Читать книгу Wenn Du gehen musst ... - Doris Kändler - Страница 11

Im Hier und Jetzt...

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Leider war sie zu schwach, um darin zu blättern.

„Sei mir nicht böse“, sagte sie. „Ich bin total erschöpft. Ich habe dazu keine Kraft mehr. Ich würde jetzt gerne nur noch eine rauchen und dann wieder in mein Bett gehen.“

Sie brauchte nicht viel zu sagen. Man sah es auch so. Also saßen wir da und rauchten noch eine Zigarette. Plötzlich sagte sie: „Gehst Du noch tanzen?“

Diese Frage löste einen Stich in meinem Herzen aus.

„Nein“, gab ich zur Antwort. „Dazu habe ich keine Lust mehr. Mir ist in den vergangenen Jahren einfach alles zu viel geworden.“ Was für eine Aussage. Ich kam mir albern vor. Da saß ich einer jungen Frau gegenüber, die bald sterben würde, und ich sprach davon, dass mir alles zu viel sei.

„Ich würde so gerne noch einmal tanzen gehen“, sagte sie. „Aber ich kann nicht mehr lange genug auf meinen Beinen stehen.“ Wehmütig schaute sie aus dem Fenster.

Da kam mir eine Idee.

„Wenn du das gerne tun würdest, dann komme ich dich holen und wir nehmen einfach einen Rollstuhl mit. Dann kannst du dich hinsetzen, wenn du das möchtest. Du musst doch nicht darauf verzichten.“

„Nein“, sagte sie. „Das ist nicht dasselbe. Außerdem kann ich nicht lange aus dem Bett bleiben. Ich bin so schwach.“

In diesem Moment sah man ihr an, dass sie solchen Ausflügen hinterher trauerte. Bis dahin wirkte sie sehr gefasst. Man hatte tatsächlich das Gefühl, sie wäre froh, wenn sie es endlich hinter sich hätte. Und in diesem Augenblick spürte ich zum ersten Mal seit unserem Wiedersehen, dass sie gerne weiterleben würde.

Und schon wieder fing ich an zu heulen. Ich hatte mich so sehr darauf konzentriert hinzunehmen was unumgänglich war, dass ich aus den Augen verloren hatte, was nun alles nicht mehr möglich sein würde. Nie mehr würden wir zusammen die Tanzfläche unsicher machen. Das konnten wir in den Jahren, seit sie mit dem Vater ihrer Kinder zusammen war zwar auch nicht, aber wir hätten es gekonnt, hätten wir uns gegen ihn durchgesetzt. Er war strikt dagegen, dass sie alleine wegging. Wir fanden uns einfach irgendwann damit ab.

Doch nun war es vorbei. Wir konnten noch nicht einmal mehr davon träumen.

Langsam erhob sie sich von ihrem Sitzplatz. Die Zigarette war ausgeraucht und sie wollte nur noch ins Bett. Ich ging noch einmal mit in ihr Zimmer. Ihr Bett stand direkt am Fenster. Das Bett daneben wurde von einer etwas älteren, aber nicht alten Frau belegt. Die Dame trug ein Tuch auf dem offensichtlich kahlen Kopf. Auch ihr sah man das Herannahen des Todes an. Sie hatte Kopfhörer auf, weshalb wir noch ein wenig miteinander sprechen konnten.

Das Zimmer war sehr eng. Ich saß ziemlich eingeengt am Fußende von Sandys Bett an einem kleinen Tisch, der vollgestellt war, bis nichts mehr ging. Wir sprachen noch den ein oder anderen Satz miteinander, bis ich erkennen musste, dass sie vor lauter Erschöpfung noch nicht mal mehr sprechen konnte. Sie schloss ihre Augen, während ihr Mund offenblieb, weil selbst die Wangenmuskulatur erschöpft war. Ihr mageres Gesicht war grau gefärbt. Leise nahm ich die Tasche, in der sich der Lyrische Ordner befand, und bewegte mich auf ihr Bett zu. Vorsichtig berührte ich ihren Arm. Sandy zuckte zusammen. Ich wollte sie nicht erschrecken, musste ihr jedoch mitteilen, dass ich mich nun zurückzog. Ihre Augen blieben geschlossen. Sie nahm meine Hand, hielt sie mit ihren dürren Fingern fest und fragte: „Wir telefonieren, ja?“

Ich gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn und sagte ihr, dass sie mich jederzeit anrufen könne. Sie nickte nur noch sehr zaghaft und dann schien sie in die tiefsten Träume zu fallen.

Als ich das Zimmer verließ, fragte ich mich, wann sie den Brief, den ich ihr zuvor auf den Nachttisch gelegt hatte, denn lesen und ob ich überhaupt eine Antwort darauf bekommen würde. Es war meine Art alles sagen zu können, was ich zu sagen hatte. So und nicht anders kannte sie mich nun mal.

Liebe Sandy,

ich habe lange hin und her überlegt, was ich Dir schreiben könnte. Irgendwie war ich total blockiert. Vielleicht auch, weil der Schock noch viel zu tief sitzt.

All die Erinnerungen an unsere gemeinsamen Jahre kommen hoch. Manchmal sind sie traurig, doch meistens muss ich lachen. Wir beide haben so viel miteinander durch gemacht. Und jetzt??? Jetzt müssen wir uns verabschieden.

Das ist unfair und viel zu früh.

Trotzdem danke ich Gott in jeder Sekunde, dass ich mich verabschieden darf.

Ich danke Dir, dass Du mich bei Dir haben willst. Das macht mich sehr stolz.

Ich habe Dir gestern am Telefon bereits gesagt, dass ich leider nichts ändern kann. Aber ich kann Dich auf Deinem Weg begleiten, solange Du mich mitnimmst und mitnehmen kannst. Und ich schwöre, das werde ich auch tun.

Ach, wenn ich doch was ändern könnte. Dann würde ich das tun. Sofort. Dann würde ich ins Jahr 1989 zurückreisen. Da war noch alles noch so verdammt einfach.

Dann würden wir:

Durch unser Dorf ziehen und es unsicher machen.

Meinen Kassettenrekorder mit doofem Blödsinn bequatschen.

Meinen Vögeln das Sprechen beibringen.

Uns über andere Mädchen lustig machen.

Uns das Maul über doofe Jungs zerreißen.

Liebesbriefe schreiben.

Uns mit anderen Mädchen prügeln.

Heimlich Zigaretten bei Deinen Eltern klauen.

Unsere Eltern zur Weißglut treiben.

Schule schwänzen.

Uns als Tanja oder Claudia ausgeben.

Mit meinem Hund Mona in die Disko gehen.

Uns mit Selbstbräuner einschmieren und scheiße aussehen.

Zusammen im Bett liegen und träumen.

Uns gegenseitig den Rücken kraulen.

Unsere intimsten Geheimnisse teilen.

Nicht auf die falschen Kerle reinfallen.

Ich könnte Bücher mit solchen Sätzen füllen.

Damals waren wir so dicke Freundinnen. Ich habe mich oft gefragt, wann sich das verändert hat. Und wieso es so kommen musste. Doch es ist eigenartig Sandy. Immer wenn ich von Dir gesprochen habe, hieß es :“Das ist meine beste Freundin, seit ich 10 Jahre alt war.“

Ich habe niemals anders von Dir gesprochen. Selbst dann nicht, wenn sich unsere Wege mal wieder für eine Zeit getrennt hatten. Und auch nicht zuletzt, als gar nichts mehr funktionierte. Selbst da warst Du immer „Meine beste Freundin, seit ich 10 Jahre alt war.“

Es hatte sich also niemals etwas an dem Gefühl verändert. Lediglich die Umstände waren anders.

Gestern habe ich meinem Freund von uns erzählt. Von der Zeit, als wir uns nicht ausstehen konnten. Als wir uns geprügelt und sogar bespuckt haben. Und mir fiel ein, wie einfach es war, als wir uns entschlossen hatten, uns doch zu mögen. Wir haben uns an diesem Abend erst gezofft. Erinnerst Du dich?

Und als Christiane und Sandy nach Hause mussten, und wir aber noch draußen bleiben durften, hast Du mich einfach mit einem etwas schroffen Ton gefragt: „Kommst de noch mit zu mir?“

Ich habe gar nicht lange überlegt. Ich habe einfach schroff zurück „Jo“ gesagt. Kannst Du dich noch daran erinnern?

Von diesem Moment an, waren wir unzertrennlich. Es gab keinen Tag, den wir ohne den Anderen verbracht haben. Und wenn einer von uns nach Hause musste, dann haben wir abends auf jeden Fall noch mal telefoniert.

Das war äußerst wichtig und lebensnotwendig!!!!

Es gibt so viele Momente, die ich erzählen kann. So viele Dinge, die wir miteinander geteilt haben. Das ist Wahnsinn.

Eigentlich haben sich unsere Wege nie wirklich getrennt, wir sind nur immer mal wieder eine Zeit lang parallel zueinander gelaufen und haben den Blickkontakt verloren. Aber irgendwo war immer die Kreuzung, die uns wieder auf den gleichen Weg gebracht hat.

Ich möchte, dass Du weißt, wie wichtig Du für mich bist. Es immer warst. Ich habe Dich immer geliebt und das werde ich immer tun. Und genau dieses Gefühl gebe ich Dir mit.

„Weil Du meine beste Freundin bist, seit ich 10 Jahre alt war.“

Ich habe Dich unendlich lieb.

Deine Dodi

Wenn Du gehen musst ...

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