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Die »Einkleidung«

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Meine Entschlossenheit wurde schon bald auf eine unerwartete Probe gestellt. Ich erfuhr, dass meine Kleider durchgesehen werden müssten. Das würde bei allen jungen Schwestern nach dem Eintritt geschehen. Nichtsahnend und frohgemut wartete ich an einem sonnigen Nachmittag in meinem kleinen Zimmer auf Sr. Ana, die diese Aufgabe übernehmen sollte. Sie würde kaum etwas aussortieren müssen, dachte ich, denn ich hatte mich ja schon jahrelang wie eine Schwester gekleidet: keine Hosen, keine knalligen Farben, keine kurzen Ärmel, nur Röcke und Blusen. Umso blasser wurde ich, als ich, auf dem Bett sitzend, zusehen musste, wie Sr. Ana ein Kleidungsstück nach dem anderen aus meinem Schrank nahm und sagte: »Nein, das geht nicht. Das auch nicht«. Es schien kein Ende zu nehmen. Als sie auch die Jacke meines Konfirmationsanzuges aussortierte, war ich den Tränen nahe. Da begann Sr. Ana mir zu erklären, warum ich diese Dinge nicht tragen könnte. Dass sie dabei lächelte, machte es nicht besser. Manchmal war es die Farbe: »Mutter Marozia wünscht nicht, dass wir rot tragen«, oder es war der Schnitt, »tailliert, das passt nicht für eine Schwester«, oder es war der fehlende Kragen oder ein Ausschnitt an meinen Blusen, denn Schwestern trugen nur Blusen, die sich bis zum Kehlkopf zuknöpfen ließen.

Schließlich blieben von all dem, was ich im Schrank gehabt hatte, nur zwei hellblaue Blusen und ein blauer Rock, der aber noch gekürzt werden musste, denn er war knöchellang, und auch das gefiel Mutter Marozia anscheinend nicht. Sie schien der Maßstab in Kleiderfragen und überhaupt allem zu sein. Für Röcke galt nun einmal, dass sie wadenlang sein mussten, am besten »18 Zentimeter vom Boden«. Ich war zerknirscht. Vielleicht wollte Sr. Ana mich aufmuntern, als sie mir sagte, meine Sachen »können wir ja unseren Katakombenfamilien weitergeben, die können so etwas tragen«. Tatsächlich gab sie mir mit diesem Satz einen Stich ins Herz. Es waren ja meine Sachen, die sie fortgeben wollte.

Aber ich besann mich. Ich hatte ab jetzt kein Recht mehr auf das, was mir gehörte. Und das leuchtete mir ja auch ein. Während Sr. Ana mit meinen Kleidern verschwunden war und andere, schwesterntaugliche holen wollte, saß ich auf meinem Bett und dachte nach. Indem ich mich für das gottgeweihte Leben entschieden hatte, dem Ruf Jesu gefolgt war, gehörte ich nicht mehr mir selbst. Ich hatte mich ihm übergeben, bedingungslos, in dem kindlichen Vertrauen, dass alles, was er von mir fordern würde, mir nicht schaden, sondern mich ihm näher bringen würde. Nur wenn ich den Weisungen meiner Verantwortlichen folgte, und seien sie noch so banal, nur wenn ich auf mein Eigentum verzichtete und aufhörte an mich selbst zu denken, würde ich zu dem werden, was er von mir wollte. »Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir«. Das war mein Lebensprogramm. Das wollte ich tun. Wie konnte ich da an meinen Kleidern hängen? Ich beschloss, tapfer zu sein. Das hatte ich auch bitter nötig, als Sr. Ana mit ein paar prallgefüllten Plastiksäcken vom Dachboden wiederkam. Ich musste mich ausziehen und Stück für Stück Röcke und Blusen anprobieren, die wer weiß woher kamen. Entweder aus dem Nachlass verstorbener Wohltäterinnen, so mutmaßte ich, oder es waren Ladenhüter, die gespendet worden waren. Wadenlange karierte Faltenröcke, ärmellose Strickjacken in schrecklichen Beigetönen. Diese Sachen hätte meine eigene Großmutter nicht getragen. Ich fühlte mich schrecklich. Wäre Sr. Ana nicht so unschuldig gewesen (mir war klar, dass sie auch nichts für die Vorschriften konnte und dass sie nicht wusste, was sie mir da gerade antat), wäre ich wohl in wütendes Schluchzen ausgebrochen. Ich konnte mich gerade noch zusammennehmen. Nicht ich, sondern sie entschied, welche Dinge ich behalten sollte. Das einzige Kriterium dafür schien zu sein, ob sie mir passten. Dabei hatte Sr. Ana eine andere Vorstellung von »passen« als ich, denn fast alles, was sie mir gab, war mir ein bis zwei Nummern zu groß. Ich kam mir vor, als würde ich in Säcke gehüllt. Schließlich erriet ich auch, wozu das gut sein sollte, denn bevor sie ihre Sachen wieder zusammenpackte, drückte sie mir noch weiße Baumwollunterwäsche und einen großen Stapel Unterkleider in die Hand, mit der Bemerkung: »Wir tragen das für unsere Mitbrüder«.

Ich verstand nicht sofort. Sr. Ana erklärte es mir etwas umständlich, indem sie mir von einem Priester erzählte, der vor Kurzem im Mutterhaus auf Besuch gewesen sein musste. »Wenn alle Frauen so gekleidet wären wie Sie«, habe er gesagt. Mehr sagte Sr. Ana nicht, aber das genügte, damit ich erraten konnte, was sie meinte. Indem wir unsere Körper so gut wie möglich in Unterkleidern und viel zu weiten Röcken, Blusen und Strickjacken versteckten, schützten wir unsere Mitbrüder vor der Versuchung, der sie ausgesetzt wären, wenn unsere Kleidung die Weiblichkeit unserer Körper sichtbar gemacht hätte. Das kam mir zuerst ziemlich bizarr vor. Aber ich dachte nicht weiter darüber nach.

Als ich alleine mit den »neuen« Kleidern im Zimmer saß und Namensschildchen in jedes einzelne Stück einnähte, wie Sr. Ana mir geheißen hatte, war ich völlig aufgewühlt. Zorn, Wut, Hilflosigkeit, Rätselraten über die Versuchung, die ich darzustellen schien – alles ging wild durcheinander und schlug hohe Wellen. Zugleich rang ich darum, tapfer zu sein, klar zu sehen und möglichst alles richtig zu machen. Es war die erste Krise, die ich in der Königsfamilie durchlebte, und es war die lebhafteste für eine lange Zeit, denn meine menschlichen Instinkte waren noch nicht völlig getrübt. Ich hatte noch ein Gefühl dafür, dass ich etwas wert war und dass man nicht alles mit mir machen durfte. Ich vergoss sogar einige Tränen. Letztendlich aber siegte der Entschluss zur Tapferkeit. Ich dachte mir: »Von ein paar hässlichen Kleidern werde ich meine Berufung nicht infrage stellen lassen. Wenn sie die Bedingung dafür sind, dass ich als Schwester in der Königsfamilie leben kann, dann will ich sie wie ein Hochzeitskleid tragen.« Als ich mich so weit durchgerungen hatte, setzte ein regelrechtes Hochgefühl ein. Ich war mir bewusst, dass ich meine erste echte »Berufungskrise« durchgestanden hatte.

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