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Kapitel 4 - Julie Cassel 1887

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Fast auf den Tag genau neun Monate nach der Trauung am 29. März 1879 gebar Julie ihren ersten Sohn: Fedor Rudolph, benannt nach seinen Großvätern, kam kurz vor dem Silvesterfest zur Welt. Das dicke S, Caroline, Elise, alle waren hin und weg von dem ersten Enkel und Neffen, die Eltern natürlich auch. Julie und Emil waren glücklich miteinander; das liberal vereinbarte gemeinsame Leben verlief allen Hoffnungen entsprechend, und die Schwangerschaft hatte Julie keinerlei Probleme bereitet. Bis auf die letzten zwei Monate, die aber ohnehin eher familiären Festlichkeiten gewidmet waren, hatte sie auch Caros Einführung in die Gesellschaft betreiben können. Gegen die Erinnerung an Monte-Christo kam allerdings keiner der jungen Männer an, zumal die Eltern es nicht über sich gebracht hatten, auch den Briefverkehr zu verbieten. Die Post brauchte zwar elend lange Wochen, aber sie kam an und diente nicht dazu, die Verbundenheit zu mindern.

Willem und Ronny kehrten Anfang Januar 1880 zurück, pünktlich zu Fedors Taufe und fast exakt ein Jahr nach dem Kennenlernen. Die gegenseitige Sympathie, beziehungsweise auf Seiten des Paares: die unbändige Vernarrtheit, hatten sich bestätigt und verstärkt. So geriet die Feier von Fedors Taufe zum Verlobungsfest seiner jungen Tante. Als Willem im März 1881 zu seiner und Carolines Hochzeit eintraf, war Julie mit ihrem zweiten Kind schwanger; am 7. August sollte Mathilde Elise zur Welt kommen. Benannt nach ihren beiden Großmüttern; dem dicken S zuliebe war jedoch „Mathilde“ ihr Rufname. Erstmal.

Am Abend der Ankunft überreichte Ronny Julie in einer feierlichen Zeremonie einen weiteren Familienzuwachs: Das jüngste Söhnchen der Tochter der buntgescheckten Glückskatze, die Willem einst gerettet hatte. Gut, dass es ein kleiner Kater war, so stand dem Haushalt zumindest keine exponentielle Vermehrung tierischer Bewohner bevor. Obwohl er trotzdem dafür sorgte, eine Cramersche Katzen-Dynastie zu gründen, die erst im Zweiten Weltkrieg ein Ende finden sollte. Der kleine Kerl mit seinem riesigen Öhrchen – eins rot, eins schwarz – war allerdings so niedlich, dass Julie ihn auf keinen Fall hergegeben hätte. Das dicke S versprach sich von ihm Linderung ihres Rheumas, wenn er denn bereit wäre, seinen Schlaf zum richtigen Zeitpunkt an den immer mal schmerzenden Körperstellen zu halten. Über das Wo und Wie waren der kleine Kater und die in die Jahre kommende Matrone zwar nicht immer einig; das tat der gegenseitigen Zuneigung jedoch keinen Abbruch. Ein Ersatz für die abreisende Schwester konnte das Tierchen nicht sein. Aber Julie und Caroline hatten sich lange auf die Trennung vorbereitet, und so verabschiedeten sie sich – tränenreich, aber in Frieden mit einer Situation, die beiden das Leben versprach, das sie gewählt und gewünscht hatten.

Als Elise und Rudolph nach Marburg zogen, war Julie froh. Natürlich hätte sie die Eltern auch zu sich eingeladen, aber mit dem Großhandel, dem dicken S, der wachsenden Kinderschar und den vielen Gästen wäre es trotz der großzügigen Räume schwierig gewesen, ihren Eltern die verdiente Ruhe und Privatheit zu schaffen. Vor allem Rudolph benötigte einen eingespielten, stillen Rhythmus, der in dem ständig brummenden Hauswesen kaum zu bewerkstelligen gewesen wäre. Er erlebte noch die Geburt zweier weiterer Enkel: Agnes kam am 20. Dezember 1883 zur Welt, Max im November 1884. Beide Namen eine Hommage an die geschwisterliche Troika: Agnes war der Zweitname von Caroline, Max der erste Vorname von Ernst.

Trotz der vielen Schwangerschaften: Julie genoss das kulturelle Leben Cassels in vollen Zügen. Seit je hatte Cassel zu den bedeutendsten deutschen Theaterstädten gehört: Das 1605 eingeweihte Ottoneum, in dem nun das Naturkundemuseum untergebracht war, war der erste feste Theaterbau Deutschland gewesen. Landgraf Friedrich II. hatte von 1765 bis 1769 an der 1600 Meter langen und 19 Meter breiten Königsstraße ein Palais errichten lassen, das sich zum Opernplatz öffnete. Hinter Repräsentationsräumen befanden sich Zuschauerraum und Bühnenhaus. Sowohl der Bau des Architekten Simon Louis du Ry, als auch die Sänger, Schauspieler, Musiker, die Kapellmeister und Direktoren sicherten für die nächsten zwei Jahrhunderte den Ruf eines der besten Theater Europas. 1866 ging mit dem Ende Kurhessens auch das Theater an die preußische Krone über. Von 1883 bis 1885 hatte Gustav Mahler die Leitung des Kurfürstlichen Hoftheaters (der Name galt immer noch). Seine ersten Symphonien wurden hier aufgeführt, in den Folgejahren umfasste das Programm vor allem Opern von Wagner, Mozart, Beethoven und Weber. Emil und Julie genossen die Abende im Theater – die Opern und Schauspiele, aber auch die geselligen Begegnungen mit Bekannten und Freunden in den Pausen und, nach den Aufführungen, das Zusammensein mit den Künstlern in ihren Garderoben. Auch zu ihnen entwickelten sich herzliche Freundschaften. Ganz besondere Ereignisse waren die Theater- und Kostümbälle, die oft bis in die frühen Morgenstunden dauerten.

Und sie führten ein überaus gastfreundliches Haus: Regelmäßig kamen Musiker und Sänger zu Hauskonzerten in den Steinweg, es gesellten sich Schriftsteller, Journalisten, Pädagogen und Philologen hinzu – ebenso aber die Geschäftspartner Emils, die Händler, Ärzte und Pharmazeuten. Dazwischen mischten sich jedoch auch Regierungsbeamte und Offiziere der nahe gelegenen Militärakademie. So war regelmäßig eine bunte Gesellschaft versammelt – und sobald sie ein gewisses Alter erreicht hatten, bezog Julie ihre Kinder darin ein. Noch zwei Töchter wurden geboren, wiederum kurz nacheinander: Claire im Mai 1886 und Margarete im August 1887.

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