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Kapitel 3 - Marie Marburg 1882
Оглавление„Über ein Gedicht von Schiller, das Lied von der Glocke, sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen gefallen vor Lachen“, schrieb Caroline Schlegel 1799 an ihre Tochter. „Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau / Und herrschet weise / im häuslichen Kreise / Und regt ohn Ende / die fleißigen Hände etc. etc…“ Was für ein Frauenbild. Ihr Gatte August Wilhelm Schlegel, der Literaturhistoriker und Philologe, amüsierte sich ebenfalls köstlich: „Ehret die Frauen / Sie stricken die Strümpfe / wohlig und warm zu durchwaten die Sümpfe“, dichtete er weiter. Woran die Wohnkommune der Schlegels, die ganz in der Nähe der Familie Schiller in Jena lebte, solchen Spaß hatte, konnte Marie gerade nicht sehr lustig finden.
Sie hatte ihre Entscheidung, den Lehrerinnenberuf zu ergreifen, nie bereut und liebte ihre Arbeit. Ihrem Vater hatte sie „à la main“ versprochen, sich nie durch die Mitwirkung in Frauenvereinen in Konflikt mit dem Gesetz zu bringen. Noch immer galt das Verbot der politischen Versammlung oder Vereinsgründung für Frauen, das 1850 verabschiedet worden war und ihnen letztlich auch jede agitative Äußerung verbot: Louise Otto hatte die Redaktion ihrer Frauenzeitung an Strohmänner abgeben und das Blatt schließlich ganz einstellen müssen. Obwohl die schriftstellerische Betätigung für Damen des Bürgertums der einzige bis dahin unangefochtene Beruf gewesen war. Mit ungeheurer Produktivität verfasste sie weiterhin Romane. Um sich jedoch in breiterer Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen und Türen für den Kampf um Emanzipation und Gleichberechtigung zu öffnen, ohne unter das politische Verdikt zu fallen, hatte sie mit zwei Mitstreiterinnen eine Hintertür gewählt. Mit Auguste Schmidt, der Leiterin einer renommierten höheren Töchterschule in Leipzig, und Henriette Goldschmidt, die sich nachhaltig für die Reformpädagogik Fröbels einsetzte, gründete Louise Otto im Oktober 1865 den Allgemeinen Deutschen Frauenverein (ADF) , der sich für die Bildung von Mädchen einsetzte. Ein kluger Schachzug, war doch die Kindererziehung selbst nach klassischem Rollenbild Domäne der Frau und damit nicht angreifbar. Gleichzeitig konnten sie so auch Damen des gehobenen Bürgertums erreichen, die mit konservativem Selbstverständnis explizit kämpferische Ansätze abgelehnt hätten. Mädchenbildung jedoch ging auch sie an; das klang nicht per se nach Emanzipation, nach Protest gegen die völlige Unterwerfung unter männliche Superiorität (undenkbar!). Das politische Anliegen verbrämten die drei nur durch Vagheit: „Der Allgemeine Deutsche Frauenverein hat die Aufgabe, für die erhöhte Bildung des weiblichen Geschlechts und die Befreiung der weiblichen Arbeit von allen ihrer Entfaltung entgegenstehenden Hindernissen mit vereinten Kräften zu wirken.“ Schnell bildeten sich allerorten bürgerliche Frauenvereine und begannen, Forderungen zu stellen. Dem Ehrenwort ihrem Vater gegenüber treu bleibend, konnte Marie ihnen nicht beitreten.
Sie hatte sich damit abgefunden, aber die heutige Zeitungslektüre ließ ihren Ärger hochkochen. Schlimm genug, dass Frauen bis an ihr Lebensende der Vormundschaft durch ihren Vater, später ihren Ehemann, unterstellt waren, rechtlich Kindern entsprechend, und das auch noch als unabänderliches Gesetz akzeptierten. Dass weibliche Bildung nur dazu dienen sollte, den Ehemännern zu Hause Gespräche auf halbwegs erträglichem Niveau zu ermöglichen, darüber hinaus aber keinerlei geistige Fähigkeiten oder gar eigenes Denken erlaubt waren. Wegen dieses Ideals vervollkommneter Dämlichkeit, dachte Marie grimmig, durfte an den höheren Töchterschulen des Deutschen Kaiserreichs nicht mehr als oberflächliches Wissen vermittelt werden, darum blieben Frauen vom Abitur ausgeschlossen und konnten nur in der Schweiz studieren.
Ihr stockte der Atem angesichts der Wucht, mit der die Herren der Schöpfung auf die Emanzipationsbestrebungen reagierten, mit denen Frauen nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848 Teilhabe an Freiheitsrechten forderten. Sie ließ die Zeitung sinken und sah auf, als Emily, ihre Mitbewohnerin, mit der sie sich ein Wohnzimmer zwischen zwei kleinen Schlafkammern in der Pension einer geschäftstüchtigen Wirtin teilte, den Raum betrat. „Lies das“, forderte sie sie auf und streckte ihr das Blatt entgegen. „Guten Tag, meine Liebe. Welche Laus ist Dir denn über die Leber gelaufen?“ Emily nahm das Blatt entgegen. „Treitschke wieder einmal?“ Heinrich von Treitschke, Historiker und Mitglied des Reichstags, verlieh seinen Tiraden gegen Blaustrümpfe und Gleichberechtigung wirkungsvolles wissenschaftliches Flair. Seine Hetze gegen Juden hatte den Antisemitismus salonfähig gemacht. Marie schüttelte den Kopf. „Nein, heute nicht Treitschke. Schlimmer. Schau unten rechts. Virchow. Eine solche Kapazität wird Schaden anrichten.“
Emily runzelte die Stirn. „‘Professor Rudolph Virchow, die Koryphäe der modernen Pathologie und Mitglied der Deutschen Fortschrittspartei‘“, las sie laut, „‘legt zur Frage der unseligen neueren Bestrebungen einzelner Weibspersonen, die bewährte, unanfechtbare und gottgegebene Ordnung in Frage zu stellen‘ – mein Gott, was für ein Deutsch – ‘einen brillanten Aufsatz mit dem Titel ‚Das Weib und die Zelle‘ vor. Er tritt den naturwissenschaftlichen Beweis an, dass die Forderungen der Weibspersonen widernatürlich und anmaßend sind. Wörtlich führt er aus: ‚Das Weib ist eben nur Weib durch seine Generationendrüse; alle Eigentümlichkeiten seines Körpers und Geistes oder seiner Ernährung und Nerventätigkeit: die süße Zartheit und Rundung der Glieder‘ – blablabla - ‚kurz alles, was wir an dem wahren Weibe bewundern und verehren, ist nur eine Dependenz des Eierstocks‘....“ Emily ließ das Blatt sinken und brach in schallendes Gelächter aus. „Das ist ja unübertrefflich, nein, wie herrlich…“, sie verschluckte sich fast. „Ein Stück Zellulose, ein Eierstock will Mitbestimmung? Gleichberechtigung? Freiheitsrechte? – ach, das ist einfach zu großartig.“ Sie ließ sich auf den Stuhl Marie gegenüber sinken, die wider Willen nun ebenfalls loskicherte. „Nein, ernsthaft, derlei wird im Sande verlaufen. Es ist einfach zu absurd. Und wir wissen uns zu wehren. Denk an Hedwig Dohms spitze Feder: ‚Menschenrechte haben kein Geschlecht‘. Und jetzt“, sie gackerte wieder los „möchte die ovariale Dependenz einen Schluck Tee.“
Leider behielt sie nicht völlig Recht; die Frauen wussten sich zu wehren, die Argumentationslinie Virchows jedoch erhielt in den kommenden Jahrzehnten von unterschiedlichen Wissenschaftlern immer neuen Auftrieb. Paul J. Moebius wird Frauen aus physiologischen Gründen für schwachsinnig erklären, Otto Weiniger widerspricht zu Beginn des neuen Jahrhunderts minimal: Nicht schwachsinnig sei die Frau, aber von Natur aus „un-sinnig“: „Das absolute Weib hat kein Ich.“ Er kommt zu der Erkenntnis, dass das „Weib keinen Eifer für die Wahrheit hat. Weswegen für das Weib auch keine Erkenntnis, kein Urteilsvermögen und kein Denken möglich ist. (…) Der reine Mann ist das Ebenbild Gottes, des absoluten Etwas, das Weib ist das Symbol des Nichts. Das ist die Bedeutung des Weibes im Universum und so bedingen sich Mann und Frau.“ Yin-Yang mal anders.
Emilys temperamentvolle Reaktion hatte Marie aufgeheitert, und so saßen die beiden Frauen friedlich zusammen, korrigierten Arbeiten ihrer Schülerinnen und ließen den Nachmittag ausklingen. Für beide war es ein Glücksfall gewesen, als sie sich am ersten Tag des Lehrerinnenseminars kennen gelernt hatten; Emilys Lebhaftigkeit und Maries stilles, zurückhaltendes Wesen ergänzten sich vorzüglich. Die Mutter Emilys war früh gestorben und ihr Vater, ein angesehener jüdischer Kaufmann, hatte sich dem Wunsch seiner Tochter, eine Ausbildung zur Lehrerin zu absolvieren, zunächst nur widerwillig gefügt. Da er in Geschäften nach Kairo reisen musste, willigte er zunächst für die Zeit seiner Abwesenheit in die Ausbildung ein – was sich kurz darauf als Segen erwies. Emily war ein halbes Jahr im Lehrerinnenseminar, als sie die Nachricht erhielt, dass der Vater in Ägypten verstorben sei und durch einen betrügerischen Geschäftspartner sein gesamtes Vermögen verloren habe. Das Geld reichte noch für den Abschluss ihrer Ausbildung, durch die sie immerhin ihren Lebensunterhalt bestreiten konnte. Ihr großes Elternhaus in Marburg jedoch musste verkauft werden, um Verbindlichkeiten zu begleichen. So bezogen die Freundinnen die gemeinsamen Räume in der Pension und fanden sogar an der gleichen Schule eine Anstellung. Das auch unter Freundinnen übliche „Sie“ hatten sie beim Einzug feierlich zugunsten des familiären „Du“ aufgegeben.
Heiratspläne hatte bislang keine von ihnen gehegt, zumal diese mit dem Verlust der Stelle einhergingen: seit 1880 galt das Lehrerinnenzölibat, wonach der Arbeitsvertrag (und der Anspruch auf ein Ruhegehalt) mit dem Tag der Eheschließung erloschen. Das Gesetz sollte 1919 kurzzeitig aufgehoben werden, als dringend Lehrerinnen gesucht wurden. Mit Verschärfung der Arbeitsmarktsituation wurde es flugs 1924 wieder eingesetzt, um verheiratete Frauen aus der Berufstätigkeit zu drängen, und bestand unverändert bis 1951, in Baden-Württemberg bis 1957. Die Befriedigung, die die Arbeit und der Umgang mit ihren Schülerinnen ihnen gaben, hätten beide nur ungern missen mögen. Zur Absicherung des wirtschaftlichen Mindeststandards zu heiraten, kam also nicht in Frage, und eine „große Liebe“, wie Julie und Caroline sie gefunden hatten, war weder Marie noch Emily bislang über den Weg gelaufen.
Als sie zum Abendessen in den Speisesaal kamen, überreichte die Wirtin Marie einen mit der Abendpost eingetroffenen Brief von ihren Eltern. Sie öffnete ihn, nachdem sie in ihr Zimmer zurückgekehrt war, und wurde blass. Emily betrachtete sie alarmiert. „Um Gottes Willen, ist ihnen etwas zugestoßen?“ „Nein, nein, es ist nur“, Marie presste die Lippen zusammen, „Vater und Mutter ziehen nach Marburg.“ Der Satz hallte in der Stille nach. „Und Du wirst in ihrer Wohnung leben.“ Emilys Stimme klang bedächtig. Marie schluckte und nickte. „Ja, so schlagen sie es vor. Die Großen sind alle aus dem Haus. Die kleinen, Otto und Walther, auf dem Internat, Vater nach seinem ersten Herzanfall jetzt schon fünf Jahre im Ruhestand, und Mutter wird auch nicht jünger. Also überlegen sie, das Haus aufzulösen, sich kleiner zu setzen und…“ „… und was ist dann naheliegender, als zu der ältesten, unverheirateten Tochter nach Marburg zu ziehen. Selbstverständlich, Liebes.“ „Es tut mir Leid, Emily.“ Die Freundin nahm sie in den Arm. „Freu Dich lieber, Marie. Ich wünschte, ich könnte meinen Vater noch einmal sehen. Oder mich um ihn kümmern, wenn er krank ist. Und wer weiß“, sie richtete sich auf und breitete die Arme aus, „vielleicht kann ich mir Dein Zimmer noch zusätzlich leisten und residiere dann allein in meinem Palast.“
So suchten die Freundinnen wieder eine Wohnung, diesmal für Marie und ihre Eltern. Sie fanden angenehme Räume im ersten Stock eines nicht zu weit von der Schule entfernt gelegenen Stadthauses. Mit Beginn des neuen Jahres war das Elternhaus in Wildungen verkauft und der Umzug vollbracht. Es war für Maries Eltern eine gute Entscheidung; Rudolph hatte nur noch zwei Jahre zu leben, und Elise war dankbar, in der schweren Phase seiner Krankheit und zunehmenden Schwäche nicht allein zu sein. Er starb 1885 im Alter von 70 Jahren nach einem neuen Herzanfall.