Kevin Marenberg. Das Kennzeichen war aus der Kameraperspektive gut erkennbar und stimmte mit der Nummer von Marenbergs Privatwagen überein. Es konnte also keinerlei Zweifel daran geben, dass wir es tatsächlich mit seinem Fahrzeug zu tun hatten. Allerdings wurde der Wagen nicht von Marenberg gefahren. Ein Mann in den Dreißigern mit dunklem Haar und schmalem Gesicht stieg aus. Er ging nicht in das Einkaufszentrum, sondern sah sich mehrfach um und verschwand dann aus dem Bildausschnitt.
Nur wenige Augenblicke später taumelte Marenberg in den Bildausschnitt, geradewegs auf den Eingang zu. Die Waffe hatte er noch nicht gezogen. Er blieb kurz stehen, sah in die Kamera und wirkte etwas desorientiert. Dann ging er weiter.
„Wir brauchen diese Daten”, sagte ich.
„Das ist kein Problem”, erklärte Schmidt. „Soll ich sie auf demselben Weg an das hiesige BKA-Büro senden, wie das mit den anderen Videodaten geschehen ist?”
„Nein, ich möchte sie auf mein Laptop überspielt bekommen”, meldete sich Rudi zu Wort. „Und außerdem brauchen unsere Kollegen in Quardenburg das alles zur Analyse …”
20
Ich telefonierte mit Dr. Lin-Tai Gansenbrink, der Mathematikerin und IT-Spezialistin unseres Ermittlungsteams in Quardenburg.
„Es geht um den Mann, der aus Kevin Marenbergs Wagen steigt”, erklärte ich, nachdem Dr. Gansenbrink die Videodaten vorliegen hatte und sich im wahrsten Sinn des Wortes ein Bild machen konnte.
„Was ist mit dem?”
„Wir brauchen seine Identität.”
„Ich werde einen telemetrischen Datenabgleich mit Hilfe der Gesichtserkennungssoftware durchführen”, sagte Dr. Gansenbrink. „Und dann sehen wir weiter. Vielleicht gibt es ja in einer unserer Datenbanken einen Treffer.”
„Wie lange werden Sie dafür brauchen?”
„Nun, die Bildqualität könnte etwas besser sein.”
„Das ist ja kein Kinofilm, Frau Gansenbrink.”
„Und die Lichtverhältnisse sind auch relativ ungünstig. Das liegt an der Kameraposition. Aber ich kriege das hin. Eine halbe Stunde, dann haben wir ein Ergebnis - vorausgesetzt, unser Kandidat hat irgendwann mal was verbrochen oder ist zumindest mit der Justiz in Berührung gekommen. Falls nicht, könnte es etwas länger dauern, bis ich zu einem Ergebnis komme.”
„Gut, rufen Sie mich bitte sofort an, wenn Sie was haben.”
„Umgehend, Harry.”
„Bis nachher.”
Wir hatten uns die Sequenz im Kontrollraum des Sicherheitsdienstes nun schon mindestens ein Dutzend Mal angesehen.
„Marenberg muss mit einem anderen Wagen zum Einkaufszentrum gebracht worden sein”, stellte Rudi fest.
„Nur ist der leider nicht im Bildausschnitt zu sehen”, ergänzte Kommissarin Bellmann und strich sich mit angestrengt wirkendem Gesicht eine widerspenstige Strähne ihres dichten roten Haares aus dem Gesicht.
Der Mann, der Marenbergs Wagen gefahren hatte und dann ausgestiegen war, war auf jeden Fall ein Tatbeteiligter.
Irgendwann zwischen seinem Aufbruch nach dem häuslichen Frühstück und den Momenten, die die Kameras festgehalten hatten, war Kevin Marenberg entführt und mit Drogen vollgepumpt worden. Warum er seiner Frau gegenüber behauptet hatte, ins Büro zu fahren, darüber konnte man nur spekulieren. Soweit wir wussten, hatte er zu diesem Zeitpunkt bei keinem seiner Ärzte und Therapeuten einen Termin gehabt. Allerdings hatten wir einen davon ja bisher nicht angetroffen und uns bei ihm informieren können. Und außerdem wussten wir nicht, ob es inzwischen noch weitere Anlaufstellen gab, wo sich Marenberg mit Medikamenten versorgt hatte. Auf jeden Fall waren irgendwann innerhalb dieses Zeitraums die Dinge passiert, die Dr. Wildenbacher anhand seiner Untersuchungen an der Leiche festgestellt hatte.
Aber wenn wir die Identität von einem der Täter kannten, dann war es vielleicht auch möglich, die anderen zu finden.
Ich wandte mich an Christina Bellmann.
„Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie von dem, was Sie hier erfahren haben, erst einmal nichts an Ihre Kollegen im hiesigen Büro weitergeben würden.”
„Sie denken immer noch, dass irgendjemand dort etwas mit der Sache zu tun hat, Harry?”
„Ich kann es zumindest nicht ausschließen.”
Sie nickte.
„Ich werde schweigen”, sagte sie. „Bis Sie mir grünes Licht geben.”
„Gut”, nickte ich und wandte mich Schmidt zu. „Sollte sich irgendwer nach unseren Ermittlungen erkundigen, verweisen Sie ihn an mich.”
„Wenn Sie das sagen.”
„Sie selbst geben keine Auskünfte.”
„Ich will nur keinen Ärger bekommen”, sagte Schmidt.
21
Es dauerte nur knapp zehn Minuten, bis ich einen Anruf von Lin-Tai Gansenbrink erhielt. Offenbar hatte die Gesichtserkennungssoftware angeschlagen.
„Der Mann, der in der Videosequenz aus dem Wagen von Kevin Marenberg steigt, heißt Pascal Beltor, ist dreißig Jahre alt und wohnte zuletzt in der Weserstraße in Essen. Allerdings habe ich das überprüft. Die Wohnung, die bei seinem Bewährungshelfer angegeben war, wurde inzwischen an jemand anderen vermietet. Wir können also getrost davon ausgehen, dass Herr Beltor dort nicht mehr wohnt.”
„Wenn Sie sagen, er hatte mal einen Bewährungshelfer, heißt das, dass er schon irgendwas auf dem Kerbholz hatte, oder?”
„Richtig, Harry. Er gehört zu einer Gruppe von Leuten aus dem Umkreis der Happy-Hour-Connection. Er hat in verschiedenen Clubs gearbeitet, die unter dem Einfluss dieser Organisation stehen, ist wegen Drogendelikten aufgefallen und wegen Körperverletzung. Außerdem wegen Verstoßes gegen die Waffengesetze.”
„Was hat er getan? Sich einen Panzer besorgt und damit die Polizei beschossen?”
„Nicht ganz. Er hat ein Sturmgewehr an einen Minderjährigen verkauft und sich dabei erwischen lassen. Allerdings ist seine Bewährung abgelaufen.”
„Wie können wir ihn finden?”
„Ich habe herausgefunden, dass er einen Handy-Vertrag hat. Das Gerät ist im Moment abgeschaltet, aber sollte der Apparat noch in Gebrauch sein und Beltor ihn wieder einschaltet, hätte man die Chance, ihn zu orten.”
„Wir müssen ihn so schnell wie möglich finden.”
„Tut mir leid, ich kann mit ein paar Tricks zwar in die Datenbank eines Mobilfunkanbieters eindringen, aber leider nicht das Nutzungsverhalten eines Vertragsnehmers beeinflussen. Leider.”
„Trotzdem vielen Dank.”
„Ich melde mich wieder bei Ihnen, soweit sich was tut, Harry.”
„In Ordnung.”
„Wie wär’s, wenn Sie unserer Polizeidienststelle ein bisschen mehr Vertrauen entgegenbringen und diesen Beltor einfach zur Fahndung ausschreiben?”, meinte Christina Bellmann.
„Damit er dann womöglich vorab darüber informiert wird, dass wir hinter ihm her sind?”, gab ich zurück und schüttelte den Kopf. „So kommen wir vermutlich schneller ans Ziel.”
„Wenn Sie das sagen …”
„Wenn Marenberg tatsächlich ehrgeizig in seinem Kampf gegen Jörg Rustow und die Happy-Hour-Connection war, dann wäre es durchaus logisch, dass diese Organisation ihn ausschalten wollte. Vielleicht wurde er denen einfach zu gefährlich.”
„Gottfriedson wird mich erwürgen, wenn ich ihm nichts von Ihren Erkenntnissen erzähle”, sagte Christina Bellmann. „Aber ich denke, ich werde das überleben.”
„Interessiert Sie nicht auch die die Frage, ob Ihr Dienststelle sauber ist?”, fragte ich.
„Doch, das interessiert mich sehr.”
„Sie werden früher oder später eine Antwort darauf bekommen.”
In diesem Moment klingelte Kommissarin Bellmanns Smartphone. Sie nahm das Gerät ans Ohr. Ihr Gesicht wirkte im nächsten Augenblick etwas angestrengt. Sie sagte zweimal kurz hintereinander „Ja!” und endete schließlich mit einem ziemlich unterwürfig klingenden „In Ordnung.”
„Gibt es was Neues?”, fragte Rudi.
„Das kann man wohl sagen”, sagte Kommissar Bellmann. „Es wurde eine Leiche gefunden, die durchaus etwas mit unserem Fall zu tun habe könnte. Ich schlage vor, wir fahren dort jetzt hin.”
22
Wir fuhren hinter Christina Bellmann her. Es ging einmal quer durch die Stadt bis an den Rand des südlichsten Zipfels von Essen. Dort befand sich eine größere Müllhalde. Und wahrscheinlich landete auch noch der Großteil des Abfalls aus den angrenzenden Gebieten benachbarter Städte hier.
Ein im wahrsten Sinn des Wortes atemberaubender Geruch schlug uns entgegen. Vögel kreischten und zogen ihre Kreise über der Deponie. Moderne Standards zur Müllentsorgung waren hier anscheinend ein Fremdwort – nahmen wir aufgrund des Zustandes an.
Wir stellten unseren SUV zu der Ansammlung weiterer Einsatzfahrzeuge, die sich am Rand dieser Müllwüste bereits versammelt hatte. Ein uniformierter Kollege der Polizei winkte uns weiter, während er sich ein Taschentuch vor die Nase hielt. Neben dem Gerichtsmediziner, einem Erkennungsdienstler und ein paar Kollegen des hiesigen Polizei mit entsprechend gekennzeichneten Einsatzjacken, entdeckte ich auch Dienststellenleiter Timo Gottfriedson.
„Ungewöhnlich, dass ein Dienststellenleiter persönlich einen Tatort besucht”, stellte ich an Christina Bellmann gerichtet fest, die neben mir lief und dabei versuchte, so flach wie möglich zu atmen.
„Ja, da haben Sie recht, Harry”, gab sie zu. „Aber dies ist ein besonderer Fall.”
„Einer, an dem der Dienststellenleiter persönlich interessiert ist?”
„Alles, was irgendwie mit Kevin Marenbergs Tod und den Ermittlungen gegen Jörg Rustow und die Happy-Hour-Connection zu tun hat, betrifft Herr Gottfriedson irgendwie auch persönlich”, gab sie zurück. „Oder würden Sie das anders empfinden? Ich meine, wenn Sie an seiner Stelle wären?”
„Vermutlich nicht.”
„Na also!”
Wir erreichten den Fundort der Leiche. Eine junge Frau lag ausgestreckt auf dem Boden. Sie war in einen Teppich eingerollt gewesen. Die Augen waren weit aufgerissen. Ein Angestellter der Mülldeponie erklärte währenddessen mit weit ausholenden Handbewegungen einem Kollegen der Polizei, wie er die Leiche entdeckt hatte.
„Das ist Isabella Mahlmann”, sagte Timo Gottfriedson. „Ein Call-Girl oder Ex-Call-Girl, das wegen Drogendelikten vorbestraft ist. Wir wissen, dass sie lange Zeit die Freundin von Jörg Rustow war und mit ihm zusammen lebte.”
„Und wenn die Begleiterin des Anführers der Happy-Hour-Connection tot auf einer Müllkippe gefunden wird, ergibt sich da natürlich eine starke Verbindung zu unserem Fall.”
„Wissen Sie schon die Todesursache?”, fragte ich. Schussverletzungen waren auf den ersten Blick zumindest nicht erkennbar. Nur ein paar Hämatome und Einstichstellen. Aber ich bin schließlich kein Gerichtsmediziner.
„Das sollte Dr. Goddard Ihnen sagen”, meinte Gottfriedson.
Der Gerichtsmediziner hatte seine Erstuntersuchung gerade abgeschlossen und erhob sich wieder.
„Man wird die Laboruntersuchungen abwarten müssen - und natürlich die Sektion. Aber für mich sieht alles danach aus, dass sie einfach zu viel und zu viel Verschiedenes genommen hat. Das hat ihr Körper offenbar einfach nicht mehr mitgemacht.”
„Bietet das irgendeine Handhabe für uns, gegen Jörg Rustow vorzugehen?”, fragte ich.
„So unmittelbar leider nicht.”
„Wenigstens eine Durchsuchung oder eine Überwachung der Telekommunikation müsste drin sein, meinen Sie nicht?”
„So, wie ich die hiesigen Richter kenne, wird es schwierig, dazu einen Beschluss zu erwirken. Aber vielleicht unterstützen Sie mich dabei, einen entsprechenden Beschluss zu erwirken.”
„Gut”, nickte ich.
„Deutet irgendetwas auf Rustow?”, hakte Gottfriedson jetzt noch einmal nach. „Ich meine jetzt natürlich in dem Fall, den Sie bearbeiten? Hat er etwas mit Kevin Marenbergs Tod zu tun?”
Ich zögerte mit der Antwort.
Ein paar Schritte von uns entfernt stand Gerd Thormann, der bisher mit einem der Spurensicherer gesprochen hatte. Plötzlich herrschte in unserer unmittelbaren Umgebung Ruhe. Abgesehen vom Kreischen der Vögel natürlich.
Ehe ich antworten oder eine Antwort ablehnen konnte, hatte Christina Bellmann die Initiative ergriffen.
„Jemand aus Jörg Rustows Bande ist vermutlich daran beteiligt gewesen, unseren ehemaligen Dienststellenleiter zu kidnappen und mit Drogen vollzupumpen”, erklärte sie. Meinem Blick wich sie anschließend aus. Mit gutem Grund. Schließlich hatte ich sie ja ausdrücklich darum gebeten, genau davon nichts zu erwähnen.
Ich täusche mich selten bei der Entscheidung, wem ich trauen kann und wem nicht. In meinem Job entwickelt man mit der Zeit eine sehr sichere Menschenkenntnis. Aber hin und wieder irrt man sich eben doch. Und genau das schien hier der Fall zu sein.
„Kennen Sie die Namen der Beteiligten?”, fragte Gottfriedson jetzt direkt.
„Nur einen. Und der scheint im Moment unauffindbar zu sein.”
„Warum haben Sie ihn nicht in die Fahndung gegeben?”, fragte Gottfriedson dann.
Als ich nicht sofort antwortete, sah er zunächst für einen Moment in Rudis Richtung, dann wieder zu mir. Anschließend umspielte ein dünnes, etwa säuerliches Lächeln seine Lippen.
„Ich verstehe. Sie misstrauen uns.”
„Ich bin nur vorsichtig”, versuchte ich die Wogen zu glätten, die durch Christina Bellmanns sicher gut gemeinte, aber unbedachte Äußerungen hervorgerufen worden waren.
„Ja sicher. Und wissen Sie, wer sich am meisten über Ihre Samthandschuhe freut, Herr Kubinke?”
„Sie werden es mir sicher sagen.”
„Jörg Rustow persönlich natürlich! Wer denn sonst! Und das Ende vom Lied wird sein, dass er mal wieder mit allem durchkommt. Wäre nicht das erste Mal.” Er deutete auf die tote Isabella Mahlmann. „Ein totes Call-Girl, das er gut kannte und das vielleicht zu viel über ihn wusste und deswegen einfach etwas zu viel von dem Zeug bekam, hinter dem sie ja von alleine wohl schon her war wie der Teufel hinter der armen Seele - wer wird die noch mit Rustow in Verbindung bringen können? Der wird sich aus allem rausziehen können. Und wenn nicht mal mehr seine schießwütigen Gorillas helfen können, dann kreuzt er mit einer Kompanie von schmierigen Anwälten auf, die mindestens genauso schlimm sind und ihn dann heraushauen.” Er fuhr sich mit einer fahrigen Handbewegung über das Gesicht. „Glauben Sie mir, ich habe das oft genug erlebt!” Er hatte sich richtig in Rage geredet.
„Kann es sein, dass Sie den Kreuzzug gegen Rustow, den Kevin Marenberg nicht gewinnen konnte, fortzusetzen versuchen?”, fragte ich.
Gottfriedson ballte die Hände zu Fäusten. Sein Gesicht wurde dunkelrot. Er schien nur noch mit Mühe an sich halten zu können.
„Was heißt hier Kreuzzug?”, zischte er. „Ja, wenn Sie so wollen, nehme ich diese Sache sehr persönlich. Wissen Sie, dass Kevin Marenberg so dicht von einem entscheidenden Erfolg gegen Rustow und seine verfluchte Organisation von kriminellen Pillendrehern entfernt war?” Während er das sagte, zeigte er mit seinem Daumen und Zeigefinger einen nur wenige Millimeter großen Zwischenraum. „So dicht war er dran!”
„Woher wissen Sie das?”, fragte ich. „Aus den Unterlagen, die wir haben, geht das nämlich so deutlich, wie Sie das im Moment darstellen, nicht hervor.”
„Er hat es mir gesagt”, gab Gottfriedson zurück. „Aber leider hatte er dasselbe Misstrauen wie Sie und mich nicht in alles eingeweiht. Es steht noch nicht mal in den offiziellen Vermerken. Aber andererseits weiß ich, dass Kevin Marenberg alles andere als ein Maulheld war. Wenn er etwas gesagt hat, dann steckte auch etwas dahinter.”
„Was schlagen Sie vor?”, fragte ich.
„Wir sollten diesen Mittäter in die Fahndung geben und ich werde zusehen, dass ich einen Richter dazu bekomme, mir eine umfassende Überwachung von Jörg Rustow zu genehmigen. Ich hoffe, es gibt noch jemanden, der Mut genug dazu hat.”
„Wegen seiner schießwütigen Handlanger?”, fragte ich.
Gottfriedson lachte heiser auf.
„Die braucht er doch meistens gar nicht! Nein, es reicht doch völlig, dass alle vorangegangenen Aktionen dieser Art, die darauf abzielten, seine Organisation zu zerschlagen, jämmerlich gescheitert sind. Da überlegt es sich jeder Staatsanwalt und jeder Richter zweimal, ob er sich noch einmal blamieren und zum Gespött der Medien machen lassen will.”
„Dann wünsche ich Ihnen viel Glück dabei”, sagte ich.
„Und was sollen wir wegen Isabella Mahlmann unternehmen?”, mischte sich jetzt Gerd Thormann ein. „Ich meine, wir können natürlich mit einem großen Aufgebot Jörg Rustows Penthouse stürmen und ihn zu allem Möglichen befragen. Oder wir können zwanzig seiner Untergebenen vorladen und befragen. Wer weiß, was dabei herauskommt. Nur müssen wir dann damit rechnen, dass die andere Seite nachhaltig gewarnt ist.”
„Wir dürfen es nicht vermasseln”, meinte Gottfriedson. „Gegen diese Organisation haben wir wahrscheinlich nur einen einzigen Schlag, und wenn der nicht sitzt, stehen wir am Ende wie die Dummen da.”
„Hauptsache, niemand von uns läuft mit der Waffe in der Faust durch ein Einkaufszentrum und schießt wild um sich”, ergänzte Thormann und erntete dafür sowohl von Rudi als auch von Timo Gottfriedson nur ein Stirnrunzeln.
24
„Das war nicht abgesprochen”, sagte Rudi - viel später, als wir im Büro in Essen waren und uns einen Kaffee gönnten. Christina Bellmann hatte uns in das Büro gebeten, das sie sich mit einem Kollegen teilte - so wie Rudi und ich viele Jahre ein Dienstzimmer in Hamburg geteilt hatten. Der Kollege hatte allerdings bei einer Schießerei vor zwei Wochen einen Schuss abbekommen und lag zurzeit in einer örtlichen Klinik. Bis dahin hatte die junge Kollegin ihr Büro für sich allein.
In der Zwischenzeit hatte sich nichts Wesentliches an neuen Erkenntnissen ergeben. Die Fahndung nach Pascal Beltor war bisher noch nicht von Erfolg gekrönt. Und Dr. Gansenbrink hatte sich inzwischen auch noch nicht gemeldet. Vermutlich hatte Beltor sein Handy einfach noch nicht eingeschaltet. Oder er benutzte diese Nummer gar nicht mehr, was natürlich ebenfalls möglich war.
Der Verdacht, dass Isabella Mahlmann tatsächlich an einer Überdosis verschiedener Drogen und Medikamente gestorben war, verfestigte sich immer mehr. Es standen noch einige Analysen aus, aber der vorläufige Bericht, den der Gerichtsmediziner abgegeben hatte, benannte nur diese Todesursache. Die Hämatome waren überwiegend älter und nicht unbedingt ein Beweis dafür, dass sie die Drogen etwa nicht freiwillig genommen hatte.
„Ich war gezwungen dazu, meine Kollegen mit einzubeziehen”, sagte Kommissarin Bellmann.
„Gezwungen?”, fragte Rudi verständnislos. „Wer hat Sie gezwungen?”
„Ihre Ignoranz! Was sonst? Wenn hier jeder sein eigenes Süppchen kocht, dann werden wir dieser Organisation nie das Handwerk legen. Und abgesehen davon waren nur Dienststellenleiter Gottfriedson und Kommissar Thormann anwesend.”
„Und der Gerichtsmediziner”, erinnerte ich sie.
„Für den gilt dasselbe wie für die anderen zwei: Ich vertraue ihnen absolut. Andernfalls hätte ich hier umgehend meinen Dienst quittiert.”
„Was passiert ist, ist passiert”, sagte ich, ehe Rudi noch einmal loslegte. „Verschüttete Milch holen wir nicht zurück. Wir sollten uns mit dem Fall beschäftigen.”
„Dafür war ich von Anfang an”, fühlte Kommissarin Bellmann sich jetzt bestätigt.
Ein Anruf von Dr. Gansenbrink erreichte mich. Ich nahm das Smartphone ans Ohr.
„Ich hoffe, Sie haben gute Nachrichten für uns, Lin-Tai”, sagte ich.
„Kommt darauf an, was Sie unter einer guten Nachricht verstehen, Harry.”
„Was gibt es da zu verstehen?”
„Rein mathematisch betrachtet, könnte man eine gute Nachricht definieren als eine Nachricht, die mehr als fünfzig Prozent positiver Elemente enthält, während …”
„Was ist mit Pascal Beltor?”, unterbrach ich sie. Das mathematische Superhirn des Ermittlungsteam Erkennungsdienstes hatte die Angewohnheit, manchmal etwas abzuschweifen.
„Er hat soeben für ein ganz kurzes Zeitintervall sein Mobiltelefon eingeschaltet.”
„Konnten Sie ihn orten?”
„Ich habe Ihnen die Adresse auf Ihr Smartphone geschickt. Liegt am Rand von Essen, also in erreichbarer Nähe für Sie. Aber es kommt noch besser!”
„Was meinen Sie damit?”
„Er hat ein kurzes Gespräch geführt. Raten Sie mal, wer sein Gesprächspartner war?”
„Keine Ahnung. Spannen Sie mich nicht so auf die Folter!”
„Genau genommen kann ich das gar nicht mit letzter Sicherheit sagen. Das Handy, mit dem Beltors Gerät Kontakt hatte, ist nämlich ein vertragsloses Wegwerfhandy, dessen Benutzer anonym bleibt.”
„Aber …”
„… ich konnte dieses Handy orten, Harry. Es ist das Gebäude, in dem Jörg Rustow ein Penthouse besitzt.”
„Bingo!”, sagte ich.
„Loben Sie den Tag nicht vor dem Abend, Harry! Das Gebäude hat ein paar Dutzend Stockwerke. Ich kann leider nicht feststellen, in welchem davon der Telefonkontakt von Pascal Beltor geortet wurde. Ob nun im Penthouse oder im Erdgeschoss …“
„Aber an Zufälle glauben Sie wohl auch nicht, oder?”
„Was denken Sie von mir?! Dieses unanständige Z-Wort würde jemand, der wirklich was von Mathematik versteht, doch niemals in den Mund nehmen!”
„Ich danke Ihnen jedenfalls.”
„Sehen Sie zu, dass Sie was daraus machen, Harry!”
25
Wir fuhren zusammen mit Kommissarin Bellmann zu dem Haus, in dem das Handy von Pascal Beltor geortet worden war. Da es fünf Stockwerke hatte, wussten wir natürlich nicht, in welchem sich Beltor aufhielt. Wir klingelten im Erdgeschoss. Eine Frau in den Dreißigern mit einem Kind auf dem Arm machte uns auf. Wir zeigten ihr auf dem Smartphone ein Bild von Beltor.
„No sé! No sé nada!”, rief sie ernst. Ob sie nur so tat, als würde sie nur Spanisch sprechen, konnte man schwer beurteilen. Ich zeigte meinen Ausweis. Und anschließend nochmal das Foto.
Nun war sie ruhiger und schien sich plötzlich an Beltor zu erinnern. Und plötzlich konnte sie sich auch in unserer Sprache verständigen. Akzentschwer, aber verständlich. Beltor wohnte im dritten Stock bei einer Frau, deren Name Rita Altmann lautete.
Wir nahmen die Treppe anstatt des Aufzugs. Wenig später standen wir vor der Wohnungstür von Rita Altmann. Die Dienstwaffe hatten wir bereits in der Hand. Ich nickte Rudi zu.
„Wie früher”, sagte ich.
„Wie früher”, bestätigte Rudi und ließ mit einem wuchtigen Tritt die Tür zur Seite springen. „Polizei! Keine Bewegung!”, rief ich und stürmte voran, die Pistole immer in beiden Händen.
Zwei Schritte und ich hatte den kurzen Flur durchquert, ließ die nächste Tür zur Seite fliegen und sah dann eine junge, dunkelhaarige Frau mit langem, gelockten Haar an einem Tisch sitzen. Sie sah mich mit großen braunen Augen an.
Aber von Pascal Beltor schien hier keine Spur zu sein. Das Fenster war geschlossen. Einen Balkon gab es nicht. Wohl aber eine halb offen stehende Tür zu einem Nachbarraum.
Sie saß einfach nur da. Mein Instinkt sorgte dafür, dass ich mich herumdrehte. In diesem Moment wurde die Klospülung betätigt. Es war deutlich zu hören. Rudi rammte die Tür zum Bad mit der Schulter. Pascal Beltor stand vor ihm, über die Toilette gebeugt. In der einen Hand hielt er eine Waffe, mit der anderen beförderte er gerade etwas in die Spülung. Vermutlich seinen Vorrat an Drogen.
„Keine Bewegung, BKA!”, sagte Rudi.
„Hey Mann, ich habe nichts getan!”
„Das ist jetzt Ihr geringstes Problem, Herr Beltor.”
Rudi nahm ihm die Waffe ab und legte ihm Handschellen an.
„Ich bin nicht mehr auf Bewährung, Mann! Sie haben kein Recht, hier so einfach einzudringen! Das ist Verletzung der Privatsphäre! Sind Sie überhaupt ein echter Bulle? Ich konnte Ihren Ausweis nicht richtig lesen.”
„Ich glaube nicht, dass Sie noch einmal das Glück haben, Bewährung zu bekommen”, sagte Rudi. „Nicht für das, was man Ihnen diesmal vorwirft!”
„Was soll das denn bitte schön sein?! Da arbeitet man hart daran, ein anständiges Leben zu führen und zahlt brav seine Steuern, und da kommen so Typen wie Sie und denken, Sie können sich hier alles rausnehmen. Scheiße, ich will meinen Anwalt sprechen!”
„Das können Sie vom Präsidium aus”, mischte ich mich ein. „Dem Gesetz ist damit Genüge getan.”
Und Rudi sagte: „Herr Pascal Beltor, Sie sind verhaftet.”
26
Wir nahmen Beltor mit zum Polizeipräsidium. Vorher befragten wir Rita Altmann und sahen uns in der Wohnung um. Wir fanden mehrere Handys und auch ein paar Waffen. Außerdem die Schlüssel zu einem Wagen. Es handelte sich um einen Geländewagen mit Kuhfänger, der ganz in der Nähe auf einem Parkplatz stand. In diesem Wagen fanden wir dann auch noch ein Sturmgewehr und genügend Munition, um so eine Ballerei wie sie vor dem Hotel ‘Hopfengruß’ stattgefunden hatte, jederzeit noch einmal zu inszenieren.
Vielleicht hatten wir ja Glück, und es war einer der Tatbeteiligten ins Netz gegangen.
Aber eigentlich kam es uns auf etwas ganz anderes an.
Beltor saß später mit uns in einem Besprechungszimmer. Auf einem Flachbildschirm führten wir ihm die Aufzeichnung der Überwachungskamera vor, die zeigte, wie er aus Kevin Marenbergs Wagen gestiegen war und dann einfach aus dem Bildausschnitt verschwand.
Außer Rudi und mir waren auch Gottfriedson, Thormann und Kommissarin Bellmann im Raum.
„Wollen Sie uns dazu vielleicht etwas sagen?”, fragte ich.
„Ich steige aus einem Auto. Na und? Machen Sie sowas nie?”
„Der Wagen gehörte Dienststellenleiter Kevin Marenberg. Und nicht Ihnen. Wie kamen Sie dazu, dieses Fahrzeug zu benutzen?”
„Was geht Sie das an? Scheiße, verknacken Sie mich wegen Autodiebstahl und gut ist. Mein Anwalt holt mich gleich auf Kaution wieder raus.”
„Kaution gibt’s frühestens bei der Vorverhandlung”, korrigierte ich ihn.
„Und wenn der Anwalt, den Sie unbedingt haben wollten, offenbar etwas Besseres zu tun hat, als Ihnen zu helfen, können wir daran auch nichts ändern”, meinte Rudi.
„Sie haben zusammen mit ein paar anderen Kevin Marenberg gekidnappt und ihn voll Drogen gepumpt”, hielt ich ihm vor. „Anschließend habt ihr ihn in das Einkaufszentrum geschickt - mit seiner Waffe. Sie wussten genau, dass er die nur zu ziehen braucht und die Sicherheitskräfte würden darauf anspringen. Ja, die hätten überhaupt keine andere Wahl, als ihn zu stoppen!”
„Eine schöne Geschichte, die Sie sich da ausgedacht haben.”
„Man kann diese Geschichte auf unterschiedliche Weise verstehen, wenn man Staatsanwalt oder Richter ist”, sagte ich. „Man könnte nämlich annehmen, dass es Ihr Ziel war, dass Kevin Marenberg in seinem Drogenwahn die Waffe zog und dann erschossen werden würde. Das wäre dann bei Ihnen die Beteiligung an der Ermordung an einem Polizisten. Bei klarer Beweislage gibt es da wenig Aussicht auf Nachsicht oder milde Urteile, das sage ich Ihnen!”
„Hey, was reden Sie da?”
„Es gibt auch eine für Sie günstigere Variante. Die lautet so: Sie wollten nur, dass Marenberg sich unmöglich macht. Dass er mit der Waffe herumballert und damit einen Kollegen zwingt, ihn zu töten, war für Sie nicht ohne weiteres vorhersehbar. Das wäre dann ein Delikt, bei dem Sie noch einmal Aussicht hätten, in Freiheit zu kommen. Aber es wird sehr viel Überzeugungsarbeit meinerseits und noch mehr Kooperationsbereitschaft Ihrerseits bedürfen, um einen Staatsanwalt dazu zu bringen, Sie mit einer milderen Anklage davonkommen zu lassen.”
Er schwieg einen Moment.
In diesem Moment ging die Tür auf. Ein Mann im Dreiteiler kam herein. Er trug eine schwarze Fliege, die etwas schief saß. So schief wie sein Lächeln.
„Mark Reifer von Reifer, Combs & Partners. Ich bin der Anwalt dieses Mannes. Mein Mandant wird ab sofort schweigen. Alles was hier gesagt wurde oder jetzt noch gesagt wird, wird vor Gericht von mir bestritten werden. Ich nehme Herrn Beltor jetzt mit.”
„Halt!”, sagte Gottfriedson. „So schnell geht das hier nicht. Ihr Mandant wird des gemeinschaftlichen Mordes an einem Kommissar bezichtigt und die Beweise wiegen schwer.”
„Ich möchte, dass Sie zur Kenntnis nehmen, dass wir nicht in einem Polizeistaat leben. Hier gibt Rechte für Angeklagte, und die sollten Sie respektieren.” Reifer wandte sich an Beltor. „Kommen Sie, Beltor!”
„Ihr Mandant wird nirgendwohin gehen”, sagte ich. „Es wird eine Anklage erfolgen. Er selbst hat nur noch in der Hand, wie die lauten wird.”
„Ich verlange …”
„Moment mal!”, fiel Beltor seinem Anwalt ins Wort. „Ich will erst mal hören, was Sie von mir wollen!”
„Die Namen der anderen Beteiligten und Ihres Auftraggebers”, sagte ich. „Und zwar jetzt und hier.”
„Halten Sie den Mund, Beltor!”, fauchte Reifer.
„Er ist nicht mein Anwalt”, sagte Beltor. Er zuckte die Achseln. „Muss ein Irrtum sein, Herr Reifer. Keine Ahnung, aber Sie haben kein Mandat.”
„Dann darf ich Sie hinausbitten”, verlangte Gottfriedson.
Ziemlich unwillig verließ Reifer den Besprechungsraum.
„Das werden Sie bereuen, Herr Beltor!”
Die Tür fiel ziemlich geräuschvoll ins Schloss.
„Ich glaube, das war eine gute Entscheidung”, sagte Gottfriedson. „Herr Reifers Kanzlei vertritt, soweit ich weiß, ansonsten in schöner Regelmäßigkeit die Interessen von Herr Jörg Rustow - falls Sie wissen, von wem ich rede.”
Beltor nickte. „Ja. Ich weiß, von wem sie reden”, gestand er zu.
„Und es könnte ja sein, dass Herr Rustow in diesem Fall seine eigenen Interessen verfolgt - und die müssen nicht identisch mit Ihren sein.”
„Jörg Rustow ist unser Auftraggeber gewesen”, sagte Beltor.
„Erzählen Sie weiter!”
„Mehr gibt es nicht”, sagte Beltor. „Noch nicht. Sie können was haben. Die Namen der anderen Mittäter, Beweise, und was Ihnen sonst noch fehlt. Aber ohne meine Aussage werden Sie keine der Anklagen durchkriegen.”
„Das mag sein, aber Ihre Situation ist ja auch nicht besonders rosig, wie ich Ihnen gerade versucht habe, deutlich zu machen”, sagte ich. „Denn im Gegensatz zu Ihren Komplizen und Ihren Auftraggebern könnte man Sie anhand des vorhandenen Materials jederzeit verurteilen - und zwar mit Leichtigkeit. Das kriegt sogar ein Staatsanwalt in Ausbildung vor Gericht durch, wenn es sein muss.”
„Ich habe Ihnen schon etwas gegeben”, sagte Beltor. „Und ich sage Ihnen noch was: Mario Jensen hat die Aktion gegen Kevin Marenberg angeführt. Er war der Verbindungsmann zu Rustow. Aber Sie brauchen meine Unterstützung und meine Aussage, sonst wird nichts aus dem, was Sie vorhaben - und was im Übrigen schon Marenberg vorhatte.”
„Was denn”, fragte ich.
Er grinste.
„Na, die Zerschlagung der Happy-Hour-Connection. Das schwebte ihm doch vor. Dafür hat er sein ganzes Privatleben ruiniert. Dafür …” Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Vergessen Sie’s! Bevor ich noch einen Ton sage, will ich, dass ein echter Staatsanwalt hier antanzt und mir echte Angebote macht. Und sie müssen mir einen Verteidiger besorgen, der nicht auf Jörg Rustows Liste steht.”
Ich sah Gottfriedson an. Dieser nickte.
„In Ordnung. Aber wenn Sie uns zum Narren halten, dann werden wir vergessen, dass wir jemals über irgendwelche Angebote gesprochen haben.”
Beltor deutete auf mich.
„Der Typ da hat mir sehr deutlich gemacht, wie meine Situation ist”, erklärte er und zuckte dann mit den breiten Schultern. „Habe ich also eine andere Wahl?”
„So wie ich das sehe, sitzen hier im Moment fast ausschließlich Personen, die keine großen Alternativen haben”, mischte sich nun Gerd Thormann ein.
Was er damit in Wahrheit meinte, sollte mir erst viel später klar werden. Sehr viel später.
27
Jörg Rustow befand sich im Club ‘La Bonita’, einem Laden den er vor Jahren den Vertretern eines konkurrierenden Drogenkartells abgenommen hatte. Es hatte einen fairen Interessenausgleich gegeben, nachdem man sich zunächst gegenseitig die Tablettendealer niedergeschossen und die Clubs zu Kleinholz verarbeitet hatte. Seitdem gehörte das ’La Bonita’ zu hundert Prozent ihm.
„Ich werde langsam nervös”, sagte der große, bärtige Mann mit den Tätowierungen an den Unterarmen.
„Du machst dir immer gleich in die Hose, wenn’s mal ein bisschen brenzlig wird, Mario”, sagte Jörg Rustow. Er wirkte ungewohnt gereizt. Normalerweise war es immer seine große Stärke gewesen, auch in kritischen Situationen die Nerven zu behalten und eiskalt das Richtige zu tun. „Die Wogen werden sich schon wieder glätten, Mario. Wir hatten immer mal wieder Schwierigkeiten im Geschäft zu bewältigen. Solche Schwierigkeiten kommen und gehen.”
„Genau wie die Chefs des BKA”, lachte Mario Jensen. Und Jörg Rustow lachte mit.
„Ich sagte doch, wir haben noch immer irgendwie eine Lösung gefunden.”
„Sie haben recht.”
„Danke übrigens noch mal.”
„Wofür?”
„Na dafür, dass Ihr die Sache mit Bella … erledigt habt. Du und deine Jungs.”
„War doch keine große Sache.”
„Wie man’s nimmt. Leichen verschwinden lassen, ist auch eine Kunst für sich.”
„Ich fand’s cool, wie Sie sich dieser nervenden Schnepfe entledigt haben. Ich muss ja zugeben, sie hatte schöne Titten. Aber sie hat einfach zu viel in sich hineingepfiffen. Da war vom Hirn nicht viel mehr übrig, als von ihren Nasenschleimhäuten. Und irgendwie hatte ich zuletzt immer auch den Eindruck, dass Sie ein Sicherheitsrisiko war.”
„Ich habe sie nicht umgebracht”, sagte Rustow. „Auch wenn ich niemandem widersprechen würde, der das behauptet.” Rustow schaute Mario ernst an. „Schließlich steigert Furcht immer auch den Respekt.”
„Klar, Sie sind ein Typ, der hart durchgreift.” Mario lachte heiser. „Und ein guter Geschichtenerzähler. Sie sagen das so überzeugend, dass Sie Bella den Stoff gar nicht selber reingeschoben haben, sondern sie das selbst gewesen sein soll - also wenn ich ein Geschworener wäre, würde ich Sie glatt freisprechen.”
Rustows Gesicht blieb vollkommen ernst. Er lächelte jetzt nicht mehr.
„Ich weiß, dass jemand wie du sich das einfach nicht vorstellen kann.”
„Was meinen Sie?”
„Na, dass es Menschen gibt, die einfach sterben, ohne dass man was dazu tun muss, Mario.”
Ein Fanfarenton mischte sich mit den Pop-Rhythmen im Hintergrund. Der durchdringende Fanfarenton war der Klingelton von Rustows Handy. Er nahm es ans Ohr.
„Was gibt es?”
„Wir müssen uns treffen”, sagte eine Stimme.
„Jetzt?”
„Sofort.”
„Ich weiß nicht, wie Sie sich das vorstellen …”
„Es geht um uns alle. Also seien Sie pünktlich! Am üblichen Treffpunkt. Die Lage ist sehr viel ernster, als wir alle angenommen haben.”
Es machte klick und das Gespräch war beendet. Rustow wirkte nachdenklich. Er steckte das Handy wieder ein - ein uraltes Gerät mit einer Prepaid-Simcard. Ein Apparat, dem jeder technischer Luxus späterer Generationen fehlte, aber genau deswegen wie geschaffen für ungestörte Gespräche, die schwer abzuhören waren.
„Was ist los, Herr Rustow?”
„Wir müssen noch mal los, Mario.”
„Wir?”, echote Mario Jensen.
„Ich möchte, dass du dabei bist.”
„Gibt es dafür einen bestimmten Grund?”
Jörg Rustow zuckte mit den Schultern.
„Nenn es Instinkt für Gefahr. Ich wäre einfach nicht gerne allein, wenn ich zum Treffpunkt fahre.”
„Okay.”
„Ach, noch was - nimm eine starke Kanone mit! Für alle Fälle.”
28
Der Treffpunkt war ein Parkplatz an der Autobahn 52 in Richtung der Düsseldorf.
Mario Jensen saß am Steuer der dunklen Limousine, Jörg Rustow auf dem Beifahrersitz.
Auf dem Parkplatz stand bereits eine zweite Limousine mit laufendem Motor.
„An das Seitenfenster heran, Mario!”, wies Rustow seinen Begleiter an. „Den Motor kannst du anlassen. Lange wird es nicht dauern.”
„Okay.”
Rustow ließ sein Fenster herunter. Auf der anderen Seite wurde dasselbe getan.
„Was ist so dringend?”, fragte Rustow.
„Wie ich schon sagte, die Lage ist sehr ernst geworden”, sagte eine Stimme aus der zweiten Limousine. „Es müssen Maßnahmen ergriffen werden. Und zwar umgehend.”
„Und was bitte schön soll das heißen?”
Rustow blickte plötzlich in die Mündung einer Waffe mit aufgeschraubtem Schalldämpfer.
Zweimal kurz hintereinander züngelte es rot aus dem Dämpfer heraus. Jedes Mal gab es ein Geräusch, das an den Schlag mit einer Zeitung erinnerte. Jörg Rustow sackte noch vorn. Mario Jensen wollte noch unter sein Jackett greifen, um die Waffe hervorzureißen, die er dort trug. Aber es war zu spät. Auch er sackte nach vorn. Sein Kopf landete auf dem Lenkrad. Nicht heftig genug, um den Airbag sich entfalten zu lassen, aber immer noch mit genug Kraft, die Hupe ertönen zu lassen. Zumindest für einen Moment. Dann rutschte Mario Jensen ein Stück zur Seite und der Ton hörte auf.
„Tut mir leid, Jungs”, sagte die Stimme in der zweiten Limousine. „War schön, all die Jahre mit euch zusammenzuarbeiten. Aber jede gute Zeit geht irgendwann einmal zu Ende.”
29
Es gab noch in der Nacht ein halbes Dutzend Verhaftungen. Wir blieben bis weit nach Mitternacht im Büro und hielten uns mit Kaffee wach. Der Deal zwischen Beltor und der Staatsanwaltschaft stand und so hatte er uns die Namen seiner Komplizen geliefert.
Zeitgleich wurde auch versucht, Jörg Rustow und seinen Mann fürs Grobe festzunehmen: Mario Jensen.
Kollegen drangen in Rustows Penthouse ein, fanden ihn dort jedoch nicht. Dutzende von Kollegen waren unterwegs, um ihn möglicherweise in einem seiner Clubs aufzutreiben. Aber die Meldungen, die von den Kollegen bei uns eintrafen, waren wenig ermutigend.
„Das ‘La Bonita’ war immer Rustows Lieblingsclub”, meinte Gottfriedson. „Neun von zehn Abende verbringt er dort. Das wissen wir genau. Ich verstehe nicht, wieso er ausgerechnet heute nicht dort ist.”
„Könnte es sein, dass er den Braten gerochen hat?”, meinte Christina Bellmann.
„Wie sollte das geschehen sein?”, fragte Gottfriedson. „Fangen Sie nicht wieder damit an, dass aus diesen Räumen Informationen nach außen getragen werden.”
„Es reicht doch schon dieser Mark Reifer dafür aus”, gab Kommissarin Bellmann zu bedenken. „Er hat Rustow und andere Leute aus seiner Organisation des Öfteren bei diversen Prozessen vertreten. Und wir hatten in der Vergangenheit doch schon den Verdacht, dass er in Rustows Geschäften mit drin hängt, vielleicht sogar beteiligt ist.”
„Reifer brauchte nur zwei und zwei zusammenzählen, als er hier saß und Beltor ihn plötzlich aus seinem Mandat entlassen hat”, stellte ich fest. „Er könnte die Bande gewarnt haben.”
„Das ist sogar sehr wahrscheinlich”, meinte Rudi. „Andererseits haben wir einen Großteil der Verdächtigen bereits hier.”
„Bis auf Mario Jensen und Jörg Rustow”, stellte ich fest. „Genau die könnte er gewarnt haben.”
„Wenn sie die Stadt verlassen haben, kommen sie nicht weit”, meinte Gottfriedson. „Die Autobahnpolizei ist angewiesen worden, Kontrollen auf den Autobahnen durchzuführen. Einen Flug wird keiner der beiden bekommen.”
„Warten wir ab”, sagte ich. „Die werden uns schon ins Netz laufen.”
In diesem Moment tauchte Gerd Thormann im Besprechungszimmer auf.
„Wo waren Sie, Gerd? Man hat Sie hier schon vermisst”, sagte Timo Gottfriedson.
„Wir haben einen Club im Westviertel beobachtet, den Jörg Rustow erst vor einer Woche über einen Strohmann erworben hat und der seither wohl als heißester Pillenumschlagsplatz gilt.” Thormann zuckte mit den Schultern. „Hätte ja sein können, dass Rustow dort nach dem Rechten sehen muss, dann hätte man ihn gleich einkassieren können.”
„Der wird schon wieder auftauchen”, meinte ich.
Rudi gähnte.
„Was hältst du davon, wenn wir noch ein paar Stunden schlafen?”, fragte er.
„Oder was essen”, schlug Gerd Thormann vor. „Ich habe für die, die noch hier sind, asiatisches Fingerfood mitgebracht. Steht drüben im Nebenraum.”
„Wird wohl heute nichts mehr mit einem richtigen Bett, Rudi”, meinte ich.
Er unterdrückte ein erneutes Gähnen und meinte: „Ist ja schon schlimm genug, wenn man müde ist, aber müde und hungrig wäre unerträglich.”
„Wir haben uns hier oft die Nächte um die Ohren geschlagen, als Dienststellenleiter Marenberg noch lebte und wir Rustow und der Happy-Hour-Connection so dicht auf den Fersen waren”, sagte Gottfriedson.
„Es ist bedauerlich, dass er das nicht mehr erleben kann”, sagte Gerd Thormann. „Sehr bedauerlich.”
29
Irgendwann in den frühen Morgenstunden meldete sich ein Kollege telefonisch bei Gottfriedson. Man hatte den Wagen gefunden, mit dem Kevin Marenberg entführt worden war. Es war ein Lieferwagen ohne Fenster. Rick Tamano war der Besitzer. Er gehörte zu den Männern um Mario Jensen, die Jörg Rustow zur Verfügung standen, wenn es darum ging, die Angehörigen fremder Syndikate zu vertreiben oder einen BKA-Chef aus dem Verkehr zu ziehen, dessen Ermittlungen zu nahe an die Wahrheit herangekommen waren.
Die festgenommenen Mitglieder von Mario Jensens Truppe belasteten sich inzwischen in den Verhörräumen gegenseitig. Und natürlich versuchten sie auch, so viel Schuld wie möglich auf ihre Anführer abzuwälzen.
Gottfriedson ordnete an, dass der Wagen im Labor eingehend untersucht werden sollte.
Kurz vor Sonnenaufgang fuhren Rudi und ich schließlich doch noch zum Hotel.
„Langsam wird sich jetzt Stück für Stück alles aufklären”, meinte Rudi. „Und dann wird sich auch die Lage insgesamt in Essen wieder beruhigen.”
Ich war da etwas weniger optimistisch.
„Keine Ahnung, ob es so kommen wird”, meinte ich. „Ich glaube nur, dass sich die Lage nicht beruhigen wird, solange wir Jörg Rustow und seinen obersten Helfershelfer nicht haben.”
Ich parkte den Wagen vor dem Hotel. Als wir ausstiegen, war ich etwas vorsichtiger als sonst. Das lag wohl an dem Erlebnis der Schießerei vor dem Hotel ‘Hopfengruß’.
Rudi bemerkte dies - und schien ähnliche Gedanken zu haben.
„Ja, irgendwie fürchtet man immer, dass der Bleihagel wieder losgehen könnte.”
„Hast du auch das Gefühl, dass wir in diesem Fall noch irgendetwas Entscheidendes übersehen haben?”
„Nein. Eigentlich nicht, Harry. Wir haben den Großteil der Täter, die an Marenbergs Ermordung beteiligt gewesen sind und wenn wir Mario Jensen haben, haben wir auch den Kopf der Bande. Und wir haben mit Jörg Rustow den Auftraggeber ermittelt, der uns hoffentlich ja auch noch ins Netz laufen wird.”
„Ich weiß nicht …”
„Was ist los, Harry? Was spukt dir im Kopf herum?”
„Ich kann’s auch nicht erklären. Es ist einfach nur die Empfindung, dass irgendwas noch fehlt.”
„Und jetzt versuchst du alles noch einmal zu durchdenken und diesen Schönheitsfleck in unserer Ermittlungsarbeit zu finden?” Rudi schüttelte entschieden den Kopf und unterdrückte ein Gähnen. „Es ist wirklich sehr spät, Harry. Oder sehr früh, ganz wie man will. Wahrscheinlich bist du einfach nur völlig übermüdet und nach ein paar Stunden Schlaf fügt sich alles so in deinem Kopf zusammen, wie es sein sollte.”
„Möglich.”
„Oder du solltest so spät nicht mehr asiatisch essen. Das kann einem auf den Magen schlagen.”
Wir gingen ins Hotel. Der Nachtportier begrüßte uns und legte uns die Schlüssel auf den Tresen.
30
Am späten Morgen weckte mich mein Handy noch früher, als ich erwartet hatte. Christina Bellmann war am Apparat.
„Gute Morgen, Harry …”
„Guten Morgen. Was ist los?”
„Rustow und Jensen wurden gefunden. Ich bin auf dem Weg dorthin. Und Sie sollten sich das auch ansehen. Hallo …? Sie sind doch wach, oder?”
„Jetzt schon”, sagte ich.
Nur wenige Minuten später saßen Rudi und ich im Wagen und waren auf dem Weg zu einem Parkplatz an der Autobahn, der von Essen Richtung Süden führt. Als wir eintrafen, waren dort bereits ein halbes Dutzend Einsatzfahrzeuge.
Ich stellte den Wagen zu den anderen. Wir stiegen aus und gingen zu einer dunklen Limousine.
Christina Bellmann war da und sprach mit einem Kollegen des Erkennungsdienstes, ehe sie uns schließlich entdeckte. In der Nähe befand sich auch Kommissar Gerd Thormann, der gerade mit einem Beamten der Autobahnpolizei redete. Auch Timo Gottfriedson hatte es sich nicht nehmen lassen, persönlich an diesem Tatort zu erscheinen.
Rudi und ich erreichten schließlich die Limousine und sahen durch das heruntergelassene Fenster.
„Da hat jemand ganze Arbeit geleistet”, meinte Rudi.
„Guten Morgen”, begrüßte uns Gottfriedson. „Rustow und Jensen wurden hier erschossen. Der Gerichtsmediziner meint, vermutlich schon gestern Abend.”
„Jemand befürchtete, dass die beiden reden, nachdem wir sie festnehmen”, mischte sich Christina Bellmann ein.
„Ja, so dürfte es sein”, murmelte ich.
Ich blickte mich um. Wenige Schritte von uns entfernt war ein Erkennungsdienstler gerade damit beschäftigt, den Abdruck eines Reifenprofils zu sichern.
„Zwei Wagen sind hier nebeneinander gefahren”, sagte ich. „Scheiben gingen herunter und dann fielen Schüsse.”
„Rustow und Jensen müssen die Person, die geschossen hat, gut gekannt haben”, sagte Bellmann. Sie deutete mit der Hand auf das Fenster. „Sonst wäre das Fenster nicht geöffnet worden.”
„Offenbar sollten da Mitwisser erledigt werden”, schloss ich.
„Wir haben immer geglaubt, dass mit Rustow die höchste Hierarchiestufe innerhalb der Happy-Hour-Connection erreicht ist”, sagte Gottfriedson nun. „Aber anscheinend gibt es noch Leute, die über ihm standen und verhindern wollten, dass sie in den Fall hineingezogen werden.”
„Es gibt immer jemanden, der höher steht”, sagte ich. „Nur frage ich mich, ob der in diesem Fall auch für dieses Blutbad verantwortlich ist.”
„Was spricht dagegen?”, fragte Rudi.
31
Die Arbeit am Tatort zog sich bis zum Mittag hin. Entscheidende Hinweise ergaben sich bislang aus der Spurenlage nicht. Das Reifenprofil konnte möglicherweise später das Fahrzeug identifizieren, das zweifellos neben der dunklen Limousine gestanden hatte - aber so lange wir kein Vergleichsprofil hatten, nützte uns das wenig.
Ich sprach mit einem Polizeimeister der Autobahnpolizei.
„Gibt es vielleicht irgendwelche versteckten Geschwindigkeitskontrollen auf der Strecke zwischen Essen und diesem Parkplatz?”, erkundigte ich mich.
„Sie meinen, ob eine Aussicht besteht, dass der andere Wagen fotografiert wurde?” Der Polizeimeister hob die Augenbrauen. „Es gibt zwei Positionen, an denen er geblitzt worden sein könnte, vorausgesetzt, er hat die Geschwindigkeit übertreten. Wenn wir wüssten, um wen es sich handelt oder zumindest welches Fahrzeug er fährt, würden wir ihn finden.”
„Das ist kein Trottel gewesen”, erinnerte mich Rudi. „Warum sollte der Täter die Geschwindigkeitsgrenze übertreten und sich damit diesem Risiko aussetzen.”
„Er könnte natürlich in Zeitdruck gewesen sein”, sagte der Polizeimeister.
„Nein”, murmelte ich, während ich noch einmal zu dem Wagen hinüberblickte. „Der Täter war nicht in Zeitdruck. Er hat hier gewartet. Dann erst kamen Rustow und Jensen. Deswegen steht auch deren Wagen jetzt mitten in der Durchfahrt.”
32
Wir fuhren schließlich zurück. Kurz bevor die Autobahn zur Stadtautobahn wurde, erreichte uns ein Anruf von Lin-Tai Gansenbrink.
„Harry? Rudi?”, hörten wir ihre Stimme über die Freisprechanlage.
„Wir sind ganz Ohr, Lin-Tai”, gab ich zurück.
„Das wird diesmal nicht reichen. Sie brauchen einen Rechner und einen Internetanschluss. Wenn Sie im Moment unterwegs sind und nur ein mobiles Netz haben, würde ich sagen, fahren Sie so schnell wie möglich zurück und fragen dort jemanden, ob Sie sein Büro benutzen können.”
„Okay, aber worum geht es denn eigentlich?”
„Um den Fall Marenberg. Worum denn sonst? Ich glaube, ich habe seinen Mörder gefunden. Aber überführen müssen Sie ihn noch.”
„Vielleicht sagen Sie uns noch etwas genauer, was Sie meinen”, verlangte Rudi.
„Keine Zeit, und solange Sie sich noch in einem Gebiet befinden, wo Sie sich auf das Netz nicht so ganz verlassen können, hat es keinen Sinn, wenn ich Ihnen das zu erklären versuche. Ich müsste dann nachher alles zweimal mitteilen.”
„Trotzdem …”, machte Rudi noch einen Versuch. Aber Lin-Tai ließ ihm keine Chance.
„Fahren Sie übrigens nicht über die 224, da ist Stau”, sagte sie. „Bis nachher. Ich muss noch ein paar Dinge vorbereiten.” Damit hatte sie aufgelegt.
„Was sagt man denn dazu!”, stieß Rudi hervor.
„Sie scheint uns zu orten”, stellte ich fest.
„Ja, big sister is watching us. Es ist doch ein beruhigendes Gefühl, dass jemand auf uns aufpasst.”
„Jedenfalls bin ich gespannt, was sie zu bieten hat”, sagte ich.
Rudi rief Kommissarin Christina Bellmann an, die uns vorausfuhr, damit sie ebenfalls den Stau mied. Außerdem fragte er bei dieser Gelegenheit nach, ob wir ihr Büro benutzen durften.
Und ungefähr zwanzig Minuten später erreichten wir das Polizeigebäude. Dann dauerte es noch einmal fünf Minuten, bis wir in Christina Bellmanns Büro Platz genommen hatten.
„Ich nehme an, Sie wollen allein mit Ihrer Kollegin Kontakt aufnehmen”, sagte Kommissarin Bellmann.
„Wir haben leider keine Ahnung, was unsere IT-Spezialistin von uns will”, bekannte ich. „Ich weiß nur, dass es vermutlich irgendetwas mit der Übertragung von größeren Datenmengen oder irgendetwas anderem zu tun haben muss, was einen stabilen Netzzugang voraussetzt.”
„Gut, ich gehe dann hinaus und überlasse Sie Ihrer IT-Wunderhexe.”
„Bleiben Sie ruhig!”, sagte ich. „Falls es doch nötig sein sollte, dass Sie hinausgehen, werde ich Sie ausdrücklich darum bitten.”
„Schön, dass Sie mir anscheinend inzwischen vertrauen”, sagte sie.
Wenig später meldete sich Gansenbrink über das Smartphone. Ich schaltete auf laut.
„Ist der Rechner startklar?”, fragte sie.
„Ja”, bestätigte Rudi.
„Ihr bekommt einen Videostream. Es geht noch einmal um die Aufzeichnungen aus dem Einkaufszentrum während des Amoklaufs. Das Datenmaterial war ja sehr umfangreich, und es dauert natürlich immer eine gewisse Zeit bis so etwas tatsächlich komplett gesichtet werden kann. Und jetzt seht mal genau hin!”
Gerd Thormann war auf der Bildfläche zu sehen.
„Worauf sollen wir achten?”, fragte ich.
„Auf die Zeitangabe. Diese Sequenz ist aufgenommen worden, kurz bevor Kevin Marenberg hier eintraf und damit begann, wild um sich zu schießen.”
„Thormann greift zum Handy”, stellte Rudi fest.
„Genau darauf kommt es an”, stellte Lin-Tai fest.
„Was ist daran so ungewöhnlich? Er hat jemanden beschattet.”
„Das sagt er”, erwiderte Lin-Tai. „Aber ich habe Zweifel daran, dass das der Wahrheit entspricht. Ich glaube, dass er aus einem anderen Grund in dem Einkaufszentrum war.”
„Und welchen?”, fragte ich.
„Ich möchte euch erst eine andere Sequenz zeigen. Die ist aus dem Eingangsbereich und zwar gerade in dem Moment aufgenommen, in dem Kevin Marenberg das Einkaufszentrum betritt.”
„Auch das haben wir schon gesehen”, sagte Rudi.
„Aber nicht auf die entscheidenden Dinge geachtet”, erklärte Lin-Tai. Sie ließ die Videoaufzeichnung zum Standbild gefrieren und zoomte es näher an. „Sehen Sie den Mann dort, der ebenfalls ein Handy am Ohr hat?”
„Das ist Mario Jensen!”, stellte ich überrascht fest.
„Zwei Telefongespräche, exakt zur selben Zeit und von derselben Dauer”, sagte unsere IT-Spezialistin. „Glaubt irgendjemand von Ihnen da an einen Zufall?”
„Nein, Sie haben recht”, gab ich zu.
„Wir kennen leider den Inhalt des Gesprächs nicht. Und mir ist auch klar, dass das noch kein gerichtsfester Beweis ist. Aber die Sache ist meines Erachtens ziemlich eindeutig, Harry.”
„Gerd Thormann”, murmelte ich.
„Er wollte nichts dem Zufall überlassen”, erläuterte Lin-Tai weiter. „Natürlich hätte er sich darauf verlassen können, dass die Security-Leute ihn erschießen. Aber es hätte auch sein können, dass die Kevin Marenberg nur verletzen. Thormann wollte sichergehen, dass Marenberg stirbt.”
„Darum hat er den Job selbst übernommen”, sagte ich. „Und Mario Jensen hat ihm kurz vorher Bescheid gegeben, dass Marenberg im Anmarsch ist.”
„Richtig”, stellte Lin-Tai fest. „Es war kein Amoklauf. Es war auch kein erweiterter Selbstmord oder nur die Tat von einer Gruppe von Helfershelfern aus der Happy-Hour-Connection um Jörg Rustow, die Marenberg gekidnappt und unter Drogen gesetzt haben. Der entscheidende Faktor in diesem Mordfall ist Kommissar Gerd Thormann. Er ist der Haupttäter.”
„Dann ist es doch eine Eifersuchtsgeschichte?”, fragte Rudi, sichtlich irritiert. „Ehrlich gesagt, hatte ich nach der Befragung von Frau Marenberg nicht den Eindruck, dass Thormann tatsächlich mehr als ein guter Freund für sie war.” Er zuckte mit den Schultern. „Aber vielleicht irre ich mich ja auch und bin einfach nicht sensibel genug für so etwas.”
„Ich habe mir erlaubt, mal einen Blick auf sein Konto zu werfen, auch wenn das jetzt vielleicht nicht so ganz legal war”, sagte Lin-Tai. „Aber ich wette, das wird in Kürze ohnehin jemand anders noch nachholen …”
„Was ist mit seinem Konto?”
„Es ist so voll, dass es überläuft, könnte man sagen.”
„Sie meinen …”
„Er war an den Geschäften der Happy-Hour-Connection beteiligt”, erklärte Lin-Tai. „Das wäre meine Theorie und ich schätze, dass man sie auch beweisen kann. Natürlich war Thormann nicht so dumm, sich Drogengelder auf das Konto überweisen zu lassen. Er weiß ja, wie der Hase läuft. Aber sein Gehalt hat sich da auf eine Weise angesammelt, die man nur erklären kann, wenn man annimmt, dass er noch andere Einkünfte hatte, die seine Dienst-Bezüge erheblich übertrafen. Ich habe da übrigens auch ein verdächtiges Konto auf einem Schweizer Konto gefunden, das vielleicht damit in Zusammenhang steht. Aber das ist noch Spekulation.”
„Dann musste er Rustow und Jensen töten, um zu verhindern, dass die ihn ans Messer liefern, sobald sie verhaftet sind”, meinte ich.
„Jetzt geht es also darum, ihm das alles zu beweisen”, stellte Rudi fest.
Ich wandte mich an Christina Bellmann.
„Ein Schock für Sie?”
„Es ist immer ein Schock, wenn man erfährt, dass jemand, dem man vertraut hat, dieses Vertrauen offenbar nie verdiente.”
„Aber Sie glauben uns?”
„An den Fakten kann man nicht vorbei. Und was den Mord an Rustow und Jensen angeht …”
„Ja?”
Irgendein Gedanke ging ihr in diesem Augenblick durch den Kopf. Offenbar brauchte sie einen Moment, um ihn wirklich reifen zu lassen.
„Es gibt ein starkes Indiz. Vielleicht noch kein Beweis, aber zusammengenommen mit dem, was Sie bisher haben, dürfte das reichen.”
„Wovon sprechen Sie?”
„Warten Sie einen Augenblick!” Christina Bellmann umrundete den Schreibtisch, holte den Papierkorb hervor und begann, darin herumzuwühlen. Dann hatte sie wenig später eine der Verpackungen des asiatischen Fingerfoods in der Hand, das Gerd Thormann am Abend zuvor mitgebracht hatte. „Lin Tangs Eastern Fingerfood - wissen Sie, wo das liegt?” An der Wand hing eine Karte von Essen und der Umgebung. Ihr Finger fand den Ort, an dem der Laden zu finden war, zielsicher. „Es ist das beste asiatische Essen zum Mitnehmen, das es weit und breit gibt. Gerd hat erwähnt, dass er angeblich einen Club im Westbezirk beobachtet hat. Das kann nur das ‘Pearl’ gewesen sein. Aber der Westbezirk liegt auf der anderen Seite der Stadt, während Lin Tangs Eastern Fingerfood genau auf dem Weg von dem Parkplatz an der Autobahn nach Düsseldorf liegt.”
„Zumindest wird er uns das erklären müssen”, meinte Rudi.
33
Wir gingen zu Timo Gottfriedson, der in seinem Büro gerade mit dem Bezirksstaatsanwalt sprach.
„Wo ist Kommissar Thormann?”, fragte ich.
„Er ist noch nicht von dem Einsatz auf dem Autobahn-Parkplatz zurückgekehrt. Inzwischen hat sich nämlich eine Zeugin gemeldet, die er vernehmen möchte.”
„Hat er das gesagt?”
„Ja. Worauf wollen Sie hinaus?”
„Kennen Sie den Namen der Zeugin?”
„Nein. Ich muss jemanden wie Thormann nicht in jedem Detail überprüfen. Außerdem bin ich der Dienststellenleiter und so wichtig der Fall ist, der normale Betrieb muss hier auch weiterlaufen.”
„Natürlich.”
„Sie waren doch lange genug an der Front, Herr Kubinke. Sie wissen doch sehr gut, wie das läuft. Und was soll eigentlich die ganze Fragerei nach Gerd?”
„Schreiben Sie ihn zur Fahndung aus! Dass er Marenberg erschossen hat, war kein Zufall, sondern ein inszenierter Mord. Und für den Tod von Rustow und Jensen ist er höchstwahrscheinlich auch verantwortlich.”
„Gerd? Warum sollte er so etwas tun?”
„Weil er verhindern musste, dass Rustow in die Mühlen der Justiz gerät. Denn dann wäre auch seine Beteiligung an dessen Geschäften aufgeflogen.”
„Gerd? Ich hoffe ...”
„Ja, es gibt Beweise, und die sollten Sie sich auch in aller Ruhe ansehen. Aber jetzt kommt es erst einmal darauf an, dass wir ihn kriegen. Denn falls er bereits ahnen sollte, dass wir ihm auf den Fersen sind, wird er sofort Gegenmaßnahmen ergreifen.”
„So wie bei Marenberg”, stellte Rudi fest. „Der musste schließlich auch deshalb sterben, weil er der ganzen Happy-Hour-Connection bereits viel zu sehr auf die Spur gekommen war.”
„Es fällt mir schwer, das zu glauben”, meinte Gottfriedson.
„Das fällt mir genauso schwer”, erklärte jetzt Kommissarin Christina Bellmann. Sie hatte noch immer die Verpackung von Lin Tangs Eastern Fingerfood in der Hand und legte sie jetzt Gottfriedson auf den Tisch.
„Was soll das? Hat man bei Ihnen den Mülleimer noch nicht gelehrt?”, fragte Gottfriedson.
„Hören Sie mir einfach nur einen Moment zu! Und dann setzen Sie unsere Fahndungsmaschinerie in Gang! Sonst geht uns Gerd durch die Lappen. Er hat Geld wie Heu und Verbindungen, die es ihm jederzeit ermöglichen würden, seine Identität zu wechseln und unterzutauchen.”
„Also gut, Bellmann. Reden Sie!”
34
Thormanns Diensthandy konnte geortet werden. Er war offenbar keineswegs damit beschäftigt, irgendeine Zeugin zu vernehmen. Die geortete Position war identisch mit dem Bungalow, den er am Stadtrand von Essen bewohnte.
Wir machten uns auf den Weg dorthin. Kommissarin Bellmann fuhr hinter uns her.
Wir erreichten schließlich die Adresse seines Bungalows. Er lang an einer breiten Straße, die von Bäumen umsäumt wurde. Die Grundstücke waren groß zugeschnitten. Hecken grenzten die Rasenflächen der Gärten voneinander ab. Thormanns Dienstfahrzeug stand in der Einfahrt vor der Garage. Der Bungalow selbst war vielleicht hundertfünfzig Quadratmeter groß und hatte ein Flachdach.
„Denkst du, er bereitet schon seinen Abgang vor und trifft Fluchtvorbereitungen?”, meinte Rudi.
„Oder er braucht Zeit, um seine Geschäfte zu ordnen und Spuren zu verwischen”, meinte ich. „Ich nehme an, dass er jetzt telefonieren wird.”
Die Ermittlungen gegen die Happy-Hour-Connection standen ja erst noch ganz am Anfang. Es würde Wochen oder Monate dauern, bis sämtliche Details ans Licht kamen - vor allem, was die Geldströme betraf. Und wenn von irgendeinem dieser Ströme ein verdächtiger Nebenfluss abzweigte, konnte auch das Thormann unter Umständen in Bedrängnis bringen.
„Ich glaube allerdings nicht, dass er weiß, wie weit wir ihm jetzt bereits auf der Spur sind”, meinte Christina Bellmann.
„Sind Sie sicher?”, fragte ich. „Ich glaube, wenn jemand über viele Jahre hinweg so ein Doppelleben führt wie Gerd Thormann, dann entwickelt man eine Art sechsten Sinn dafür, wenn’s brenzlig wird. Der braucht nicht einmal einen Trojaner in die Rechner seiner Kollegen eingeschleust zu haben, um zu ahnen, dass es auch für ihn eng werden könnte und er durch die Ermordung von Rustow und Jensen vielleicht nur Zeit gewonnen hat.”
Wir hatten Schutzweste und Headset angelegt. Dann ging ich mit Kommissarin Bellmann zur Tür und klingelte. Rudi umrundete derweil den Bungalow, um sich dem Gebäude von der Terrassenseite zu nähern.
Christina Bellmann und ich stellten uns jeweils rechts und links der Tür auf. Wir hielten die Dienstwaffe in den Händen.
In diesem Augenblick ertönte ein Knall.
Das Projektil einer großkalibrigen Waffe schlug durch die Haustür und stanzte ein faustgroßes Loch in das dunkle Holz. Ein halbes Dutzend weiterer Schüsse folgten.
Thormann hatte zwei und zwei zusammengezählt und konnte sich denken, dass nur ein einziger Grund dafür in Frage kam, dass wir ihn offenbar geortet hatten und bei seiner Privatadresse auftauchten.
Zehn Schüsse kurz hintereinander feuerte unser korrupter Kollege ab. Es blieb uns nichts anderes übrig, als in Deckung zu bleiben.
„Ich gehe jetzt von hinten über die Terrassentür ins Haus!”, hörte ich Rudis Ankündigung über das Headset.
Dann hörte ich das Geräusch von splitternden Glasscheiben.
Im ersten Moment dachte ich, dass Rudi nun gewaltsam in das Haus eingedrungen war und dabei die Scheibe der Terrassentür zerstört hatte. Aber irgendwie stimmte da etwas nicht. Das Geräusch war zu nah. Und außerdem hätte ich zusätzlich noch eine Rückkopplung über das Mikro an Rudis Headset hören müssen. Aber das war nicht der Fall.
Ich fasste die Waffe mit beiden Händen.
„Bleiben Sie hier, Bellmann!”, sagte ich.
Für den Fall, dass ich mich irrte, musste die Haustür schließlich bewacht sein.
Ich spurtete seitwärts bis zur Hausecke. Und dann tauchte ich dahinter hervor.
Kommissar Gerd Thormann war durch ein seitlich am Haus befindliches Fenster ins Freie gesprungen und hatte sich auf dem Rasen abgerollt. Jetzt rappelte er sich wieder auf. Bis zu der aus dicht an dicht wachsenden, ungefähr zwei Meter hohen Tujasträuchern bestehenden Abgrenzung zum Nachbargrundstück waren es nur noch wenige Meter. Dort hätte Thormann wieder Deckung gehabt.
Er wirbelte herum, riss die Waffe hoch - eine großkalibrige Automatik. Fünfzehn oder sechzehn Schuss hatte so ein Pistolenmagazin normalerweise. Zehn hatte er bereits abgegeben. Zum Nachladen hatte er keine Zeit gehabt. Trotzdem blieb immer noch genug Feuerkraft übrig.
„Geben Sie auf, Thormann!”, rief ich.
Er feuerte sofort. Mehrere, hastig gezielte Schüsse gab er ab, während er taumelnd auf die Front der Tujasträucher zulief.
Ich feuerte ebenfalls, während mindestens ein Projektil sehr dicht an meinem Kopf vorbeizischte und dann ein daumengroßes Stück aus dem Gemäuer der Hausecke herausstanzte.
Ich traf Thormann an der Schulter. Er stolperte und verlor beinahe das Gleichgewicht. Dann feuerte er erneut, und im nächsten Moment hatte ich das Gefühl, als ob mich ein Hammerschlag traf.
Ein Schuss hatte mich in die Brust getroffen. Glücklicherweise schützte mich die Schutzweste, aber die Kraft dieses großen Kalibers ließ mich zu Boden gehen, als hätte ich einen heftigen Tritt bekommen.
Aber in diesem Moment krachte noch ein weiterer Schuss - und zwar hinter mir.
Kommissarin Christina Bellmann hatte geistesgegenwärtig ihren Posten verlassen und gefeuert.
Ein Schuss, der Gerd Thormann schwer traf. Er stand noch da, versuchte noch seine Waffe ein letztes Mal hochzureißen, aber sein Arm gehorchte ihm schon nicht mehr richtig.
Wie ein gefällter Baum schlug Thormann zu Boden. Mit einem dumpfen Geräusch kam er auf dem Rasen auf und blieb regungslos liegen.
35
„Alles in Ordnung, Harry?”, fragte Rudi.
Da waren bereits zwanzig Minuten vergangen, und ich ließ mich gerade von einem Sanitäter der örtlichen Notambulanz behandeln.
„Wenn ich Glück habe, ist keine Rippe gebrochen”, meinte ich.
„Röntgen lassen solltest du dich hinterher trotzdem.”
„Mal sehen.”
„Ich habe Ihrem Kollegen dasselbe gesagt”, erklärte der Mitarbeiter der Notambulanz von Essen dazu. „Vielleicht können Sie ihm ja in dieser Hinsicht noch etwas gut zureden.”
„Ich werde ihn schon überzeugen”, versprach Rudi.
Inzwischen standen fast ein Dutzend Einsatzfahrzeuge von Polizei, Notambulanz und des Erkennungsdienstes vor dem Bungalow von Gerd Thormann.
Für Thormann hatte das Notarzt-Team, das sofort gerufen worden war, nichts mehr tun können. Der Schuss, mit dem Kommissarin Christina Bellmann ihn getroffen hatte, war letztlich tödlich gewesen.
Ein Wagen nahte heran und ich sah, dass es niemand Geringeres als Dienststellenleiter Timo Gottfriedson war.
Kommissarin Bellmann hatte ihm einen kurzen, telefonischen Zwischenbericht über die Ereignisse gegeben. Gottfriedson wollte es sich offenbar nicht nehmen lassen, in diesem besonderen Fall am Tatort zu sein.
Ich versuchte unterdessen wieder normal zu atmen. Wahrscheinlich würde ich die Hämatome, die der Aufschlag des Projektils auf der Weste verursacht hatte, mir noch eine ganze Weile Schmerzen bereiten.
Gottfriedson ging auf direktem Weg dorthin, wo der Gerichtsmediziner gerade die Erstbegutachtung der Leiche abschloss und ein Erkennungsdienstler ein paar Fotos machte, um später ihre genaue Lage dokumentieren zu können.
Christina Bellmann stand dabei und sah mit starrem Gesicht zu.
Wir begaben uns auch dort hin.
„Kommissarin Bellmann hat mir heute wahrscheinlich das Leben gerettet”, sagte ich an Gottfriedson gerichtet. Dann wandte ich mich an Christina und sagte: „Danke, dass Sie so professionell reagiert haben.”
„Ich hoffe, dass es das Richtige war, was ich getan habe”, sagte sie. „Mein Verstand weiß das, und irgendwie fühlt es sich trotzdem falsch an, einen Kollegen über den Haufen zu schießen.”
„Falsch ist, was Gerd Thormann getan hat”, sagte ich. „Sie haben richtig gehandelt.”
„Wir werden ausgebildet, um Menschen zu beschützen - nicht dafür, dass man andere vor uns beschützen muss”, sagte Bellmann.
Gottfriedson meldete sich nun zu Wort.
„Ich selbst habe es erst einfach nicht glauben wollen, dass so etwas möglich wäre. Anderswo vielleicht - aber nicht hier. Bei jemandem wie Gerd Thormann hätte ich mir das nie vorstellen können. Im Nachhinein ist jetzt allerdings vieles, was in den letzten Jahren hier geschehen ist, erklärlich.”
„Sie werden es sicher besser machen”, sagte ich.
„Besser als Kevin Marenberg, der zuletzt ein kranker, überforderter Mann war, der niemandem mehr vertraut hat?”
„Ja.”
Gottfriedson zuckte mit den Schultern.
„Wir werden sehen. Dass die Happy-Hour-Connection nun wohl gründlich zerschlagen ist, war auch immer mein Ziel und eigentlich sollte das ein Grund zur Genugtuung sein.”
„Ist es das nicht?”
„Zumindest nicht die Tatsache, dass die Krakenarme dieser Organisation bis in das BKA hineinreichten”, meinte Gottfriedson.
In diesem Punkt konnte ich ihm nur zustimmen.
ENDE