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Die Stille der Baumorgel

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Ich verstand die Welt nicht. Immer, wenn Erwachsene über Dinge sprachen, die man tun und lassen musste, hatte ich Fragezeichen im Gesicht. Sie blieben groß, weil Erwachsene das Warum nicht kennen.

Eines Tages musste ich wissen, warum es meine Pflicht ist, eine Tante zu besuchen, die ich weder kannte noch mochte. Ständig erzählte sie langweilige Geschichten. Dabei sah sie durch uns Zuhörer glatt hindurch und in Wahrheit interessierte sich eigentlich auch niemand für ihr Gerede. Es erinnerte an Radio hören, nur dass die Sprecherin einem gegenüber saß.

Ich fragte Tante Maria, warum sie mir nicht zuhörte, wenn ich was aus meinem kleinen Leben erzähle. Doch sie verstand mich nicht; wie sollte sie? Sie hörte ja nicht zu. Stattdessen wurde sie böse und zischte, dass ich ein fürchterliches Kind sei. Meine Mama sah mich währenddessen traurig an und schwieg.

Obwohl sie Schwestern sind, mögen sich die beiden nicht sonderlich. Keine Ahnung warum. Ständig versuchen sie sich zu übertrumpfen, egal ob Kuchen, Salat oder Calamar a la Plancha. Immer will eine besser sein als die andere. Warum Mama sich darauf einließ, verstand ich nicht.

Mama war schön und elegant. Ihre Schwester dagegen klein und dick, konnte Einweckgläser mit bloßen Händen aufschrauben und trug einen leichten, aber schon sehr struppigen Oberlippenbart.

Damals glaubte ich, Erwachsene haben ihren Kopf nur, um sich Rezepte und Fernsehprogramme zu merken. Sie stritten oft über meine Schweigsamkeit. Aber der Reihe nach.

Weil niemand zuhörte, erfand ich die Wortfalle, um zu sehen, ob sie mir folgten. Wenn sie versuchten, mir zwanzig Sekunden Aufmerksamkeit zu schenken, baute ich in meinen Satz ein Wort, das mit dem Rest nichts zu tun hatte. Ungefähr so:

„Gestern habe ich mich mit Antonia beim Kugelschreiber getroffen.“

Schnell war ich traurig. Niemand merkte was. Dann fing ich an Fragen zu stellen. Sogar meine Stimme hob ich am Ende, um die Fragezeichen mit Schwung in den Boden zu rammen: Nichts. Rein gar nichts.

Ich fragte mich, warum ich was erzählen soll, wenn sie ständig wegschauen und mit anderen reden.

Für mich war dieser Tag mein Erwachen, meine Stunde Null. Wortlos stand ich auf und hatte gerade den Griff für die Tür zum Garten in der Hand, als mich Tante Maria anschrie, wo ich hinwolle.

Zuerst lächelte ich. Dann erwuchs aus meinem schüchternen Lachen ein immer größer werdendes Gekicher. Hatte Tante Maria vergessen, wo ihre Küchentür hinführte?

Ich konnte einfach nicht aufhören zu lachen. Plötzlich sprang Tante Maria auf, riss den Stuhl um, schmiss ihre schmutzige Schürze in die Ecke und rannte los.

Tante Maria lebt in so einem Körper, der einem Kartoffelacker gleicht, der übersät ist von Beulen und blauen Flecken. Ständig bleibt er an Tischkanten hängen. Nicht dass sie ein ausladendes Becken hat, eines, das an Bahnhofsuhren oder Ähnliches denken lässt. Ihre Welt ist einfach anders. Geschwindigkeiten und Bewegungen sind nicht wichtig und nicht ihre Stärke.

Dazu kommt, dass sie sich wie eine Marionette mit Fäden aus Gummi bewegt; alles schlackert komisch herum; ständig prallt sie gegen alles, was ihr in den Weg kommt. Ich glaube, ihr Kopf weiß nicht, dass er Beine und Arme lenkt und ist daher ständig überrascht, wenn sich unter ihm etwas bewegt.

Ich gehe rückwärts aus der Tür, sehe, wie wenige Meter vor mir Tante Marias Hausschuhe gefährlich tief über den Boden schlurfen, schätze ihren Weg ab, gehe zwei weitere Schritte zurück, hinein in den Garten, sehe die Länge ihrer behaarten Arme, bleibe stehen und warte. Mama schreit, Tante Maria läuft.

Wie erwartet bleibt sie an der Türkante hängen, hebt ab, fängt an zu fliegen und merkt mit überraschtem Gesicht, dass der Boden dichter kommt, während ich meine Grabschis in die Taschen stecke und den wütenden Haarknoten anlächle, wie er in Zeitlupe tiefer und tiefer sinkt und dumpf klatschend in einer curryfarbenen Staubwolke zu Boden geht, während sich ihre schluchzenden Finger im Sand eingraben und ihre des Nachts unter Tränen hastig abgekauten Fingernägel meine Schuhe streicheln.

Tante Marias Garten mündet in einen riesigen Olivenhain. Ein paar Bäume sehen aus wie versteinert. Manche sind viele tausend Jahre alt. Meeresluft streicht über die Berge, schiebt wütende Wolken aus Staub, Tannnadeln und vertrockneten Olivenbaumblättern vor sich her. Ehrfürchtig gehe ich zu einem alten Olivenbaum; wie ein Märchentroll sieht er aus; ich setze mich auf einen der knorrigen Äste und sehe dem Wind zu, wie er kleine weiße Schaumkronen aufs Mittelmeer zaubert.

Wind fährt mir durchs Haar, salzig, frisch und blau; gerade sehe ich den weißen Tupfern zu, wie sie das lange Haar der Wellen kämmen, als ich plötzlich ein Vibrieren spüre. Wo kommt es her? Es wird immer mehr; ich bekomme eine Gänsehaut und höre einen tiefen samtigen Ton, leichtfüßig, wie eine gewaltige Flöte.

Wieso können Bäume, die sich langsam bewegen und wenig reden, schöne Musik machen, während meine Tante weder gehen, laufen und schweigen kann, ohne die Welt zu zerstören und mit schmierig dumpfer Schimpfkloake zu überziehen?

Schnell fing ich an, den Baum zu mögen und besuchte ihn regelmäßig, besonders dann, wenn Erwachsene mir komische Geschichten auftischten.

Mit der Zeit wurde ich älter und bin selber ein Erwachsener geworden. Doch die Baumorgel gibt es immer noch; noch heute höre ich sie, wenn Menschen sich verlieren und mich zu Tode langweilen; dann summt sie sanft und ich lächle wie ein kleines Kind, das die Welt gar nicht mehr so schlimm findet.




Brennende Krokodile löscht man nicht

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