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Erster Besuch im Mutterhaus

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Am Donnerstag, dem 15. August, fuhr Sr. Ottilie mit mir nach Österreich. Im Auto war es sehr heiß, und die Fahrt dauerte lang. Sr. Ottilie war nichtsdestotrotz sehr gut gelaunt, redete viel, und ich stellte erneut fest, dass sie mir unsympathisch war. Diese kleine Frau mit dem schmalen Gesicht und dem verkrampften Lachen hatte etwas unerträglich Besserwisserisches an sich. Natürlich bemühte ich mich, mir das nicht anmerken zu lassen. Sie sprach von der Königsfamilie und von der Gründerin, die 1997 verstorben war. Sie stellte mir Fragen und fand viele Übereinstimmungen zwischen dem, was ich von mir erzählte und dem, was sie das Charisma der Königsfamilie nannte. Genau erinnere ich mich nicht mehr an dieses Gespräch. Irgendwann übermannte mich einfach die Müdigkeit, und ich schlief ein.

Ich erwachte erst kurz vor der Ankunft wieder. Als wir auf den Parkplatz des Klosters einfuhren, stellte ich fest, dass es viel größer war, als ich erwartet hatte. Strahlend weiß lag die Anlage im Sonnenlicht. Die Fassade war mit langen gelbweißen Fahnen geschmückt. Die Pfortenschwester stand schon an der Tür und erwartete uns mit einem breiten Lächeln. Wir wurden auf das Freundlichste begrüßt. Nach einem kleinen Willkommenskaffee in einem Empfangszimmer, das wie ein altmodisch-großbürgerliches Wohnzimmer aussah, traten wir hinaus auf den Gang. Die alte Klausurtür vor uns stand weit geöffnet. Sr. Ottilie schloss sie, um mir die barocken Ölgemälde auf den Türflügeln zu zeigen: Maria Magdalena und Augustinus mit dem flammenden Herzen. Die Botschaft der beiden sei, wer hier eintrete, müsse sich bekehren. Sie öffnete die Tür wieder, und der Blick auf den langen Klostergang wurde frei. Vom kleinen Innenhof fiel Sonnenlicht auf die weißen Wände und die dunklen Fußbodenplatten. In einer Nische am anderen Ende des Ganges stand eine lebensgroße Figur des Dornengekrönten. Wir gingen in die andere Richtung zur Kapelle, in die wir nur einen kurzen Blick taten. Es war eine richtige kleine Klosterkirche in schlichtem Weiß, mit üppigem Blumenschmuck und moderner Ausstattung. Unter dem hohen Gewölbe, das eine sehr gute Akustik versprach, blickte eine überdimensionale romanische Muttergottes auf den schlichten Volksaltar herunter. Nachdem wir die Kapelle verließen, blieb mir bis zur Vesper gerade noch genug Zeit, mein Quartier zu beziehen.

Ich war in einem der Schwesternzimmer im zweiten Stock untergebracht, das von derselben Ästhetik geprägt war wie die meisten Räume im Mutterhaus, eine Mischung aus Bauernstube und Biedermeier. In dem circa zwölf Quadratmeter großen Raum fanden sich neben dem Bett mit Nachtkästchen ein Schrank, ein Tisch mit Stuhl und ein Waschbecken mit Boiler. An der Tür hing ein kleines Weihwasserbecken, an der Wand ein Kreuz und ein Marienbild. Auf dem Tisch standen ein kleines Blumenväschen und eine Karte. Daneben fand ich auf einem hellgrünen Zettel auch den Tagesablauf: um 6:15 die Messe, um 7:00 Angelus, Lesehore und Laudes, anschließend Frühstück. Um 12:00 Angelus, Rosenkranz und Mittagsgebet, anschließend Mittagessen, um 17:30 die Vesper und das Abendessen und um 19:45 Abendanbetung und Komplet. Bis auf die »Abendanbetung« kannte ich alles aus anderen Klöstern. Aber als ich dann meine erste Vesper in der Klosterkirche erlebte, die Vesper von Maria Himmelfahrt, war ich doch einigermaßen erstaunt. So hatte ich eine Vesper noch nie erlebt. Alleine schon der feierliche Einzug übertraf alle Erwartungen. Hinter dem Kreuzträger schritt ein großer schlanker Priester im goldenen Rauchmantel den Mittelgang entlang, ihm folgten circa sieben weitere in weißen Chormänteln und schließlich eine große Schar Schwestern, ebenfalls im weißen Chormantel, mit Schleier und Krone. Sobald sie ihre Plätze bezogen hatten, erklang ein feierlicher Gesang. Es schien unmöglich, sich seiner Wirkung zu entziehen. Nicht nur der Hymnus, sondern auch die Psalmen wurden mehrstimmig gesungen, im Wechsel zwischen Männer- und Frauenstimmen. Das hatte ich so noch nie erlebt. Das Magnificat wurde schließlich auf Latein angestimmt. Der feierliche gregorianische Ton erhob sich und erfüllte den von Lilien- und Weihrauchduft schweren Raum. Ich war verzaubert. Hiermit konnte sich keine Liturgie messen, die ich bisher erlebt hatte.

Am nächsten Morgen wurde ich in die Küche eingeladen, wo ich den Schwestern bei der Arbeit helfen durfte. Hier erlebte ich eine ähnliche Überraschung. Die für die Küche verantwortliche Schwester, eine strahlende, blonde Slowenin namens Sr. Ivana begrüßte mich, drückte mir eine Schürze in die Hand und teilte mir meine Arbeit zu. In keinem der Klöster, die ich bisher kennengelernt hatte, war ich so selbstverständlich in den Alltag der Kommunität eingebunden worden, und nirgendwo hatte ich so viele junge Schwestern gesehen. Die große Küche war voll von ihnen, und alle hatten gute Laune. Ich konnte mich dieser Stimmung nicht entziehen. Etwas in der Art, wie die Schwestern ihre Arbeit angingen, berührte mich. So fröhlich und tatkräftig muss es früher in den Klöstern zugegangen sein, die heute überaltert sind, dachte ich. Das hier ist das Original, das authentische Klosterleben. So fühlt sich das also an.

Am Samstagnachmittag fand das vielleicht folgenreichste Gespräch dieser Tage statt. Ich hatte Sr. Ottilie erzählt, dass meine Familie im September mit dem Bayerischen Pilgerbüro nach Rom fahren würde. Daraufhin organisierte sie sofort ein Gespräch mit Sr. Hildegard, die normalerweise in Rom im Einsatz war, sich aber in diesem Sommer aus gesundheitlichen Gründen einige Wochen im Mutterhaus aufhielt. Ich wunderte mich ein wenig. Was sollte Sr. Hildegard mir Wichtiges zu sagen haben? Jedenfalls schien sie eine Instanz zu sein, eine außergewöhnlich erfahrene Pilger-Führerin. Die Schwestern, denen ich beim Mittagessen erzählte, dass ich am Nachmittag Sr. Hildegard treffen würde, lobten sie über die Maßen. Als es soweit war, stiegen Sr. Ottilie und ich in den ersten Stock hinauf und betraten den »Kapitelsaal«, der später renoviert und zum Brüderrefektorium umfunktioniert wurde. Es war ein dunkler Raum, hauptsächlich wegen den langen Gardinen an den Fenstern. Das noble kleine Beistelltischchen und die geblümten Sesselchen verliehen ihm dieselbe Biedermeierästhetik, die fast alle Räume im Haus prägte. Das Parkett knarzte, als wir den Raum betraten. Sr. Hildegard war schon da. Sie hatte in einem der Sesselchen Platz genommen. Ihre dunkelbraune Strickjacke über dem karierten dunkelbraunen Rock schienen den Raum noch mehr in Dunkelheit zu hüllen, aus der nur ihr von kurzen dunklen Haaren umrahmtes Gesicht herausleuchtete. Sie trug einen Gips am Bein und machte im Sitzen eine angedeutete Verneigung, um mich sofort mit übertrieben freundlichen Worten zu begrüßen. Im Vergleich zu dem, was ich über sie gehört hatte, wirkte sie eher unscheinbar, und ich merkte bald, dass das Gespräch von vorneherein vor allem einen Zweck hatte. Beide Schwestern machten mir mit vereinten Kräften deutlich, dass meine Familie bei unserer Reise im September unbedingt die Gemeinschaft in Rom besuchen müsse. Es schien völlig unmöglich, diese Einladung auszuschlagen. Auf meine Bedenken hin hieß es, in jedem Fall müssten wir mindestens eine Führung ans Petrusgrab mitmachen. Ich war etwas beunruhigt, weil ich ja gar nicht absehen konnte, ob das möglich sein würde. Konnten wir uns so einfach vom Programm der Gruppe lösen? Wollten wir das? Wir kannten uns in Rom ja nicht aus. Wie sollte ich meine Eltern überzeugen? Wir verblieben dabei, dass wir telefonieren würden, wenn ich wieder daheim wäre. Sr. Ottilie würde mir dann die Nummer einer Sr. Annemarie geben, mit der könnte ich alles Weitere besprechen. Obwohl mir das noch merkwürdiger vorkam, war ich froh, die Sache wenigstens verschoben zu haben.

Aber damit war das Gespräch nicht beendet. Nun wurden die sogenannten Albumblätter hervorgeholt. Mir wurden Bilder von strahlenden jungen Schwestern, zelebrierenden Priestern und schönen Häusern in den verschiedensten Ländern gezeigt, und ich erfuhr vieles über die Königsfamilie. Besonders beeindruckte mich, was ich über das Zusammenleben von Männern und Frauen hörte. Es gefiel mir, dass die Gemeinschaft nicht nur aus Frauen bestand. »Geistliche Familie«, »gegenseitige Ergänzung«, »Fruchtbarkeit in der geistlichen Vater- und Mutterschaft« und andere Worte machten einen gewissen Eindruck auf mich. Mindestens genauso sehr beeindruckte mich, dass wie nebenbei erwähnt wurde, dieser Priester habe promoviert und der arbeite im Vatikan. Diese Schwester studiere in Rom und jene habe einen Doktor in Philosophie.

Eine hatte offenbar sogar Atomphysik studiert! Ich sah große Möglichkeiten vor mir: Rom, Frankreich, England, Jerusalem, vielleicht ein Studium. Und wer weiß, welche Aufgaben ich noch bekommen könnte? Auf die Fotos der Mitglieder folgten Symbolfotos, die von der Erklärung des Charismas begleitet wurden. Die goldene Dornenkrone war das Symbol der Königsfamilie. Wie Jesus am Kreuz die Sünden der Menschheit gesühnt hatte, so hatte er durch das Tragen der Dornenkrone den geistigen Hochmut der Menschheit gesühnt, erklärte Sr. Ottilie. Die Königsfamilie betrachtete es als ihre Aufgabe, den geistigen Hochmut unserer Zeit zu sühnen. Das klang irgendwie seltsam, aber es machte Eindruck auf mich. Ich dachte an liberale Theologen und daran, wie die Überheblichkeit mancher Pfarrer meine Eltern verletzt hatte. »Hochmut ist die größte Sünde unserer Zeit«, hatte Sr. Ottilie gerade gesagt. Ich wollte demütig sein. Ich will gerne mit Christus die Dornenkrone tragen, dachte ich.

Es folgten weitere Albumblätter. Darunter Bilder von der Feier der Päpstlichen Anerkennung. Ziemlich genau vor einem Jahr, am 29. August 2001, war die Gemeinschaft von Johannes Paul II. als »Familie des geweihten Lebens« anerkannt worden. Sie war kein Orden und kein Säkularinstitut, auch kein Institut im klassischen Sinn, sondern eine »neue Form des geweihten Lebens« nach can. 605 CIC (dieser Canon des kirchlichen Gesetzbuches schien sehr wichtig zu sein, denn er wurde mehrmals genannt). Das war eine wichtige Nachricht, denn ich wollte nicht in eine Gemeinschaft eintreten, die nicht kirchlich anerkannt war. Soviel war klar. Dass die Königsfamilie vom Papst anerkannt war, hieß, dass sie die katholische Lehre und das kirchliche Recht befolgte und dass die Kirche sich dafür verbürgte, dass sie das tat. Ich konnte der Königsfamilie also grundsätzlich vertrauen, es war keine obskure Vereinigung.

Das bestätigte umso mehr das nächste Bild, auf dem Kardinal Ratzinger zu sehen war, als Hauptzelebrant bei der Dankesmesse für die Päpstliche Anerkennung, die im November 2001 im Petersdom stattgefunden hatte. Ich fand es aufregend, dass der Präfekt der Glaubenskongregation mit der Königsfamilie befreundet war, denn er war eine wichtige Persönlichkeit. Vor allem aber hieß es, dass ich wirklich vollstes Vertrauen in die Integrität dieser Gemeinschaft haben konnte. Der weiße Chormantel, den die Mitglieder der Königsfamilie nicht nur bei dieser Gelegenheit, sondern an allen Sonn- und Feiertagen beim Gebet trugen, war ein Sinnbild für die Reinheit der Erlösten. Er erinnert an die Taufe und symbolisiert die Schar der Heiligen, die im letzten Buch der Bibel vor dem Thron Gottes stehen und ihn anbeten. Die Dornenkrone und der Schleier schreckten mich nun weniger ab als zuvor. Was die Bilder vom Herzen Jesu und einige Sätze über ein »Bündnis« bedeuten sollten, verstand ich nicht ganz. Eines der letzten Albumblätter zeigte zwei Kreuz-Anhänger. Einer war silbern, der andere rot. Das rote Kreuzchen sei eine Art Verlobungszeichen, sagte Sr. Ottilie. Junge Frauen, die in die Königsfamilie eintreten wollten, würden bis zu ihrem Eintritt ein solches Kreuz tragen. Männer trügen das silberne Kreuz. Sr. Ottilie sah mich erwartungsvoll an. Ich betrachtete das Bild. Irgendwie fand ich das kindisch, besonders dieses Wort »Verlobung«. Immerhin wusste ich jetzt, was der nächste Schritt war, wenn ich denn in die Königsfamilie eintreten wollte.

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