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Gespräch mit Mutter Marozia

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Irgendwann wollte auch Mutter Marozia mit mir sprechen. Es war ja völlig klar, dass sie als International Verantwortliche der Schwesterngemeinschaft der Königsfamilie sich ein Bild von mir machen wollte. Vor dem Gespräch mit ihr war ich ziemlich nervös. Sie erwartete mich an einem Nachmittag im sogenannten großen Empfangszimmer des Mutterhauses. Es lag der Pforte gegenüber und hatte eine zweite Tür auf den Kreuzgang hinaus. Ich kannte den Raum schon. Durch seine Höhe, die großen Fenster und den Stuck an der Decke wirkte er besonders repräsentativ. Mutter Marozia pflegte ihre Gäste und Gesprächspartner hier zu empfangen. Sie war mindestens einen halben Kopf kleiner als ich. Ihre leicht rundliche Figur steckte immer in einem Kostüm, das sich von den weiten und unansehnlichen Röcken und Blusen der gewöhnlichen Schwestern vor allem dadurch abhob, dass es ihr auf gewisse Weise stand.

Das mit Abstand Bemerkenswerteste an ihr war aber ihr Gesicht. Ihr Blick war durchdringend. Um ihren Mund hatte sie einen ungeheuer entschlossenen und dominanten Zug, der dadurch zu entstehen schien, dass sie die Backenzähne aufeinanderbiss und dabei leicht die Lippen spitzte. Ihre Erscheinung hätte etwas Vornehmes haben können, wenn nicht die fieberhafte Dominanz, die ihr Wesen beherrschte, jede Form von Eleganz verunmöglicht hätte. Sie war eine Getriebene. Als ich später Fotos aus ihre Jugend sah, auf denen sie ihre damals noch langen Haare zu einem großen Dutt zusammengebunden hatte, war ich erstaunt über die Veränderung, die diese Frau durchgemacht hatte. Als sie jung war, hatte sie noch einen Glanz in den Augen, ein strahlendes rundes Gesicht, eine gewisse mädchenhafte Liebenswürdigkeit. Als ich sie vor meinem Austritt das letzte Mal sah, war sie eine in sich zusammengefallene und wegen ihrer Wahnhaftigkeit abgeschobene alte Frau.

Als ich ihr beinahe zehn Jahre früher das erste Mal gegenübersaß, war sie zunächst einfach die Oberin, in deren Augen ich bestehen musste. Sie redete in einem fort, und alles, was sie sagte, unterstrich sie mit ihrer erregten Stimme, erhobenen Augenbrauen und einem bedeutungsvollen Blick aus ihren funkelnden Augen. Keinem ihrer Worte hätte man zu widersprechen gewagt. Sie begann damit, dass sie auf ein Vorkommnis während des Mittagessens einging. Das Mittagessen war eine oft genutzte Gelegenheit, Nachrichten und Ankündigungen zu verbreiten. Die Pförtnerin erhob sich und sagte, sie wolle der Gemeinschaft ein »Zeichen der Zeit« mitteilen: »An der Pforte hat heute jemand eine Schachtel Pralinen für uns abgegeben. Jede ist einzeln verpackt und in jeder Verpackung steckt ein Zettel mit einem Spruch. Als wir eines geöffnet haben, was lesen wir da: Teufel, ich liebe dich!«

Die Stimmung im Raum war schlagartig von betroffenem Schweigen geprägt, unter das sich ein geradezu alarmiertes Murmeln mischte. Sie hätte kaum etwas Schrecklicheres sagen können. Da tönte die Stimme eines jungen Fraters durch den Raum, der mit einem breiten Grinsen im Gesicht sagte: »Naja, es heißt ja immer, wir sollten die Pforte entlasten. Ich melde mich freiwillig zum Verzehr der Schoki!«

Lautes Lachen war die Antwort aus der Ecke, in der die Patres saßen. Natürlich erinnerte ich mich daran, als Mutter Marozia wenige Stunden später darauf zu sprechen kam. Ihr Anliegen schien besonders darin zu bestehen, den jungen Frater, für den sie deutlich Sympathie zu hegen schien, zu entschuldigen. »Gott weiß, wo er sich noch bekehren muss. Aber wenn einer die Gnade hat, die ganze Gemeinschaft zum Lachen zu bringen, ist das auch ein Geschenk«. Ich behielt den jungen Frater in den folgenden Monaten im Blick. Er hieß Alwin. Und die Gabe, die Gemeinschaft zum Lachen zu bringen oder auch einfach nur die Stimmung im Saal zu drehen und sich allgemeiner Panikmache zu entziehen, schien er wirklich in großem Maße zu besitzen.

Mutter Marozia fuhr fort, indem sie mich fragte, wie es denn in der Schule voranginge. Ich kam kaum dazu, ein paar Worte zu meinen Abiturfächern zu sagen. Als ich meinen Geschichts-Leistungskurs erwähnte, hatte sie das Stichwort, um zu einem Buch über das Leben der Gründerin überzugehen, das gerade geschrieben wurde. Ich hätte sicher von der Westfront im ersten Weltkrieg in Flandern gehört? Für eine Antwort, die über ein Kopfnicken hinausgegangen wäre, ließ sie mir keine Zeit. Die Gründerin habe ihre Kindheit in Flandern verbracht und ihre Familie musste während des Weltkriegs fliehen. Sie habe von klein auf ein besonders schweres Schicksal gehabt, voller Entbehrungen und Krankheiten. So wie Mutter Marozia von ihr sprach, musste sie ein ganz außergewöhnliches Kind gewesen sein, hochbegabt und fromm zugleich, kränklich und von ungeheurer Willensstärke. Sie hätte nie gewollt, dass ein Buch über sie geschrieben würde, außer es diente dem Charisma. Mutter Marozia sprach viel vom Charisma. Manches von dem, was sie sagte, kannte ich schon. Sie sprach vom Hochmut der heutigen Zeit, von der Überheblichkeit der modernen Gesellschaft, die sich von Gott abgewendet hatte, und von der großen Gnade, dass die Königsfamilie eigene Priester hatte und ein eigenes Inkardinationsrecht.

Dann, ich weiß nicht mehr wie, kam Mutter Marozia auf die »große Gnadengabe der Jungfräulichkeit« zu sprechen. »Wir müssen so dankbar sein, dass Gott uns zu einem jungfräulichen Leben berufen hat, als seine Bräute«.

Soweit stimmte ich ihr innerlich zu. Als sie dann aber begann, über das »Martyrium der Ehe« zu sprechen, das so viele arme Frauen durchmachen mussten, wurde mir unwohl. Ihr Blick verdunkelte sich, ihr Oberkörper war leicht vorgebeugt, sie blickte mir intensiver in die Augen und sprach, als ob etwas über sie gekommen wäre. »Männer haben ein viel größeres sexuelles Bedürfnis als Frauen. Darum müssen Frauen in der Ehe viel leiden. Sie müssen ihren Männern zur Verfügung stehen.« So oder so ähnlich redete und redete sie. Sie schien wie besessen von diesem Thema. Und ich war schockiert. Warum sagte sie das? Was wollte sie mir gegenüber mit diesen Worten erreichen? Woher nahm sie diese Überzeugung? Ich verließ das Empfangszimmer mit einem mulmigen Gefühl und ging die knarzende Holztreppe hinauf in mein Zimmer, während ich ein wenig meine Gedanken und Empfindungen sortierte. Neben dem Schock und den Fragezeichen, die ihre letzten Ausführungen in mir verursacht hatten, war ich ein wenig frustriert, weil ich selbst überhaupt nicht zu Wort gekommen war und Mutter Marozias Interesse an mir sich in Grenzen zu halten schien. Dennoch hatte sie mich und meine Reaktionen die ganze Zeit über sorgsam im Auge behalten. Vielleicht, dachte ich mir, hat sie so mehr über mich erfahren, als mir bewusst ist. Schlussendlich überwog die Erleichterung, dass ich auch diesen Test offensichtlich gut überstanden hatte.

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