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Glückliche Wochen

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In den folgenden Sommerwochen war ich sehr glücklich. Alles war noch neu und beeindruckend. Das gemeinsame Stundengebet, die vielen mehrstimmigen Lieder in verschiedenen Sprachen, der klare Tagesablauf. Die morgendlichen Kurzpredigten der Patres schienen jede für sich eine kleine Offenbarung, ein kostbares Geschenk für den Tag, ebenso wie die Frühstücksvertiefungen der Mitschwestern. Mein Tag war voller Sonnenschein und Frieden. Keine unzufriedenen Gesichter um mich, kein Streit, kein Lärm, keine Aufregung. Alles vollzog sich in wohlgeordneten, stillen Bahnen. Die gemeinsame Arbeit und das Essen waren von einer heiteren Ruhe, von einer – wie ich meinte – tiefen, inneren Fröhlichkeit der Mitbrüder und Mitschwestern überstrahlt. Gottes Gegenwart war spürbar. Mir fehlte nichts, obwohl mein Leben sich radikal geändert hatte: Kein Fernsehen, kein Radio, keine Zeitungen störten die heitere Ruhe der Hausgemeinschaft. Bücher, Spaziergänge, Klavierspielen, vieles von dem, was vorher so wichtig für mich gewesen war, gab es nicht mehr. Mein Leben war ganz Gebet und Arbeit. Ich meinte zu spüren, dass dadurch ein tiefer innerer Frieden in mir einkehrte. Es war ein Gefühl, als befände ich mich in einer permanenten Meditationsübung, die darin bestand, nichts mehr zu wollen, nichts mehr aus eigenem Antrieb zu tun, sondern mich ganz dem zu überlassen, was mir für jeden Moment aufgetragen war, um darin Gott zu begegnen.

Mein Tag war völlig ausgefüllt, von 6:00 am Morgen bis 21:00 am Abend. Wenn man hinzufügt, dass wir vor 6:00 und nach 21:00 auf unseren Zimmern sein sollten, kann man sogar sagen, dass ich über keine Minute meines Lebens mehr selbst bestimmte. Alles, was ich tat, wurde von anderen bestimmt und vorgegeben. Ich tat nichts mehr aus eigenem Antrieb, und ich war nie alleine. Auch verließ ich alleine das Kloster nicht mehr, obwohl ich wie alle einen Schlüssel hatte, denn ich hatte nicht nur keine Zeit, sondern auch keinen Grund, das Haus zu verlassen. Sobald ich abends alleine in meinem Zimmer war, ging ich schlafen. Auf einen anderen Gedanken wäre ich auch nicht gekommen, denn erstens waren die Möglichkeiten, alleine im Zimmer noch etwas zu tun, sehr beschränkt (Bücher durften wir nicht haben), und zweitens war ich nach dem langen Tag extrem müde. Müdigkeit wurde in den folgenden Jahren in der Königsfamilie mein permanenter Begleiter.

Das Einzige, was mich in diesen ersten Wochen beunruhigte, war, dass ein Gespräch über meine Zukunft, ein richtiger Auftrag und eine richtige Verantwortliche auf sich warten ließen. Ich beschloss, diese Zeit der Ungewissheit zu einer Übung in der Tugend der Geduld zu machen und mich mit dem zufriedenzugeben, was in der Zwischenzeit galt. Mir wurde gesagt, dass Sr. Luisa, eine große schlanke Norddeutsche mit dünnem braunen Haar, die Lokalverantwortliche wäre und ich mich an sie wenden sollte, wenn ich praktische Fragen hätte. Außerdem sollte ich sie ansprechen, wenn ich beichten wollte. Dann würde sie einen Mitbruder fragen und einen Beichttermin für mich bei ihm ausmachen. Zur Arbeit wurde ich fürs Erste in der Küche eingeteilt. Sr. Ivana, die Verantwortliche in der Küche, gab mir eine typische Anfängeraufgabe: den Frühstücksdienst. Das bedeutete, dass ich mindestens den ganzen Vormittag und oft auch noch einen Teil des Nachmittages damit zubrachte, die Reste des Frühstücks zusammenzuräumen und alles für das Frühstück am nächsten Tag vorzubereiten. Im Schnitt frühstückten dort im Sommer um die 50 Personen. So, wie es mir gezeigt wurde, kratzte ich die Marmeladenreste aus den einzelnen Schälchen vom Morgen zusammen, spülte die Schälchen und füllte sie wieder. Mit den Butterresten verfuhr ich ebenso. Die weichen Reste wurden in einen Eisschöpfer gestrichen und zu kleinen Butterkugeln »verkugelt«, ein Verfahren, das mich erstaunte, das die Schwestern aber ganz selbstverständlich praktizierten. Die neuen Butterschälchen wurden dann teils mit den Butterkugeln aus den Resten vom Morgen, teils mit frischen Stücken Butter belegt, bevor das alles auch in den Kühlschrank wandern konnte.

Die exakte Zahl der benötigten Marmeladeschälchen, Butterschälchen und Brotkörbchen wurde anhand eines Tagesplans ermittelt, der in einer Schublade neben der Küchentür aufbewahrt wurde und den ich anfangs nicht zu sehen bekam. Er wurde von der Schwester an der Pforte erstellt und enthielt neben Angaben darüber, wer aktuell im Haus war, wer an diesem Tag abfuhr oder ankam, welcher Pater wo die Messe feierte und welche besonderen Vorkommnisse es gab, auch den Hinweis, wie viele Personen welche Mahlzeiten in welchen Räumen einnahmen. In der Regel waren das circa 25 Schwestern, die im Refektorium aßen, circa zehn Patres, die im Pilgerheim aßen, und diverse kleinere Tische an der Pforte. Denn ein Frühstück zu zweit, dritt oder viert wurden gerne für persönliche Gespräche unter Verantwortlichen oder mit Gästen genutzt. Mutter Marozia schien überhaupt nur in den Empfangszimmern an der Pforte zu essen. Selbst wenn sie allein war. Das alles merkte ich allerdings erst viel später, als ich diesen Tagesplan selbst zu Gesicht bekam.

Dass das alltägliche Zusammenmixen von Marmelade- und Butterresten hygienisch bedenklich sein könnte, kam mir nicht in den Sinn. Genauso wenig war mir bewusst, dass keine der in der Küche arbeitenden Schwestern für diese Tätigkeit auch ausgebildet war. Erst Stück für Stück erfuhr ich, dass sie mehr oder weniger ins kalte Wasser geworfen worden waren und schlicht ihr Bestes versuchten. Sr. Ivana beispielsweise sagte, dass sie vor ihrem Eintritt gar nicht kochen konnte. Sie hatte studiert und wollte Lehrerin werden. Nun leitete sie die Mutterhaus-Küche und kochte täglich für dreißig bis fünfzig Personen. Sie schien wie andere, denen es ähnlich ging, stolz darauf zu sein. Denn in der Königsfamilie war es ein Zeichen besonderen Gottvertrauens, wenn man eine Aufgabe erfüllte, ohne die nach menschlichem Ermessen dafür nötigen Voraussetzungen zu erfüllen. Wer etwas tat, was er gelernt hatte, tat ja schließlich nichts Besonderes. Er war sogar in Gefahr, sich etwas auf sein Können einzubilden. Wer aber eine Aufgabe annahm, der er sich nicht gewachsen fühlte, musste sein Vertrauen ganz auf Gott setzen. Die Oberen konnten ein Mitglied also gewissermaßen alleine dadurch, dass sie ihm einen Auftrag gaben, auch schon zur Erfüllung dieses Auftrags befähigen, denn wenn sie etwas verlangten, würde Gott zweifellos die dafür nötige Gnade schenken. Egal ob das Mitglied für diese Aufgabe geeignet war oder nicht. Einen Auftrag auszuführen, ohne das nötige Wissen und Können dafür zu besitzen, war eine von allen geforderte Tugend. Man nannte das einen »Glaubensakt«. Diese Glaubensakte waren das Thema zahlreicher Predigten und Vertiefungen.

Nicht mehr Ich

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