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Die Küche, das Herz der Wohnung

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In Pauls Erinnerung ist die Küche riesengross und er noch sehr klein, vielleicht zwei, drei Jahre alt. Er hockt beim Holzherd auf dem Boden und schichtet konzentriert Zündholz auf Zündholz, zwei längs, zwei quer. Durch die Ritzen der Ofentür sieht man ein schwaches Glimmen. Aus dem Wasserschiff auf dem Herd steigt Dampf auf. Die Luft ist trüb vom Rauch.

Am langen Holztisch sitzen die Grossen, es wird geschwatzt und gelacht, geraucht, Bier getrunken, gejasst. Der Vater ist da, der eine oder andere von den grossen Brüdern, ein paar Kollegen, der Zimmerherr vielleicht, die alte Frau Weber*, die immer Erdnüsschen knabbert. Päuli sieht fast nur Beine und Füsse.

Irgendwann verdämmern die Stimmen, Nebel hüllt den Kleinen ein – «Päuli schläft», sagt jemand, hebt ihn hoch und trägt ihn ins Bettchen im Schlafzimmer der ­Eltern nebenan.

Die Zimmer sind klein. Eines ist vermietet, in den andern rückt die grosse Familie zusammen. Der Abort befindet sich ausserhalb der Wohnung auf dem Zwischengeschoss, Seite an Seite mit demjenigen von Frau Weber. Päuli getraut sich nicht allein dorthin, es ist dunkel im Treppenhaus. Vater nimmt ihn an der Hand, geht mit ihm die Treppe hinunter, setzt ihn auf den Topf und sich selber auf die Kloschüssel. Wenn Frau Weber gleichzeitig im WC nebenan sitzt, nur durch ein dünnes Holzwändchen getrennt, kann das eine längere Geschichte werden, denn dann wird palavert.

Der Vater ist ein leutseliger, gutmütiger Mensch, bei seinen Kollegen beliebt, ein begabter Fussballer und beim FC Nordstern eine feste Grösse. Mit seiner grossen Familie und seiner unsteten Frau ist er überfordert, finan­ziell und auch sonst. Was er als Isoleur in der Chemischen verdient, reicht nirgendwohin. Wenn ihn die Sorgen bedrängen, versucht er sie mit reichlich Bier auf Distanz zu halten, aber das macht die Sache auch nicht besser.

Die grossen Geschwister kommen und gehen ihre ­ei­genen Wege. Sonja, die Erstgeborene, fünfzehn Jahre älter als Paul, ist aus seiner Sicht eine erwachsene Frau und manchmal Ersatzmutter, aber auch immer wieder lange Zeit abwesend. Heinz und Carlo sind vor allem in den Ferien zu Hause, aber so genau überblickt Päuli das nicht. Am ehesten schaut noch Fritz, der Zweite in der Geschwisterreihe, zum Rechten. Er arbeitet in der Fabrik wie der Vater.

Und wo ist Mutter Virginia? Sie ist da oder nicht da. Arbeitet bis tief in die Nacht im Service – «oder was weiss ich». Päuli vermisst sie nicht. Wenn er nur Theo hat.

Ein geordneter Haushalt existiert nicht. Zu Hause wird nicht regelmässig gekocht, ausser vielleicht am Sonntag. Sonja und Fritz schälen und schneiden kiloweise Kartoffeln, erhitzen das Öl in der grossen Pfanne und hängen das Frittiernetz mit den Kartoffelschnitzen hinein, eins ums andere Mal, bis eine Riesenschüssel voll knuspriger Pommes frites auf dem Tisch steht. Oder die Mamma formt auf dem grossen Holzbrett Gnocchi, dicke, grosse, dazu gibt es eine üppige Bolo­gnesesauce, mehr als fünf oder sechs Stück schafft Päuli nicht.

Am Sonntagnachmittag kurz vor Ladenschluss lohnt sich ein Besuch in der Bäckerei Dällenbach. Päuli und Theo schlüpfen hinter den Ladentisch und schauen zu, wie Frau Dällenbach die letzten Kunden bedient. Dann packt sie in eine grosse Gugge (Tüte), was sie am Montag nicht mehr verkaufen kann, süsse Weggli, altbackenes Weissbrot, vielleicht sogar ein paar eingedrückte Stück­li. Päuli schaut mit begehrlichen Augen auf das letzte Diplo­mat, eine cremige Schleckerei im weissen, gefältel­ten Papierkörbchen, und Frau Dällenbach versteht. Er verzehrt es auf dem kurzen Heimweg, bevor ihm ein ­anderer dazwischenkommt.

Aus dir wird nie etwas!

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