Читать книгу Die dunkle Seite der Seele - Dorle Weichler - Страница 12
Kapitel 10
ОглавлениеHysterisch kreischend fuhr Lena in die Höhe! „Nein, nein, nein! Bitte, lieber Gott! So hilf mir doch!“ Die Tränen brachen ihr aus den Augen! Sie konnte sich gar nicht mehr beruhigen! Sie wusste seit vielen Jahren, dass mit dem Tod längst nicht alles vorbei war! Nur der Körper starb und die Seele lebte weiter, aber so? War sie denn so ein schlechter Mensch gewesen dass sie jetzt, durch ihren Tod, nicht von all ihren Leiden befreit wurde, sondern dass sie in die Hölle geschickt worden war?
Sie zitterte am ganzen Körper! Sie musste hier raus, egal wie! Es war alles ein Albtraum! Es konnte und durfte nur ein Albtraum sein! Oder war sie doch verrückt geworden? Hatte man sie eingesperrt und mit Drogen voll gepumpt? Und schon wieder diese Bauchschmerzen! Konnte man noch körperliche Schmerzen haben wenn man tot war? Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie eine solche grauenvolle Angst verspürt!
Sie riss die Decken beiseite, sie musste aus diesem Bett! Es war ihr vollkommen egal ob sie dabei irgend etwas kaputt machte oder nicht! Und sie schaffte es, beide Beine auf den Boden zu stellen und stemmte sich vom Bettrand ab! Geschafft, sie stand auf der Erde. Sie hatte einen großen Beutel mitgerissen, der zwischen ihren Beinen gelegen haben musste, ihr linker Arm brannte wie Feuer... aber sie stand! Ja! Und jetzt weg von hier, bevor es irgend jemand bemerken und ihre Flucht verhindern konnte!
Sie machte einen Schritt... und wäre fast ausgerutscht! Was um alles in der Welt war das denn? War aus diesem Beutel etwas ausgelaufen? Plötzlich hatte sie das Gefühl in Schlamm zu versinken! Hatte sie geschrien? Die Tür flog auf und zwei Schwestern stürzten ins Zimmer! „Das darf doch alles nicht wahr sein! Was, zum Teufel, treiben Sie hier?“
Lena war der Schock in die Knochen gefahren! Am ganzen Körper zitternd und bebend stand sie vor dem Bett, aber kein Ton kam über ihre Lippen!
Ein schrecklich grelles Licht ging an! „Ich werde verrückt! Jetzt guck dir doch mal diese Schweinerei an! Wie ist das denn möglich? Wie kann die sich denn so was von einscheißen? Die hat doch seit Tagen nichts zu essen bekommen!“
Während die eine weiterhin schimpfte und fluchte war die andere Schwester aus dem Zimmer gegangen und kam einen Moment später mit einem großen Eimer und Putzlappen zurück! „Hör endlich auf zu keifen! Die arme Frau kann doch nichts dafür! Sieh zu dass du sie sauber kriegst und das Bett frisch bezogen wird!“
Lena flüsterte ganz leise „Lebe ich denn noch?“
Die bösartige Schwester höhnte: „Ach! Sind wir jetzt sogar schon tot, oder was? Wird ja immer schöner mit Ihnen! Total übergeschnappt sind Sie ja! Und sonst gar nichts, klar? Und außerdem können sich Tote doch wohl kaum so einscheißen, oder?“
Den Zugang für die Infusion hatte sich Lena genau so raus gerissen wie den Blasenkatheder, der Beutel lag auf der Erde.... und sie stand in ihrem eigenen Kot und Urin! Sie schämte sich in Grund und Boden! So etwas war ihr noch nie passiert! Ihrer Mutter, ja! Als die damals so krank geworden war hatte die sich auch immer voll gemacht! Geschämt hatte sich Lena für sie! Weil immer eine alte Nachbarin, die mit ihrer Mutter seit Jahrzehnten befreundet war und gleich nebenan wohnte, sie gefunden und sauber gemacht hatte!
Plötzlich überkam Lena eine entsetzliche Scham, nur schämte sie sich jetzt für ihr eigenes vollkommen liebloses Verhalten ihrer eigenen Mutter gegenüber! Warum hatte sie sich nicht besser um ihre so schwer erkrankte Mutter gekümmert? Warum hatte sie das anderen überlassen und sie selbst hatte die Mutter im Stich gelassen? Die Mutter, die immer für sie dagewesen war wenn sie selbst wieder einmal krank gewesen war? Sie konnte sich plötzlich nicht mehr dagegen wehren, heiße Tränen der Scham schossen ihr aus den Augen!
„Nun heulen Sie nicht auch noch rum! Davon wird das auch nicht wieder sauber!“ Bei diesen Worten wurde sie recht unsanft auf eine Unterlage aufs Bett befördert, die Schwester zog ihr kräftig die Beine auseinander und begann, sie mit groben Handgriffen zu säubern!
Lena gab keinen Mucks mehr von sich! Sie schämte sich so schrecklich! Wegen der unwürdigen Gegenwart, aber auch wegen all der Fehler, die sie selbst in der Vergangenheit begangen hatte. Was hatte sie ihrer Mutter mit all ihrer Verständnislosigkeit nur angetan! Sie hatte sich doch immer so im Recht gefühlt! Und jetzt wurde ihr auch klar, warum sie sich so falsch verhalten hatte! Ihr ach so vollkommener Ehemann hatte sie abends, wenn sie vom Bett der Mutter zurück nach Hause gekommen war, abwertend angesehen und gesagt:
„Wenn du so weiter machst überlebt dich deine Mutter noch um Jahre!“
Weil sie selbst ja schließlich auch krank genug war! Ihre Mutter aber war gestorben! Und nie würde sie gutmachen können was sie kaltherzig getan hatte! Und jetzt war sie selbst an der Reihe! Und es geschah ihr Recht!
Nur die flehentliche Bitte der Mutter in ihrer Todesnacht! „Kannst du schnell noch zu mir kommen und mir helfen?“ Die hatte Lena gehört! Das war auch kein Traum, sondern bittere Realität gewesen! Und sie war auch sofort zu ihr ins Krankenhaus gefahren, aber ihre Mutter hatte ihren letzten Atemzug schon gemacht, noch bevor sie sie erreicht hatte! Und dann hatte sie Stunden lang an ihrem Bett gesessen und den Arm der Mutter so lange gestreichelt, bis alle Wärme vergangen war!
Während Lena die Tränen unaufhörlich über ihr Gesicht liefen stritten sich die beiden Frauen! Die eine wollte ihr nur helfen, wieder frisch und sauber zu werden, die andere fluchte und tobte über „dieses Dreckschwein“ das nur Ärger machte!
Schon dieses ständige Schreien und Heulen würde ihr auf die Nerven gehen! Und jetzt durfte sie auch noch ihre Scheiße weg putzen! Ekelhaft und widerlich wäre das doch!
Die Nette sagte nur freundlich und in aller Ruhe „Dann pass mal schön auf, dass du nie in eine solche Situation gerätst! Die Frau ist doch schon genug bestraft, reiß dich endlich zusammen und hilf mir!“
Lenas Tränen waren versiegt, sie hatte plötzlich gar keine Kraft mehr! Alles war schon schlimm genug und jetzt war sie auch noch der Grund, dass die beiden Frauen sich ihretwegen stritten! Und sie hatte nur noch den Wunsch, die Augen zu schließen und heim zu ihrer Mutter gehen zu können! Sie war einfach zu schwach und leer um dieses Leben, das man kaum noch als solches bezeichnen konnte, weiterhin ertragen zu können!
Die beiden Schwestern waren endlich mit ihrer Arbeit fertig, das Kopfkissen wurde noch einmal ausgeschüttelt und Lena konnte sich wieder hinlegen.
„Ach du meine Güte! Sie dir das mal an!“ Mit diesen Worten hielt sie der Kollegin ein paar Kabel unter die Nase, „Die Hälfte der Strippen hat sie auch noch raus gerissen!“
Und mit ein paar barschen Handgriffen hatte sie Lena das Nachthemd übers Gesicht gezogen und verband die Kabel wieder mit den Klebepads. „Und wir hätten uns gleich gewundert warum ständig der Alarm geht!“
„Nun hör aber auf zu schimpfen, Frau Kirchner ist krank und hat das doch nicht mit Absicht getan,“ antwortete die nette Schwester nur. „Haben Sie noch einen Wunsch?“ fragte sie dann noch.
„Wenn ich bitte noch etwas zu trinken bekommen könnte,“ flüsterte Lena ganz verunsichert.
„Natürlich! Ich komme gleich noch einmal und lege Ihnen einen neuen Katheder an und dann bringe ich Ihnen einen Krug Wasser mit, in Ordnung? Und hier, Frau Kirchner, ist auch endlich Ihre Klingel, damit können Sie jederzeit um Hilfe rufen, ja?“
Lena lächelte die Frau dankbar an und versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen, sie zitterte noch immer am ganzen Körper. Aber sie dachte noch einmal an das, was ihr gerade alles durch den Kopf geschossen war! Das Schicksal ihrer Mutter, ihr eigenes Schicksal, und ganz besonders das mehr als lieblose Verhalten ihres damaligen Ehemanns! Wie konnte sie so viele Jahren einfach verdrängen, was für einen üblen Charakter ihr Mann hatte! War sie vor Liebe blind gewesen? Wann war es passiert, das sie sich scheinbar selbst aufgegeben und nur noch das Leben, das ihr Mann von ihr verlangte, gelebt hatte?
Sie dachte an die vergangene und endlich abgeschlossene Ehe! Zwanzig Jahre war sie mit dem Mann verheiratet gewesen und hatte sich von ihm regelrecht umerziehen lassen! Und was hatte ihr armer Sohn gelitten und sie selbst hatte sich irgend wann nicht mehr getraut, sich vor ihn zu stellen und den Jungen zu schützen! Und wieder stiegen die Tränen in ihr auf! So viele verlorene Jahre! Diese Zeit würde sie niemals wieder gut machen können!
Doch plötzlich kam ihr etwas ganz anderes in den Kopf! Sie erinnerte sich! Auch wenn diese Erinnerungen furchtbar waren, sie waren real! Und darüber war sich Lena endlich im Klaren und ein Felsen der Erleichterung fiel ihr vom Herzen!
Sie konnte sogar wieder dankbar lächeln als die nette Schwester mit einem Krug Wasser und einem Glas in der Hand eintrat, das sie Lena auf den kleinen Tisch stellte und diesen in Lenas Nähe rollte.
Dann legte sie ihr erst sehr behutsamen die Infusion und dann den neuen Katheder an, dann kam wieder der komische Fingerhut auf den Zeigefinger.
„So Frau Kirchner, jetzt ist alles wieder in Ordnung und Sie können bis zum Frühstück noch ein paar Stunden schlafen. Oder brauchen Sie noch etwas?“
„Nein danke,“ erwiderte Lena. „Sie sind so lieb zu mir! Mir ist das alles doch sehr unangenehm. Es tut mir sehr leid dass ich Ihnen so viele Umstände gemacht habe.“
„Aber Frau Kirchner! Das ist doch unser Job! Und entschuldigen Sie bitte das Verhalten meiner Kollegin. Eigentlich ist sie ganz nett aber im Moment hat sie Eheprobleme, da wird sie manchmal ziemlich unleidlich.“
Und mit einem netten Lächeln ging sie hinaus und Lena ließ sich, irgendwie fast entspannt, wieder auf ihr Kopfkissen fallen. Jetzt würde alles gut werden! Sie konnte sich endlich wieder an vieles erinnern. Sie schloss die Augen und war schon einen Moment später eingeschlafen.