Читать книгу Bella mia - Donatella Di Pietrantonio - Страница 10

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Im Winter kommt die Müllabfuhr noch vor Tagesanbruch zu den C.A.S.E., wenn es am dunkelsten und eisigsten ist. Ich bin schon lange wach, den Atem meiner Mutter im anderen Bett nehme ich inzwischen kaum noch wahr. In einer Nachbarwohnung oder vielleicht im Stockwerk über uns wird jemand von einem anhaltenden, nervenaufreibenden Husten gequält, hält für eine kurze Atempause inne, dann geht es wieder los. In unbestimmter Ferne bellt immer derselbe Hund, drei kehlige, tiefe Laute, die er alle paar Sekunden wiederholt, sie wecken ein Angstgefühl in meinem Bauch, das meinen Darm in Bewegung bringt. Gleiches bewirkt der Wind, wenn er so gewaltsam gegen die Scheiben drückt, dass man meinen könnte, sie wölbten sich in die noch dunklen Zimmer hinein.

Am Ende der Nacht warte ich auf die Müllmänner. Ich erkenne das Geräusch beim Herunterschalten unten an der Abzweigung der Staatsstraße. Ich stelle mir die zwei Männer hinter den von ihrem Atem beschlagenen Autofenstern vor, folge ihnen, wenn sie an die Container heranfahren und aussteigen, um den Müll abzutransportieren; nach einigen Schritten auf dem Asphalt steigen sie wieder ein, die Türen werden nacheinander geschlossen. Der Fahrer greift mit Unfallschutzhandschuhen nach dem Lenkrad und legt knirschend den Rückwärtsgang ein, dann den ersten, den zweiten und los, der Motor verklingt in der noch vollkommenen Dunkelheit. Und weg sind sie, ohne etwas von der kurzen Intimität zwischen ihnen und mir zu ahnen. Bei jedem Halt erinnert sie die beißende Kälte daran, dass sie noch leben.

Manchmal höre ich, wie Marco, der im Nebenzimmer schläft, mit tieferer Stimme als tagsüber unbekannte Sprachen spricht. Wenn ich die Kraft aufbringe, gehe ich hinüber und lege die beim Träumen verrutschte Decke wieder über ihn, streiche ihm ohne sein Wissen über die Haare und die von geheimnisvollen Abenteuern zerfurchte Stirn. Heute früh wimmerte er gegen fünf Uhr, auch seine Großmutter hat es bemerkt.

Bleib im Bett, habe ich geflüstert und bin aufgestanden, ohne Licht zu machen. Im Durchgang zwischen den beiden Zimmern bin ich über etwas Weiches gestolpert, der Länge nach hingefallen und mit dem Kopf gegen den Türrahmen geknallt. Noch bevor ich mich wieder aufgerappelt habe, ist mir am Mief von Marcos Schuhen klar geworden, was passiert war: Jeden Tag sage ich ihm, dass er sie nicht herumliegen lassen soll. Wütend habe ich sie mit meinen Pantoffeln zur Seite gekickt, meine Mutter beobachtete mich bestürzt. Er schlief selig weiter und stöhnte nicht einmal mehr.

Im ersten Augenblick schmerzte der im Fall verstauchte Finger nur leicht, und ich schlüpfte wieder unter meine Steppdecke, schon um mich aufzuwärmen. Um sieben Uhr beschloss ich, mit dem inzwischen pulsierenden, wurstähnlichen Finger in die Notaufnahme zu fahren, wo sie mir die niedrigste Dringlichkeitsstufe zuwiesen. Die Krankenschwester lächelte über die unübersehbare Beule auf meiner Stirn, die ich ganz vergessen hatte.

Nach stundenlangem Warten stellen sie endlich fest, dass nichts gebrochen ist, und beginnen, mit Verbandsmull und Schienen zu hantieren. Ich bitte den Pfleger, Daumen und Zeigefinger möglichst frei zu lassen.

»Wozu brauchen Sie die?«, will er wissen, während er anfängt, sie einzubinden. Ausweichend erzähle ich ihm etwas von dringenden Lieferterminen und Keramiken, die ich bemalen muss.

»Ah, meine Mutter liebt Keramik, aber der Finger hier, wie ist das eigentlich passiert?«, fragt er neugieriger.

»Ich bin im Dunkeln über die Schuhe meines Neffen gestolpert«, antworte ich ganz ruhig, und er schüttelt lachend den Kopf. »Aber malen können Sie damit ohnehin nicht«, fügt er ungerührt hinzu.

Ich gehe durch die Glastür und denke, ich sehe nicht recht: Da sitzt er in seiner ganzen Haarpracht hinten im Wartezimmer, die zu langen Gliedmaßen angewinkelt, denn er weiß nicht, wohin damit, den Rucksack nachlässig unter den blauen Plastiksitz geknallt. Der elektrisch aufgeladene Pony fällt ihm über die Augen, entweder hat er mich wirklich nicht gesehen, oder er tut nur so. Ich eile schnurstracks an ihm vorbei, noch dazu trägt er genau die Schuhe. Ich gehe den Flur entlang und wende mich zum Ausgang. Plötzlich kommt mir der Zweifel, dass er nicht meinetwegen hier ist, sondern weil es ihm schlecht geht; eigentlich müsste er um diese Zeit in der Schule sein. Hastig mache ich kehrt, und als ich um die Ecke biege, stoßen wir beinahe zusammen, fast hätte ich ihm meinen geschienten Mittelfinger ins Auge gerammt. Er stößt einen unterdrückten Schrei aus.

Sofort falle ich ungehalten über ihn her.

»Wieso bist du hier statt in der Schule, wer hat dich überhaupt hergebracht? Darf man erfahren, wann du endlich etwas besser auf deine Sachen aufpasst? Hast du gesehen, was du angerichtet hast?«

Die Vorübergehenden schauen uns an, bestimmt halten sie uns für Mutter und Sohn. Ich warte auf den Gegenangriff, doch er dreht sich weg und schweigt; wenn er das macht, verbirgt er die Tränen, ich weiß es. Ich betrachte meinen geschienten Finger und würde ihn mir vor Scham am liebsten abschneiden lassen, zusammen mit der Zunge, und beides wie Schnittblumen auf dem Grab meiner Schwester verdorren lassen. Als ich leise Marco rufen will, versagt mir die Stimme. Ich berühre seinen Arm, und er zieht ihn nicht weg, er stößt ihn mir nicht in den Bauch, wie ich es verdient hätte. Ich entschuldige mich, sage, dass ich mit meiner verdammten Angewohnheit, im Dunkeln durch die Wohnung zu tappen, ja selbst schuld bin, jedenfalls ist nichts gebrochen, bloß eine leichte Verstauchung, er soll sich keine Sorgen machen. Ich drücke seinen Arm etwas fester und spüre, wie schmächtig und hart er unter der Daunenfüllung ist.

Einige Minuten bleiben wir noch so stehen, dann gehen wir in stillschweigendem Einverständnis los.

»Wie machst du es jetzt mit dem Fahren?«, fragt er, daran hatte ich noch gar nicht gedacht. »Ich helfe dir, das Steuer zu halten«, bietet er an, »dann kannst du mit der linken Hand schalten.«

Er ist geschickt, wahrscheinlich durch all diese Computerspiele; wir wählen einen längeren Weg, und im Lauf der Kilometer werde ich lockerer, überlasse ihm fast ganz die Kontrolle über das Lenkrad. Auf einmal lacht er, schlägt sich aufs Knie.

»Jetzt wirst du die ganze Zeit mit Stinkefinger rumlaufen«, bemerkt er, »und durch die Schiene fällt es noch mehr auf.« Nacheinander beantwortet er alle meine Fragen von vorher.

»In der Schule hatten wir heute in den letzten Stunden eine Versammlung, die Großmutter hat mir eine Erlaubnis unterschrieben, dass ich früher gehen darf, also bin ich hergekommen, um nachzusehen, wie es dir geht. Die Krankenschwester mit dem Schnurrbart in der Notaufnahme sagte mir, sie müssten dich noch verarzten. Daraufhin habe ich die Großmutter angerufen, heute früh war sie ein bisschen in Sorge um dich.«

Auf der Fahrt überkommt uns eine ungewöhnliche Fröhlichkeit, mir ist sogar, als hätte ich ein bisschen Hunger. Mit einer abrupten Drehung weicht Marco einem Auto aus, das rechts blinkt, aber links abbiegt. Er stößt unwiederholbare Beschimpfungen aus, ganz wie ein alter Hase. Dann, als wir uns Coppito 3 nähern, wird unser Lachen beinahe schrill, gezwungen, unsere Stimmen klingen verzerrt und falsch, während wir versuchen, eine Stimmung aufrechtzuerhalten, die wir nicht mehr fühlen. Wir möchten diesen Augenblick der Unbeschwertheit so gern verlängern, vielleicht, um etwas davon mit nach Hause zu nehmen und mit der Großmutter zu teilen. Doch als Marco die Handbremse anzieht, ist alles zu Ende, wir sind wieder wir selbst.

Oben erzähle ich meiner Mutter, was passiert ist, das Essen steht schon auf dem Tisch. Über unsere zart dampfenden Teller hinweg lese ich in Marcos Augen meine eigene Besorgnis über den Berg offenbar hausgemachter Tagliatelle vor uns. Sie sehen etwas dunkler und dicker aus als sonst, auch rauer.

»Ist das Dinkel?«, rate ich. Ja, Dinkel, seltsam, wir benutzen sonst nie Dinkelmehl. Die Gabel quietscht auf dem Porzellan, als ich versuche, mit der Linken etwas von der Pasta, die einmal zu meinen Lieblingsgerichten gehörte, um die Zinken zu wickeln. Keiner von uns hat je wirklich Lust auf Essen, meine Mutter am allerwenigsten. Sie isst, um mit gutem Beispiel voranzugehen.

Bella mia

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