Читать книгу Bella mia - Donatella Di Pietrantonio - Страница 9

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Marco kam eines Nachmittags, als es in Strömen regnete.

Wir holten ihn am Parkplatz unter unserem Block zwischen den Erdbebenisolatoren ab. Er ließ die vier Wangenküsschen über sich ergehen, lud die Reisetaschen aus, stellte sie auf die Betonfläche und entfernte sich dann ein paar Meter. Roberto, der Exmann meiner Schwester, stieg mit der Langsamkeit eines alten Mannes aus dem Auto und wollte nach einem Gruß mit niedergeschlagenen Augen sofort wieder die Frage der Unterhaltszahlung anschneiden, als wäre die von seiner verstorbenen Frau auf uns übertragbar. Ich bekräftigte noch einmal unsere schon mehrfach am Telefon geäußerte Ablehnung. Wenn du meinst, tu das Geld auf die Bank für deinen Sohn, sagte meine Mutter herablassend, so kalt wie noch nie. Ich unterhielt mich kurz mit ihm über Marcos neue Schule, über die problemlos gefundenen Bücher, zum Glück war erst Oktober, der nach dem Erdbeben.

Der Junge achtete nicht auf unser schleppendes Gespräch, er hatte sich sofort die an irgendein Gerät angeschlossenen Ohrstöpsel reingeschoben. Ein bisschen krächzende Musik drang bis zu uns, als unter uns Erwachsenen Stille eingetreten war. Nach einem imaginären Fußball tretend ging er hin und her, ab und zu quietschten seine nicht zugebundenen Schuhe auf dem Zement.

In Rom bei seinem Vater hatte er es kaum sechs Monate ausgehalten, das restliche Frühjahr nach dem Erdbeben und den stumpfen Sommer über, und sich hinter einer undurchdringlichen Stummheit verschanzt. Seine Großmutter und ich hatten ihn in jener ersten Trauerzeit häufig gesehen und angerufen, doch er war auch mit uns nicht sehr gesprächig. Mein Schwager dagegen rief oft an, um sich über Marcos Untaten zu beklagen. Wenn es ihm nicht gelang, bemitleidet zu werden, nannte er ihn in pathetischem Ton dein Neffe. Mein Neffe hatte seiner jungen Geigerin, derentwegen er sich von Olivia getrennt hatte, die Autoreifen zerstochen.

»Dabei war sie so rücksichtsvoll«, tönte Roberto schamlos, »sie ist noch vor Marcos Ankunft in ein anderes Stadtviertel gezogen, damit wir unter uns sein können.« Durch sein nutzloses Warten auf meine Antworten entstanden im Gespräch immer wieder peinliche Pausen.

»Ab und zu kommt sie und kocht uns etwas Leckeres, aber Marco setzt sich nicht mal mit an den Tisch …«, ging das elende Gejammer weiter. Marco ernährte sich lieber von Crackern oder von Luft. Bei einem dieser Besuche war er hinuntergegangen und hatte die Operation Aufgeschlitzte Reifen durchgeführt.

»Mit einem Küchenmesser, stell dir mal vor«, wunderte sich Roberto noch immer.

Bei der Gelegenheit hatte ich meine ganze Sympathie für den jungen Saboteur verraten: »Wieso, was hätte er denn sonst nehmen sollen? Ein Skalpell?«

Enttäuscht von meinen kargen sporadischen Kommentaren, erzählte er dann ein paar dramatischere Episoden, um wenigstens ein bisschen Empörung auszulösen.

»Er muss unsere SMS gelesen haben … Er hat ihr von meinem Handy aus unanständiges Zeug geantwortet, so weit ist es schon gekommen. Und er traut sich sogar, es zu leugnen, sagt, dass er es nicht war. Oder vielmehr, er sagt gar nichts, schüttelt nur den Kopf.«

Marco weigerte sich stur, mit seinem Vater zu sprechen. Mittlerweile war er in Anbetracht des erlittenen Traumas von der zweiten in die dritte Klasse Mittelschule versetzt worden.

Als seine Großmutter und ich zum letzten Mal mit ihm telefoniert hatten, schien er aufzuhorchen bei der Nachricht unseres Umzugs in eine der Wohnungen des Projekts C.A.S.E. im Ortsteil Coppito 3. Am selben Abend wandte er sich unvermittelt an seinen Vater, aber nur, um ihm mitzuteilen, dass er zu uns ziehen würde, wenn wir ein Zimmer für ihn hätten. Roberto brauchte nur wenige Tage Bedenkzeit, um sich zu überzeugen, dass das die beste Lösung war. Zwanghaft wiederholte er es jedes Mal bei den häufigen Telefongesprächen jener Woche. Für ihn und für alle, für ihn und für alle, murmelte er hektisch, statt zu sagen, für mich, was die unangenehme Wahrheit gewesen wäre.

Während wir immer noch auf dem Parkplatz standen, kam ein Wind auf und wehte den Regen schräg bis auf die Motorhauben der Autos, die in der vordersten Reihe parkten. Ein Typ aus dem ersten Stock fuhr mit seinem Lieferwagen herein, der meterlange nasse Spuren hinterließ. Es wurde allmählich kalt da unter dem Block, und wir schwiegen seit ungefähr zwei Minuten, die uns in unserer quälenden Befangenheit ewig vorkamen. Alle drei blickten wir auf Marco, in ständiger Bewegung und zu dünn angezogen für ein so rauhes Klima. In einem letzten Versuch, seinen Sohn vor der Trennung noch einmal zu erreichen, ergriff Roberto diesen Vorwand.

»Kannst du nicht ein Sweatshirt überziehen?«, fragte er ihn laut, aber schon resigniert, und Marco hielt kurz inne, fixierte ihn und verzog leicht angeekelt den Mund. Dann trug er sein Gepäck noch ein paar Meter weiter von dem Auto weg, das ihn hergebracht hatte, als wollte er die überfällige Abfahrt beschleunigen, und schlenderte weiter in seinem Nirvana-Hemd in der feuchten Kälte herum.

Ich verschränkte fröstelnd die Arme, da begriff Roberto.

»Es wird spät, ich habe heute Abend ein Konzert in Rom«, flüsterte er. Er wirkte sehr schwach. Es gab keinen Grund, ihn hinaufzubitten.

Um sich nicht von seinem Vater verabschieden zu müssen, tat Marco so, als gelte seine ganze Aufmerksamkeit plötzlich einem Hund, der auf der Suche nach der richtigen Karosserie zum Pinkeln herumschwänzelte. Meine Mutter und ich sahen zu, wie er davonfuhr, der gebeugt in seinem leeren Auto sitzende Musiker. Der Junge kam erst näher, als das Motorengeräusch Richtung Staatsstraße verklungen war. Dann stiegen wir im Gänsemarsch mit den Taschen die Treppe hinauf, er stampfte auf jeder Stufe. Ich schloss ihm die Tür auf, und er betrat die Wohnung mit angehaltenem Atem, nach einigen Sekunden lief er sogar rot an. Instinktiv ging ich zum Balkon, und er schlug spontan den Fluchtweg ein.

Doch draußen tropfte unerbittlich das Wasser vom oberen Balkon, dessen Boden wie überall in dieser Siedlung aus Latten mit Ritzen dazwischen besteht. Er stand da und atmete die Nässe ein, die Tropfen rannen ihm über die Nasenspitze und aus den Locken, die vom Gewicht des Regens glatt herunterhingen. Seine Großmutter konnte es nicht mit ansehen und brachte ihm ein Handtuch.

»Komm rein und zieh dich um«, bat sie ihn, »sonst wirst du noch krank.«

Während ich am Herd heiße Schokolade kochte, servierte meine Mutter einen noch lauwarmen Apfelkuchen. Beim Anschneiden duftete er noch nach geschmolzener Butter, Zimt, Zitrone und Zuckerstreuseln. Mit Mühe aß Marco ein halbes Stück Kuchen und trank schlürfend ein paar heiße Schlucke. Anschließend hatte er den gleichen Dalí-Schnurrbart wie nach den Tausenden Tassen Kakao, die er als Kind getrunken hatte. Untröstlich saß er da, unserer hilflosen Fürsorge ausgeliefert.

Später zeigte ich ihm das blank geputzte Zimmer mit den orange-gelben Vorhängen und der dazu passenden Tagesdecke auf dem Bett. Er warf sich darauf und schlief sofort ein, wie ohnmächtig. Zur Abendessenszeit fragte sich die Großmutter besorgt, ob sie ihn wecken sollte. Ich konnte sie überzeugen, dass ihm eine Mahlzeit weniger nichts ausmachen würde, zog ihm die stinkenden Schuhe aus und deckte ihn für die Nacht zu.

Am nächsten Morgen überzogen lauter neu erblühte Pickel das apathische Gesicht.

Bella mia

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