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Abitur und Eintritt

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Mit dem Ende der Schulzeit hatte für mich ein neuer Abschnitt begonnen. Das Abitur hatte ich ohne große Mühe mit 1,9 bestanden. Nun stand mir nur noch eines vor Augen: Der Eintritt. Ich hatte den 9. August gewählt, den Gedenktag der vor kurzem heiliggesprochenen Edith Stein. Auch wenn ich mich nicht mit ihr messen konnte, war sie mir doch ein Vorbild. Sie widerlegte das Klischee der ungebildeten, unselbständigen und lebensunfähigen Klosterschwester, das ich inzwischen leid geworden war. Sie hatte in Philosophie promoviert, war Assistentin bei Husserl gewesen, zum Katholizismus übergetreten und schließlich zur großen Verwunderung ihrer Freunde und Bekannten in den Karmel eingetreten.

Auch ich betrachtete mich nicht als unselbständig. Ich war nicht dumm und nicht fremdgesteuert. Ich wusste, was ich wollte und was ich tat, und jeder Schritt war reflektiert und gewollt. Ich war konvertiert und ging nach dem Abitur ins Kloster, nicht weil mir nichts Besseres eingefallen war oder ich mir nichts anderes zutraute, sondern weil ich es wollte. Und ich wollte es, weil Gott mich rief und es nichts Größeres in meinem Leben gab als ihn.

Am 8. August, dem Tag vor der Eintrittszeremonie, machten meine Eltern und Geschwister sich mit mir auf den Weg. Ich saß mit gemischten Gefühlen im Auto. Meine Koffer waren gepackt. Außer meinen Kleidern, meinem Sparbuch und ein paar Dokumenten und Büchern hatte ich nichts dabei. Viel war es nicht, denn viel würde ich ja nicht brauchen. Mein Klavier wurde zu einem anderen Zeitpunkt abgeholt. Der Gedanke, in wenigen Stunden für immer von meinen Eltern und Geschwistern Abschied nehmen zu müssen, vor allem von den beiden Kleinen, gab mir einen Stich ins Herz. Würde ich das überhaupt aushalten, diese familiäre Vertrautheit aufzugeben und endgültig in eine Welt von Erwachsenen überzusiedeln, wo es keine persönliche Nähe, keine Neckereien, keinen Unsinn gab? Schnell schob ich diese Fragen beiseite, denn ich hatte mir angewöhnt, mich von Fragen an die Zukunft, die per se unbeantwortbar waren, nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Ich war überzeugt: Es wird sich alles geben. So schlimm kann es nicht sein. Andere haben es auch geschafft, und schließlich bin ich zu diesem Leben berufen, also werde ich auch die Kraft haben, es zu meistern. Und wenn es manchmal schwer sein wird, und das wird es mit Sicherheit, dann gehört das auch dazu, und ich werde es schaffen.

Den überwiegenden Teil der Fahrt schwebte ich aber in allergrößter Vorfreude. Ab morgen würde ich mit »Schwester« angesprochen werden. Ich würde ein Zimmer bekommen und einen Auftrag, einen festen Tagesablauf und eine neue Familie. Ich würde eine von ihnen sein und das tägliche Leben mit ihnen teilen. Vor allem aber kam ich jetzt Gott näher, denn ich kam an den Ort, an dem er mich haben wollte, an dem er etwas Großes mit mir vorhatte. Ich kam gewissermaßen in sein Haus, als seine Braut. Ich war aufgeregt und überglücklich. Wahrscheinlich gibt es nicht viele Möglichkeiten, wie man die eigene Existenz und Identität von heute auf morgen derart radikal ändern kann, wie ich das damals tat. Dafür muss man ins Kloster gehen – wenn nicht zum Militär oder ins Gefängnis.

Als wir im Mutterhaus ankamen, stellte sich heraus, dass die Gemeinschaft auf uns gewartet hatte. Um 17.30 beteten sie für gewöhnlich die Vesper, und mit dieser Vesper sollte ich begrüßt werden. Nun war es schon deutlich später. Ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil sie auf uns gewartet hatten, obwohl wir nichts davon wussten. Schnell, fast hektisch, wurde ich in den Kreuzgang hineingezogen, in dem zwei Reihen von Schwestern im Chormantel standen. Die Pfortenschwester drückte mir einen Blumenstrauß in die Hand und flüsterte mir zu, ich solle ihn an Mutters Grab in der Klosterkirche ablegen. Da setzte sich der Zug auch schon in Bewegung. Mir war etwas mulmig zumute, bei dieser überfallsartigen Aktion. Die Geste mit dem Blumenstrauß kam mir ähnlich albern vor wie das rote Kreuzchen, und es störte mich, dass ich quasi dazu genötigt wurde, denn eine solche Geste hätte ja meiner eigenen Initiative entspringen müssen, um authentisch zu sein. Erst später stellte ich fest, dass der Blumenstrauß ein fester Bestandteil des Eintrittsrituals war. Trotzdem fand ss ich es auch Jahre später immer noch unauthentisch und albern fand. Dennoch machte ich gute Miene dazu und tat, was die Schwestern sich wünschten. Es gehört einfach dazu. Der unglaublich schöne Gesang in der Vesper, der Duft der Blumen in der Kapelle und die Willkommensworte in der Ansprache von P. Rektor ließen mich meinen Unmut schnell vergessen. Auch meine Eltern waren gerührt. Meine Schwester dagegen hatte gerade in diesem Moment schwere Augenblicke durchzustehen, was ich aber erst hinterher erfuhr. Sie war in einem bunten Top mit Spaghetti-Trägern gekommen, in dem die Schwestern sie nicht in die Klosterkirche lassen wollten. Sie wollten ihr eine Strickjacke aufzwingen, mit der sie ihre Schultern und Arme bedecken sollte, aber sie weigerte sich standhaft, sodass am Ende beide Seiten leicht frustriert waren, als sie es endlich geschafft hatte, doch mit ihrem Top in der Kirchenbank zu sitzen.

Meine Familie war im Familienhaus untergebracht, einem hübsch renovierten Bauernhof in Hanglage, der seit den 1920ern zum Mutterhaus gehörte. Das Haus diente als Gäste- oder Exerzitienhaus. Wie viel dieser Besitz in den 20ern wert war, vermag ich nicht zu schätzen. Heute aber ist ein solches Grundstück in dieser Lage, wo 1m2 schon mal um die 900 Euro kosten kann, unbezahlbar. Das alles wusste ich nicht, als ich das erste Mal das Haus und die Aussicht bewunderte. Meine Familie fühlte sich dort wohl. Zwei Schwestern wohnten dort und sorgten sich gemeinsam mit Sr. Ottilie, die ebenfalls dort untergebracht war, um meine Familie, bevor sie am nächsten Morgen zu meiner Eintrittsfeier hinunter ins Kloster fuhren.

Die Messfeier fand in der kleinen Kapelle statt, in der ich auch das rote Kreuzchen empfangen hatte. An einem bestimmten Punkt der Feier sollten meine Eltern und ich je ein vorformuliertes Gebet sprechen, das uns zuvor von Sr. Ottilie in die Hand gedrückt worden war. Ich überflog den Text und fand, dass ich mich weitgehend damit identifizieren konnte. Vor Beginn der Messfeier legte ich das rote Kreuz ab. Ich war froh, es nicht mehr tragen zu müssen. Als alle sich erhoben, die Schwestern den Gesang anstimmten und der Priester den Raum betrat, war ich etwas enttäuscht. Es war nicht P. Rektor, sondern P. Jodok, ein kleiner, leicht rundlicher Vorarlberger um die 40, der mir bisher noch kaum aufgefallen war. Immerhin hatte er extra für meinen Eintritt eine Predigt vorbereitet, die mir aber größtenteils unbewusst blieb, bis auf eine Formulierung, die mir merkwürdig vorkam: dass ich »eine würdige Tochter von Mutter werden möge«. Ich kannte diese »Mutter« ja kaum. Nichts von dem, was ich bisher von ihr gehört hatte, hatte es mir möglich gemacht, eine Art innerer Beziehung zu ihr aufzubauen. So gelang es mir nicht, mich als ihre »Tochter« zu fühlen, und ich konnte mir nicht vorstellen, was es heißen sollte, ihrer »würdig« zu sein. Naja, dachte ich, das alles werde ich ja jetzt, wo ich zur Königsfamilie gehöre, sicher erfahren. Ich sprach mein Gebet mit klarer Stimme, als aber meine Eltern an der Reihe waren, blieben meiner Mutter vor lauter Schluchzen beinahe die Worte im Hals stecken, besonders an der Stelle, wo sie Gott dafür dankten, dass er mich ihnen geschenkt hatte und dass sie mich ihm jetzt wieder zurückschenkten. Ich wusste, dass meine Mutter mich ungern »hergab«, so stolz sie auch auf meine Berufung war.

Nach der Messe standen alle im Gang und gratulierten mir und meinen Eltern. Danach gab es im Konferenzzimmer ein festliches Mittagessen für meine Familie sowie ein paar Patres und Schwestern. Erst am Nachmittag bekam ich eine letzte Gelegenheit, mit meiner Familie allein zu sein. Das heißt, während meine Eltern ein »Glaubensgespräch« mit einem der Priester im Haus führten, durfte ich mich mit meinen Geschwistern und etwas Spielzeug für die Kleinen in eines der Empfangszimmer zurückziehen. Das Herz wurde mir schwer. Ich dachte daran, dass ich sie zum letzten Mal um mich hatte und wir uns ab morgen nicht mehr sehen würden. Ein Eintritt ins Kloster bedeutete den endgültigen Abschied von der eigenen Familie, es konnten Jahre vergehen, bevor man sich wiedersah. Das schien mir logisch. Bei Theresia von Lisieux war es auch so gewesen. Ich hatte nun eine »neue Familie« und es war nicht mehr meine Entscheidung, sondern die meiner Verantwortlichen, ob und wann ich meine Familie wiedersehen würde. Meine Schwestern wehrten sich. »Wir sind deine Schwestern und nicht die da«, sagten sie mir, und »wie kannst du es hier nur aushalten?« Sie fanden das Kloster und die Schwestern schrecklich, und als sie sich über Einzelne von ihnen lustig machten, konnte ich nicht anders als mitlachen. Aber das änderte natürlich nichts an meinem Entschluss.

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