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Einladung nach Rom

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Im Herbst erfuhr ich, dass ich gemeinsam mit meinem großen Bruder eingeladen war, die Tage nach Weihnachten in Rom zu verbringen. Ich konnte mein Glück kaum fassen! In Rom hatte ich die allerschönsten Erfahrungen mit der Königsfamilie gemacht. Nun sollte ich gleich ein paar Tage dort verbringen. Als wir gegen Abend, am Ende einer langen Zugfahrt, in der Stazione Termini ankamen, holte P. Christoph uns ab. Schon die Autofahrt durch Rom war ein Erlebnis. Wir wurden mit ebenso großer Souveränität wie Geschwindigkeit durch den chaotischen römischen Straßenverkehr chauffiert, machten einen Zwischenstopp an der Piazza di San Pietro und kamen dann über große Kreuzungen und kleine Schleichwege bis ins Ausbildungshaus der Gemeinschaft. Das war neben der Piccola Casa das zweite Haus der Königsfamilie in Rom. Es war ein gewöhnlicher römischer Palazzo aus roten Steinen, mit mehreren Balkonen auf jeder Etage, umgeben von einem relativ großen Garten mit Palmen, Zypressen und Zitronenbäumen. Als die Haustür sich öffnete, begrüßte uns zunächst eine sehr zierliche kleine Schwester mit einem breiten, schüchternen Lächeln und einem freundlichen »buona sera«. Ihr Name war Sr. Theresia. Ich gewann sie sofort lieb. Zuerst hielt ich sie für eine Italienerin. Später erfuhr ich, dass sie Österreicherin war. Nach dem üblichen kleinen Empfangskaffee im sogenannten Grande Soggiorno, dem großen Empfangszimmer, wurden wir auf unsere Zimmer gebracht.

Ich wohnte in einem Zimmer in der ersten Etage, im Ingresso 1, einer der beiden Schwesternwohnungen. Die Wohnungen im zweiten und dritten Stock bewohnten die Brüder. Das Haus gefiel mir. Weil es ein Wohnhaus war, hatte es keine Klosteratmosphäre, aber es war genauso akkurat und aufgeräumt wie jede Niederlassung der Königsfamilie. Vor allem die Ästhetik war eine andere als in Österreich. Alles wirkte etwas eleganter und sommerlicher. Die geschwungenen Wände im Eingangsbereich, die Holztüren, farbige Fließen am Boden, Vorhänge in bunten Farben, einige Möbel aus edlem Holz und schließlich auch die Hausbewohner schienen etwas Offeneres und Fröhlicheres an sich zu haben. Die folgenden Tage verbrachten mein Bruder und ich mehr oder weniger getrennt. Es gab quasi für jeden von uns ein eigenes Programm.

Die Tage vergingen wie im Traum. Nur wenige Erinnerungen sind geblieben. Frater Anthony, ein junger Engländer mit rötlichem Haar, hatte in den Tagen vor unserer Ankunft ein von ihm selbst geschriebenes und inszeniertes Theaterstück aufgeführt, »Cullodum’s Moor«. Das Echo dieses Erlebnisses klang noch in den Tischgesprächen nach. Dass es in der Königsfamilie auch Mitglieder gab, die einen Sinn für Literatur und Kunst hatten und dass diese buchstäblich eine Bühne bekamen, machte einen großen Eindruck auf mich. Gerne hätte ich einige Worte mit ihm gewechselt und ihn nach dem Inhalt seines Stückes gefragt. Das gelang mir erst beim Abschied, als er nur mehr lächelnd antworten konnte: »Next time«. Dieses nächste Mal sollte nie kommen. Auch Sr. Theresia sollte ich in der Königsfamilie nicht mehr wiedersehen. Dafür sollten andere Dinge, die ich in diesen Tagen erlebte, in den folgenden Jahren mit größter Zuverlässigkeit immer wiederkehren, vor allem das Weihnachtsliedersingen, das bei diesem ersten Besuch besonderen Eindruck auf mich machte.

Nach dem Sonntags-Mittagessen wurden etwa DIN-A4-große Liederhefte verteilt, die Weihnachtslieder in den verschiedensten Sprachen enthielten: Latein, Englisch, Französisch, Niederländisch, Italienisch, Ungarisch, Slowenisch, sogar einige afrikanische Lieder waren dabei. Jeder durfte sich ein Lied wünschen, das dann von der ganzen Gemeinschaft mehrstimmig gesungen wurde. Jede Stimmung schien der Gemeinschaft zu gelingen, von alpenländisch, volkstümlich, über musicalhaft bis choralmäßig, gleich ob fröhlich, melancholisch oder kitschig-romantisch. Dieses gemeinsame Singen war ein starkes Gemeinschaftserlebnis. Ich fühlte mich aufgehoben und zugehörig, obwohl ich in den vergangenen Tagen niemanden aus dieser Runde persönlich kennengelernt hatte, mit niemandem wirklich gesprochen, niemandem von mir erzählt hatte. Die Tage vergingen mit Beten, Arbeiten, Ausflügen, Singen und Essen. Die Freundlichkeit der Patres, Brüder und Schwestern war überschwänglich, aber immer unpersönlich.

Ich kehrte von Rom sehr beglückt nach Hause zurück. Diese Tage im milden Klima des Südens unter jungen und fröhlichen Gottgeweihten, die verschiedene Sprachen sprachen und mich schon wie eine von ihnen behandelten, hatten die Kraft alle Schatten zu vertreiben, die das ein oder andere frühere Erlebnis mit der Königsfamilie auf meine Vorfreude geworfen hatte. Die Aussicht, bald in einem dieser Häuser wohnen zu dürfen, beflügelte mich. Etwas Schöneres konnte ich mir nicht vorstellen, und ich hielt mich für besonders gesegnet, weil Gott mich gerade in die Königsfamilie berufen hatte. Aber im Frühjahr 2003, einige Monate vor dem geplanten Eintritt, schien es dann doch, als ob Sr. Ottilie mit ihrer Ankündigung des Berufungskampfes recht behalten sollte.

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