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Die Muttergottes spricht

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Es war ein Samstag im Mai, als wir mit dem Auto nach Altötting fuhren. Sr. Ottilie schien sehr besorgt und versicherte mir, dass sie sehr viel für mich gebetet habe. Besonders beim Breviergebet habe sie an mich gedacht, nämlich beim Psalmvers »Gib dem Raubtier das Leben deiner Taube nicht preis.« Hätte ich Sr. Ottilie nicht gekannt, wäre mir diese allzu drastische Metapher unangenehm gewesen. In ihren Augen war mein Religions-Lehrer, den sie nie getroffen hatte, ein Raubtier, ein böser Verführer, ein Werkzeug Satans, jemand, der mich vom Plan Gottes abbringen wollte. Der gefürchtete Berufungskampf war ausgebrochen, also musste sie nun um mich kämpfen. Wie sie da mit hoch erhobenem Kopf und entschlossenem Gesichtsausdruck am Steuer saß, sah ich sie gleichsam eine Rüstung tragen. Die Kriegerin auf dem Weg in die Schlacht. Ich musste schmunzeln. Ich selbst hielt mich keineswegs für verführt, ich war nur durcheinander.

Im bayerischsten aller bayerischen Wallfahrtsorte war ich noch nie gewesen. Er wirkte unspektakulär, denn viel war dort nicht los. Sr. Ottilie schien auch kein Programm geplant zu haben. Wir gingen einfach von einer Kirche oder Kapelle in die nächste. Dabei entdeckte sie überall Zeichen, die – wie sie sagte – eine ganz eindeutige Sprache sprachen. Viele dieser angeblichen Zeichen verstand ich nicht. Es war nichts Verwunderliches, an diesem Ort auf Marienbilder zu stoßen, Sr. Ottilie aber erkannte in den Bildern einen Hinweis auf meine Berufung zum geweihten Leben. Gekrönt wurde diese Fülle an Zeichen, als wir eine Kirche betraten, in der gerade das Evangelium verlesen wurde: »Wer um meinetwillen Haus oder Brüder … verlassen hat, wird das Hundertfache dafür empfangen.«

Sr. Ottilie schien so erschüttert und beglückt, dass ich in mich hineinschmunzeln musste. In ihren Augen war das ein eindeutiges Zeichen. Ich hatte gar nicht zugehört und hätte das Evangelium auch nicht als Zeichen gedeutet. Es antwortete nicht wirklich auf meine Frage, aber für sie schien die Angelegenheit geklärt. »Die Muttergottes hat gesprochen!«, verkündete sie feierlich, als wir die Kirche verließen. Ich war zufrieden, denn ich hatte in den vergangenen Stunden genug Zeit gehabt, um meine Frage selbst zu überdenken und im Gebet vor Gott zu bringen. Nein, es konnte nicht gut gehen, wenn ich meinen Religions-Lehrer heiratete (und eine uneheliche Beziehung kam nicht infrage). Er war so viel älter als ich, und wir waren viel zu unterschiedlich. Ich würde ihn aus Mitleid heiraten. Es wäre nicht richtig. Nein, ich war nicht bei ihm, sondern bei den Schwestern daheim, in der Welt des Stundengebets und der regelmäßigen Abläufe, der diskreten Freundlichkeit und der stillen Arbeit. Letztlich glaubte ich vor allem eines nicht: Dass er mich liebte. Er suchte etwas in mir, aber nicht mich. In unerschütterlicher und zugleich tröstlicher Klarheit stand für mich fest, dass mich eigentlich niemand suchte und kannte – niemand außer Gott. Also konnte mich auch niemand außer Gott lieben.

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