Читать книгу Arminuta - Donatella Di Pietrantonio - Страница 17
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ОглавлениеIn einer dieser Nächte starb meine Mutter vom Meer im Obergeschoss des Stockbetts. Sie sah nicht krank aus, höchstens etwas grauer als gewöhnlich. Doch irgendwann begann das haarige Muttermal, das wie eine angewachsene Raupe auf ihrem Kinn saß, ganz allmählich zu verblassen. Innerhalb weniger Minuten verlor es jede Farbe, bis es mit dem dunklen Weiß rund herum verschwamm. Die Luft hörte auf, ihre Brust zu heben, und das Auge wurde starr.
Zur Beerdigung begleitete mich die andere Mutter. Arme Adalgisa, arme Adalgisa, wiederholte sie händeringend. Doch dann jagten die anderen sie fort, sie trug Helancastrümpfe voller Laufmaschen, so ungepflegt durfte sie nicht an der Trauerfeier teilnehmen. Allein stand ich nun vorne, einzige Tochter der Verstorbenen, hinter mir eine ununterscheidbare Gruppe schwarzer Gestalten, die der Zeremonie beiwohnten. Die Totengräber ließen den Sarg in das frisch ausgehobene Loch hinab, die Seile ächzten bei der Reibung an den Kanten unter dem Gewicht. Ich musste dem Rand der Grube zu nah gekommen sein, das Gras gab unter meinen Füßen nach, und ich stürzte auf sie, auf das Holz, das sie umschloss. Reglos lag ich da, wie betäubt und vielleicht unsichtbar. Der Pfarrer sprach einen eintönigen Segen, bespritzte auch meinen Körper mit Weihwasser. Dann das Geräusch der Schaufeln, die begannen, die aufgehäufte Erde wieder zurückzuwerfen, taub für meine Schreie. Zuletzt packte mich jemand fest am Arm.
»Wenn du nicht endlich aufhörst zu kreischen wie ’ne Verrückte, schmeiß ich dich ausm Fenster«, drohte Sergio und schüttelte mich im Dunkeln.
Ich konnte nicht mehr einschlafen. Mit dem Blick folgte ich der kalten Reise des Mondes, bis er sich hinter der Mauer verbarg.
Der Albtraum war der Gipfel meiner nächtlichen Ängste. Wenn ich vor Müdigkeit kurz eingenickt war, schreckte ich plötzlich wieder auf mit der Gewissheit, dass ein schreckliches Unglück bevorstehe, aber welches? Ziellos irrte ich durch mein lückenhaftes Gedächtnis, bis die Krankheit meiner Mutter mir schlagartig wieder zu Bewusstsein kam und in der Dunkelheit unaufhaltsam schlimmer wurde. Tagsüber konnte ich sie zügeln, an eine Genesung, an meine anschließende Rückkehr nach Hause glauben. Nachts ging es ihr immer schlechter, bis sie im Traum starb.
Später kletterte für einmal ich zu Adriana hinunter. Sie wachte nicht auf, verschob nur die Füße, um mich in unserer gewohnten Lage aufzunehmen; ich aber wollte meinen Kopf neben ihren auf das Kissen legen. Ich umschlang sie, um mich zu trösten. Sie war so klein und knochig und roch nach fettigen Haaren.
Wie als Kontrast tauchten aus meinen Erinnerungen die Locken von Lidia auf, wie rote Blüten zwischen den Laken. Die jüngste Schwester meines Carabiniere-Vaters war zu jung, um sie Tante zu nennen. Einige Jahre hatten wir zusammen im Haus meiner Eltern gewohnt, sie gehörte zu den frühesten Erinnerungen an jene Räume. Ihr Zimmer lag am Ende des Flurs, schmal und eng, aber mit Blick auf die Wellen. Am Nachmittag erledigte ich rasch meine Schulaufgaben, und dann hörten wir im Radio Schlager. Sie hatte ständig Liebeskummer und sang mit der Faust auf der asthmatischen Brust untröstlich die Strophen voller Herzschmerz mit. Ihre Familie hatte sie aus ihrem Dorf zum Bruder geschickt, damit sie die salzige Meeresluft atmete.
Wenn wir allein waren, zog sie einen Minirock und Schuhe mit Plateausohlen an, die sie im Schrank versteckt hatte, und drehte den Plattenspieler zu voller Lautstärke auf. Im Esszimmer tanzte sie Shake, zuckte und schüttelte sich mit geschlossenen Augen von oben bis unten. Wer weiß, wo sie das gelernt hatte, nach Sonnenuntergang durfte sie nicht mehr ausgehen, doch manchmal kletterte sie heimlich aus einem Fenster im Erdgeschoss. Ich wollte sie jeden Abend bei mir haben, denn immer, wenn ich am Einschlafen war, juckte es mich am Rücken an bestimmten unzugänglichen Stellen. Lidia kam, kratzte mich und blieb dann auf dem Bett sitzen. Mager, wie ich war, zählte sie meine Wirbel und erfand zu jedem eine Geschichte. Den am weitesten vorstehenden gab sie Namen und ließ sie Gespräche führen wie alte Damen, indem sie bald den einen, bald den anderen berührte.
»Sie nehmen mich«, sagte sie eines Tages beim Heimkommen.
So verlor ich sie ein paar Jahre vor meiner Rückgabe an das große Kaufhaus. Eines Morgens waren wir früh zum Einkaufen gegangen, und während ich ein T-Shirt mit Fischen und Seesternen anprobierte, fragte sie eine Verkäuferin, ob sie mit der Abteilungsleiterin sprechen könne. Die käme erst später, hieß es. Wir warteten. Sobald sie uns in ihrem schmucklosen Büro empfing, zog Lidia ein Sekretärinnen-Diplom aus der Tasche und fragte, ob sie eine Arbeit für sie hätten, egal, welche. Sie saß vor dem Schreibtisch, und ich stand neben ihr, ab und zu streichelte sie meinen Arm.
Sie riefen sie fast sofort für eine kurze Probezeit. Eines Abends kam sie mit einer auf ihren ausgestreckten Händen zitternden Uniform zurück, die sie am nächsten Tag tragen sollte. Im Wohnzimmer auf und ab stolzierend, probierte sie sie an. Weiß und blau, mit gestärktem Kragen und Manschetten. Nun besaß auch sie eine Uniform, wie ihr Bruder. Sie vollführte eine Reihe von Pirouetten, um uns den Tellerrock vorzuführen. Als sie wieder stillstand und die Welt aufgehört hatte, sich um sie zu drehen, war ich nicht mehr da, um ihr zuzuschauen.
Von der Verkäuferin stieg sie bald zur Kassiererin auf und nach einem Jahr zur Abteilungsleiterin. Sie kam immer später nach Hause. Dann zog sie um in den Hauptsitz des Kaufhauses, viele hundert Kilometer entfernt. Ab und zu schrieb sie mir, und ich wusste nicht, was ich antworten sollte. In der Schule alles in Ordnung, ja. Immer noch mit Patrizia befreundet, klar. Im Schwimmbad hatte ich gelernt, im Wasser Purzelbaum zu schlagen, fror aber immer noch. Anfangs schickte sie Ansichtskarten mit den Sehenswürdigkeiten der Stadt, doch irgendwann müssen sie alle gewesen sein. Ich malte schwarze Sonnen ins Heft, schwarz wie meine Stimmung, und die Lehrerin rief daheim an, um zu fragen, ob jemand gestorben sei. Im Zeugnis hatte ich einen Notendurchschnitt von eins, mit der akribischen Erledigung der Hausaufgaben füllte ich die leere Zeit aus, die Lidia hinterlassen hatte.
Im August kehrte sie auf Urlaub zurück, doch ich fürchtete mich davor, erneut mit ihr glücklich zu sein. Wie gewohnt gingen wir an den Strand, und sie bekam trotz der Cremes, die sie mit Angestelltenrabatt erworben hatte, einen Sonnenbrand. Wenn sie sich mit den üblichen Badegästen unterhielt, die sie grüßten, hatte sie schon den falschen nördlichen Akzent der Ausgewanderten. Ich schämte mich für sie und begann, die Sehnsucht abzuwürgen.
Nur noch einmal habe ich sie gesehen, bevor meine Eltern beschlossen, mich zurückzugeben. Sie klingelte, und ich öffnete einer Unbekannten mit gefärbten, künstlich geglätteten Haaren. An ihre Beine geklammert brachte sie ein kleines Mädchen mit, das nicht ich war.
Neben Adriana malte ich mir in der Dunkelheit aus, dass Lidia mich retten könnte, mich vielleicht eine Zeit lang bei sich aufnehmen könnte, dort im Norden. Doch sie war in eine andere Stadt gezogen, und ich wusste nicht, wie ich sie ausfindig machen sollte. Es war noch zu früh, um mir eine andere Rettung vorzustellen.