Читать книгу Nicht mehr Ich - Doris Wagner - Страница 19

Der Abendsegen

Оглавление

Ohne viel Zögern unterschrieben wir den sogenannten »Abendsegen«. Mit dieser Unterschrift bekundeten wir unsere Bereitschaft, täglich gegen 21.00 ein langes Gebet zu sprechen, dessen Text uns Sr. Ottilie auf eng bedruckten kleinen Kärtchen mitbrachte. Er handelte von unserer Dankbarkeit für »das große Geschenk des Glaubens« und für das Glaubensbeispiel »von Mutter« und enthielt die Bitte, dem Charisma der Königsfamilie und der »Heiligen Kirche« treu zu bleiben und »mutig« davon »Zeugnis abzulegen«. Das Gebet hieß deswegen »Abendsegen«, weil alle Patres und zahlreiche befreundete Priester der Königsfamilie jeden Abend gegen 21.00 diejenigen segneten, die dieses Gebet sprachen – über alle räumlichen Abstände hinweg. Durch diesen Segen sollte ein unsichtbares Band über die ganze Welt gesponnen werden, das segnende und gesegnete Mitglieder und Freunde der Königsfamilie miteinander verband. Mir gefiel diese Idee, auch wenn mir der Text des Gebetes zu lang und für ein Gebet viel zu umständlich formuliert erschien. Aber nicht nur den Abendsegen, auch alles andere, was von der Königsfamilie kam, betrachteten wir als sehr kostbar. Stapelweise erhielten wir Heftchen mit Vorträgen, die Patres der Königsfamilie gehalten hatten und die mit Titeln wie »Erlösung vom Selbstmitleid«, »Die wahre christliche Nächstenliebe« oder »Erneuert euer Denken« überschrieben waren. Sie schienen eine gute geistliche Nahrung zu sein, weil sie sich nicht darauf beschränkten, blumige Formulierungen aneinanderzureihen, sondern auch sehr klare Forderungen enthielten, die ein greifbares Fortkommen im geistlichen Leben versprachen. Außerdem gab es auch Hefte, die bei schwierigen Themen klare Orientierung gaben, wie beispielsweise zum interreligiösen Dialog, zum Internet oder zur künstlichen Fortpflanzung. In deutlichen Worten, die man vom eigenen Pfarrer kaum so zu hören bekam, legten sie die »Lehre der Kirche« dar. Es schien uns, als hätten wir einen Schatz entdeckt.

Noch häufiger als die Königsfamilie bei uns zu Gast war, war ich nun zu Gast bei der Königsfamilie. Viele Wochenenden und praktisch alle Schulferien verbrachte ich bei den Schwestern. Ich war so oft dort, dass es mir im Nachhinein kaum möglich ist, einen Besuch vom anderen zu unterscheiden. Die Niederlassungen der Königsfamilie wurden gewissermaßen zu meinem zweiten zu Hause. Im Herbst 2002 kam ich das erste Mal zu den Schwestern in München, die dort zu fünft ein schönes ehemaliges Pfarrhaus mit Garten bewohnten. Im Erdgeschoss lagen die Küche, das Wohnzimmer, ein Büro und ein kleines Empfangszimmer. Im ersten Stock befanden sich die Zimmer der Schwestern und unter dem Dach im zweiten Stock die Kapelle, die Sakristei und weitere Schwestern- und Gästezimmer.

Sr. Ottilie war die Verantwortliche in diesem Haus, von wo aus sie in ganz Bayern unterwegs war und die Kontakte der Königsfamilie pflegte. Ganz besonders interessierte sie sich für neu ernannte Bischöfe, Regenten in Priesterseminaren und für die theologische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität. Obwohl sie selbst keinen theologischen Abschluss hatte, bewertete sie scheinbar fachmännisch die Qualität der einzelnen Dozenten, deren Vorlesungen sie sich regelmäßig anhörte. Wer ihr gut genug vorkam, wurde zu den Schwestern eingeladen. So waren dort immer wieder Pfarrer, Seminaristen, Professoren und sogar Bischöfe zu Gast. Sie zelebrierten die Messe in der Hauskapelle, bekamen ein gutes Essen vorgesetzt und wurden beim Tischgespräch weiter auf ihre Kirchlichkeit und Lehramtstreue abgeklopft. Diese Prozedur bekam ich anfangs nie in ihrer ganzen Ausführlichkeit mit. Die Gäste, bei denen ich mit am Tisch saß, waren meistens schon besser mit der Königsfamilie bekannt und sollten durch die Anwesenheit einer jungen Kandidatin beeindruckt werden, denn Berufungen gelten in bestimmten kirchlichen Kreisen als eine Art Prestige-Objekt. Nur ein Gast, den ich bei meinen Aufenthalten in München öfter als einmal zu sehen bekam, hatte es nicht mehr nötig, beeindruckt zu werden: der frisch zum Kardinal kreierte Dogmatiker Leo Scheffczyk. Er war schließlich nicht nur ein Freund, sondern sogar Mitglied der Königsfamilie. Ich staunte nicht schlecht, als ich das hörte. Offenbar gab es gar nicht so wenige Kardinäle und Bischöfe, die Mitglieder der Königsfamilie waren. Die meisten behandelten ihre Mitgliedschaft zwar diskret, sodass außer den Verantwortlichen der Königsfamilie niemand davon wusste. Aber es gab auch Ausnahmen: Kardinal Peter Erdö, Erzbischof von Budapest, und Kardinal Cahal Daly, Erzbischof von Armagh in Irland, sowie natürlich Bischof Philip Boyce von Raphoe in Irland, der seit den 1970er-Jahren geistlicher Begleiter von »Mutter« gewesen war. Sie machten aus ihrer Zugehörigkeit zur Königsfamilie kein großes Geheimnis.

Nicht mehr Ich

Подняться наверх