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GELEITWORT Von Wolfgang Beinert

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Ein guter Kollege hatte das Gespräch vermittelt. Nun saßen wir einander gegenüber, und Doris Wagner erzählte, stockend erst, dann immer flüssiger, stets aber leidenschaftslos, von ihren Erlebnissen in einer »Gemeinschaft des geistlichen Lebens« im Rahmen der römisch-katholischen Kirche. Mit wachsender Erschütterung, mit zunehmendem Entsetzen vernahm ich eine horrende Geschichte von Entwürdigung, Erniedrigung, Entmenschlichung. Sie hatte sich im Schatten des Petersdomes in Rom abgespielt. Schnell wurde deutlich: Da wollte nicht eine Aussteigerin sich ihren Frust von der Seele reden oder eine Abrechnung mit der Vergangenheit ausfertigen. Ihren Lebensweg offenbarte sie nicht vorrangig zwecks Bewältigung eines fürchterlichen Schicksals, sondern um der Sache willen. So habe ich sie zu diesem Buch ermutigt. Die Leserinnen und Leser bekommen einen eindrücklichen Einblick in die dunklen Seiten des Christentums. Es legt etwas von dem Unwesen offen, das sich, augenscheinlich untrennbar vom Wesen der Religion, in deren Umkreis oft und oft findet. Wo der Mensch unbedacht das Absolute anvisiert, ist er auch dem absolut Bösen nahe. Wo er sich ganz auf Seiten Gottes wähnt, glaubt er sich auch als Besitzer göttlicher Allmacht. In der Sprache des hl. Ignatius von Loyola: Der Engel der Finsternis kann sich auch als Lichtengel zeigen (»Die geistlichen Übungen« Nr. 331). Davor ist zu warnen.

Was auf den folgenden Seiten an Fakten berichtet wird, verdient vollen Glauben. Es ist so gewesen. Das hat ein junges Mädchen in der Kirche unserer Tage wirklich erfahren. Nicht mit der Wirklichkeit stimmen alle dort genannten Namen überein, abgesehen von jenen der Personen des öffentlichen Lebens. Nicht in offener Rede wird außerdem von jener »geistlichen Familie« gesprochen, in der die Verfasserin gelebt hat. Nur so viel: Sie wird unter jene »neuen geistlichen Gemeinschaften« gerechnet, die, meist in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts entstanden, unter den Pontifikaten von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. ihre größte Entfaltung erreichten und sich in vielfältiger Form und Weise des Wohlwollens der Kirchenleitung erfreuen durften. Zahlreiche Schlüsselpositionen wurden mit ihren Mitgliedern besetzt. Die Gemeinschaften weisen untereinander viele Ähnlichkeiten auf. Vor allem halten sie sich gerne nicht nur für die Speerspitze des geistlichen Lebens aufgrund signifikanter Spiritualität, wie andere Orden und Gemeinschaften auch, sondern für die wahre, die eigentliche Kirche, das echte, das vollkommene Werk Gottes in der verdorbenen Welt. Damit hängt zusammen, dass sie sich keiner konkreten Aufgabe in der Kirche verpflichtet fühlen, wie etwa der Mission oder dem Krankenapostolat. Sie sind eben einfachhin und auf allen Wirkungsfeldern von Kirche die eigentliche und echte Verwirklichung des Willens Gottes.

Man kann diese Anonymisierung bedauern. Man kann sie auch zu verstehen suchen. Sie hat zwei Gründe. Die Autorin fürchtet Repressalien. Das tut sie nicht von ungefähr. Wichtiger ist der andere Grund: Ihr ist bewusst geworden, dass die Zeit ihres Lebens in der geistlichen Gemeinschaft nicht einfach bloß eine Art Betriebsunfall gewesen ist, verschuldet durch die eine oder die andere oder auch beide Seiten, sondern dass sie in Strukturen eingebunden wurde, die sie als dem Katholizismus systemimmanent empfunden hat. Sie will darauf aufmerksam machen, um der Kirche und ihrer Erneuerung willen. Es geht nicht darum, konkrete Gruppierungen, oder bestimmte Personen an den Pranger zu stellen, sondern darum, auf einen folgenschweren Webfehler aufmerksam zu machen, der sich in die Textur der Glaubensgemeinschaft eingeschlichen hat.

Am Anfang aller dieser Bewegungen, und somit auch am Anfang der hier betrachteten, steht eine überzeugte und viele andere überzeugende Frömmigkeit, die sich meistens an den überkommenen Formen des nachreformatorischen Katholizismus orientiert. Sie ist gewöhnlich mit einer glühenden Kirchlichkeit verbunden, die sich in unkritischer Ergebenheit gegenüber dem geistlichen Amt, insbesondere dem Papsttum, äußert. Dieses hat sich deswegen auch immer gern und ebenfalls unkritisch der angebotenen Unterstützung bedient. Zahlreiche Mitglieder der neuen geistlichen Gemeinschaften sind aus diesem Grund, wie schon bemerkt, in höchste Ämter aufgestiegen. Am Anfang finden wir also eine anziehende Spiritualität, die sich in hellem Kontrast zu den beklagenswerten Verfallserscheinungen darbietet, welche die Gegenwart der Kirche aufweist. Wer zu apokalyptischem Denken neigt, kann leicht geneigt sein, die Rettung der Kirche aus dem vermeintlich totalen Relativismus gerade von solchen Bewegungen zu erwarten.

Wie kommt es aber dann zu den schrecklichen Perversionen, wie sie dieses Buch beschreibt und wie sie in der Entwicklung vieler dieser Bewegungen an den Tag treten? Um an die Wurzeln zu kommen, müssen wir bis ins 5. Jahrhundert zurückgehen, in die Zeit des großen Gnadenstreites, der mit den Namen des afrikanischen Bischofs Augustinus (354-430) und des irischen Mönches Pelagius (um 350-420) verbunden ist. Er hat in vielen Formen die ganze Geschichte der westlichen Kirche über die Reformation des 16. Jahrhunderts bis ins ausgehende 20. Jahrhundert nachdrücklich und nachhaltig geprägt. Gesiegt hat der Bischof von Hippo, der größte christliche Denker des Altertums, mit wirkkräftigem Einfluss auf nahezu die gesamte Theologie bis heute. Nach ihm ist die Heilsgeschichte ein gigantischer Kampf zwischen dem gnadenvollen Willen Gottes und dem aufs Böse gerichteten Willen Satans. Mitten in ihn hineingestellt ist der Mensch, der aus böser Geschlechtslust erbsündig empfangen wird und darum bereits von Natur aus seinen Willen gegen den göttlichen stellt. Die Erlösung, die nur wenigen aus der Masse der an sich Verdammten zuteil wird, besteht darin, dass die Gnade über den kreatürlichen Willen siegt, dass Gottes Souveränität letztlich an seine Stelle tritt. Die menschliche und die göttliche Freiheit werden als Konkurrenten verstanden. In dem Maße, in dem die eine groß wird, wird die andere klein. Gott kann folgerichtig nur dann Gott sein, wenn der menschliche Wille de facto verlischt.

In dieser Konzeption gibt es ein Problem: Wer stellt fest, was Gottes Wille ist? Die Antwort lautet: Die Kirche, welche die Hüterin und Interpretin der göttlichen Offenbarung als der Kundgabe der Dekrete seines Wollens ist. Konkret geschieht das durch das kirchliche Amt, die Männer des gesalbten Lebens, denen jene Menschen, Männer ebenso wie Frauen, zur Seite treten, die eine besondere Berufung zum geweihten Leben in der Kirche für sich beanspruchen. Damit halten sie sich allein für befähigt und befugt, die Interpretationshoheit über den Willen Gottes für sich zu reklamieren und in der Folge auch die Autorität zu dessen Einforderung. Was sie sagen, ist mithin zu tun. So bleibt einer auf der sicheren Seite. Je rückhaltloser, je totaler jemand auf eigene Willensäußerungen verzichtet und sich bedingungslos unterwirft, um so frömmer und christlicher ist er. Vollendetes Christentum ist vollendeter und streng hierarchischer Gehorsam. Die düstere Seite dieser Ideologie: Da auch die Oberen sündige Menschen bleiben, also ebenfalls darauf aus sind, ihren eigenen Willen zu verabsolutieren, sind sie in ständiger Versuchung und Gefahr, eben diesen als Gottes Willen zu erklären. Damit verfallen sie aber genau jener bösen Strukturwirklichkeit, aus der sie angeblich befreien wollen. Der Mensch will sein wie Gott – das ist das Baugesetz menschlicher Sünde. Nichts anderes als das aber beanspruchen sie zu sein: zu sein wie Gott gegenüber den anderen Gliedern der Gemeinschaft. Als Inkarnationen des Absoluten relativieren sie alles andere in wahrhaft universaler Bemächtigung.

Man kann diese Verhaltensweisen auf den folgenden Seiten wieder und wieder antreffen. Die Angehörigen der »Familie« werden gnaden- und schutzlos den Manipulationen der »Verantwortlichen« ausgesetzt. Diesen ist bedingungsloser Gehorsam und die Eröffnung der eigenen Intimität geschuldet. Die Adepten werden in bewusster Unwissenheit und Unkenntnis über die Konstitutionen der Gemeinschaft gehalten, der sie angehören wollen, sowie über die Destination, in der sie sich ihm dienlich erweisen sollen. Steter Zweifel nagt an ihnen, ob sie dem Ideal der »Familie« genügen, verbunden mit nie weichender Angst vor deren Liebesentzug, der sie haltlos machen würde, unselbstständig wie sie sind. Die höheren Grade der Binnenhierarchie, zuvörderst die »Verantwortlichen« aber auch generell die Priester, haben immer recht. Gottes Souveränität repräsentieren diese vollkommen. Sie sind im Prinzip fehl- und makellos, werden bedroht allenfalls durch den ungezähmten Willen der an sich schon sündhaften Frauen innerhalb (und natürlich auch außerhalb) der Gruppierung. Das schrecklichste Begebnis in diesem Buch, die Vergewaltigung durch ein herausragendes Mitglied der Gemeinschaft, ist in diesem fahlen Licht nicht eine bloße Triebabfuhr aus unbewältigter Sexualität, sondern schließlich und letztlich ein pädagogisches Unternehmen zur Versklavung eines bösen Wollens seitens des Opfers, des Opfers Schuld also. Das Signal lautet: Der Wille der Vergewaltigten ist immer noch nicht ganz konform mit dem Willen der Gemeinschaft, sprich: mit Gott. Die Gewalt ist also eigentlich heilsam.

Die tragische Perversität solchen Denkens zeigt sich hüllenlos. Man kann einwenden: Viele der Initiationspraktiken, wie sie hier geschildert werden, wurden ehedem auch in den etablierten Institutionen des geweihten Lebens, ja sogar in manchen Priesterseminaren geübt. Selbstverständlich verfügten die Insassen nicht über den Hausschlüssel, selbstverständlich unterstanden sie vom Aufstehen zur vorgeschriebenen Zeit bis zum hausordnungsgeregelten Schlafengehen der Aufsicht der Oberen und hatten deren sinnvolle wie sinnfragliche Befehle zu befolgen. Zu welchen Schauder erregenden Exzessen es dabei kommen konnte, hat Hubert Wolf in dem Berichtsband »Die Nonnen von Sant’Ambrogio. Eine wahre Geschichte«, (München 2013) zu Protokoll gegeben. Das ist alles vorgekommen, ist alles so gewesen, doch sind derlei Praktiken in den »alten« Institutionen Vergangenheit. Heute verhält es sich in der Regel anders. Die geistliche Formung ist deswegen nicht laxer geworden, doch trägt sie der theologischen Einsicht Rechnung, dass das augustinische Konstrukt mit seiner Mischung aus Platonismus und Dualismus auf einem Fehlschluss beruht, dessen Konsequenzen damit grundlos werden. Gottes Gnade und des Geschöpfes Freiheit sind keine Gegenspieler, vielmehr ermächtigt die Gnade die Freiheit aus der Schöpfungs- wie aus der Erlösungsordnung. Der Grund-Satz der christlichen Anthropologie lautet: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn« (Gen 1,27a). Worin anders aber könnte diese Gottebenbildlichkeit bestehen, als in der Teilhabe an seiner Freiheit? Erst sie ermöglicht es, dass er Gottes Mandatar in der Schöpfung wird (Gen 1,28 f.). In der Sünde setzt der Mensch diese Freiheit aufs Spiel, doch gerade die katholische Tradition hat stets darauf bestanden: Er verliert sie nicht ganz. Die Erlösung durch Christus ist die Wiederherstellung der ursprünglichen Freiheit: »Zu Freiheit hat uns Christus befreit. Bleibt daher fest und lasst euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen!«, fasst Paulus die fundamentale christliche Soteriologie zusammen (Gal 5,1). Der geistliche Mensch wird also dem Evangelium entsprechend geformt, wenn und indem er zur Freiheit der Kinder Gottes geführt wird, wenn und indem ihm der Raum der Selbstverwirklichung als Gottes Gleichbild eröffnet wird, wenn genau jene Lebensordnung aufgegeben wird, die die hier anvisierten Bewegungen ihren Mitgliedern aufzwingt. Sie ist unchristlich. Sie ist auch wider die Menschenrechte, die ihre Wurzeln wesentlich in diesem Denken verantworteter Freiheit haben.

Der folgende Lebensbericht macht in schonungsloser Klarheit deutlich: In der Kirche beanspruchen Denk- und Lebensweisen Geltung, die dem widersprechen. Deswegen verdient er höchste Beachtung, fordert er faire Auseinandersetzung mit dem System, ermutigt er dringend zur Korrektur. Es geht darum, eine genuin christentumsförmige neue geistliche Bewegung zu schaffen, hin zu den Ursprüngen und von dort zur effektiven Verwirklichung der Freiheitsbotschaft des christlichen Evangeliums. Solches Werk hat die Kirche, hat die Welt in der Tat nötig.

Prof. Dr. Wolfgang Beinert ist katholischer Priester,

emeritierter Hochschullehrer und Publizist.

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