Читать книгу Nicht mehr Ich - Doris Wagner - Страница 11

Die Konversion

Оглавление

Daheim hatte sich eine bemerkenswerte religiöse Entwicklung ergeben. Meine Mutter begann sonntags in die katholische Kirche zu gehen, denn der katholische Pfarrer war in ihren Augen viel glaubwürdiger als der evangelische. Bald fand auch mein Vater im katholischen Gottesdienst mehr Trost als im evangelischen. Natürlich bereitete das nicht wenige Schwierigkeiten, denn viel von dem, woran Katholiken glauben, hielten wir als überzeugte Lutheraner für verfehlt, insbesondere die Heiligenverehrung, das Fegefeuer und die Beichte. Aber der Pfarrer war mehr als hilfsbereit. Er versorgte meine Mutter mit Büchern und unterhielt sich oft mit ihr. So ergaben sich am Küchentisch viele abendfüllende Gespräche. Mein Vater, der sich selbst etwas Altgriechisch beigebracht hatte, nahm seine Bibel heraus und das altgriechische Neue Testament, und wir diskutierten stundenlang. Dabei wurde vor allem eines deutlich: die katholische Kirche war kompromissloser als die evangelische. Es gab keine Beliebigkeit, nichts blieb der eigenen Einsicht überlassen und es gab auf fast alle erdenklichen Fragen eine klare Antwort des Lehramtes. Daher schien der Glaube in der katholischen Kirche viel weniger in Gefahr, oberflächlich zu werden, oder zur Freizeitbeschäftigung zu verkommen. Stück für Stück wuchsen unsere Sympathien für die katholische Kirche. Wir begannen sonntags gemeinsam in die katholische Messe zu gehen. Nicht lange, und wir brauchten nur noch den letzten Schritt zu gehen und zu konvertieren.

Es war ein strahlender Tag Anfang Mai 1999 als wir im Rahmen einer Heiligen Messe in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche aufgenommen wurden. Endlich hatten wir das Gefühl, eine echte Glaubensheimat gefunden zu haben. Es war der Glaube des vertrauten Umgangs mit Gott, des täglichen Überlebens und des wundervollen göttlichen Trostes, nicht der Glaube der Kinderbibelwochen, Gitarrenkreise und Sonntagsausflüge. Unsere katholische Pfarrei war eine Diasporagemeinde, zu einem guten Teil getragen von Russlanddeutschen, die ihren Glauben ihr Leben lang im Geheimen praktiziert hatten und beim Zerfall der Sowjetunion in hohem Alter mit ihren Familien nach Deutschland gekommen waren. Sie machten großen Eindruck auf mich.

In meinem Inneren vereinigten sich nun kindliche Religiosität und jugendliche Romantik zu einem wahrhaftigen Rausch. Der Tag der Konversion wurde so der vielleicht schicksalsträchtigste Tag meines Lebens. Denn ab diesem Tag stand mir ein neues Universum offen, ein religiöser Himmel voller ungeahnter Möglichkeiten und Verheißungen. Es waren vor allem zwei Dinge, die meinen religiösen Eifer beflügelten. Die Gegenwart Jesu im Tabernakel und die Möglichkeit, Gebete, Leiden und Selbstüberwindungen für andere aufzuopfern. Viele Stunden verbrachte ich von nun an in der Kirche, um Jesus, der im Tabernakel gegenwärtig war, nahe zu sein. Ich ging jeden Tag in die Hl. Messe und so oft ich konnte, zur eucharistischen Anbetung. Wenn ich so vor der Monstranz oder vor dem Tabernakel kniete, war ich von himmlischem Frieden erfüllt und empfand ein tiefes inneres Glück. Ich vergaß die Zeit dabei. Und wenn ich nicht in der Kirche sein konnte, so konnte ich dennoch alles, was ich tat, aufopfern. Das hieß, jede Tat zum Gebet werden zu lassen, je mehr Überwindung sie mich kostete, desto besser. Ich begann meiner Mutter besonders viel zu helfen, auf Süßigkeiten und andere Annehmlichkeiten zu verzichten und immer neue Ziele meiner geistlichen Zuwendungen zu finden. Ich brachte Opfer für meine ungläubigen Lehrer und Klassenkameraden, für Arafat und den Nah-Ost-Konflikt, für verirrte liberale Theologen, für Drogenabhängige, Opfer von Naturkatastrophen und für meinen verstorbenen Stiefopa. Von unserer kleinen Küche aus konnte ich das Weltgeschehen beeinflussen und in Vergangenheit und Zukunft hineinwirken. Ein geduldig ertragenes Wort und ein hingebungsvoller Abwasch konnten so viel bewirken.

Bald erfuhr ich, dass ich diese Opfer noch steigern konnte. Unser Pfarrer gab mir ein Buch über die Kinder von Fatima, die ihre nackten Unterschenkel mit Brennesseln schlugen und Bußgürtel trugen, um dadurch erzeugten Schmerz für die Bekehrung der Sünder aufopfern zu können. Das leuchtete mir ein: Wenn schon eine unliebsame, aber liebevoll erledigte Hausarbeit die Kraft hatte, einen Sünder zu bekehren, wie viel mehr dann richtige Schmerzen. Ich beschloss, den Heiligen auch in dieser Disziplin nachzueifern, heimlich, denn zur Schau gestellt verliert jedes Opfer seine Kraft. Außerdem fastete ich einige Zeit lang nach den Weisungen der Muttergottes von Medjugorie mittwochs und freitags bei Wasser und Brot.

Und noch etwas bestimmte fortan mein Leben: Ich glaubte fest daran, dass alles, was der Papst und die Bischöfe lehrten, wahr war und dass alles Übel in der Kirche daher rührte, dass so viele Gläubige nicht auf ihre Hirten hörten. Ich schwelgte geradezu in Obrigkeitsergebenheit. Diese heiligen Männer, dachte ich mir, sind von Gott dazu erwählt und durch ihre heiligen Weihen dazu begnadet, die Gläubigen zu führen. Würden alle Menschen auf sie hören, würden sie Gottes Nähe und Liebe in ihrem Leben erfahren können. Ich litt aufrichtig unter der Kirchenkritik von aufgeklärten Theologen, deutschem Verbandskatholizismus und modernen Medien und war durch und durch überzeugt, dass sie einfach nicht wussten, was sie sagten, sodass ich viel und ausdauernd für die derart Verirrten betete und opferte.

Mein Leben war so vollständig von diesen religiösen Übungen in Beschlag genommen, dass alles andere verblasste. Nicht, dass ich das sogenannte normale Leben nicht gekannt hätte. Ich wusste, was es hieß verliebt zu sein, Erfolg in der Schule zu haben, Hobbys, Zukunftspläne. Aber ich fühlte, dass es mehr geben musste, viel mehr. Ich wollte nicht nur für mich leben, wollte kein Durchschnittsleben führen, sondern ich wollte etwas Großes. Was konnte es Größeres geben als Gott? Welches Ziel konnte dringlicher sein als die Bekehrung der Sünder und das Heil der Welt? Jede Art von Hobby und Freizeit verbannte ich aus meinem Leben. Das letzte Buch, das ich vor der Konversion gelesen hatte, war Dostojewskis Schuld und Sühne. Nach der Konversion war jede nicht-religiöse Literatur für mich fahrlässige Zeitverschwendung. Nichts verband mich mehr mit den Interessen und Beschäftigungen meiner Altersgenossen, die mir schrecklich banal und sinnlos erschienen. Ich war in eine andere Welt eingetaucht, deren Protagonisten nicht »Take That« und »Die Toten Hosen« waren, sondern der Papst, die Muttergottes und Theresia von Lisieux. Nicht Nächte mit Alkohol und lauter Musik waren die Höhepunkte des ersehnten Wochenendes, sondern Maiandachten und Anbetungsnächte. Ich wählte mir einen Abschnitt aus dem Galaterbrief zum Leitmotiv meiner Existenz, der alles ausdrückte, was ich im tiefsten Inneren ersehnte: »Ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir, der mich liebt und sich für mich hingegeben hat.«

Nicht mehr Ich

Подняться наверх