Читать книгу Nicht mehr Ich - Doris Wagner - Страница 10
Das Gymnasium
ОглавлениеUm mir einen neuen Schutzraum zu suchen, machte ich die Schule ein Stück weit zu meinem Zuhause. Ich begann, mich wohl zu fühlen in dieser Welt, in der mir mühelos so vieles gelang. Latein, Englisch und Geschichte zählten zu meinen Lieblingsfächern, während ich Mathematik und Physik nicht schätzte, weil sie mir die süßen Früchte des Erfolgs versagten, wenn ich ihnen nicht meine Nachmittage opferte. Ich las auch sehr viel, wobei die frommen Bücher, die mir meinen Eltern zum Geburtstag schenkten, ab meinem 13. Lebensjahr in den Hintergrund traten und zunächst von Hermann Hesse abgelöst wurden. Ich las »Das Glasperlenspiel«, das ich im Schrank meiner Eltern fand, den »Steppenwolf« und dann alles was ich von Hesse in die Finger bekommen konnte. Zugleich las ich Gedichte von Rilke und lernte einige von ihnen auswendig. Mir eröffnete sich eine neue romantische Welt voller merkwürdiger Bilder und Gedanken, die sich kaum mit der religiösen Welt meiner Kindheit in Einklang bringen ließen, aber die mich faszinierten, weil ich meinte, mich darin wiederzuerkennen. Ich verbrachte so viel Zeit wie möglich damit, diesen Gedanken nachzuhängen. Dabei war ich am liebsten für mich allein. Die köstlichsten Stunden verbrachte ich am Klavier, mit Chopin, Debussy oder Tschaikowsky, in deren Stücken ich mich verlieren und alle angestauten Gefühle, Sehnsüchte und Phantasien ausleben konnte. Es zog mich auch hinaus auf einsame Feld- und Waldwege, wo ich stundenlang unterwegs war und versteckte Geheimplätze regelmäßig aufsuchte. Diese einsamen Waldspaziergänge ließen mich innerlich zur Ruhe kommen. Als meine Altersgenossen anfingen, sich für das andere Geschlecht zu interessieren, wurde mir klar, dass ich eine ganz andere Einstellung hatte als sie. Liebe war für mich eine ernste Angelegenheit, mindestens so ernst wie die Religion. Zwar verliebte ich mich auch das eine oder andere Mal. Aber ich betrachtete diesen merkwürdigen Zustand immer als einen ärgerlichen Zwischenfall, den ich bestenfalls als eine Art psychologischen Selbstversuch interessant finden konnte. Mein eigentliches Interesse galt nicht der Verliebtheit, sondern der Liebe oder dem, was ich mir darunter vorstellte: eine Macht, die zwei für einander bestimmte Menschen für immer zu verbinden vermag, auf Gedeih und Verderb. Das war kein Gefühlsanflug, es war Schicksal, ernst und mächtig, und weniger als das konnte ich nicht wollen. Deswegen stand ich dem pubertären Beziehungstreiben meiner Altersgenossen mit einer gewissen Ratlosigkeit gegenüber. Mir schien ihr Verhalten kindisch und selbstverletzend, in jedem Fall schreckte es mich ab. Ihre Beziehungsgeschichten verfolgte ich abwechselnd mitleidig und belustigt. Wenn ich einmal lieben werde, dachte ich, dann ganz anders.