Читать книгу Bella mia - Donatella Di Pietrantonio - Страница 12

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Marco kommt mürrisch nach Hause, wirft seinen Rucksack hinter die Tür und geht ins Bad, wobei die Hosenbeine seiner Jeans aneinanderreiben. Er war zum Mittagessen und Lernen bei einem Freund, der Großmutter hatte er Bescheid gesagt. Als er dann ins Wohnzimmer tritt, wirft er aus Versehen mit dem Ellbogen meine Handtasche herunter, die auf einem Schränkchen steht. Mit spitzen Fingern, wie einen Wurm, hebt er sie auf und stellt sie wieder hin. Jedes Mal, wenn er mit den Armen, den Beinen oder einer Kante seines Körpers die imaginäre Blase durchstößt, die ich um ihn gezogen habe, passiert ihm ein Missgeschick. Er ist so schnell gewachsen, ist noch nicht an seine Länge gewöhnt, muss noch die Maße verinnerlichen, um nicht in der Welt anzuecken. Ich gebe ihm die in Rom gekauften Comics; nervös nimmt er sie an sich und legt sie irgendwohin, ohne sie überhaupt anzuschauen. Merkwürdig, als ich ihn heute Morgen am Telefon nach den fehlenden Nummern gefragt habe, schien er sich zu freuen. Doch was konnte ich anderes erwarten, nach gestern? Auch an diesem Geburtstag habe ich ihn wieder allein gelassen.

Nun sitzt er mir bei Tisch wie gewohnt gegenüber. Meine Mutter hat schon vorher gegessen und ist zu einer Messe für das Seelenheil der Erdbebenopfer gegangen. Sie versucht gar nicht erst, uns zu fragen, ob wir mitgehen. Also habe ich ihn direkt vor mir, mit abgewandtem Blick, den Kopf über den bunten Teller gesenkt. Aus seiner Ferne wirft er mir eine Frage zu.

»Warum hat das Erdbeben manche Stadtteile zerstört und andere fast unversehrt gelassen?«

»Wie meinst du das?«, erwidere ich ausweichend, erschreckt über seine Direktheit. Dieses Thema hatte er noch nie angeschnitten.

»Ich meine, dass in der Via xx Settembre die Häuser eingestürzt sind und dabei alle diese Studenten umgekommen sind. Auch noch andere, wie Mamas Zahnarzt. In der Via Strinella, die die Fortsetzung ist, hat es nur ganz wenige Schäden gegeben. Dort wohnt Rash, mein Klassenkamerad.«

»Es hängt davon ab, wie gebaut wurde, von den verwendeten Materialien. Sie haben minderwertigen Stahlbeton genommen, mit wenigen, glatten, zu dünnen Eisenstreben. Und man kann die Verantwortlichen nicht einmal mehr verklagen, denn die sind inzwischen an Altersschwäche gestorben. Außerdem hat eine geologische Untersuchung ergeben, dass sich in der Via XX Settembre Abraum unter den Gebäuden befindet, ein besonders ungeeigneter Untergrund«, erkläre ich und trockne mir mit der Serviette die Hände ab, die sofort schweißnass geworden sind.

»Was bedeutet das?«

»Dass Erde aus der Umgebung hier abgeladen worden war, als man dort Gruben für die Fundamente von Neubauten ausgehoben hat. Logisch, dass so ein Boden bei einem Erdbeben keinen fünf- bist sechsstöckigen Wohnblock aushält.«

»Und in der Altstadt?«, bohrt er nach.

»Viele Häuser haben nicht standgehalten. Früher waren die Renovierungen nicht erdbebensicher«, erkläre ich weiter, während ich das liegen gebliebene Fleisch betrachte, das auf meinem Teller kalt und hart wird.

»Warum ist unser Haus eingestürzt?« Der Ton wird schärfer, und ein paar Speichelspritzer treffen mein Gesicht.

»Ich weiß es nicht. Deine Mutter und ich haben einem erfahrenen Ingenieur vertraut, der nach den ersten Stößen zur Inspektion vorbeikam, sowohl bei euch wie bei mir. Auch im Dorf bei der Großmutter. Er hat uns garantiert, dass wir in Sicherheit seien.« Unbehaglich rutsche ich auf dem Stuhl hin und her.

»Wer ist dieser Arsch?«, schreit er, und seine seit kurzem erwachsene Stimme kippt in ein lächerliches Falsett.

»Beruhige dich. Das ist doch jetzt egal, ich wüsste überhaupt nicht, wo ich ihn suchen sollte …«, antworte ich, ohne auf seine spuckende Wut einzugehen.

»Ach ja, egal?! Auch bei Rash hatten sie kontrolliert und gesagt, es bestünde keine Gefahr, aber dort ist das Haus nicht eingestürzt! Vielleicht haben sich seine Eltern nicht an dasselbe Genie gewandt wie ihr!«, keucht er anklagend.

»Warum legst du dich mit uns an? Es gab keinen Einzigen, der dieses Erdbeben vorhersehen konnte! Marco, die Experten der Risiko-Kommission hatten die gesamte Bevölkerung beruhigt, und dafür sind sie jetzt verurteilt worden. Niemand von uns konnte sich vorstellen …« Und ich breite hilflos die Arme aus.

»Na klar, natürlich nicht! Und jetzt weiß auch niemand was. Von allen diesen Scheißkerlen, die was von Abraum faseln, weiß keiner, warum ein Haus eingestürzt ist und das andere nicht!« Er zappelt unter dem Tisch, und wir stoßen mit den Füßen zusammen, ein leichtes Zittern überläuft seine trockene, blutleere Unterlippe. Ich brauche nicht viel Einfühlungsvermögen, um zu begreifen, dass er seinen Freund Fabio, genannt Rash, nicht um die heile Wohnung beneidet, sondern um seine Mutter, die noch am Leben ist.

Er hat den Haarvorhang wieder fallen lassen, doch bald hebt er den Blick vom Salat, den er seit zehn Minuten auf dem Teller hin und her schiebt, und sagt brüsk: »Du sollst morgen in die Schule kommen.«

Die Klassenlehrerin fordert mich auf, ihr ins multimediale Klassenzimmer zu folgen. Ich gehe im Rhythmus ihrer klappernden Absätze, gehüllt in ihr zu starkes Parfüm. Sie zeigt mir die zwei von Marco geknackten Computer, sie sehen aus wie ganz, lassen sich aber nicht mehr anschalten, er hatte an ihnen gearbeitet. Ein Techniker hat sie schon überprüft, der Schaden lässt sich nicht mehr beheben. Sie waren fast neu, gespendet von ich verstehe nicht genau wem nach dem 6. April von vor drei Jahren. Sie erläutert mir ausführlich, wie schlimm das für die Schule ist, angesichts des chronischen Mangels an Mitteln.

»Sind Sie wirklich sicher, dass es mein Neffe war?«, frage ich, und prompt zieht sie ein Handy aus der Handtasche und hält mir ein Video des Sabotageakts unter die Nase. Gedreht von einem Klassenkameraden, der dann, wie alle anderen vom Direktor unter Druck gesetzt, den Beweis geliefert hat. Feigling, denke ich zu laut, die Lehrerin hört es und sieht mich streng an.

Wir haben uns einander gegenüber an einen Schreibtisch gesetzt, sie umfasst nun den Rand wie mit einer Schraubzwinge, die Daumen auf der Unterseite der Platte. Ich konzentriere mich auf die vom morgendlichen Eincremen weichen Finger, auf die verschiedenen Ringe, die hell, beinahe fleischfarben lackierten Fingernägel ohne das kleinste Nagelhäutchen. Sie hat nie in Trümmern gegraben, vermute ich. Sie spricht über den Jungen, immer mit dem Kopf in den Wolken, schade, er ist so intelligent, aber das hätten sie ihm nie zugetraut. Dann wechselt sie den Tonfall, beugt sich mit ihrer untadeligen Frisur zu mir herüber, wird mütterlich, mitfühlend, und sagt: »Ich verstehe Ihre Situation.«

»Welche Situation verstehen Sie?«, frage ich, und sie verhaspelt sich, einen Augenblick aus dem Konzept gebracht, bevor sie wieder in ihre Rolle schlüpft.

»Die familiäre Situation, Signora«, verrät sie mit leiserer Stimme, als säßen im Schränkchen mit dem Feuerlöscher Spione, die uns belauschen. »Nur deshalb haben wir beschlossen, Marco mit Anwesenheitspflicht zu suspendieren.«

In ihrem beinahe selbstgefälligen Blick lese ich ihre Sicht auf einen fremden und fernen Schmerz.

»Bemühen Sie sich nicht um Verständnis«, erwidere ich, schon im Stehen. »Schicken Sie mir einfach die Rechnung über den Schaden.«

»Wie Sie meinen. Sie hätten sowieso nicht zu erscheinen brauchen.« Es ist ihr abschließender Dolchstoß. »Wir haben den Vater einbestellt.«

»Ich bin gekommen, weil Marco mich darum gebeten hat«, stelle ich klar.

Eine letzte Frage, ich will genau wissen, wann es passiert ist. Vorgestern, wie ich erwartet habe, an dem Tag, dem ich mich seit drei Jahren verweigere. Während ich anderswo meinen künstlichen Schlaf schlief, hat Marco sich hier arrangiert, so gut er konnte.

Lasch drücke ich mit der Linken die Rechte, die die Lehrerin mir hinhält; diesmal gehe ich voraus, höre hinter mir ihre Absätze klappern und erspare mir das Parfüm. Draußen vor dem Behelfsbau warte ich in der kränkelnden Sonne auf Marco, es ist kurz vor Schulschluss. Als er herauskommt, sieht er mich sofort, nähert sich, sucht meinen Blick, der streng ist, ich hatte seine Augenfarbe schon fast vergessen. Beinahe zitternd murmelt er ein kaum hörbares Ciao, die Klassenkameraden wenige Schritte hinter ihm schauen uns besorgt an.

»Gehen wir, der Wagen steht da hinten«, informiere ich ihn knapp.

Im Auto dreht er sich halb zu mir, fahren tue ich allein. Ich erkenne an seinem angestrengten Atem, dass er sich aufs Sprechen vorbereitet, es aber nicht schafft. Ihn so leiden zu sehen ist unerträglich, ich fahre langsamer und frage: »Marco, was ist los?«

»Wirst du es meinem Vater sagen?«, flüstert er. »Wirst du es der Großmutter sagen?«

»Der Großmutter sage ich nichts, und deinem Vater auch nicht, ich telefoniere selten mit ihm. Allerdings weiß ich, dass die Schule ihn angerufen hat.«

Er seufzt, setzt sich wieder gerade hin, und wir sind zu Haus. Ich stelle den Motor ab, er berührt mich am Arm und haucht: »Es wird nicht mehr vorkommen.« Dann plötzlich: »Aber lass ihn den Schaden bezahlen«, damit steigt er aus und knallt die Tür zu.

Noch vor mir sieht er die Nachbarin, die bei dem Erdbeben ihr Kind verloren hat. So dünn und kraftlos, wie sie ist, schafft sie es nicht, mit dem Fuß den Hebel herunterzutreten, um den Müllcontainer zu öffnen. Marco hilft ihr, nimmt ihr den Abfall ab und wirft ihn hinein.

Bella mia

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