Читать книгу Bella mia - Donatella Di Pietrantonio - Страница 8

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Am Anfang waren wir zwei dunkle Zellklümpchen, die unsere Eltern noch für eines hielten. Wir wuchsen heran im sanften mütterlichen Ozean, der rund um uns ganz langsam weniger wurde. Im neunten Monat schob sich der Fötus Olivia eines Tages mit der raumgreifenden, ruhigen Bewegung eines kleinen Körpers, der sich im Schlaf herumdreht, nach vorne, direkt unter die elastische Bauchdecke. Dort drang eine Ahnung von Sonnenlicht herein und undeutlich, gedämpft, der Klang der Welt. In jenem Bereich konnte man sich noch ausdehnen, den Umfang der unvollkommenen Kugel und die Spannung der mütterlichen Haut erhöhen. Das hat Olivia getan. Ich war dahinter in meiner Hülle zwischen ihr und den harten Knochenringen der Wirbelsäule eingezwängt. Ich habe die verbleibende Zeit in der Enge, im Dunkeln, in der Stille verbracht. Meine Schwester fing äußere Schwingungen und Einflüsse auf und behielt sie für sich. Sie genoss die kreisenden Liebkosungen der gewölbten Hände, die Rundung, hinter der sie lag, war den Blicken ausgesetzt. Ich konnte mich nur über die Nabelschnur und das Blut versorgen.

So malte ich mir, als ich ungefähr acht Jahre alt war, unser Leben in der Gebärmutter aus. Ich war überzeugt, einen Urnachteil erlitten zu haben, der alle meine Schwächen rechtfertigte. Daheim wollte ich immer wieder die Geschichte unserer Geburt hören, wie viel Gramm und wie viele Zentimeter mehr ihr zugefallen waren, von ihrem helmförmigen dichten Haarschopf und den Extra-Mahlzeiten, die sie unserer Mutter durch ihr unerträgliches Wimmern abtrotzte. War mein geringer Hunger gestillt, kam ich wieder in die Wiege, und sie wurde erneut am Busen angelegt für diese zusätzliche Ration Milch, die ich mir dicker, gehaltvoller, auch gelber vorstellte. Als Kinder trugen wir die gleichen Kleider in verschiedenen Größen, meine immer eine Nummer kleiner. Oft nannten sie uns Olivia und ihre Zwillingsschwester oder, noch schlimmer, Olivia und die andere.

»Du heißt nach einer Königin, das schüchtert die Leute ein bisschen ein, deswegen sagen sie nie deinen Namen«, tröstete mich unsere Mutter, wenn ich sie nach dem Grund fragte.

In der fünften Klasse Grundschule sah ich, wie ein Gassenjunge aus dem Dorf mich, als ich vorbeiging, seiner Bande zeigte, etwas sagte und alle losprusteten. Sie gingen schon auf die Mittelschule. Meine Schwester beobachtete sie finster und stumm. Als wir eines Nachmittags lässig aus dem Kommunionsunterricht kamen, saß er auf einer Gartenmauer an unserer Straße. Er musterte uns schon von weitem, Olivia ging in der ungewöhnlichen Junischwüle einige Schritte vor mir. Zu ihr hat er nichts gesagt, doch als ich auf der Höhe seiner baumelnden Beine ankam, trällerte er dreimal: Da ist ja die miese Kopie, und streckte den Fuß aus, bis er mich anstieß. Olivia drehte sich um, musterte ihn von unten, bevor sie ihn am Hosensaum herunterzerrte und auf den Boden warf. Wie versteinert, den Kopf zwischen den Händen, sah ich bewundernd zu, während sie ihn verprügelte wie ein Junge, ohne ihn zu kratzen oder an den Haaren zu ziehen. Mit Fäusten schlug sie zu und bekam durch den Überraschungseffekt selbst wenig ab. Schließlich richtete sie sich auf, ließ ihn geifernd im Staub liegen und versetzte ihm einen letzten Tritt in den Hintern. Sie sammelte auch unsere auf den Steinen verstreuten Katechismusbüchlein ein, ich weiß nicht, wie sie mir heruntergefallen waren. Dann, auf dem Heimweg, strich sie mir mit ihrer vom Raufen schmutzigen Hand sanft über die Wange. Als Entschuldigung für die zu meiner Verteidigung eingesetzte Gewalt und als Versprechen, mich lebenslang zu beschützen, auch vor ihrer eigenen Überlegenheit.

Später tat unsere Mutter so, als machte sie ihr Vorwürfe; gewisse Dinge, mahnte sie, müssten ihr oder Papa mitgeteilt und nicht mit Fäusten geregelt werden.

»Schließlich seid ihr nicht allein auf der Welt«, setzte sie noch hinzu. Schonend betupfte sie Olivias Wunden mit einem Desinfektionsmittel und versicherte sich ab und zu, dass ich noch hinter ihr stand, um ihr sauberen Verbandsmull zu reichen. Wie immer sorgte sie sich mehr um mich als um Olivia und die Schwellungen in deren Gesicht.

Am nächsten Tag sollten in der Schule die Klassenfotos gemacht werden, aber man konnte sich auch einzeln ablichten lassen. Der Fotograf zögerte kurz, als Olivia sich selbstbewusst in die Bank vor der Tafel setzte, auf der »Es lebe die 5b« stand.

»Du willst auch ein Einzelbild?«, fragte er mit einem Blick auf ihre blauen Flecken.

»Eins allein und eins mit meiner Schwester«, erwiderte sie und fuhr sich durch die Haare. Bevor sie zum Stift griff, um sich in Schreibhaltung in Positur zu setzen, zog sie aus der Schützentasche eine wer weiß wo ergatterte Sonnenbrille, mit der sie ihr blaues Auge und das angeschlagene Lächeln kaschierte. Im Objektiv eine zehnjährige Diva, heldenhaft und draufgängerisch.

Die Episode mit der Schlägerei erwies sich bei späterer Betrachtung als treuer Spiegel der ungleichen Beziehung zwischen uns Zwillingsschwestern. Aus Angst, uns zu verlieren, sind wir nie aus diesem Rahmen herausgetreten. Und in meinem inneren Album ist das Foto ihres kämpferischen Gesichts aus der fünften Grundschulklasse im Lauf der Jahre auf den ersten Platz vorgerückt und hat andere Momentaufnahmen unseres gemeinsamen Lebens in den Schatten gestellt.

Später, als die Gesichter ausgeprägter wurden, ließen winzige Details eine von uns heiter und gewinnend erscheinen, und mich gewöhnlicher. Einige Millimeter Unterschied im Augenabstand genügten, ein etwas wärmerer Hautton, am Mund eine leichte Betonung des Amorbogens. Beim Malen erfahre ich jeden Tag, wie wenig es braucht.

Auf dem Gymnasium gingen wir in verschiedene, aber nebeneinandergelegene Klassen, doch ab der Hälfte des Vormittags durchdrang ihre Gegenwart die Wand, und ich spürte, wie sie sich, für die anderen unsichtbar, in meinem Klassenzimmer ausbreitete. So breitet sich jetzt, während ich arbeite, ab der Hälfte des Vormittags ihre Abwesenheit aus. Ich beschließe, eine Pause einzulegen, so sehr zieht sich die Kraft aus den Händen zurück in die Handgelenke, die Arme, zum Herzen. Ich trete an das große Fenster, das auf die Felder hinausgeht. Im Vorübergehen streichle ich den runden Mahagonitisch, der in meinem Wohnzimmer stand. Olivia und ich hatten ihn vor Jahren auf einer Antiquitätenmesse erworben, es sei ein englisches Stück aus dem 19. Jahrhundert, ein echtes Schnäppchen, hatte uns der Verkäufer versichert. Nach dem Erdbeben habe ich ihn gesäubert und vorerst auf seinen Messingrollen hier abgestellt. Ich weiß nicht, ob ich mir früher oder später wieder eine Wohnung um diesen Holztisch schaffen werde, der sich so angenehm anfühlt durch die ausgelöschten Spuren der anderen, die ihn vorher besessen haben.

Von draußen kommt auch an diesen kurzen Wintertagen immer viel Licht herein. Häufig genügt mir zum Malen der Sonnenschein, der durch die Fenster fällt. Und ich friere nie, der alte gusseiserne Ofen heizt den ganzen Raum, der Besitzer hatte recht. Gegen eine geringe Miete hat er mir das Erdgeschoss seiner Villa überlassen, dazu Berge von Brennholz und einen verrotteten Tisch an der Außenmauer, damit ich in der warmen Jahreszeit im Freien arbeiten kann. Es muss sich um eine Erbschaft handeln, aber ich weiß nichts darüber, ich werde mal die Briefträgerin fragen. Er lebt in Bologna und kommt einmal im Monat übers Wochenende, außerdem vierzehn Tage zu Weihnachten und den ganzen August. Innerlich nenne ich ihn den Professor; ich weiß, dass er an der Universität lehrt. Beim letzten Besuch vor den Feiertagen kauft er einen großen Karton voller Sachen von mir zum Verschenken, er wirkte ehrlich oder will mir einfach helfen.

Olivia würde dieser Ort hier gefallen, seltsam, dass er uns auf unseren endlosen Autofahrten entgangen ist. Jetzt würde sie mit dem Rücken zum Fenster sitzen und mir beim Malen zusehen. Wenn ich daran denke, fängt die Farbe an zu spinnen. Sie wird zäh und weigert sich eigensinnig zu fließen, oder aber sie wird zu flüssig und tropft auf die getrocknete Glasur. Der Pinsel stolpert über die mikroskopischen Unebenheiten der geschrühten Keramik.

Ich bin auf einer Insel gestrandet, die unversehrt geblieben ist, keine Bruchlinie führt hier vorbei, und außerdem war die Villa schon länger restauriert. Doch am Hang gegenüber kann man ein Dörfchen sehen, das durch eine Laune des Erdbebens zerstört wurde, und in der anderen Richtung, ganz unten dieser undeutliche Fleck, das ist L’Aquila. Von hier aus gesehen, könnte sie noch immer die sagenhafte Stadt der neunundneunzig Kirchen und neunundneunzig Brunnen sein. Ich könnte mich für heute Abend mit jemandem an der Fontana Luminosa verabreden und nach einem Film im Rex noch bis spät in die Nacht in einem Bierkeller in der Altstadt sitzen. Am nächsten Morgen würden mich um sieben die Glocken von San Pietro wecken, und ich könnte zu Fuß zur Arbeit gehen, quer durch die gewohnten Gassen.

Bella mia

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