Читать книгу Wenn Du gehen musst ... - Doris Kändler - Страница 6

Loslassen...

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Viele Jahre der Freundschaft lagen hinter uns. Jahre, die wundervoll waren, aber auch solche, die das dunkelste Schwarz des Lebens zeigten. Sandy war meine beste Freundin, seit ich denken konnte. Wir teilten alles miteinander. Wirklich alles. Dennoch gab es Zeiten, in denen jede von uns ihre eigenen Wege gehen musste.

Ich hatte nun schon einige Wochen nichts mehr von ihr gehört, wie sehr oft in den vergangenen Jahren. Sicher, ich kannte das alles aus den Jahren zuvor, dennoch wollte ich nur ein kurzes Lebenszeichen von ihr. Ein Zeichen, dass es ihr und den Kindern gut ging. Doch meine Anrufe blieben unbeantwortet. Mein Telefon stand still.

Eines Tages rief sie mich endlich zurück. Ihre Erklärungen für die Funkstille klangen sehr einleuchtend, trafen mich jedoch mitten ins Herz.

Ihre Mutter war verstorben. Zuerst war ich sehr böse, dass sie mich darüber nicht informiert hatte, schließlich war ich doch ihre beste Freundin. Ich fasste mir jedoch nach einigen Sekunden ein Herz und hörte mir ihre Geschichte an. Sandy kam mit dem frühen Tod der Mutter überhaupt nicht klar, und hatte wieder zu heftigen Drogen gegriffen. Nach einigen drogenfreien Jahren war sie also wieder abgestürzt.

Ihr Bruder war eingeschritten, hatte ihr die beiden Kinder abgenommen, über das Jugendamt die Pflegschaft für die Beiden beantragt, und zu guter Letzt auch bekommen. Sie selbst war daraufhin wieder in den Entzug gegangen und hatte sich entschlossen, in einer Institution für Wiedereingliederung von Drogensüchtigen, in ihr Leben zurück zu finden.

Der Aufenthalt dort sollte ein Jahr dauern. Eine für mich sehr überschaubare Zeit – im Vergleich zu den Jahren der Sucht, die hinter ihr lagen – für sie jedoch eine utopische Zeit, mit unglaublich vielen Auflagen und Regeln.

Eine Regel brach sie dann auch schließlich. Sie ließ sich auf ein Verhältnis mit einem jungen Mann ein, weshalb dieser dann das Haus verlassen musste. Sie selbst hätte eigentlich bleiben dürfen, doch um ihn nicht zu verlieren, brannte sie mit ihm durch.

Ich war sprachlos, wollte sie aber nicht einfach so verurteilen. Sie wusste nicht wohin. Ich war wohl ihre einzige Anlaufstelle.

Sie konnte immer kommen, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Mir war jedoch nicht bewusst, dass sie nicht für sich alleine fragte.

Als sie endlich offen ansprach, dass sie gerne ihren Partner mitbringen wollte, blockte ich ab. Ich erklärte ihr, dass SIE jederzeit einen Platz in meinem Leben habe, ich aber nicht bereit wäre, eine fremde drogensüchtige Person in mein Haus zu lassen. Viel zu oft hatte ich gesehen, wozu Junkies in der Lage sind. Sie stehlen und manipulieren. Das wollte ich für mich und meine Kinder nicht. Wir hatten ein relativ ruhiges Leben mit lediglich alltäglichen Sorgen. Ohne ihn wollte sie nicht kommen, das musste ich akzeptieren, obwohl es mir das Herz brach. Ich hätte ihr so gerne geholfen.

In den darauffolgenden Wochen und Monaten hielt sie mich immer nur kurz und knapp per Telefon auf dem Laufenden. Sie ließ sich auf keine Einladung ein, bei der wir in Ruhe miteinander hätten sprechen können. Sie wollte nur mit diesem Mann zusammen sein.

Es folgten unzählige Einträge auf meiner Pinnwand bei einer Internet-Community von diesem Mann. Allesamt waren sie Liebeshymnen von ihm an meine Freundin. Ich wollte diese Zeilen jedoch nicht auf meiner Seite lesen. Ich freute mich ja für die Beiden, und dennoch war da stets das Mitgefühl für die Kinder, die ihre Mutter viel mehr vermissen mussten als dieser Kerl.

Ich wurde wütend. Ich sagte Sandy mehrfach am Telefon, er sollte diese Einträge unterlassen. Sie tat es als Liebesbeweis ab und er schrieb munter weiter. Wieder vergingen Wochen der Funkstille. Auch ihre Mobilfunknummer blieb unerreichbar.

Eines Tages erhielt ich wieder eine solche Botschaft. Er schrieb von der tiefen Sehnsucht nach ihr und wie sehr er sie brauchen würde. Sie sei diejenige, wegen der er nicht wieder zu den Drogen gegriffen hätte. Er beschrieb den dunklen Nebel seiner Gedanken und dass nur sie ihn verstehen würde. Weiter sprach er von dem schweren Leben, dass die Beiden gehabt hätten.

Nun war ich stinksauer.... Schweres Leben? Ich fragte mich wahrhaftig, von welcher Person er da schrieb. Wir waren seit über 20 Jahren die besten Freunde, ziemlich genau seit meinem 10. und ihrem 11. Lebensjahr und sie hatte mit Sicherheit ein besseres Leben als ich. Dennoch griff ICH niemals zu Drogen.

Prinzipiell wäre ich viel eher dafür prädestiniert gewesen, den Süchten zu verfallen, als sie. Doch ich hielt mich davon fern. Ich konnte dieses Gesülze über die schreckliche Vergangenheit und die Opferhaltung der Süchtigen nicht mehr ertragen. Wer interessierte sich denn mal für die Sorgen, die wir Angehörigen hatten?

Ich war es so leid, dass ich ihm eine Nachricht auf seiner Pinnwand hinterließ.

Ich kann den genauen Wortlaut leider nicht mehr wiedergeben, aber sinngemäß schrieb ich folgendes...

Ich schrieb, dass ich mich für die Beiden sicherlich sehr freuen würde, er sollte aber verdammt noch mal aufhören, mich mit solch einem Müll vollzutexten. Er solle sich mal Gedanken darüber machen, wie sehr ihre Kinder die Mutter vermissen würden und gefälligst aufhören in Selbstmitleid zu baden. Ich schrieb ihm, dass sie kein schreckliches Leben hinter sich hatte und er aufhören sollte, mit solchen Sätzen die Schuld bei den Anderen zu suchen. Er sollte sich bewusstwerden, dass wir alle unser Päckchen zu tragen hätten, und nicht wie er oder sie drogensüchtig geworden sind. Die Beiden sollten endlich ihr Leben in den Griff bekommen und sich nicht ständig das Hirn zu nebeln.

In meinem letzten Satz kündigte ich den beiden die Freundschaft und löschte sie aus meiner Freundesliste.

Ich bereute sehr schnell, was ich geschrieben hatte, konnte aber damals nicht anders. Sie ließ sich ja auf kein Gespräch mit mir wirklich ein.

Viel zu oft hatte ich sie in der Vergangenheit aus einer furchtbaren Situation herausgeholt, wenn sie wegen der Drogen alles um sich herum vergaß. Oft genug brach sie alle Kontakte ab, um nicht zu zeigen, was sie war. Sie war DROGENSÜCHTIG!

Ich litt wahnsinnig darunter, mir blieb jedoch keine andere Wahl. Ich wäre wieder viel zu tief in diesen Sumpf hineingezogen worden, dabei hatte ich selbst genug Probleme, die meine volle Aufmerksamkeit brauchten.

Die Kinder litten wohl am meisten unter der Situation, was mich damals zutiefst erschütterte. Die Tochter ist 11 Jahre älter als der kleine Sohn. Sie musste in der vergangenen Zeit ständig nach dem Kleinen sehen, weil die Mutter einfach nicht mehr dazu in der Lage war. Und nun musste sie ihre Mutter vermissen, weil sie sich für ein anderes Leben entschieden hatte, was mich tiefer denn je traf. Das war mir einfach zu viel.

Einige Zeit später erhielt ich eine Nachricht von ihrer Tochter. Sie teilte mir über diese Internet-Community mit, ihre Mutter würde im Sterben liegen. Ihre Nachricht an mich war bitterböse, und sie beschuldigte mich, ihrer sterbenden Mutter den Rücken gekehrt zu haben.

Sie schrieb Dinge, die meiner Ansicht nach, nicht von einem damals 14 Jahre alten Mädchen kommen konnten. Ich dachte, Sandy selbst würde mir schreiben, und hätte nur nicht den Mut, auch dazu zu stehen. Also antwortete ich, in dem tiefen Glauben, ihr selbst zu schreiben. Doch ich sollte mich irren.

Nachdem ich erneut eine Antwort erhielt, die nicht weniger böse war als die vorherige, rief ich Sandys Bruder an. Dieser bestätigte mir, dass es sich bei der Schreibenden tatsächlich um seine Nichte gehandelt haben musste, da seine Schwester bereits auf der Palliativstation lag. Er bestätigte das Unfassbare. Meine beste Freundin hatte unheilbaren Krebs, und würde daran, in nicht zu weiter Ferne, versterben.

Ich brach in Tränen aus, denn mir wurde bewusst, was nun geschehen würde.

Es mag sich vielleicht eigenartig anhören, aber ich empfand sie damals als sehr egoistisch. Wir hatten so viel miteinander durchgemacht, und nach all dem, gab sie mir noch nicht mal von sich aus die Chance, mich von ihr zu verabschieden, um sie loslassen zu können. Als ich von der Tatsache erfuhr, brach für mich eine Welt zusammen. Und obwohl ich ihr Monate zuvor mitgeteilt hatte, dass in meinem Leben kein Platz mehr für sie sei, weil ich mich und meine Kinder vor dem Drogensumpf schützen wollte, hatte ich nun nichts anderes mehr im Sinn, als sie zu sehen.

Er gab mir ihre Zimmerdurchwahl und sagte mir, sie würde sich sicher freuen, wenn ich sie anrufen würde. Ich solle ihr keine Vorwürfe machen, denn es würde sowieso nichts bringen.

Vorwürfe??? Ich wollte ihr keine Vorwürfe machen. Ich wollte sie sehen und mich verabschieden dürfen... Also rief ich sie an.

Nachdem sie den Hörer abgenommen hatte, ertönte dieses vertraute, unnachahmliche Räuspern, mit dem sie in all den Jahren der Freundschaft Telefonate begann.

„Hallo?“ Ihre Stimme klang leise und schwach.

Ich musste ein tiefes Schluchzen unterdrücken.

„Ich bin es“, gab ich zur Antwort. Sie wusste sofort, wer am anderen Ende der Leitung war und freute sich wahnsinnig über meinen Anruf. Die erste Hürde war überwunden. Der Stein auf meiner Brust wurde kleiner.

Kein böses Wort und keine Vorwürfe kamen über meine Lippen. Ich stellte ihr nur die Frage, warum sie mich nicht informiert hatte. Sie gab mir zur Antwort, sie hätte sich nirgends gemeldet.

Es war eigenartig. Sie wollte lediglich wissen, wie es mir ging. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag, an dem ich sie im Krankenhaus besuchen sollte.

Wenn Du gehen musst ...

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