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‹Strassenkind› im Kleinbasel
ОглавлениеIch erinnere mich nicht, dass irgendjemand nach uns geschaut oder uns gesucht hat. Wir waren immer unterwegs. Wir hätten niemanden gebraucht, wir wären sogar nachts durchgekommen. Wir hatten keine Angst. Wir haben uns verpflegt, wir hatten unsere Kontakte.
An guten Tagen ist die Mamma schon wach, wenn der Milchwagen durch die Amerbachstrasse rumpelt. Brrr, der Milchmann hält das Pferd an und läutet die Glocke. Päuli zupft die Mutter am Nachthemd, bis sie ihm den Milchhafen mit dem abgeschlagenen Haken und ein paar Rappen in die Hand drückt. Damit saust der Vierjährige barfuss die zwei Stockwerke hinunter auf die Strasse und stellt sich hinter den Hausfrauen an. Der Milchmann pumpt die Milch aus der grossen Kanne in den Glasbehälter und giesst sie von diesem in die mitgebrachten Gefässe. Vorsichtig trägt Päuli den schweren Krug zurück ins Haus, nimmt schon mal einen Schluck, damit nichts überschwappt, bleibt auf der Treppe ein paarmal stehen, um zu trinken, und als er oben ankommt und den Krug auf den Küchentisch stellt, ist der Milchpegel deutlich gesunken.
Milch wurde in der Schweiz bis 1960 fast ausschliesslich offen verkauft. Milchwagen Banga vor Münsterplatz 8, 1944.
Päuli ist der Jüngste der Familie. Theo, zwei Jahre älter, geht schon in den Kindergarten – wenn er denn geht. Wenn die Mamma da ist und sagt, Theo, es ist Zeit. Und Päuli folgt dem grossen Bruder die Treppe hinunter und setzt sich auf die steinerne Stufe in der Nische vor dem Hauseingang, da, wo ihn die Mutter nicht sehen kann, und beobachtet das Treiben auf der Strasse. Im «Amerbach», der Wirtschaft, die sich im Erdgeschoss des Wohnhauses befindet, sind noch alle Läden geschlossen.
Derweil läuft Theo in den Kindergarten am Bläsiring, zeigt sich kurz bei Fräulein Blumenkohl – sie heisst tatsächlich so – und dann hopp zurück zu Päuli, der auf ihn wartet.
Und los geht’s, barfuss und in kurzen Hosen. Wie Füchse streifen sie durchs Kleinbasel, immer neugierig, immer auf Nahrungssuche. Sie wissen genau, wo es etwas zu holen gibt. Stellen sich erst mal vor den Ligaladen an der Hammerstrasse und schauen, was die Hausfrauen aus dem Laden tragen und was man vielleicht erbetteln könnte. «Hesch mer e Räppli?» Ein Rappen ist so wenig und die Bitte so treuherzig, dass sie oft Erfolg hat.
Vor dem Zigarrenladen an der Ecke beraten sie, was sie mit ihrer Beute anfangen wollen. Bei der alten Tabakfrau gibt es die bunten Kaugummikugeln im grossen Glas. Es riecht seltsam süsslich, Päuli kennt das, der Vater schickt ihn manchmal Zigaretten kaufen, Parisienne in der gelben Packung oder, wenn das Geld nicht reicht, stückweise. Aber heute werden sie es bei der lieben Frau Dällenbach in der Bäckerei probieren.