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Kapitel 6 - Marie Marburg 1888
ОглавлениеNach Rudolphs Tod richteten sich Elise, mit ihren 59 Jahren immer noch rüstig, und Marie in ihrem gemeinsamen Leben ein. Emily war auch in der Zeit zuvor schon täglicher Gast gewesen, und Elise hatte die fröhliche Freundin ihrer Tochter schnell ins Herz geschlossen. Mit den beiden Frauen Anfang 30 kamen frischer Wind und Leben in die Wohnung, die sonst doch arg still gewesen wäre nach dem kinderreichen Haushalt in Wildungen. Rudolph hatte in der Wohnung mit den fünf Zimmern eines als seinen Rückzugsort eingerichtet. Nachdem dieses nun auf- und leergeräumt werden musste, war es Elise selbst, die vorschlug, Emily einzuladen, es zu mieten und in die gemeinsame Wohnung zu ziehen.
Für Emily, die mit ihrem nicht sehr üppig bemessenen Gehalt als Lehrerin vorsichtig kalkulieren musste, war die Einsparung begrüßenswert – vor allem aber freuten sich Marie und sie herzlich, wieder zusammen zu leben.
Elise, obwohl tief vom Wertekanon des gehobenen Bildungsbürgertums geprägt, verfolgte die Emanzipationsbestrebungen der Frauenrechtlerinnen mit für Marie erstaunlicher Offenheit. Allerdings gab es auch ein prominentes gekröntes Haupt, das den Anliegen ein geneigtes Ohr lieh: Prinzessin Victoria von Großbritannien und Irland, älteste Tochter von Queen Victoria und Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, war von klein auf in einer politisch eher liberalen Haltung auf die Rolle als preußische Kronprinzessin und Gemahlin von Friedrich III. vorbereitet worden. Am preußischen Hof war sie jedoch isoliert; insbesondere der Reichskanzler Otto von Bismarck zählte zu ihren schärfsten Gegnern.
1887 hatte sie eine wichtige Petition davor bewahrt, in der Versenkung des Kulturministeriums zu verschwinden: Berliner Frauenrechtlerinnen forderten darin eine entschiedene Reform der Mädchenbildung. Beigefügt hatten sie eine Broschüre von Helene Lange „Die höhere Mädchenschule und ihre Bestimmung.“ Helene Lange, 1848 geboren, selbst Leiterin einer Höheren Töchterschule mit Lehrerinnenseminar forderte in drastischen Worten, die Ausbildung an den Mädchenschulen solle nicht länger ohne echte Wissensvermittlung, ohne Ziel bleiben, sondern ein anerkannter Weg zu akademischer Bildung, zu weiterbildenden Schulen, zum Studium an Universitäten werden. Sie polemisierte gegen die schmalspurige, häppchenweise und oberflächliche Ausbildung, die letztlich nur dazu diene, dass der Ehemann nicht „durch geistige Kurzsichtigkeit seiner Frau am häuslichen Herde gelangweilt werde.“
Emily und Marie jubelten. Ihre Rede war das! Natürlich waren sie aus Überzeugung Lehrerinnen – aber die Lehrpläne schlicht ein Graus. Und wenn einige ihrer Schülerinnen zu „tiefer gehendem Interesse und Selbstdenken“, wie Helene Lange es forderte, angeregt waren, konnte man nur hoffen, dass sie entweder zuhause ihren Mund hielten oder ein liberales Elternhaus hatten; sonst drohte Ärger. Denn derlei blieb ausdrücklich nicht erwünscht, auch nicht im immer noch männlich dominierten Kollegium. Und nun hatte Kronprinzessin Victoria ausgerechnet dieser Petition und der „Gelben Broschüre“, die sich in rasender Geschwindigkeit im Land verteilte, höchste Aufmerksamkeit zukommen lassen. Mehr noch, die Prinzessin nahm persönlich an Treffen bürgerlicher und großbürgerlicher Berliner Damen teil, die für ihre Töchter bessere Chancen in Beruf und Ausbildung forderten. Zu ihnen gehörten neben Helene Lange auch die ersten Ärztinnen in Deutschland, Franziska Tiburtius und Emilie Lehmus. Beide hatten in Zürich ihr Medizinstudium absolviert, in Deutschland aber trotz hochkarätiger Ausbildung keine Approbation erhalten. Neben ihren eigenen Arztpraxen in Privaträumen in Berlin hatten sie 1876 die erste Poliklinik gegründet – der Zulauf war rege, die Patientinnen kamen aus allen Kreisen, Approbation hin oder her.
Dass sich die Kronprinzessin diesem Zirkel anschloss, berechtigte zu größten Hoffnungen. Sie arbeitete eng mit Helene Lange zusammen, förderte ihre Projekte wirtschaftlich und ideell, stand dem Lette-Verein zur Verbesserung der Mädchenbildung vor, gründete ein Lyzeum unter britischer Leitung, in dem Mädchen erstmals in der Geschichte der Töchterschulen Turnunterricht erhielten, engagierte sich in Belangen der Sozialarbeit und Gesundheitspflege und gründete auch hierfür eine Ausbildungsstätte: Die Victoriaschule für Krankenpflege, in der Krankenschwestern nach britischem Vorbild ausgebildet wurden.
Als Wilhelm I. 1888 starb und Victoria mit Kaiser Friedrich als Königin von Preußen und deutsche Kaiserin den Thron bestieg, hofften viele Frauenrechtlerinnen auf den Beginn einer neuen Ära. Die Freude währte jedoch nur allzu kurz.
Zur Teestunde am Spätnachmittag des 15. Juni 1888 saßen die drei Frauen in ihrem gemeinsamen Wohnzimmer, Emily und Marie in ihre Arbeit vertieft, Elise in ihre Lektüre. Da klangen von der Straße laute Rufe empor: „Extrablatt! Der Kaiser ist tot! Extrablatt!“ Alle drei hielten inne, Emily schob ihren Stuhl mit einem Ruck zurück und stürzte aus der Wohnung. Kurz darauf kam sie mit einer Zeitung in zitternden Händen wieder in die Wohnung: „Kaiser Friedrich ist heute gegen elf Uhr verstorben. 99 Tage dauerte seine Regentschaft. Sein Sohn folgt ihm als Wilhelm II. auf den Thron.“ „Möge er ruhen in Frieden“, murmelte Elise und bekreuzigte sich. Dann sah sie die beiden jungen Frauen an, die beklommene Blicke wechselten. „Das wird eine schlimme Zeit für Kaiserin Friedrich“, murmelte Marie und trat ans Fenster. Elise nickte. „Selbstverständlich, der Tod des Gatten ist immer schwer. Aber ihr Sohn als neuer Kaiser…“
„Nein, gnädige Frau“, mischte Emily sich ein. „Der neue Kaiser und Bismarck hassen sie. Sie steht für eine vergleichsweise liberale Politik, auch wenn Friedrich, schwankend wie er war, sich nie deutlich positionierte.“ „Emily hat Recht, Maman“, ergänzte Marie, „sie werden es nicht dulden, dass sie das Begonnene fortführt. Ach was, sie werden nicht dulden, dass auch nur ein gutes Haar an ihr bleibt.“ Elise schüttelte den Kopf, konnte es nicht glauben. Noch weniger hätte sie sich vorstellen können, dass der Sohn noch in der Nacht vor dem Tod seines Vaters seine Räume und die von Kaiserin Friedrich, wie sie ab nun genannt wurde, durch Gardeoffiziere umstellen und durchsuchen ließ. Angeblich auf der Suche nach Staatspapieren, mutmaßlich eher, um private Korrespondenzen aufzutreiben, von denen er seine Reputation bedroht sah. Alle Vertrauten seiner Eltern waren ebenfalls Repressalien ausgesetzt. Die persönlichen Papiere hatte die Kaiserin zuvor schon sicherheitshalber nach England geschafft, Pech für den Sohn. Dass seine Mutter sich weigerte, ebenfalls dorthin zu entschwinden, reizte den neuen Kaiser und Reichskanzler Bismarck ungemein.
Erst als die Kaiserin ins völlige Abseits gedrängt und zur Hassfigur stilisiert wurde, erschloss sich Elise, dass mit dem pompösen, prunksüchtigen, aufgeblasenen neuen Kaiser tatsächlich, wie die Zeitungen schrieben, eine „neue Zeit“ angebrochen war. Allerdings anders, als sie vor noch drei Monaten gehofft hatten. Sie war empört. Ihr Schlusswort an einem langen Abend voller Diskussionen entzückte Emily und Marie über alle Maßen: „Jetzt erst recht, meine Lieben. Ihr werdet sehen, Eure Sache wird sich durchsetzen. Und, Kind“, wandte sie sich an Marie, „falls Du dafür in einem der Frauenvereine mitarbeiten willst, so denke ich, dass Dein Vater nun nichts mehr dagegen hätte.“