Читать книгу Bella mia - Donatella Di Pietrantonio - Страница 6

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Gott hat meiner Mutter vom ersten Augenblick an geholfen, mit der Macht seiner Stimme hat er sie durchdrungen, um ihrer Qual einen Sinn zu geben. Er flößte ihr auch den Mut ein, jemanden zu suchen, der die Todesanzeigen druckte, und den Wahnsinn, die Plakate an zwei oder drei Stellen des begehbaren Rings rund um die Altstadt anbringen zu lassen. Nichts sollte ihrer Tochter fehlen, auch nicht im Tod.

An manchen Tagen fuhr ich im Auto daran vorbei und schämte mich, auf dem grauen Zement ihren Namen zu sehen. Eines Abends hielt ich an, kratzte mit dem Fingernagel an einer Ecke des Plakats, aber es war fest angeklebt und wollte nicht abgehen. Sofort hielt ich inne. Mit der flachen Hand streichelte ich den Namen, Vokale und Konsonanten, sie war meine Schwester.

Sie zersetzen sich nur sehr langsam, diese angeklebten Plakate. Zuerst schwindet der Glanz des Klebstoffs, dann beginnt die Druckerschwärze zu verblassen, und oben löst sich eine Ecke. Wind und Regen dringen zwischen Gemäuer und Papier, klappen die weiße Rückseite über den Text, verdecken ihn. Eines Morgens war nichts mehr da.

Meine Mutter fleht zu ihrem Gott und tröstet sich damit. In meinem schnöden Unglauben stelle ich mir vor, ich würde ihn auf der Erde wiedererkennen und an seinem himmelblauen Mantel, mit dem die Kinder ihn in ihre Katechismushefte malen, zu einer Führung durch die Stationen der Katastrophe schleifen. Sie betet mit dezenter Inbrunst für die Tote wie für die Lebenden. Zur Großmutter ist unser Junge recht freundlich, er sieht sie sogar an und hebt leicht die Mundwinkel, versucht zu lächeln, wenn sie mit ihm spricht.

Alle drei verlassen wir morgens das Haus; er geht zur Schule, ich zur Arbeit, und sie räumt auf und nimmt dann den Bus zum Friedhof. In einer großen Tasche hat sie die Utensilien dabei, die sie für die Grabpflege braucht, ein Putzmittel und ein Tuch aus Mikrofaser. Die Blumen kauft sie am Stand vor dem Eingang, die halbe Rente lässt sie dort. Für sie ist jeder Tag Allerseelen. Sie verrichtet immer die gleichen, minuziösen Handgriffe, wirft die alten Gerbera fort, die in Wirklichkeit noch frisch sind, und vertauscht sie gegen neue in einer anderen Farbe, die sie behutsam in der Vase arrangiert, damit der Strauß gut aussieht. Sie poliert den weißen Grabstein, das Lächeln auf dem Foto, das sie unbedingt anbringen wollte. In regelmäßigen Abständen dreht sie sich hilflos zu unserer Nachbarin um, die auf dem Grabstein kauert, unter dem ihr Kind liegt.

Sechs Jahre alt war es in der Nacht des Erdbebens.

Mein Vater liegt in einem anderen Teil des Friedhofs, neben ihm war kein Platz mehr. Meine Mutter vernachlässigt ihn ein wenig, die jüngste Trauer hat ihn in ihrem Herzen überschattet. Sie lässt ihm einige Tage Staub auf seinem Porträt; die Blumenkronen beugen sich der Schwerkraft, bevor sie ausgetauscht werden.

Sonntags begleite ich sie manchmal. Ich halte mich abseits, während sie arbeitet. Ab und zu muss ich ein Stück weggehen, weil mir irgendwie übel wird. Wenn der Schwung oder die Geschwindigkeit ihrer Bewegungen eine gewisse Grenze überschreiten, werde ich seekrank. Ich sage nichts, wenige Schritte nach rückwärts genügen. Ich überlasse sie ihrer gewohnten Beschäftigung, sie braucht sie. Nur am Anfang habe ich schwach protestiert, wegen der Plakate, dem Foto auf dem Grabstein. Wie befriedigt tritt sie durch das Tor und plaudert ein wenig mit der Blumenfrau, sie duzen sich seit geraumer Zeit.

»Morgen früh müsste ich rosa Gerbera geliefert bekommen, soll ich dir einen Strauß aufheben?«

»Ja, die hattest du schon lange nicht mehr, wieso eigentlich?«

»Keine Ahnung, bei diesen Lieferanten weiß man nie. Aber morgen ist es fast sicher. Ich lege dir welche beiseite.«

»Dann nehme ich gleich ein paar mehr und wechsle auch bei meinem Mann die Blumen aus, seine vertrocknen allmählich.«

»Wenn du zwei Sträuße nimmst, kriegst du Rabatt. Gehst du bei dieser Kälte zum Einkaufen?«

Ja, an Werktagen geht sie gewöhnlich einkaufen. Gemüse und frisches Obst für uns, vom Bauernstand, und dann rasch nach Hause zum Kochen, mit dem Bus um halb zwölf, denn danach fährt keiner mehr.

Sie hat sich an die Wohnung gewöhnt, benutzt sie, soweit es nötig ist. Am Anfang konnte auch sie den Gestank nach Neuem kaum ertragen. Im Lauf eines Monats hat sie die Räume dann mit den zarten Gerüchen ihrer gesunden Küche erfüllt. Beim Einzug vor mehr als zwei Jahren wussten wir schon, dass wir im Kühlschrank den Spumante der Regierung vorfinden würden. Meine erste Tat war, die Flasche ohne Schütteln zu öffnen, indem ich den Korken mit Daumen und Zeigefinger herausdrehte, damit er ja nicht knallte. Dann kippte ich den Inhalt ins Spülbecken und hielt dabei den Flaschenhals direkt über den Abfluss. Während das Rohr noch gluckerte, warf ich die Flasche in den Abfalleimer. Meine Mutter sah mir respektvoll zu und verfolgte alle meine Bewegungen.

Einige alte Männer aus den Wohnblöcken vier und fünf versuchen inzwischen, das Brachland rund um die C.A.S.E.* zu bebauen, sie säen zur richtigen Zeit, legen einen Gemüsegarten an; zur Straße hin gibt es mehrere davon, eine Reihe akkurater Rechtecke. Zur Erntezeit gehen die Alten mehr oder weniger alle auf einmal hinunter, unterhalten sich von Tomatenstrauch zu Tomatenstrauch, kommentieren das Wetter und zeigen dem Nachbarn den Parasitenbefall auf den Schalen. Am Sonntagmorgen, dem grausamsten der Woche, beobachte ich sie, während ich am Fenster eine Zigarette rauche. Sie bewegen sich langsam zwischen ihren Pflanzen und dem leichten Dunst, der von der erschütterten Erde aufsteigt. Wenn sie wieder heraufkommen, mustere ich auf der Treppe verstohlen die Farben des Gemüses in den Körben, die sie ihren Frauen bringen. Mich erstaunt diese Treue zu dem verräterischen Boden.

Im Herbst kehren sie sorgfältig das Laub zusammen, obwohl der boshafte Wind die Blätter mit ihren kratzigen eingerollten Rändern sofort wieder auf den betonierten Platz zurückweht. Sie können nützliche von unnützen Beschäftigungen unterscheiden und wechseln in beiden ab in dem unaufhörlichen Bemühen, die Zeit auszufüllen. Zum Schneeschippen benutzen sie die modernen leichten Schaufeln aus Plastik mit breitem Blatt. Sie stoßen bei der Arbeit Dampfwolken aus, die Kälte lässt die tiefen Falten auf ihren von Herzbeschwerden geröteten Gesichtern erstarren.

Meine Mutter macht sich ihren grünen Daumen hier nicht zunutze, wir gehen sowieso bald wieder, sagt sie, und es würde ihr leidtun, die gewachsenen Gottesgaben zurückzulassen, wie sie es nennt. Auf unserem Balkon gibt es im Sommer bloß blühende Geranien, denn die können wir mitnehmen. Sie gießt sie täglich, lockert die Erde oder schneidet verdorrte Triebe ab. Geranien duften nur, wenn man sie berührt.

Sie will sich nicht an das provisorische Quartier gewöhnen; ich merke, wie vorsichtig sie die Beziehungen zu den Nachbarn dosiert, damit sie ja nicht zu eng werden. Nur an die Mutter, die ihr Kind überlebt hat, wendet sie sich mit zurückhaltender, mitfühlender Zuneigung, wenn die Frau manchmal den Kopf aus dem Abgrund hebt.

Die Wohnung hat drei Räume; ein Schlafzimmer habe ich Marco abgetreten, als er vor zwei Jahren zu uns gezogen ist, das andere ist für mich und meine Mutter. Sie hält alles sauber und in Ordnung, zeigt aber die Distanziertheit dessen, der mit überirdischer Geduld darauf wartet, das Haus im Dorf herzurichten. Ein seltsamer Traum für einen Menschen, der nicht mehr jung ist; sie sagt, das sei sie Papa schuldig, seine Familie wohnte seit Generationen dort, und er hatte das Haus vor ihrer Hochzeit allein restauriert. Vorsichtig erinnere ich sie daran, dass Papa schon lange tot ist, dass er nichts von dem Erdbeben weiß und auch nie etwas von dem eventuellen Wiederaufbau erfahren wird. Ach was, von da oben sieht er alles, antwortet sie streng, mit dem gleichen Blick wie damals, als ich zu ihr sagte, dass ich nicht zur Firmung gehen würde. Nach einer Weile setzt sie sich, schließt beinahe die Augen und öffnet im Geist die alte, mit dem Lappen geölte Haustür, tritt in den engen, leicht nach Moder riechenden Flur und setzt den Fuß auf die erste Stufe der steilen Treppe, die nach oben führt, wo unsere Zwillingsstimmen kreischen, die von Olivia höher und fröhlicher. Damals, als wir alle lebendig waren.

* Complessi Antisismici Sostenibili ed Ecocompatibili – Erdbebensichere, nachhaltige und umweltverträgliche Wohnblöcke

Bella mia

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