Читать книгу Wenn Du gehen musst ... - Doris Kändler - Страница 9

Zurück zur Realität...

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Ich war sehr traurig, als ich in Gedanken an die alte Zeit versunken war. Ich hatte sie genau vor Augen. Meine Ängste vor dem Neuen. Die schönen Stunden, die wir miteinander verbracht hatten. Die tiefe und innige Freundschaft, die uns verband. Doch auch die ständigen Trennungen wegen der Drogen.

Oft musste ich mit ansehen, wie sie sich immer mehr von mir entfernte und sich lieber an die neu geknüpften Freundschaften klammerte. All diese Menschen hatten kein ernsthaftes Interesse an ihr. Mir war klar, warum diese Leute ihre Nähe suchten. Sandy wollte das nicht einsehen. Meiner Meinung nach gingen sie alle nur zu ihr, weil Sandys Mann sie mit dem so dringend benötigten „Stoff“ versorgte. Ja, ihr Mann dealte mit allem, was man sich nur wünschte. Kokain, Speed, Heroin und Haschisch. Die Frage, ob er es besorgen konnte, stellte sich nie. Immer nur wie viel man benötigte und wann man es brauchte. Mit diesen Menschen wollte ich nun einmal einfach nichts zu tun haben.

Es war also eine schwierige Situation für mich. Nicht nur, dass ich mich hier langsam, aber sicher verabschieden musste... In aller erster Linie musste ich schließlich erst einmal wieder vernünftig zu ihr finden.

Ich dachte an ihre Tochter. Wie böse die Nachrichten waren, die ich zuletzt von der Kleinen erhalten hatte. Ich konnte nicht glauben, dass ein so junges Mädchen mir solch tiefgreifende, intelligente und dennoch sehr böse Briefe schrieb. So gerne hätte ich richtiggestellt, was zuletzt geschah, doch Sandy ließ ein Gespräch darüber nicht zu. Sie sagte lediglich: „Du musst die Kleine verstehen. Sie ist böse, weil ich sterben werde. Und sie zeigt so ihre Gefühle.“

Klar, dem konnte ich folgen. Aber ich hatte doch keine Schuld am Sterben ihrer Mutter!

Ich hatte mich bloß selbst schützen wollen und war noch dazu sehr erbost darüber, dass Sandy dem Kind von meinen Nachrichten an sie selbst und ihren neuen Lebensgefährten erzählt hatte. Doch auch darüber wollte sie nicht sprechen. Also musste ich selbst jetzt zusehen, wie ich dem Kind irgendwann einmal plausibel machen konnte, warum ich so handelte, wie ich es eben tat.

Die Kleine war mir sehr wichtig. Sie war unendlich süß und ein wirklich liebes Kind. Sie hatte einen festen Platz tief in meinem Herzen. Die Kleine war ein echtes Glückskind, denn sie entstand, als Sandys Heroinkonsum enorm hoch war. Sie hing bereits so tief drin, dass sie sich die Substanz spritzte. Dennoch kam ihre Tochter ohne Entzugserscheinungen auf die Welt.

Damals war ich so unendlich stolz auf Sandy.

Nach dem ersten Schock, dass ein neues Leben in ihrem von Drogen gezeichneten Körper heranwuchs, begriff ich, dass sie eben für genau dieses Leben den giftigen Substanzen den Rücken gekehrt hatte.

Nicht nur die Kleine hatte Sandys Leben gerettet, sondern Sandy rettete dem Ungeborenen in ihrem Körper das Leben!

Sie machte damals in der Schwangerschaft einen kalten Entzug durch. Jeder, der selbst einmal ein Suchtmittel ohne jegliche Hilfsmittel weggelassen hat, kann sich vorstellen, was das für die werdende Mutter bedeutet haben muss.

Selbst ich Moralapostel schaffte es nie, während meiner zwei Schwangerschaften ganz mit dem Rauchen aufzuhören. Ich habe immer geraucht, zwar viel weniger und leichtere Zigaretten, aber ich habe geraucht. Ich war nie so konsequent, wie Sandy. Deshalb habe ich bis heute, auch immer ein schlechtes Gewissen, meinen Kindern gegenüber.

Ein Grund mehr, vor ihr meinen Hut zu ziehen.

Nun war die Kleine ein Teenager, der sich von der Mutter verabschieden musste. Von einer Mutter, die sie natürlich über alles liebte. Von einer Frau, die es nie lange schaffte, clean zu bleiben. Von der Frau, die auf der einen Seite versuchte, ein Vorbild zu sein und auf der anderen Seite immer wieder in den Abgrund der Drogenhölle abrutschte. Stets mit der Hoffnung, dass der nächste Entzug der Letzte sein würde.

Niemand hätte jemals wirklich geglaubt, dass der Letzte ihr Tod sein würde!

Ich war mit Sicherheit niemals die Bezugsperson Nummer eins für die Kleine, was alleine daran lag, dass wir unterschiedliche Leben führten. Sandys neue Freunde waren mir suspekt, da sie ebenfalls den verschiedensten Abhängigkeiten verfallen waren. Ich zog mich also mehr und mehr zurück.

Diese Menschen verstanden Sandy natürlich, weshalb sie mehr den Kontakt in deren Richtung suchte. Somit hatte auch ihre Tochter überwiegend Kontakt zu dem neuen Freundeskreis.

Natürlich verstand ich sie auch, dass sie diese Kontakte mehr pflegte, als den Kontakt zu mir, denn ich versuchte ihr ständig ins Gewissen zu reden. Ich sprach mit Engelszungen auf sie ein, mit all dem Müll aufzuhören und habe sie damit vertrieben. Auch damit musste ich fertig werden. Sie fehlte mir schon lange vorher.

Wenn sie sich nach einer kurzen Kontaktpause wieder meldete, nahm ich mir jedes Mal wieder vor, den Mund zu halten. Sie nicht mehr zu kritisieren oder zu maßregeln. Doch ich hatte sie so lieb, dass diese Hürde für mich einfach zu hochgesteckt war und ich ständig in meine alten Verhaltensmuster rutschte. Eben genauso wie sie. Dabei meinte ich es immer nur gut und dachte an sie und ihre kleine Tochter.

Obwohl sich unsere Lebensvorstellungen grundsätzlich unterschieden, hielten wir, und wenn auch oft nur sporadisch, Kontakt zueinander.

Wenn es einem von uns beiden schlecht ging, wusste die Andere immer Bescheid. Uns unterschied in all den Jahren nur eins:

Wenn es Sandy schlecht ging, dann nahm sie von mir Abstand. Meldete sich gar nicht mehr. Ging nicht mehr an ihr Telefon, es sei denn, am anderen Ende war jemand, der ihr das brachte, was sie so dringend brauchte. Drogen. Ich denke, sie hielt dann Abstand zu mir, weil sie sich vor mir schämte. Weil sie mir das Bild von der Frau ersparen wollte, die sie dann war. Weil sie mich so liebhatte, dass sie wusste, wie schlecht es mir bei ihrem Anblick gehen würde.

Wenn es mir schlecht ging, suchte ich ständig Kontakt zu ihr. Dann telefonierten wir an manchen Tagen stundenlang. Es wurde alles bis ins kleinste Detail ausdiskutiert. Ich rannte ihr förmlich die Bude ein. Wohl auch nur, weil sie die einzige Person in meinem Leben war, der ich meine intimsten Gedanken und Geheimnisse anvertraute. Sie war DIE Freundin, die genau wusste, wie weich mein Kern hinter der so schrecklich harten Schale war. Sie blieb bis heute DIE Freundin, die all die dunklen Geheimnisse meines Lebens und meines Denkens kennt. Und ich weiß genau, dass sie niemals darüber gesprochen hat.

Ich fragte mich, welchen Stellenwert ich überhaupt noch in ihrem Leben hatte. Ich habe sie nie danach gefragt, denn dazu fehlte mir der Mut.

Sie riss mich aus meinen Gedanken. „Worüber denkst du nach?“

Mir war nicht bewusst, dass ich mit tränengefüllten Augen starr aus dem Fenster sah.

„Du bist gut“, gab ich zur Antwort. „Worüber sollte ich schon groß nachdenken? Natürlich denke ich über uns nach. Über unsere Vergangenheit.“

Sie lächelte. Ich sollte ihr unbedingt aus der Gegenwart erzählen. Mit kurzen und knappen Sätzen gab ich ihr, wonach sie sich sehnte. Sie spürte jedoch genau, dass ich viel lieber über uns und unsere Vergangenheit sprechen wollte. Ohne, dass ich es aussprechen musste, waren wir in Gedanken wieder auf einer Zeitreise.

„Hast du eigentlich noch die Aufzeichnungen über deine Gedichte und Gedanken“, fragte sie mich aus heiterem Himmel. Natürlich hatte ich die Aufzeichnungen noch. Ich hatte den sorgfältig angelegten Ordner sogar mit ins Krankenhaus gebracht, damit wir darin stöbern konnten, sollten wir Lust und Zeit dazu haben...

Wenn Du gehen musst ...

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