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Kapitel 7 - Julie Cassel 1891

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Wie Marie und Emily war auch Julie der festen Überzeugung, dass eine gute, gründliche Bildung und die Schulung von Geist und Witz auch den Mädchen zukommen müsse. Und fand den Widerspruch inakzeptabel zwischen der Blüte des Bildungsbürgertums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der enormen Hochschätzung wissenschaftlicher und akademischer Arbeit und der geistigen Ödnis, in der zu leben die meisten Töchtern aus gutem Hause gezwungen wurden. Wie es bereits Rudolph gehalten hatte, erweiterte sie ständig die Bibliothek um Neuerscheinungen und erlaubte die Lektüre Töchtern wie Söhnen – auch die Lektüre von Zeitungen, und zwar komplett, nicht nur des Gesellschaftssteils.

Natürlich waren auch Kinderfrauen im Hause Cramer angestellt. Für Julie stand jedoch außer Frage, dass sie selbst für ihre Kinder da sein und viel Zeit mit ihnen verbringen würde. Sie kümmerte sich um ihre Erziehung, lehnte die Einstellung von Gouvernanten rundweg ab und übernahm, sobald die Kinder zur Schule gingen, persönlich die Betreuung der Hausaufgaben. Auch bezog sie ihre Kinder in ihre Unternehmungen ein, erlaubte die Teilnahme an den geselligen Abenden, an denen in der bunt zusammengesetzten Gästeschar lebhafte Diskussionen zu einer Vielzahl unterschiedlicher Themen aufbrandeten, und nahm sie früh auch zu Konzerten und ins Theater mit. An den Wochenenden machten Emil und Julie mit den Kindern Ausflüge in die Umgebung, besuchten die „Neue Galerie“ an der Schönen Aussicht, wo sich ein Teil der Gemäldesammlung Alter Meister befand, die jetzt in Schloss Wilhelmshöhe zu besichtigen ist, und andere Museen oder gingen mit allerlei Spiel- und Sportgerät in die Auen oder den Habichtswald.

Im Sommer 1889, als Mathilde acht Jahre alt war und Agnes fünfeinhalb, verbrachten die beiden einen unvergesslichen, wunderbaren Monat bei Marie, Emily und Elise in Marburg. Natürlich durften die Kleinen sich im Ketzerbach, der von historischen Fachwerkhäusern gesäumten Straße, die zur Elisabethkirche führte, und in deren Nähe auch die Wohnung der drei Damen lag, die typischen „Dipperchen“, Marburger Keramikbecher, aussuchen. Natürlich gab es Spaziergänge an der Lahn und zum Schloss. Aber unübertroffen für die beiden waren die endlosen Vorlesestunden mit Tante Marie und Tante Emily. An den heißen Tagen unter den großen Bäumen im alten botanischen Garten oder im Park des Schlosses, des Abends in der Wohnung, fest in Decken und oft und gern auch an die Großmama gekuschelt.

Alle fünf genossen die gemeinsame Zeit so sehr, dass sie zur jährlichen Einrichtung wurde, und als sie 1891 nach Cassel zurückkehrten, erklärte Agnes mit andächtiger Gewissheit: „Ich werde Lehrerin.“ Julie sah Emil an, dass er kurz davor war, eine scherzhafte Bemerkung zu machen und gab ihm ein Zeichen, behutsam zu sein. Agnes hatte tief überzeugt gesprochen, und auch wenn ein solcher Zukunftsplan mit sieben Jahren vielleicht etwas früh war – Julie wollte nicht, dass sie sich nicht ernst genommen fühlte. Emil verstand. „Weil Du so gerne liest, oder weil Du gerne Kinder unterrichten möchtest?“, fragte er. Agnes Augen leuchteten. „Beides. Ich will immer lesen dürfen. Und Bilder gucken. Und ich möchte wie Tante Marie und Tante Emily sein und anderen was beibringen…“, sprudelte sie vor sich hin. Mathilde warf ihr einen abschätzigen große-Schwester-Blick zu. „Das dauert aber noch lange, bis Du genug weißt, um anderen was beizubringen“, beschied sie mit der Weisheit ihrer vollen zehn Jahre. „Bei Dir aber auch“, konterte die kleine Schwester, gar nicht ungeschickt, wie Julie fand. „Ich will ja auch nicht Lehrerin werden. Kinder sind lästig“, meinte Mathilde unbeeindruckt und zuckte mit gerümpfter Nase die Schultern. „Ich will nur lesen.“ „In Ordnung“, meinte Julie, „nur damit Vater und ich es richtig verstehen: Du, Agnes, wirst lernen und lesen, um an einer Schule zu unterrichten.“ Die Kleine nickte eifrig. „Und Du, Mathilde, willst lesen und lernen, einfach nur weil es Spaß macht.“ „Genau“, fasste Mathilde zusammen und präzisierte: „Ich werde ein Blaustrumpf.“ Julie und Emil glucksten unterdrückt.

Der Abend der Bekanntgabe beruflicher Entscheidungen war jedoch noch nicht zu Ende. „Ich werde Zahnarzt“, verkündete Fedor. Julie verschluckte sich fast, die anderen am Tisch starrten ihn fassungslos an. „Das weiß ich seit über vier Jahren, seit ich so alt war wie Agnes“, erklärte er mit brüderlicher Solidarität zur kleinen Schwester. „Seit Du…“, Julie stutzte. „Als Du sieben Jahre warst, bist Du auf dem Friedrichsplatz hingefallen und hast Dir einen Backenzahn abgebrochen, zum Glück war es noch ein Milchzahn. Aber - der Zahnarztbesuch war doch entsetzlich für Dich.“ „Und Du hast felsenfest erklärt, dass Du nie, niemals wieder eine Zahnarztpraxis betrittst“, ergänzte Emil. „Genau“, Fedor nickte, „genau deswegen werde ich selbst Zahnarzt. Ich werde es besser machen als dieser, dieser…“ „Mörderische Unmensch“, schlug Max vor. Mörderischer Unmensch? Julie überging das fürs Erste. Zumal der Sechsjährige nachlegte „‘Es ist besser, ein Unrecht zu erleiden, als es zu begehen‘“, gab er bekannt, „also musst Du doch wieder zum Zahnarzt.“ Der große Bruder fixierte ihn. „Jetzt bist Du überführt, Greenhorn. Ich wusste doch, dass Du meinen Winnetou geklaut hast.“ Max lief rot an. „Was hat Karl May denn jetzt damit zu tun?“, wollte Emil verwirrt wissen. „Das mit dem Unrecht ist ein Zitat aus ‚Winnetou‘. Ich suche den zweiten Band seit WOCHEN. Und er“, Fedor zeigte auf den Delinquenten, „er hat behauptet, keine Ahnung zu haben, wo das Buch sei.“ Max versuchte abzulenken. „Ich weiß auch schon, was ich werde“, verkündete er, „ich werde Reiter.“ Julie und Emil seufzten auf. Es war ein täglicher Kampf, Max davon abzuhalten, in die Reitställe der Kavallerie auszubüxen. „Darüber, mein Sohn“, schnitt Julie ihm das Wort ab, „werden wir wann anders sprechen. Und nun gib Fedor das Buch zurück und ab in die Koje.“ „Es heißt nicht Koje, Winnetou hat doch kein Schiff. Es heißt…“ – „Mäxchen! Schluss jetzt.“ Der kleine Frechdachs senkte den Kopf und dackelte von dannen. Fedor und Mathilde folgten.

Das dicke S hatte der Diskussion mit großen Augen zugehört. Sie erhob sich nun leise ächzend und strich Agnes, die vor dem Kamin hockte und den Kater streichelte, über den Kopf. „Du bist ein liebes Dear“, meinte sie. „Ich werde mich nun auch zurückziehen. Gute Nacht Euch allen und schlaft gut. - Komm Momti.“ Der kleine Kater, der so klein nicht mehr war, aber immer noch ein rotes und ein schwarzes Ohr hatte, erhob sich von seinem Platz, rieb zum Abschied sein Köpfchen an Agnes und sprang mit hohem Schwänzchen hinter ihr her. Seinen Namen verdankte er – wie sollte es sonst sein – dem dicken S: Sie hatte den Winzling „mon Petit“ gerufen, jedoch war ihre französische Aussprache etwas eigen. Dem Kater machte das nichts aus: „Momti“ also. Emil sah ihr kopfschüttelnd hinterher. „Ein bemerkenswertes Paar“, meinte er. „Und ein interessanter Abend“, ergänzte Julie.

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